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Begegnen Sie den Kindern vergessener Raumfahrer, Klassenbesten mit unglaublichen Zukunftsaussichten und einem Freundestrio mit Problemen in der Zukunft! Lernen Sie Zeitreisende mit speziellen Hobbys oder einer fremden Zivilisation mit viel Verständnis für die menschliche Geschichte kennen! Erfahren Sie, ob beim Terraforming wirklich alles mit rechten Dingen zugeht und dass Außerirdische auch nur Menschen sind! Beachten Sie, dass ein langweiliger Erkundungseinsatz gehörig schiefgehen kann und dass man bei Geschenken die Anleitung berücksichtigen sollte! Betrachten Sie die Besiedlung eines Planeten aus dem Blickwinkel eines künstlichen Gehirns! Gehen Sie der ziemlich wichtigen Frage nach, ob Sie nur eine lausige Informationsillusion sind oder nicht.
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Seitenzahl: 201
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Das Buch:
Was tun Sie, wenn eines der größten Unternehmen der Welt Ihnen einen Deal anbietet - Ihr ungeborenes Kind gegen eine sorgenfreie Zukunft?
Hätten Sie Zweifel, wenn es um Terraforming geht - für die Erde? Selbst wenn Sie dabei zuschauen könnten?
Was übergibt man Außerirdischen als Willkommensgeschenk? Und - ganz wichtig - welche Informationen?
Sollten Sie sich freuen, wenn ein Zeitreisender Sie besucht - oder ist dies eher ein Grund zur Sorge?
Wie so oft hängt die Beantwortung von Fragen vom Blickwinkel des Betrachters ab. Also - sehen Sie genau hin.
Der Autor:
Oliver Reiche, geboren 1965, Bauingenieur, war einige Zeit selbstständiger Unternehmer. Mittlerweile arbeitet er als Projektleiter in der Bau- und Immobilienbranche. Nebenbei schreibt er Science-Fiction-Romane, Kurzgeschichten, Gedichte oder Drehbücher. Er lebt mit seiner Familie in Dresden.
Von ihm ist bereits der Science-Fiction-Roman „OUTSIDE“ verfügbar.
Weitere Informationen unter: www.oliver-reiche.de
Glockenspiel
Primus
Der lange Schlaf
Die Quadratur des Kreises
Verständnis
Terraforming
Lagebericht
Reiseziele
Der Mexikaner
Der fremde Klang
Das Geschenk
„Die Erde, die Erde“, murmelte die kleine Gruppe dumpf, während Alund dazu mit einer alten, silberfarbenen Glocke läutete. Sie schwang in seiner Hand wie selbstständig und unregelmäßig hin und her, als wären ihr die Gesetze der Schwerkraft im Laufe der Zeit gleichgültig geworden.
Maria wischte sich ihr hüftlanges Haar aus dem Gesicht, bevor sie die graugrünen Augen mit der feingliedrigen Hand abschirmte, um den Blick von Alund hin zum gelblichen Horizont zu wenden, während sie gleichzeitig in den summenden Gleichklang der Worte einfiel.
Der Horizont wurde gehalten von grauen Metallstreben. In eine dieser wiederum eingelassen war eine übermannsgroße schwarze Tür, die einhundert Meter entfernt sein mochte. Maria wusste es nicht, denn die Entfernung war nie vermessen worden.
Denn niemand hatte sie je erreicht, diese schwarze Tür.
Maria erinnerte sich an Daniel. Daniel der Große, weil er schon als Riese auf die Welt gekommen war. Auch Daniel hatte vor vielen Jahren versucht, sich der Tür zu nähern. Misstrauisch, mit unsicheren Schritten, war er langsam dem unerreichbaren Ziel entgegengegangen, einen zerknüllten Fetzen Stoff als Talisman in der linken zitternden Hand. Er überschritt die Stelle, wo Clara Madisons Puppe, die jemand im Streit bis dahingeworfen hatte, lag. Plötzlich hörten sie das Knistern, jenes unheimliche Geräusch, dem sie manchmal nachts lauschten.
Aus sicherer Entfernung mussten sie und die Gruppe beobachten, wie seine schwarzen Kopfhaare, ein kurzer widerspenstiger Schopf, zu Berge standen. Diese dicken Haare, die sich beim darüberstreichen manchmal anfühlten wie die Füllung der Decken, auf denen sie schliefen. Dann begann sich ein Ring aus feurigen Strahlen um seinen Kopf zu bilden. Sie tänzelnden auf und nieder, zuckten immer stärker hin und her, als würden sie in demselben Maß, wie es bei Daniel abnahm, an Leben gewinnen. Winzige blassblaue Funken liefen über seine Kleidung, über das aus der Hose hängende Hemd, über seine verkrampfte Hand mit dem Taschentuch.
Daniel war tapfer weiter gegangen, seine Bewegungen jedoch schienen langsamer zu werden. Selbst auf diese Entfernung vermeinte sie seinen körperlichen Schmerz zu fühlen.
Er schaffte noch fünfzehn Schritte. Plötzlich schlug eine Flