Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Ermittlungsbehörden stehen vor einem Rätsel: weltweit werden auf unerklärliche Weise Wissenschaftler, Ärzte und Ingenieure entführt, aber weder gibt es Hinweise auf deren Verbleib, noch Geldforderungen. Sonderermittlerin Patricia Cooper geht gemeinsam mit Bodyguard David Namarra der Sache nach, doch ihre Nachforschungen sind gefährlich. Ihr Gegner ist skrupellos und verfügt über ungeahnte Möglichkeiten. Schnell geraten die Ereignisse außer Kontrolle, infolge dessen beide eine Grenze überschreiten, von der es offenbar kein Zurück mehr gibt. Bald werden sie von der Wahrheit auf eine Weise eingeholt, die weit außerhalb ihrer bisherigen Vorstellungskraft liegt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 579
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Es ist der Job von Sonderermittlerin Patricia Cooper, Entführungen zu verhindern. Als jedoch ein Ingenieur trotz Überwachung fast direkt vor ihrer Nase spurlos verschwindet, ist sie ratlos. Zwar steht ihr mehr oder weniger ungewollt Bodyguard David Namarra zur Seite, aber ihr Gegner ist skrupellos und verfügt über ungeahnte Möglichkeiten. Schon bald geraten die Ereignisse außer Kontrolle. Beide überschreiten eine Grenze, von der es offenbar kein Zurück mehr gibt - ihr Schicksal scheint besiegelt. Doch so leicht geben sie nicht auf, und vielleicht verbirgt sich hinter ihrem neuen Aufenthaltsort auch viel mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen ist.
Oliver Reiche, geboren 1965, Bauingenieur, war einige Zeit selbstständiger Unternehmer. Mittlerweile arbeitet er als Projektleiter für ein international tätiges Bauunternehmen. Nebenbei schreibt er Science-Fiction-Romane, Kurzgeschichten, Gedichte oder Drehbücher. Er lebt mit seiner Familie in Dresden.
Weitere Informationen unter: www.oliver-reiche.de
Für meine Mutter, ruhend in der Tiefe meines Herzens.
Für meinen Vater, der nie den Mut verloren hat.
Erster Teil: Abschied
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Zweiter Teil: Erwachen
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Dritter Teil: Erinnerung
06. Juli 1889
29. August 1889
25. September 1889
11. Oktober 1889
27. Oktober 1889
19. November 1889
09. Dezember 1889
28. Dezember 1889
05. Januar 1890
18. Januar 1890
17. April 1890
24. September 1890
14. Januar 1891
1. März 1891
6. März 1891
13. März 1891
25. März 1891
07. April 1891
27. Mai 1891
10. Oktober 1912
15. Oktober 1912
28. Dezember 1912
03. Juli 1915
09. Oktober 1922
24. September 1929
12. November 1929
22. März 1937
25. Juni 1937
29. Mai 1941
12. November 1946
08. November 1949
22. Dezember1964
21. Dezember1965
10. August 1967
09. Juli 1970
13. Oktober 1972
15. Juni 1979
06. Juli 1989
27. Mai 1990
24. April 1999
30. Dezember 1999
02. August 2002
09. Mai 2005
23. Juni 2007
16. Februar 2011
07. Februar 2012
16. August 2014
25. Dezember 2014
02. April 2015
11. November 2015
17. Mai 2016
04. Juli 2016
„Darf ich fragen, was mit Ihrer Hand geschehen ist, Sir?“ David Namarra wies auf die verbundene Hand seines Gegenübers, einen dreiundachtzigjährigen, zerknitterten Greis in einem zu großen Anzug und zerwühlten Haaren. Dieser sah Namarra durch seine leicht schief sitzende Brille an, während zwischen den beiden Männern, die sich in der Bibliothek gegenüberstanden, ein dünner Keil aus Licht leuchtete, in dem feine Staubpartikel einen gemächlichen Tanz aufführten.
„Ein Unfall, nichts weiter“, murmelte der alte Mann widerwillig, wobei er grüblerisch seine umwickelte linke Hand betrachtete.
Aus den erschöpft wirkenden Gesichtszügen seines Arbeitgebers entnahm Namarra, dass sich dahinter eine unerfreuliche Geschichte verbarg. Er schüttelte den Kopf und sah auf Alan Rosenthal herab, der ihm gerade bis zu den Schultern reichte. „Es sieht nicht aus wie `nichts weiter'“, widersprach er mit leicht tadelnder Stimme.
„Es war im Nachhinein gesehen einfach keine gute Idee, die Hecke hinter dem Gewächshaus heute Vormittag selbst verschneiden zu wollen. Ich bin mit der Schere abgerutscht. Ein Schnitt quer über den Handrücken, vielleicht zwei oder drei Zentimeter lang. Und bevor Sie fragen: Ja, es hat geblutet, jede Menge sogar. Aber zum Teufel, der Wildwuchs hat mich einfach gestört.“ Es klang fast so trotzig wie bei einem kleinen Kind, das sich ungerecht behandelt fühlt. „Aber da es keine lebensgefährliche Verletzung ist, werde ich Ihnen wohl noch eine Weile erhalten bleiben.“
„Das freut mich. Hat sich Lisa darum gekümmert?“
Rosenthal hielt Namarra demonstrativ die bandagierte Hand vor dessen Gesicht. „Sieht es aus, als hätte ich sie selbst verbunden?“
Namarra besah sich den Verband genauer. Die Wunde schien fachmännisch versorgt zu sein. Wieso der reiche alte Mann der Versuchung erlegen war, die widerspenstige Brombeerhecke selber zu verschneiden, anstatt diese Arbeit an den Gärtner zu delegieren, würde vermutlich sein Geheimnis bleiben. Sicher stellte die Verletzung jedoch nicht den eigentlichen Grund dar, warum ihn Rosenthal um ein kurzes Gespräch in der Bibliothek gebeten hatte, die man zumindest für eine einzelne Person - fast schon verschwenderisch ausgestattet hätte nennen können.
In dieser ruhten einige seltene Erstausgaben, doch es reihten sich noch zahllose weitere, in Leder gebundene, auf den ersten Blick völlig gleich aussehende Exemplare aneinander. Andere Werke wiederum sahen ehrfurchtgebietend und majestätisch aus, als beinhalteten sie altes, geheimnisvolles Wissen. An manchen Tagen wirkten die Bücher, als würden sie von den dicken, verstaubten Regalböden in drei Metern Höhe geringschätzig herabsehen ob der Unwissenheit derjenigen, die achtlos an ihnen vorbeigingen. Die Luft in der Bibliothek war trocken und hinterließ einen merkwürdigen Geschmack auf der Zunge, als kostete man mikroskopische Bestandteile der langsam verbleichenden Druckerschwärze.
David Namarra fand das alles mehr als erstaunlich. Seit seiner Anstellung vor elf Jahren als Bodyguard hatte er seinen Arbeitgeber, Alan Rosenthal, kein einziges Buch lesen sehen. Weder in dessen Bibliothek, dem Garten oder Gewächshaus, einem weiteren Rückzugsort des Millionärs. Mittlerweile wagte Namarra sogar die Behauptung, dass der alte Mann sich auch Zeit seines gesamten Lebens davor nie etwas aus Literatur gemacht hatte.
Aus irgendeinem Grund jedoch erinnerte Namarra der längliche, mit den literarischen Werken der Menschheitsgeschichte vollgestopfte Raum mehr an eine eigenwillige Kathedrale als an einen privaten Büchersaal. Das mochte mit an den drei farbig und kunstvoll ornamentierten Spitzbogenfenstern liegen, die das Licht in den verschiedensten Schattierungen der Regenbogenfarben streuten und damit eine weiche, zauberhafte Atmosphäre schafften. Zugleich gaben sie dem Bereich etwas Erhabenes, was weit über seine funktionelle Nutzung hinausging.
„Aber wir sind nicht hier wegen einer läppischen Verletzung“, unterbrach Rosenthal die Gedanken Namarras. Der alte Mann hob mit der gesunden Hand vorsichtig den Deckel einer schlichten Holzkiste ab, die neben ihm auf einem Lesetisch stand. Dann entnahm er dieser ebenso behutsam einen in Styroporkügelchen eingebetteten kleinen Gegenstand, um ihn David Namarra entgegenzuhalten.
„Was sagen Sie als Laie: sind zwei Millionen Dollar zu viel für dieses Schmuckstück? Han-Dynastie.“
Erst jetzt erkannte Namarra, dass es sich um eine schlanke Vase handelte, die vielleicht zwanzig Zentimeter hoch sein mochte. Um sie herum wand sich ein winziger, filigran gearbeiteter Drache. Trotzdem sah die Vase für Namarra aus wie eines von den kitschigen Schreibtischnippes für fünf Dollar, in die man Stifte stecken konnte. Zudem das Wort `Han-Dynastie' für ihn nur nebulöser Natur war. Er vermutete dessen Ursprung in China, doch es verbanden sich damit keine tiefer liegenden Kenntnisse über einen genauen Ort, eine Epoche oder die Bedeutung. Aber er war lernfähig. Die vielen Stunden, die er in den letzten Jahren als Bodyguard des jüdischen Millionärs in der Nähe von wohlhabenden und auch gebildeten Leuten verbracht hatte, zeigten Wirkung. „Han-Dynastie, sagten Sie? Unglaublich! Ist es aus einer Serie oder ein Einzelstück?“
Rosenthal nickte bedächtig, ergriffen von der unerwarteten Fachkenntnis seines Beschützers. Er hielt die Vase in das Regenbogenlicht, als würde er ihr ein Bad in der Sonne gönnen, dann wandte er sich milde lächelnd Namarra zu. „Ernsthaft? Glauben Sie wirklich, ein Alan Rosenthal kauft aus einer Serie? Entweder kaufe ich die gesamte Serie oder lasse es ganz. Das hier ist ein zertifiziertes Einzelstück, die Preise sind seit geraumer Zeit stark im Aufwärtstrend. Vermutlich kann ich sie in zehn Jahren für den fünffachen Preis verkaufen.“
Namarra unterließ es tunlichst, Rosenthal darauf hinzuweisen, dass dieser in zehn Jahren dreiundneunzig Jahre alt wäre und sehr wahrscheinlich andere Probleme haben würde, als den gewinnbringenden Verkauf von chinesischem Porzellan zu organisieren. „Da haben Sie wieder mal ein gutes Händchen bewiesen“, lobte er seinen Arbeitgeber stattdessen.
„Ein tolles Stück Arbeit. So viel Kunstfertigkeit. So viel Geschichte. Es lag mir am Herzen.“ Rosenthal legte die Vase andächtig in die Holzkiste zurück, bevor er sich wieder Namarra widmete. Dabei hielt er die Finger leicht ineinander verschränkt, als würde er beten wollen. „Das ist ein gutes Stichwort. Es gibt noch etwas, dass mir am Herzen liegt.“
Soweit sich Namarra erinnern konnte, betraf die letzte Herzensangelegenheit von Rosenthal die Bibliothek und damit ihn als Bodyguard persönlich, wenn auch nur indirekt. Er besaß die ausdrückliche Erlaubnis Rosenthals, die umfangreiche Bibliothek nach freiem Ermessen zu nutzen – einen sorgsamen Umgang mit den Raritäten vorausgesetzt. Obgleich Namarra ab und an wirklich Zeit in dem fast schon sakralen Raum verbrachte, las er nie ein einziges Buch. Vielmehr genoss er die Ruhe, die fast vollkommene Stille, die tief in ihn eindrang und verborgene Spannungen in seinem Inneren besser löste, als es eine Massage vermocht hätte. Manchmal wurde er dabei nachdenklich, dann dauerte es meistens nicht lange, bis Erinnerungen auf ihn einstürzten, auf die er nicht den geringsten Wert legte.
Rosenthal schien sich zu freuen wenn er Namarra die Bibliothek besuchen sah, doch dieser sagte ihm nie, dass er der Fülle der niedergeschrieben Dinge wenig abgewinnen konnte. Seine Philosophie in dieser Hinsicht bestand darin, dass alles, was es zu wissen galt, im Bedarfsfall nur einen Mausklick entfernt bei Wikipedia lagerte.
„Wie Sie wissen, habe ich in den letzten Jahren nicht viele nennenswerte Reisen durchgeführt. Daher wird das jetzt in doppelter Hinsicht eine Überraschung für Sie sein.“
Sofort wurde Namarra hellhörig. Genaugenommen hatte Rosenthal in der ganzen Zeit, in der er für ihn arbeitete, nur vier Reisen unternommen, die diese Bezeichnung auch verdienten. In den letzten elf Jahren war Rosenthal lediglich zwei Mal nach New York sowie einmal je nach Buenos Aires und Vancouver geflogen. Immer begleitet von David Namarra und Lisa. In allen Fällen verliefen die Reisen, die nie länger als zehn Tage dauerten, glatt und ereignislos – zumindest aus der Sicht eines Leibwächters. Allerdings lag der letzte dieser Ausflüge auch schon wieder sechs Jahre zurück. Rosenthal vertrat seit geraumer Zeit den Standpunkt, dass jeder, der etwas von ihm wollte, gefälligst zu ihm kommen sollte. „Sollte ich mich vielleicht nicht doch hinsetzen?“
Rosenthal wischte die flapsige Bemerkung seines Leibwächters mit einer müden Handbewegung weg. „Um es kurz zu machen: Ich fliege in vier Tagen nach Mumbai. Ich nehme nur Arne Sjöberg mit. Und Lisa natürlich.“
Damit hatte Namarra nicht gerechnet, nicht einmal ansatzweise. Alan Rosenthal plante einen Ausflug nach Indien. Einmal um die halbe Welt, obwohl er ständiger medizinische Betreuung bedurfte, obwohl er die letzten sechs Jahre nicht aus Kalifornien herausgekommen war. Die Sache war rätselhaft, was konnte Rosenthal so weit weg wollen? Das Einzige, was Namarra zu Mumbai einfiel war der Begriff `Diamanten'. Dagegen sprach, dass der alte Mann sich nie etwas aus Edelsteinen und Schmuck gemacht hatte, was möglicherweise der Abwesenheit einer Frau in den letzten dreißig Jahren im Leben Rosenthals geschuldet war. Die Welt des Millionärs bestand aus Immobilien, Kunstgegenständen und Geschäftsbeteiligungen. Woher also kam mit einem Mal dieser Sinneswandel? „Darf ich fragen ob Sie beabsichtigen, Diamanten zu erwerben?“, erkundigte sich Namarra neugierig.
Rosenthal zögerte ein paar Sekunden. „Mir liegt ein Angebot für ein bezauberndes Set vor, welches allerdings zeitlich limitiert ist. Wie ich jedoch schon erwähnte, hängt mein Herz daran, daher muss ich wohl oder übel über meinen Schatten springen.“
Namarra nickte verständnisvoll, obwohl seine Gedanken durcheinanderwirbelten. „Und Sie nehmen Sjöberg mit, das habe ich doch richtig verstanden?“
„Haben Sie ein Problem damit?“ Rosenthal sah ihn durch seine dicke Brille an wie einen seltenen Käfer.
Verdammt, ja, natürlich hatte er ein Problem damit. „Nun ja“, begann Namarra nachdenklich, „immerhin sind Sie dann mit wertvollen Edelsteinen unterwegs. Vielleicht sollte Sie deshalb jemand mit einer etwas längeren Berufserfahrung begleiten. Sjöberg ist erst seit einem halben Jahr bei uns. Von der Versuchung gar nicht zu reden. Nichts gegen Arne, wohlgemerkt.“ So richtig passten die Dinge nicht zueinander, weil sie nicht zu Rosenthal passten. Das Ganze war schwierig zu verstehen.
„Das mag ja alles sein, Namarra, aber ich habe bereits gründlich darüber nachgedacht und eine Entscheidung getroffen. Die Tickets und das Hotel sind gebucht. Die paar Tage ohne mich überstehen Sie schon.“
Es schien zwecklos, den alten Mann umzustimmen zu wollen. Namarra überlegte, woraus die Entscheidung wirklich resultierte: spielte der Altersstarrsinn eine Rolle oder blendete Rosenthal das Diamantenangebot derart, dass er solch eine seltsame Entscheidung traf? Schon die Motivation zum Kauf der chinesische Vase war fast unerklärlich, doch was zum Teufel wollte sein Chef mit einem `bezaubernden Diamantenset'?
Aber immer, wenn sein Arbeitgeber von einer getroffenen Entscheidung sprach, erwies sich dies dann auch tatsächlich als der letzte Stand der Dinge, ob nun sinnvoll oder nicht. Manche Dinge konnte man nicht ändern, und das hier gehörte dazu.
Er musste mit Arne Sjöberg reden, vielleicht wusste der schwedische Neuzugang Einzelheiten, die die Sache in einem anderen Licht erscheinen lassen würden. Namarra überlegte, wie er dabei am diskretesten vorgehen konnte. Er besaß kein Interesse daran, Rosenthal als lächerlichen, halb dementen Greis dastehen zu lassen, falls dessen Information über den Diamantenkauf etwas beinhaltete, was vielleicht völlig anders gemeint war.
Rosenthal bediente fast jedes im Umlauf befindliche Klischee eines eigensinnigen, reichen Juden, aber dennoch schätzte ihn Namarra. Der Millionär spendete viel Geld an Wohltätigkeitsorganisation, kümmerte sich um seine Angestellten und war - zumindest soweit Namarra das beurteilen konnte - fair zu seinen Geschäftspartnern. Ab und an sogar war der alte Mann auch zu einem Spaß aufgelegt.
Abgesehen davon hatte Namarra eine Menge zu verlieren, sollte die weitere Kommunikation aus dem Ruder laufen. Er bezog ein übertrieben gutes Gehalt und residierte auf dem Anwesen in einem einhundert Quadratmeter großen Gästehaus in einer Lage, um die ihn Banker und Anwälte beneidet hätten. Er besaß zudem den fast unschlagbaren Bonus, dass Rosenthal im vertraute - das Ergebnis zweier durch sein Eingreifen glimpflich verlaufener Überfälle und einer umsichtigen Karriereplanung.
Das alles hatte im dritten Jahr seiner Tätigkeit für Rosenthal dazu geführt, dass acht Hektar große Grundstück an strategisch wichtigen Stellen mit Kameras zu bestücken und eine neue Sicherheitstechnik zu installieren. Alles mündete im sogenannten `Bunker', ein mit Technik und Bildschirmen vollgestopfter Raum, zu dem Namarra einen Schlüssel verwahrte. Der andere Schlüssel lag bei Rosenthal im Schreibtisch und staubte dort unbenutzt ein, da Rosenthal sich nicht im Mindestens für Technik jeglicher Art interessierte. Der Millionär hatte die Kosten für das gesamte Sicherheitspaket in Höhe von fast vierhunderttausend Dollar achselzuckend bezahlt. Manchmal fragte sich Namarra, warum er nicht einfach gelogen, Rosenthal eine deutlich höhere Summe gesagt und den Rest abgezweigt hatte.
Sjöberg erwies sich als keine Hilfe. Im Gegenteil, er bestätigte Namarras Verdacht, dass dieser den Job mit völlig falschen Vorstellungen angenommen hatte.
„Ich wüsste nicht, dass in meinem Arbeitsvertrag etwas von Mumbai steht“, nörgelte der junge Schwede.
„Dann sollten Sie ihn noch einmal gründlich durchlesen. Der entsprechende Passus steht ziemlich weit hinten: `Nach Erfordernis erfolgt der Personenschutz weltweit'. Das schließt so ziemlich jeden Ort in Indien mit ein.“
„Ja. Aber ein Riesendrecksnest wie Mumbai? Und er hat mir noch nicht einmal gesagt, was er dort will.“
Das wiederum fand Namarra erstaunlich, weil diese Informationen die Basis dafür darstellte, dass Leute wie er ihren Job vernünftig durchführen konnten.
„Wenn Sie wollen, ich tausche gern. Und überhaupt: warum nimmt er eigentlich nicht Sie mit?“, jammerte Sjöberg weiter.
Das hätte Namarra auch gern gewusst. „Er ist der Chef und muss seine Entscheidungen nicht begründen. So einfach ist das. Ich schlage vor, Sie beschäftigen sich langsam mit der Thematik. Das ist kein Todesurteil, sondern eine Chance. Sehen Sie es als Ihre erste große selbstständige Aufgabe.“
Sjöberg trottete davon, während Namarra ihm kopfschüttelnd hinterher sah. Ein sechsundzwanzig Jahre alter, kraftstrotzender Wikinger, der lief, als würde er zu seiner eigenen Hinrichtung gehen. Der Schwede erwies sich zwar als ausgezeichneter Schütze, aber viel mehr schien es dann doch nicht zu sein. So lange Rosenthal jedoch in letzter Konsequenz alle Personalentscheidungen selbst traf, würde es immer wieder zu solchen Situationen kommen.
Sjöbergs Aussage bestärkte ihn jedoch in der Seltsamkeit der Angelegenheit und machte ihm gleichzeitig klar, dass es höchste Zeit war, mit Lisa zu reden. Sie wohnte in einem Zimmer im Haupthaus und war Rosenthals Krankenschwester, Sekretärin, Seelentrösterin und Begleiterin in Personalunion. Sie sah allenfalls durchschnittlich aus, besaß jedoch eine anbetungswürdige Figur. In unregelmäßigen Abständen - meist wenn beide etwas getrunken hatten - gingen sie zusammen ins Bett.
Namarra lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, platzierte seine Füße lässig auf dem Schreibtisch, verschränkte die kräftigen Hände hinter dem Nacken und versuchte, sich einen Reim auf die ganze Geschichte zu machen.
Wie ein metallenes, Nahrung suchendes Insekt aus einer anderen Welt schwebte der schwarzglänzende Hubschrauber flüsternd über dem Highway. Im Inneren der Maschine befanden sich neben den beiden Piloten noch Patricia Cooper und Robert Sheckley. Letzterer war zur Überraschung der Bundesagentin erst in letzter Minute eingestiegen, nachdem er sich als hochrangiger Vertreter der Homeland Security ausgewiesen hatte. Er war ein korpulenter, kurzatmiger Mann, der sich wichtig gab. Die Frau schenkte ihm dennoch kaum Aufmerksamkeit, denn seit nunmehr vierzig Minuten wechselte ihr Blick zwischen einem Bildschirm im Hubschrauber und dem Tablet in ihrer Hand hin und her.
Das Objekt ihrer Beobachtung war in beiden Fällen dasselbe: ein Taxi, das weit unter dem riesigen Insekt träge im dahinfließenden Verkehr mitschwamm. Es befand sich auf dem Weg zum L.A. International Airport.
Bislang hatte Sheckley nur stumm aus dem Fenster gesehen, doch plötzlich berührte er Cooper mit einem seiner dicken Finger am Arm, um auf sich aufmerksam zu machen. Sie wandte ihren Bick kurz von dem Tablet - auf dem zwei kleine rote Punkte nervös blinkten - und sah ihn fragend an.
„Noch höchstens fünfzehn Minuten bis zum Airport. Denken Sie es kommt noch etwas dazwischen, bevor er dann in sein Flugzeug steigt?“
Durch die hervorragende Schalldämmung des Helikopters, die fast keine Geräusche der Rotoren ins Innere ließ, verstand Cooper ihn völlig problemlos.
Sie zuckte mit den Schultern. „Selbst wenn: er trägt einen nicht lokalisierbaren Transponder im Oberarm. Laut Eigenwerbung des Herstellers könnten wir ihn damit noch auf dem Grunde des Mariannengrabens in einem Betonbunkern mit fünf Meter dicken Mauern orten. Er geht also auf keinen Fall verloren.“
Sheckley nickte zufrieden. „Erzählen Sie mir etwas über ihn. Warum glauben Sie, kommt gerade er in Frage?“
Sie seufzte innerlich. Natürlich verfügte Sheckley über die Berechtigung, solche Dinge fragen, schließlich hatte die Heimatschutzbehörde ein Recht darauf zu wissen, was mit den Staatsgeldern, die sie und ihr Team ständig zur Überwachung verpulverten, im Detail geschah. Andererseits erhielt die Homeland Security in regelmäßigen Abständen Berichte, die exakt die Antworten auf diese Fragen enthielten. „Ethan Kendrick, 64 Jahre alt. Sein Unternehmen hat die Errichtung einer hochtechnisierten Brücke in China geplant. Er persönlich soll die nächsten drei Jahre den Bau beaufsichtigen. Ein international hoch gehandeltes Prestigeprojekt der Chinesen mit entsprechendem Renommee und Vergütung. Also ist er erst einmal auf unsere Liste gekommen und wir haben ihn durchgecheckt. Das ist die Standard-Vorgehensweise. Dabei haben sich im Umfeld von Kendrick Auffälligkeiten ergeben. Bis zu diesem Zeitpunkt hat die betreffende Person keine Ahnung, dass wir sie überprüfen. Erst danach treten wir an die Person heran und machen auf das Gefährdungspotenzial aufmerksam.“
Erneut nickte der dicke Mann neben ihr. „Die weltweit erste Brücke, die Strom erzeugt. Ich habe davon gehört.“ Sheckley kratzte sich am Kinn und sah wieder hinaus.
Der Tross der Fahrzeuge näherte sich einer Ampelkreuzung.
„Wie weit weihen Sie die Leute eigentlich ein? Und nach welchen Kriterien treffen Sie Ihre Auswahl?“
Auch wenn sie die Berechtigung der Fragen akzeptierte, nervte sie der Zeitpunkt. „Wir können es gar nicht riskieren, jemanden detailliert einzuweihen. Eine so effiziente und glänzend strukturierte Organisation, deren Fehlerrate offensichtlich bei null Prozent liegt – zumindest ist in den letzten Jahren keine der verschwundenen Personen, deren Entführung wir der mysteriösen Gruppe zuschreiben, je wieder aufgetaucht. Wenn sich das herumspricht oder die Presse davon Wind bekommt … gar nicht daran zu denken. Also erzählen wir nur das Allernötigste.“ Ein gewisser Grad an unangemessener Bewunderung schwang in Coopers Worten mit, als würde sie jemanden Respekt zollen, der hervorragende Arbeit leistete.
Dabei erwies sich die Bandbreite der Vermissten an sich als nicht besonders groß. Je nachdem, in welcher Gruppierung man die Verschwundenen zusammenfasste, handelte es sich vorwiegend um Ärzte, Naturwissenschaftler und Ingenieure. Dies wäre bei der Vielzahl der Menschen, die weltweit einfach so von der Bildfläche verschwanden, niemanden wirklich aufgefallen. Bis ein FBI-Anwärter im Rahmen einer Studie die merkwürdige Veränderung, die absolut nicht in das übliche Schema der sonstigen Vermisstenanzeigen passte, bemerkte. Weitere Nachforschungen ergaben, dass es sich meistens um Koryphäen auf ihrem jeweiligen Fachgebiet handelte oder zumindest um Personen, die durch ihre Arbeit im Focus der Öffentlichkeit standen.
„Und was die Auswahl betrifft“, fuhr sie fort, „Wir versuchen so viele Verbindungen wie möglich herzustellen. Wer wurde bisher entführt? Was für ein Fachgebiet? Wo sind die Kontaktpunkte zu anderen Fachgebieten oder Projekten? Wie sind letztere dotiert? Welche wissenschaftlichen Projekte stehen aktuell im Fokus der medialen Öffentlichkeit? Der Entwurf der Brücke zum Beispiel ist ziemlich futuristisch und ausgiebig durch die Medien gegangen. Verdichten sich irgendwelche Anzeichen? In der Summe dieser Dinge treffen wir eine Entscheidung, wen wir überwachen und wen nicht.“
„Okay.“ Sheckley winkte kurz ab. „Aber ich persönlich glaube nicht, dass jemand Verwendung für einen Brückenbauingenieur hat. Ich rede also von verschwendeten Steuergeldern.“
Sie musste zugegeben, dass sie tief in ihrem Inneren die gleiche Befürchtung hegte. Aber nichts desto trotz mussten sie jeden Strohhalm ergreifen, der sich ihnen bot.
Sie dachte flüchtig daran, wie man sie vor drei Jahren, zu ihrer großen Verwunderung, in das Team des nordamerikanischen Krisenstabes geholt hatte. Weder verfügte sie über Erfahrungen in Bereich Entführungen, noch besaß sie ein gesteigertes Interesse daran, ständig quer durch das Land zu fliegen. Offensichtlich jedoch brachte sie das richtige Gespür für diese Tätigkeit mit, denn bereits nach zwei Jahren wurde sie zur Einsatzleiterin des Büros berufen.
Und jetzt saß sie festgeschnallt in einem Hubschrauber und beobachtete ein Spielzeugtaxi, während eine schwenkbare und hochauflösende Kamera die Geschehnisse unter ihnen aufnahm.
Die roten Punkte auf dem Tablet in ihrer Hand kamen jetzt zum Stillstand. Ethan Kendrick und seine Sicherheitseskorte, die nun in einigem Abstand zu ihm mit vielen anderen Fahrzeugen an einer Ampelkreuzung anhielten. Hinter dem Taxi stand ein großer Truck, der, bedingt durch den Sichtwinkel aus dem Hubschrauber, das kleinere Fahrzeug mit dem Ingenieur darin nur zur Hälfte den Blicken freigab.
Auf der Ampelkreuzung zwischen den nun still stehenden Fahrzeugen bewegten sich zwei Männer. Soweit sie das auf dem Bildschirm erkennen konnte, boten diese Zeitungen zum Verkauf an. Einer der Männer ging zu dem Taxi in dem Ethan Kendrick saß und verschwand damit gänzlich im Sichtschatten des Trucks. Die zwei Personenschützern in ihrem unauffälligen Jeep standen ungefähr dreißig Meter hinter dem Gegenstand ihrer Observation, eingeklemmt zwischen anderen wartenden Autos.
Die Situation unterschied sich in nichts von hunderttausend ähnlichen, die ununterbrochen auf der ganzen Welt vor dieser Art Kreuzung stattfanden. Und doch läutete in ihrem Kopf eine kleine nervige Alarmglocke, meldete ihre Intuition Bedenken an.
Die abrupte Zunahme von unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeiten, wie sie es nach einer Simulation im Studium genannt hatte. Sie wusste, dass das ein wenig nach Douglas Adams klang und konnte es noch nicht einmal im Einzelnen definieren, aber die ganze Sache gefiel ihr nicht.
Der Mann mit der Zeitung kam wieder in ihr Blickfeld.
Der links abbiegende Verkehr von der anderen Seite der Kreuzung zog vor den wartenden Autos vorbei.
Plötzlich brach das Taxi seitwärts aus, rumpelte über den Bordstein, fuhr ein Stück auf den Fußweg und reihte sich dann rücksichtslos aber gekonnt in die Autoschlange ein. Zwei Fahrzeuge hinter dem Taxi krachten daraufhin ineinander und blockierten halbseitig die Fahrbahn, so dass sich der Verkehr zurückstaute. Das Taxi mit Ethan Kendrick darin drängte auf die Überholspur und beschleunigte.
Patricia Cooper brüllte in ihr Headset. „Sie sind ausgebrochen! Sie fahren Richtung Industriegebiet! Vorsprung ungefähr einhundert Meter! Los, los, los!“
Die Information war einzig und allein für die Sicherheitsleute auf der Straße bestimmt, doch der Pilot reagierte ebenfalls, er ließ die Maschine etwa sinken und nahm die Verfolgung auf.
Auf dem Tablet entfernten sich die beiden blinkenden Punkte, die Signale von dem Chip in Ethan Kendricks Oberarm und dem Transponder an dem Fahrzeug der Observation, rasch voneinander.
Der Hubschrauber befand sich jetzt genau über der Ampelkreuzung, die nun ein einziges Chaos aus sich gegenseitig behindernden und hupenden Autos darstellte. Cooper sah, wie ein Fahrzeug ein ganzes Stück hinter dem Truck kurz rangierte und dann ebenfalls auf den Fußweg fuhr. Die Sicherheitseskorte. Deren Fahrer blieb auf dem menschenleeren Fußweg, bog rasant um die Kurve, wobei er mit dem Heck des Wagens ein Verkehrszeichen rammte. Dann beschleunigte er ebenfalls. Der Vorsprung des Taxis betrug jetzt mindestens vierhundert Meter, doch zumindest der Hubschrauber holte schnell auf.
Cooper fragte sich, ob und in welchem Umfang der Taxifahrer seine Verfolger bemerkt oder er einen Hinweis erhalten hatte. Wusste er, dass er von zwei Stellen aus beobachtet wurde, dass man seine Bewegungen aufzeichnete? Seine einzige Chance bestand darin, einen Tunnel oder eine Tiefgarage zu erwischen, aber beide Dinge würden hier draußen im Industriegebiet kaum zu finden sein. Was auch immer er ab jetzt unternahm, seine Flucht war fast aussichtslos.
Sie informierte mit ruhiger Stimme die Polizei und die Flughafenbehörde. Selbst wenn Ethan Kendrick jetzt schon nicht mehr lebte, der Taxifahrer gehörte ihr.
Unvermittelt bog das Taxi schlingernd in eine Einfahrt ein, fuhr eine kurze Steigung hinauf und raste dann an mehreren Hallen vorbei. Der Hubschrauber flog jetzt in eine Höhe von zwanzig Meter ein paar Meter hinter dem Taxi her. Es gab keinen Grund mehr, Versteck zu spielen.
Die Sicherheitsleute von Kendrick in ihrem grauen Geländewagen hatten mächtig aufgeholt und befanden sich jetzt ebenfalls an der Einfahrt.
In einiger Entfernung vermeinte Cooper das Jaulen von Polizeisirenen zu hören.
Das Taxi fuhr mit voller Geschwindigkeit direkt auf eine einzeln stehende große Halle zu. Plötzlich öffnete sich das einzige doppelflügelige Tor des Gebäudes wie von Zauberhand, das Taxi schoss fast ungebremst hindurch und verschwand in der Dunkelheit. Sekunden darauf schloss sich das Tor wieder.
Cooper wies den Hubschrauberpiloten an, über dem Gebäude in der Luft stehen zu bleiben, denn dieser Standort bot den besten Rundumblick. Sollte jemand versuchen aus der Halle zu flüchten, würden sie dies sofort bemerken. Rings um den Industriebau bildeten aneinandergereihte Betonplatten einen einfachen aber breiten Fahrweg, so dass selbst ein großer Truck diesen bequem umrunden konnte.
Ihre Erfahrungen mit Verfolgungsjagden beruhten auf zwei lächerlichen Übungen, aber dennoch beschlich sie angesichts der jetzigen Situation ein ungutes Gefühl. Ob guten oder schlechten, den meisten Dingen wohnte eine gewisse Logik inne. Doch das hier passte nicht zusammen, es war zu seltsam. Wieso flüchtete jemand an einen Ort, der sich so wunderbar umstellen ließ und keine Fluchtmöglichkeit bot? Sie wusste, dass Verbrecher nicht immer rational handelten, aber der Entschluss der Entführer, sich hier zu verstecken, entsprang ganz offensichtlich keiner spontanen Entscheidung. Möglicherweise bestand die Lösung darin, dass es sich um eine unterkellerte Halle mit Verbindungstunneln zu anderen Gebäude handelte. Nach einer kurzen Überlegung jedoch verwarf sie die Wahrscheinlichkeit für diese Variante.
Die Sicherheitsleute hielten dreißig Meter vor der Halle, blieben jedoch in ihrem Fahrzeug sitzen. „Was machen wir jetzt?“, fragte der Fahrer Cooper über Funk an.
„Wir warten auf die Polizei. Sie steigen aus und verschanzen sich hinter dem Jeep. Behalten Sie das Tor im Auge, bereiten Sie sich auf einen Schusswechsel vor“, antwortete sie ihm.
Dann wies sie den Piloten an: „Wir sehen uns die Rückseite der Halle an. Aber wir bleiben in der Luft.“
Der Pilot steuerte den Hubschrauber gekonnt, bis sie die Rückfront der Halle überblickten und auch endlich wieder die Betonflächen zu beiden Seiten komplett einsehen konnten. Ein großes zugemauertes Tor stellte die einzige Unterbrechung in der schlichten Rückfront dar. Der Pilot ließ den Hubschrauber wieder steigen, gerade rechtzeitig um zu bemerken, dass vier Polizeifahrzeuge in einigem Abstand vor der Halle ankamen.
Die Polizisten hielten kurz Rücksprache mit den zwei Sicherheitsleuten, dann fuhr eines der Polizeifahrzeuge zur Rückseite der Halle, während der Pilot den Hubschrauber behutsam hinter den drei wartenden Polizeifahrzeugen landete.
Zwei Meter neben dem etwas breiteren Tor, durch das das Taxi gerast war, befand sich eine stählerne Tür, die, ebenso wie das wesentlich größere Tor, schon vereinzelt Roststellen aufwies. Die bewaffneten Polizisten benötigten mit dem richtigen Werkzeug lediglich eine halbe Minute, um sie gewaltsam zu öffnen. Sich gegenseitig Deckung gebend, drangen die Männer zielstrebig in das Innere der Halle vor. Bereits nach wenigen Minuten kam einer der Polizisten aus dem Gebäude zu Cooper, die neben der Tür gewartet hatte. Er sah sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. „Das Areal ist gesichert. Dort drin ist niemand. Das ganze Ding ist ein hohler Vogel. Bis auf das brennende Taxi natürlich.“
Das Gebäude erwies sich als über vierzig Meter lange Halle, in der, auf der rechten Seite und eine Fläche von vielleicht fünfzig Quadratmetern einnehmend, so etwas wie ein einstöckiger Büro- und Sanitärtrakt eingebaut war. In einer Höhe von sechs Meter ließen umlaufend angebrachte und verschmutzte Fenster, die sämtlich mechanisch bedient werden konnten, Zwielicht in das Innere. Einige davon waren angelehnt, andere verschlossen oder mit zerbrochenen Scheiben. In dem Gebäude fand sich kein Eingang zu einem Keller, ansonsten verfügte es nur über die drei bekannten Zugänge, von denen man jenen an der Rückfront aus unbekannten Gründen zugemauert hatte.
Vertrocknete Blätter lagen verstreut auf dem Boden, alles wirkte abgestanden. Augenscheinlich wurde das gesamte Bauwerk schon längere Zeit nicht genutzt.
Fast an der Mitte der Halle stand das Taxi mit geöffneten Türen und Kofferraumklappe, innen und außen bedeckt mit weißem Löschschaum, der nun rapide in sich zusammenfiel. Der unangenehm beißende Geruch nach verbranntem Kunststoff hing unverrückbar in der Luft. Ethan Kendrick und der Taxifahrer befanden sich nicht mehr in der Halle, so viel stand fest. Ebenso wie die dritte Person, denn es war offensichtlich, dass jemand das Hallentor manuell von innen geöffnet und wieder geschlossen hatte.
Ein Blick in den verrußten Kofferraum verriet Cooper, dass das Gepäck von Kendrick ebenfalls fehlte.
„Ich verstehe das nicht“, sagte sie aufgewühlt, nachdem sie ihrem Vorgesetzten Landon Farmer am Telefon die Situation detailliert geschildert hatte. „Die hatten ein Zeitfenster von, ich weiß nicht, fünf oder sechs Minuten? Wir haben das gesamte Areal einsehen können. Es ist einfach nicht möglich, dass drei oder mehr Personen unerkannt entkommen sind.“
„Wenn es nicht möglich ist, hat Ihr Team zwangsläufig etwas übersehen“, kam es von Farmer hart zurück.
Sie biss sich auf die Lippen. Das war wie eine verdammte Zaubershow von Copperfield. Nur kam ihr der Verdacht, dass Ethan Kendrick nicht wieder auftauchen würde. Sie sah zu Robert Sheckley hinüber, der die Show aus sicherer Entfernung beobachtete und ebenfalls telefonierte.
„Wie auch immer: Ich schicke Ihnen die Spurensicherung. Irgendetwas muss es geben, irgendeine Spur werden wir finden. Das ist immerhin mehr, als wir bisher hatten.“
„Ihr Wort in Gottes Ohr.“ Patricia Cooper stand an den Helikopter gelehnt, das Handy in ihre Hand fühlte sich heiß an. „Da ist noch etwas.“ Ihr Blick fiel auf das Tablet, das jetzt nutzlos auf einem Sitz lag.
„Ach ja?“
„Der Sender von Ethan Kendrick ist nicht mehr zu orten.“
Farmer schwieg ein paar Sekunden. „Zufall. Vielleicht hat er auch einen gezielten Schlag auf den Arm bekommen“, sagte er schließlich. „Oder ein wie auch immer gearteter elektrischer Impuls hat das Ding lahmgelegt. Sollten die Entführer von unserer Überwachung gewusst haben, können wir zudem nicht mit Sicherheit ausschließen, dass das nicht auch für den Sender gilt. Unter Umständen ist Ihr Team doch nicht so wasserdicht, wie wir alle denken.“
Sie verkniff sich die Bemerkung, dass die Wahl ausschließlich ihm oblegen hatte. Handverlesene spezialisierte Teamplayer, wie er es nannte.
Möglichweise hatte Farmer über seine eigenen Worte nachgedacht. „Vielleicht ist es auch nur ein Defekt. Das ist teure Technik, also ist sie auch empfindlich. Aber wir kümmern uns darum“, lenkte er ein.
Sie rang sich ein bitteres Lächeln ab. „Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als sich Kendrick anscheinend in Luft auflöst, versagt sein Sender? Die Wahrscheinlichkeit lässt sich sicherlich berechnen, aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass sie verschwindend gering sein dürfte.“
„Sie und Ihre Wahrscheinlichkeiten“, wandte Farmer bissig ein.
„Wie Sie wissen, habe ich früher am MIT genau diesen Kram studiert. Einer der Gründe, warum man mich ins Team geholt hat. Ich denke, ich kann das also ganz gut beurteilen.“
___
Das gesamte Team von Patricia Cooper, Farmer inbegriffen, ging die Kameraaufzeichnungen über diesen Zeitraum durch, die der Techniker bereits ein Dutzend Mal vor- und zurück gespult sowie einzelne Segmente davon mit einem Zeitstempel versehen hatte.
„Sechs Minuten und achtunddreißig Sekunden“, sagte Cooper schließlich. „Das ist die exakte Zeitspanne zwischen dem Schließen des Hallentors und der Mitteilung des Polizisten an mich, dass sich in der Halle niemand befindet.“
„Im gesamten Zeitablauf gibt es eine Lücke von siebzehn Sekunden“, resümierte Landon Farmer mit schwerer Stimme. „In diesen wenigen Sekunden hat die Kamera des Hubschraubers zwar die Halle, nicht aber einen kleinen Teil des umliegenden Areals aufgenommen. Das könnte die Lösung sein.“
Cooper sah Farmer irritiert an. „Gut, es fehlen ein paar Sekunden. Wenn Sie jedoch genau hinsehen werden Sie feststellen, dass dieser nicht einsehbare Teil nur über eine Stelle in der Außenwand zugänglich gewesen wäre, an der sich keine Tür befindet.“
„Die könnten durch ein geöffnetes Fenster geklettert sein“, warf ein anderes Mitglied ihres Teams nachdenklich ein. „Aber sicher“, pflichtete Patricia Cooper sarkastisch bei.
„Die sind in der Halle eine sechs Meter hohe Wand emporgekrabbelt, haben sich danach abgeseilt und sind anschließend über einen zehn Meter breiten Betonstreifen gerannt. Zum Schluss klettern sie dann über einen fast zwei Meter hohen Zaun. Vermutlich zu dritt, wohlgemerkt, mit dem Koffer von Kendrick in der Hand. Und das ausgerechnet in exakt den siebzehn Sekunden, in denen wir sie nicht sehen konnten?“ Sie sah die Männer kopfschüttelnd an: „Selbst wenn es physisch möglich wäre: Ich glaube nicht an Zufälle dieser Art. Nebenbei gesagt, haben wir auch weder ein Seil oder eine Leiter gefunden oder eine andere Behelfsmöglichkeit, um die sechs Meter Höhe zu überbrücken.“
„Ich gebe ja zu, dass es etwas dünn ist. Aber es ist momentan die einzige Wahrscheinlichkeit, die wir haben“, stellte Farmer fest.
Cooper setzte zu einer Erwiderung an, der Farmer zuvor kam.
„Ich weiß, vier Jahre MIT. Aber trotzdem. Oder Sie liefern uns eine andere Erklärung.“
Es gab keine andere Erklärung, nur unbefriedigende Varianten, die allesamt einer näheren Betrachtung nicht standhielten: so konnte Ethan Kendrick aus dem Wagen gestoßen wurden sein. Dagegen sprach, dass Kendrick dies bei ungefähr achtzig Kilometern in der Stunde vermutlich nicht überlebt und dies sicherlich einen weiteren Verkehrsstau verursacht hätte, der den Verfolgern aufgefallen wäre. Eine weitere Option war die einer Übergabe von Ethan Kendrick an ein anderes Fahrzeug. Aber auch ein solcher Vorgang hätte exakt in den einzigen zwanzig Sekunden, die der Hubschrauber das schnell fahrende Taxi nicht vor der Kamera hatte, stattfinden müssen. Von einer derart zufälligen Präzision hielt sie überhaupt nichts.
Selbst wenn Ethan Kendrick unterwegs abhandengekommen war und der Wind mit boshafter Zufälligkeit die Hallentür genau zum richtigen Zeitpunkt geöffnet hatte, blieb immer noch die Person übrig, die mit dem Taxi bis in die Halle gefahren war. Jemand, der sich offenbar unsichtbar machen konnte - und das war absurd.
Abgesehen davon log ihr Tablet nicht. Sie hat die letzte Standortbestimmung von Kendrick durchgeführt, als das Taxi in der Halle verschwand. Ihr Schützling war in der Halle gewesen, dafür konnte sie ihre Hand ins Feuer legen.
Also konnte sie keine andere Erklärung abliefern. Tief in ihrem Inneren jedoch beschlich sie das Gefühl, dass an der ganzen Angelegenheit etwas grundlegend nicht stimmte. Oder sie und die wenigen involvierten Mitglieder des Teams übersahen etwas.
Sheckley und Farmer saßen ihr im Nacken und trieben sie zur Eile, die sie an ihre Mitarbeiter weitergab.
Ein paar ereignisreiche Stunden später bereits traf sich daher ihr Team erneut im Hauptquartier, um sich gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen.
„Foster?“ Patricia Cooper sah den rechts neben ihr sitzenden Mann erwartungsvoll an.
Der dünne, ältere Mann mit dem angegrauten Vollbart ordnete hektisch seine Notizen, bevor er begann: „Das Taxiunternehmen. Seit siebzehn Jahren am Markt. Außer ein paar Verkehrsunfälle und Kundenbeschwerden, die sich in dieser Branche sicher nicht vermeiden lassen, gibt es in dieser Zeit keine eine polizeiliche Auffälligkeit. Alles in Ordnung.“
Cooper nickte anerkennend.
„Pit Hutchison, ein Mitarbeiter von Ethan Kendrick, hat das Taxi zwei Stunden im Voraus geordert. Der Fahrer heißt – oder hieß - Leonard Travis. Die Zuteilung der Fahrer ist ein fast automatisch ablaufender Vorgang. Für das Zeitfenster von Ethan Kendricks Fahrt gab es sechs freie Fahrer. So gesehen hätte es auch jeder andere sein können.“
„Zwei Stunden sind nicht besonders viel bei einem derart wichtigen Flug. Klingt nicht, als hätte dieser Pit Hutchison Eventualitäten einkalkuliert“, bemerkte Cooper. Gleichwohl wusste sie, dass alle Mitarbeiter von Kendrick den Überprüfungen standgehalten hatten. Es existierte nicht der kleinste Anhaltspunkt, dass Hutchison oder einer seiner Kollegen in die Sache verwickelt sein könnte. „Trotzdem, was haben wir über diesen Travis?“
Foster griff sich einen weiteren Notizzettel. „Leonard Travis, 41 Jahre alt, geboren in Pittsburgh. Lebt seit fünf Jahren hier beziehungsweise arbeitet in dem Unternehmen. Der Beschreibung nach ein unauffälliger, ruhiger Mann, vom Typ her Einzelgänger. Laut Aussage seines Chefs immer pünktlich, korrekt und höflich. Wir haben auf den ersten Blick nichts, was ihn für eine Entführung prädestiniert. Auch eine Verbindung zu Kendrick haben wir noch nicht finden können.“
„Er lebt also 36 Jahre in Pittsburgh, um dann über Nacht nach L.A zu ziehen und hier Taxifahrer zu werden? Klingt das nur für mich eigenartig? “, wandte Cooper ein.
„Nein, ich bin auch darüber gestolpert. Nach Aussage seines Chefs war es wohl eine Frauengeschichte, die ihn aus Pittsburgh vertrieben hat“, antwortete Foster hektisch, als müsste er sich verteidigen.
„Was hat er vorher beruflich gemacht?“
„Sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Anscheinend war er nicht die große Leuchte. Aber er hat die Prüfung, die ihn zum Taxifahrer qualifiziert, bestanden.“
„Überprüft das weiter. Ist er unser Hauptverdächtiger, egal ob ihn jemand gezwungen hat, in die Halle zu fahren. Was haben wir noch?“
„Die Zeitungsverkäufer“, meldete sich Katy Dunningham zu Wort, ein kräftige Brünette. „Die beiden stehen jeden Tag dort an der Ampelkreuzung und versuchen ihre Zeitungen zu verticken. Malcom Biggs, 23 Jahre alt und Josh Kardicky, 19. Biggs ist vorbestraft wegen Diebstahl, Kardicky sauber. Letzterer hat auch die Zeitung an die Scheibe gehalten. Drei Tage davor hat sie ein Mann beiseite genommen und ihnen einhundert Dollar geboten. Einhundert Dollar bar auf die Hand dafür, dass einer der beiden an die hintere linke Beifahrertür treten und die Aufmerksamkeit des Fahrgastes für ein paar Sekunden auf sich lenken soll. Nicht mehr und nicht weniger. Der Mann rief sie zehn Minuten vorher an und beschrieb das betreffende Fahrzeug.“
„Und das hat die Jungs nicht stutzig gemacht?“
„Doch, natürlich. Sie sagen es habe sich komisch angehört, aber die Zeiten sind hart und schließlich sei nicht strafbar, den Leuten an der Ampel Zeitungen zu verkaufen. Laut Beschreibung der beiden ist der Mann, der ihnen das Geld gegeben hat, ungefähr fünfundsechzig Jahre alt, grauhaarig und völlig durchschnittlich aussehend. Das Phantombild hat uns bisher nicht weiter gebracht.“ Dunningham hob kurz die Hände um zu verdeutlichen, dass sie mit ihrer Rede am Ende war.
„Kardicky hat doch sicherlich in das Taxi hineingesehen“, hoffte Cooper. „Hat er etwas Auffälliges bemerkt?“
„Nein. Der Beschreibung nach saßen nur Travis und Kendrick im Wagen. Travis vorn, Kendrick hinten. Alles völlig normal.“
„Auch beim dem silbernen Truck gibt es keine Auffälligkeiten“, meldete sich Foster ungefragt wieder zu Wort. „Reiner Zufall, dass er an der Kreuzung hinter dem Taxi gestanden hat. Ladung und Routen standen nachweislich seit ungefähr zwei Monaten Wochen fest. Der Flug von Ethan Kendrick wurde erst vor vier Wochen gebucht. Kein erkennbarer Zusammenhang.“
Sie hatte immer einkalkuliert, dass es deprimierend werden könnte, aber die trostlose Realität nagte doch an ihrem Ego. „Coulson, hast du die Halle untersuchen lassen?“
Der Angesprochenen, ein trübsinnig wirkender junger Mann, winkte ab. „Das hätten wir uns schenken können. Die Bodenplatte besteht durchgehend aus fast fünfzig Zentimeter starken Beton und Bewehrung. Es gibt keine Vertiefungen, Falltüren, geheime Gänge oder irgendetwas, was zur Flucht geeignet wäre.“ Coulson wischte sich den nicht vorhandenen Schweiß aus dem Gesicht. „Die Fenster sind auch ein Reinfall. Die Scharniere sind derart angerostet, dass sich fast keines davon ohne größere Gewalteinwirkung auch nur einen Millimeter bewegt. Ein Ding der Unmöglichkeit, dass die Entführer durch die Fenster entkommen sind. Wir haben den Eigentümer der Halle befragt, warum sich anscheinend die letzten Jahre nie jemand darum gekümmert hat, dass man kein einziges von den Dingern mehr öffnen oder schließen kann.“
Cooper beugte sich ein wenig vor. „Und?“
„Das Gebäude gehört einer Maschinenbaufirma. Die haben ihren Hauptsitz vor sieben Jahren dreihundert Kilometer weiter nach Westen verlegt. Wenn jemand anfragt, vermieten sie die Halle. Bisher fünf Mal. Ansonsten steht das Ding leer und verfällt. Die haben mir auch sofort die Baupläne gemailt. Es sieht nicht so aus, als hätten die etwas damit zu tun.“
„Wer war der letzte Mieter?“, wollte Dunningham wissen.
Coulsons Gesicht hellte sich ein wenig auf. „Eine Seniorenresidenz aus der Umgebung. Die haben vor drei Wochen den Mietbetrag für ein halbes Jahr im Voraus bezahlt, weil sie aus Gründen einer Umstrukturierung möglicherweise defekte Betten zwischenlagern wollten.“
„Vor drei Wochen?“, vergewisserte sich Cooper.
„Ja. Genau vor drei Wochen.“
Konnte es ein Zufall sein, dass eine Woche, nachdem Kendricks Flug nach China feststand, ein Unternehmen eine Halle mietete, die kurz darauf Schauplatz einer seltsamen Entführung war? Cooper stufte das Ereignis in die Kategorie mit `erhöhter Wahrscheinlichkeit' ein.
„Was soll eine Seniorenresidenz damit zu tun haben?“, fragte Foster, als er das nachdenkliche Gesicht seiner Chefin bemerkte.
„Was haben Wissenschaftler aus völlig verschiedenen Bereichen miteinander zu tun? Warum wird ausgerechnet ein Brückenbauingenieur das Opfer einer aufwändig geplanten Entführung? Geht es um Lösegeld? Will jemand nicht, dass er die Brücke für die Chinesen baut? Warum erschießt man ihn dann nicht? Wir wissen nichts, absolut nichts.“ Ihr Gesichtsausdruck hatte von nachdenklich auf wütend gewechselt. „Und so lange das der Fall ist, werden wir jeder verdammten Spur nachgehen. Außerdem habe ich es satt, verarscht zu werden.“
Patricia Cooper hatte immer für sich in Anspruch genommen, ihren Job so kühl und distanziert wie möglich zu betrachten. Doch die Erfolglosigkeit ihrer Arbeit ging ihr allmählich auf die Nerven und machte sie dünnhäutig.
Sie beendete das Meeting. Ihr Team hatte die wesentlichen Informationen recherchiert, aber es fehlten noch Puzzleteile, um auch mit Sheckley und zwei weiteren Repräsentanten von Regierungsbehörden den weiteren Ablauf besprechen zu können.
Eines der fehlenden Stücke bezog sich auf den Taxifahrer. Er war der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, unabhängig davon, wie das Taxiunternehmen oder die Seniorenresidenz dort hineinpassten. Also schickten sie die wenigen sicheren Daten der bisherigen Untersuchung und über Leonard Travis sowie zwei Fotos, die Kollegen von Kendrick zufällig mit dem Handy in der Stunde des Abschieds aufgenommen hatten, an einen persönlichen Kontakt beim FBI.
Dieser rief sie einen Tag später gegen fünf Uhr früh direkt in ihrem Hotelzimmer an. „Sorry für die frühe Störung“, entschuldigte Timothy Wang am anderen Ende der Leitung, „aber da weiß ich wenigstens, dass ich dich allein erwische.“ Es vergingen zwei Sekunden, bis der Anrufer seinen möglichen Denkfehler bemerkte. „Du bist doch allein, oder?“
„Ja“, seufzte sie innerlich. „Allein und müde. Also, ich bitte um die Kurzfassung.“
„Es gibt weder verwertbare Fingerabdrücke am Lenkrad noch an der Kofferraumklappe des Taxis an den Stellen, die den Brand überstanden haben“, informierte sie ihr Gesprächspartner. „Das ist auch kein Wunder. Wenn du genau hinsiehst erkennst du auf einem Foto, dass der Fahrer hellbraune Handschuhe trägt. Vermutlich Wildleder, wenn man sich die Struktur unter der Lupe ansieht. Aber ich habe das Gesichtserkennungsprogramm bemüht. Treffer mit 93 Prozent Wahrscheinlichkeit.“
„Also wissen wir, wer es ist.“
Cooper hörte, wie sich der Mann am anderen Ende der Leitung verlegen räusperte. „Das kann man so nicht sagen. Wir wissen, wer er war.“
„War?“, hakte sie sofort ein.
„Dein Leonard Travis ist Peter Jackmann, geboren 1958. Willst du seine Vita hören?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten fuhr er fort. „Schwierige Kindheit. Die Eltern Trinker, haben ihn nach seiner Aussage als Kind zur Prostitution gezwungen. Diebstähle, Einbrüche, Fluchtwagenfahrer, kleinere Drogendelikte. Nie die ganz großen Sachen, aber er hat offensichtlich nichts richtig auf die Reihe bekommen. War ziemlich oft im Gefängnis, von da her haben wir auch einige Fotos aus unterschiedlichen Zeiträumen. Aus dem Knast hat er den Spitznamen `Der schnelle Jack', warum auch immer. Keine Familie oder lebende nähere Angehörige. Ist Zweitausendzehn in einem kirchlichen Hospiz in Penn Hills in der Nähe von Pittsburgh und wie es aussieht ziemlich allein an AIDS gestorben. Offiziell ist er also seit mehr als acht Jahren tot.“
Ein plötzliches Kribbeln lief von Patricia Coopers Kopfhaut ihren Rücken hinunter.
„Wenn Peter Jackmann noch leben würde“, fuhr Wang fort, „müsste er jetzt um die sechzig Jahre alt sein. Unser Experte allerdings ist der Ansicht, der Typ auf deinem Foto ist zwischen vierzig und fünfundvierzig Jahre alt. Das würde dem Geburtsdatum in der Biographie von Leonard Travis entsprechen, der er aber nicht ist.“
„Daraus ergibt sich die Frage, was 93 Prozent Wahrscheinlichkeit wert sind.“
„Bei so vielen Übereinstimmungsmerkmalen erkennt jedes Gericht der Welt an, dass es derselbe Kerl ist. Sogar wenn er einen eineiigen Zwilling hätte, würde das Programm einen wesentlich größeren prozentualen Unterschied zwischen den beiden erkennen.“
„Jackmann stirbt also 2010, um zwei Jahre später und um zwanzig Jahre verjüngt als Leonard Travis wieder aufzutauchen. Viertausend Kilometer von dem Ort entfernt, an dem er gestorben ist? Und niemand hat sich bislang gefragt, wie er das wohl gemacht hat?“
Sie konnte hören, wie Timothy tief Luft holte.
„Niemand weiß das. Meiner Ansicht nach hat sich jemand sehr viel Mühe gemacht, um Jackmann eine neue und sichere Identität zu geben“, tönte seine Stimme eigenartig gepresst aus dem Hörer. „Die Frage ist: alles nur, um den Kerl in ein Taxiunternehmen einzuschleusen? Ich kann den Sinn dahinter nicht erkennen.“
„Ich auch nicht.“ Etwas anderes außer `Ich auch nicht' viel ihr nicht ein. Es ergab keinen Sinn, wie man es auch drehte und wendete. Aber irgendwie wiederum passte es auch zu dieser vertrackten Geschichte. Sie saß in ihrem Hotelzimmer auf dem Bett und betrachtete intensiv das Foto des rätselhaften Taxifahrers. Peter Jackmann. Jackmann, Peter. Der schnelle Jack. Sie konnte keine Verbindung zu diesem Namen herstellen. Die erhoffte Erleuchtung blieb aus. Ethan Kendrick, ihr Schutzbefohlener, wurde trotz aller akribischen Vorbereitungen direkt vor ihren und den Augen der Homeland Security entführt, und sie wusste nicht weiter.
„Falls noch nicht geschehen, solltet ihr einen DNA-Abgleich machen. Mit Sicherheit lässt sich in dem Taxiunternehmen genug Material dafür finden. Dann wisst ihr es genau.“
Trotz der Situation und ihrer Müdigkeit musste sie lächeln. „Ja, ich habe das Formular dazu gestern unterschrieben. Aber ich glaube, das Ergebnis kennen wir beide.“
„Möglich, ja. Du klingst etwas resigniert? Sieht nach einem kniffligen Fall aus, oder?“
Sie sah auf das Display des DVD-Players unter dem Fernseher, das die Zeit anzeigte. Fünf Uhr zweiundzwanzig. „Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Aber wie auch immer, ich werde jetzt versuchen noch eine Stunde zu schlafen. Ich danke dir für die Informationen. Viele Grüße an deine Frau.“
„Kein Problem, Patty, ich helfe doch gern“, antwortete er zufrieden. „Dann ruhe dich noch etwas aus. Bis demnächst wieder mal.“
„Bis demnächst, Tim.“ Sie legte ihr Smartphone behutsam auf den Nachttisch. Dann ließ sie das Foto achtlos auf den Fußboden fallen und knipste mit der nächsten Bewegung das Licht aus. Sie sank wieder in ihr Bett zurück, schloss die Augen und versuchte, an so wenig wie möglich zu denken.
___
„Wir waren so dicht dran. So verdammt dicht!“ Cooper schlug mit ihrer Hand wütend auf die Stuhllehne. Mit ihr am Tisch im Besprechungsraum der Zentrale saßen Landon Farmer, Robert Sheckley sowie zwei weitere Männer, die ihre Arbeit auf den Prüfstand stellten.
„Ja, das sagten Sie bereits. Mehrmals“, wies Farmer sie distanziert zurecht. „Davon können wir uns aber nichts kaufen. Was wir brauchen sind verbesserte Maßnahmen, damit das aufhört.“
Sheckley hakte ein. „Ich habe seit zwei Stunden die Berichte aus Asien auf dem Tisch. Die letzten sechs Monate, alles absolute Fachleute. In Taiwan ein Mathematiker, in Japan ein Herzchirurg. In Indien zwei Neurologen und ein Biochemiker. Vor einem Jahr sogar ein Astrophysiker. Zwei davon standen auf unserer Liste.“
„Ein Astrophysiker?“, fragten Cooper und Farmer wie aus einem Munde.
Sheckley sah auf seine Notizen. „Ganesh Sharma. Er gilt als Experte für die Urknalltheorie und leitet nebenbei eine der größten Sternwarten Indiens in …“
Farmer winkte ab. „Schon gut, das hilft uns auch nicht weiter. Mittlerweile hat die Presse Wind von der Angelegenheit bekommen. Wir können das Problem sicher noch eine Weile herunterspielen, aber unsere Zeit ist definitiv begrenzt. Man wird Fragen stellen, Patricia. Daher benötigen wir einen neuen Maßnahmenkatalog. Und das möglichst schnell.“
Patricia Cooper sah aus dem Fenster. Die Möglichkeit, dass man ihre Arbeit in Frage stellen könnte, hatte sie immer in Betracht gezogen. Als das letzte Mal jemand die Effektivität der Arbeitsgruppe vor zwei Jahren kritisierte, war sie die Karriereleiter ein Treppchen nach oben gestiegen.
„Bei allem Respekt“, begann sie vorsichtig. „Weltweit werden derzeit sechsundneunzig Personen überwacht, allein in den USA fünfundzwanzig. Wenn wir das ausweiten und vertiefen sollen, benötigen wir mehr Geld und qualifiziertes Personal.“
„Geld ist nicht das Problem“, warf Sheckley sofort zu ihrer Verwunderung ein. “War es nie.“
„Und man hätte mir sagen müssen, dass die Sender bei allen bislang entführten Personen ausgefallen sind. Wie kann man von mir verlangen professionell zu arbeiten, wenn man mir derart wichtige Informationen vorenthält?“
Farmer und Sheckley sahen sich überrascht an. Wahrscheinlich fragten sie sich gerade, woher sie dies wusste. Dabei war es für sie relativ einfach gewesen, an die Daten der Personen heranzukommen, die jetzt mit einer kleinen Sendeeinheit im Oberarm herumliefen. Die Namen derjenigen lagen nur in verschlüsselter Form vor, aber mittlerweile waren ihre Verbindungen viel besser, als es sich die Herren an ihrem Tisch vermutlich vorstellten.
„Was hätte das geändert?“, wiegelte Sheckley ab. „Und von den sechsundneunzig Personen haben nur einundfünfzig dem Einsetzen des Chips zugestimmt. Von diesen einundfünfzig Personen sind elf im vergangenen Jahr verschwunden, davon wiederum vier in den letzten sechs Monaten. Außerdem ist die weltweite Koordination nicht Ihre Gehaltsstufe, sorry.“
Cooper beschloss, den letzten Satz von Sheckley zu überhören. „Was es geändert hätte, wenn bei allen Verschwundenen der Sender ausfällt, falls `ausfallen' überhaupt das richtige Wort dafür ist? Erst einmal können wir ausschließen, dass es sich nur um einen Zufall handelt, was man mir bei Ethan Kendrick noch suggeriert hat. Daraus wiederum können wir ableiten, dass die Gegenseite entweder über professionelle Technik zum Aufspüren der angeblich nicht lokalisierbaren Chips besitzt oder jemand Informationen weitergibt. Jemand, der vermutlich die Namen aller einundfünfzig Personen kennt. In der Summe dieser Überlegungen sollte uns das weiterbringen. Das könnte ein Teil des Maßnahmenkataloges sein.“ Jetzt hatte sie beide mit einem Schlag erwischt, aber sie fühlte keinen Stolz darauf. Die ganze Sache war zu beunruhigend, um sich internen Streitereien hinzugeben.
„Okay. Offensichtlich sind Sie gut vernetzt“, sagte Farmer mit einem saurem Lächeln im Gesicht. „Das freut uns für Sie.“ Er nickte Sheckley zu, als wollte er sich dessen Einverständnis für seine nächsten Worte einholen. „Wie Bob schon sagte, Geld ist nicht das Problem. Verdoppeln Sie den Personenkreis, dieselbe Sicherheitsstufen wie bisher. Personenschutz, Sender, das volle Programm. Verwanzen Sie deren Wohnungen und den Arbeitsplatz, das Schlafzimmer der Geliebten, hören Sie jedes Gespräch ab. Stellen Sie dafür einhundert neue Leute ein. Schreiben Sie einen entsprechenden Budgetantrag. Suchen Sie nach weiteren Zusammenhängen zwischen den Verschwundenen. Arbeiten Sie mit verbesserten Algorithmen. Überprüfen Sie nochmal alle namhaften wissenschaftlichen Projekte. Ich meine, wer zum Teufel braucht einen Brückenbauingenieur und gleichzeitig einen Astrophysiker? Bauen die eine Brücke zu den Sternen? Oder haben diese Personen andere Talente, um die es vielleicht tatsächlich geht? Reden Sie mit den Angehörigen, mit den Kollegen.“
„In drei Wochen sitzen wir im Ausschuss. Dort wird man uns Fragen stellen, unangenehme Fragen. Zum Beispiel, warum wir allein in diesem Jahr achtzig Millionen Dollar ausgegeben haben, ohne dass etwas wirklich Zählbares dabei herausgekommen ist“, unterstrich Sheckley die Wichtigkeit des Anliegens.
„Sie bekommen die Zugriffsrechte auf die weltweite Datenbank, da müssen Sie keine inoffiziellen Nachforschungen mehr betreiben.“ Farmer sah ihr in die Augen. „Die anderen Leuten vielleicht den Job gekostet hätten, nebenbei gesagt.“
Der Hinweis ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, fand sie.
Sheckley strich sich über sein fettes Doppelkinn. „Natürlich wird sich der Ihnen entstehende Mehraufwand auch positiv auf Ihrem Konto auswirken.“
Ein Bonbon dafür, dass sie jetzt rund um die Uhr beschäftigt sein würde.
Farmer erhob sich. „Gut. Gibt es Ihrerseits noch Fragen? Benötigen Sie etwas?“
Außer einem mehrwöchigen Urlaub in völliger Abgeschiedenheit fiel ihr auf die Frage nichts ein. „Nein.“
„Da wir in drei Wochen Rede und Antwort stehen müssen, sollte uns der Katalog in zwei Wochen vorliegen, damit wir vielleicht noch Korrekturen vornehmen können.“
„Ja.“
„Gut. Dann an die Arbeit.“
Farmer entließ sie mit einer Handbewegung. Sheckley nickte ihr zu, sein Doppelkinn schwabbelte hin und her.
„Auch übrigens“, rief ihr Farmer hinterher, als sie die Türklinke schon in der Hand hielt, „Ben Smith hat ein kleines Problem. Er braucht kurzfristig Ihre Unterstützung, die ich hiermit autorisiere. Rufen Sie ihn am besten gleich an, aber verzetteln Sie sich nicht.“
Sie hatte ihren ehemaligen Chef schon seit über drei Jahren nicht mehr gesehen und es war ihr ein völliges Rätsel, was dieser von ihr wollte.
___
Am nächsten Tag traf Patricia Cooper sich mit früheren Vorgesetzten in dessen Büro. Soweit sie sich erinnern konnte, bestand die Einrichtung aus genau derselben tristen Möblierung wie vor fünfzehn Jahren, als sie das erste Mal diese Räume betreten hatte. Alles wirkte mittlerweile abgegriffen und altbacken und sie fragte sich, ob das FBI nur kein Geld ausgeben wollte oder Ben Smith einfach keine Änderung des Status Quo wünschte.
Nachdem sie beide ihre Freude über das Wiedersehen zum Ausdruck gebracht hatten, sah Ben Smith sie mit prüfendem Blick an. „Ich weiß, ich weiß, es ist nicht mehr Ihre Spielwiese“, begann er beschwichtigend. „Ich erkläre Ihnen kurz die Situation, in Ordnung?“
Cooper lehnte sich zurück. Das war verrückt. Farmer deckte sie mit Arbeit ein, die auf ihre weitere Karriere entscheidenden Einfluss haben würde. Gleichzeitig ließ er zu, dass ihr ehemaliger Chef sie für einen Gefallen in Beschlag nahm. Aber sie hatte keine Wahl und immerhin war es Smith gewesen, über den sie letztlich an ihren jetzigen Job gekommen war. Das Leben bestand aus Geben und Nehmen, obwohl sie das Gefühl beschlich, dass die letzten Jahre ihres Lebens in dieser Hinsicht eine sehr einseitige Entwicklung genommen hatten.
„Ich bin ganz Ohr.“
„Nehmen wir einmal an, wir haben einen verdienten Bürger der Stadt, der jedes Jahr ein paar hunderttausend Dollar für wohltätige Zwecke, öffentliche Bauten und dergleichen spendet. Dieser gute Mensch hat einen Sohn, der öfters mit dem Bürgermeister zu Abend speist. Der Bürgermeister wiederum geht mit dem Polizeichef von Los Angeles angeln, es sind gewissermaßen Busenfreunde. Der Polizeichef kennt meinen unmittelbaren Vorgesetzten noch aus der Schulzeit. Soweit zur Nahrungskette.“
„Ich verstehe. Das kommt mir, verkleinert auf meinen Maßstab, durchaus bekannt vor.“
„Das eigentliche Problem besteht darin, dass dieser verdiente Bürger der Stadt verstorben ist. Sein Sohn ist der Ansicht, dass die Todesumstände etwas seltsam sind. Also wandert die ganze Sache die Nahrungskette entlang bis zu mir.“ Smith schien sich in seiner Rolle nicht wohl zu fühlen, was sie nachvollziehen konnte.
„Warum ich?“, wollte sie wissen.
„Salopp gesagt wollen die nicht, dass sich irgendein Bulle darum kümmert. Der Verstorbene ist politisch recht gut vernetzt, also sollte es doch auch bitteschön ein verdienstvoller Mitarbeiter mit dem entsprechenden Fingerspitzengefühl sein. Sie sind in den Jahren vor Ihrer Versetzung und auch danach positiv aufgefallen, das wurde schon registriert. Auch wenn Ihnen das vermutlich so noch niemand gesagt hat.“
Sie grinste. Wahrscheinlich gehörte dieses Statement zu den Streicheleinheiten, damit sie sich mit dem neuen Fall wirklich ernsthaft beschäftigte.
„Da habe ich dann wohl nicht die Wahl, oder?“
Jetzt war es Smith, der lächelte. „Doch. Aber kein Mensch weiß, wie sich ein `Nein' auf Ihre weitere Karriere auswirkt.“ Er langte überraschend flink über den Tisch und legte seine fleischige Hand auf ihren Unterarm. „Ich hätte Ihnen das gern erspart, Patricia. Ich weiß, dass Sie andere Sorgen haben und eigentlich überhaupt keine Zeit. Wenn es gut läuft, investieren Sie höchstens zwei oder drei Wochen.“
Vielleicht war der Inhalt ihres Job doch kein so großes Geheimnis, wie sie immer angenommen hatte, immerhin kannte Ben Smith schon Landon Farmer, bevor sie auf der Bildfläche erschienen war.
„Was erwarten Sie von mir?“
Smith ließ ihren Unterarm los, um ihr einen Zettel zuzuschieben, auf dem einigen handschriftliche Notizen standen. „Das hier sind Ihre Ansprechpartner. Der Sohn des Toten, Benjamin Rosenthal. Der Leibwächter des Toten, David Namarra. Rosenthal verdächtigt den Leibwächter, mit dem Tod seines Vaters zu tun zu haben. Reden Sie zuerst mit dem Sohn, bitte. Und denken Sie daran: Das ist eine sensible Angelegenheit. Wenn es schlecht läuft wird man im Nachhinein jedes Ihrer Worte auf die Goldwaage legen, Ihre Schritte genau nachvollziehen wollen. Ich möchte auch nicht, dass Sie diese Untersuchung als eine offizielle Ermittlung betrachten oder zu viel Staub aufwirbeln. Das Ganze soll auf Wunsch des Sohnes diskret ablaufen. Möglicherweise erreichen Sie dadurch bald einen Punkt, an dem Ihnen das keinen Spaß mehr macht, aber darum geht es schließlich nicht. Natürlich möchte ich immer auf dem aktuellen Stand gehalten werden. Sie wissen schon, die Nahrungskette.“
Ben Smith dachte an das Gespräch mit Patricia Cooper vor einigen Stunden, während er mit leeren Augen einen der überdimensionalen Bildschirme beobachtete, die überall herumhingen. Plötzlich wurden seine Gedanken unterbrochen, als eine näselnde Stimme sein Ohr erreichte.
„Was sagen Sie dazu, Ben? Vier Millionen Dollar Spendengelder! In den ersten zwei Stunden! Das ist sensationell! Es gibt eben doch eine Menge gute und großzügige Menschen auf diesem Planeten. Dabei fängt die Party erst an und geht noch ein paar Stunden.“
Der Angesprochene sah den braungebrannten, neben ihm stehenden Mann im weißen Anzug an. Morris Wakerley war schon von der äußeren Erscheinung her der Inbegriff des erfolgreichen, dynamischen Unternehmers. Und nebenbei eines der größten Arschlöcher, die er kannte. Wakerley besaß eine Apothekenkette, belieferte Krankenhäuser, Altenheime und Seniorenresidenzen und versorgte tägliche hunderte oder tausende Patienten mit Medikamenten. Smith wusste aus gut informierten Quellen, dass Wakerley Ärzte bestach, die ihre Patienten dann zu ihm schickten, doch eine Beweisführung würde sich schwierig gestalten und fiel auch nicht in sein Ressort.
„Tja, wenn die UHMC zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung ruft, zieht das eben Kreise. Vornehme Kreise.“
„Und mitten drin ein verdienstvoller Mitarbeiter des FBI. Sie sollten sich geschmeichelt fühlen bei so viel Prominenz.“ Wakerley winkte einer dunkelhaarigen Frau zu, die ihm eine neckische Kusshand zurückwarf. „Vivien Karvik“, schnalzte er erklärend, „die Exfrau von Milos Karvik, dem Internetmilliardär. Wir waren vorigen Winter zusammen in Aspen.“ Wakerley sah Smith schief an und fügte hinzu. „Nicht, was Sie denken. Mit Freunden. Sie wissen doch, von was ich rede, oder?“
Mit siebenundsechzig Jahren war Ben Smith über die Phase hinaus, wo er nett zu anderen Leuten sein musste, um im Leben weiterzukommen. In einem Jahr würde er endlich die Pension annehmen, sein Haus gegen den Willen seiner Frau verkaufen und voraussichtlich Richtung Süden ziehen. Hauptsache still und friedlich. Keine laufenden Ermittlungen, keine menschlichen Abgründe, keine Wohltätigkeitsveranstaltungen mehr. Davor musste er nur noch zwei Dinge in seinem Leben in Ordnung bringen. Sicherlich war es besser, nicht allzu lange damit zu warten. „Wenn Sie wüssten was ich denke“, verriet er Wakerley, „würden Sie vermutlich einen großen Bogen um mich machen. Nur weil wir bei der vorigen Veranstaltung an einem Tisch gesessen und Sie ein paar Dollar mehr in der Tasche haben als ich, sollten Sie trotzdem aufpassen, was Sie wem wie erzählen. Sonst geht das mal nach hinten los.“ Er ließ eine kleine wirkungsvolle Pause. „Sie wissen doch, von was ich rede, oder?“
Damit ließ er Wakerley stehen und mischte sich unter die Gäste.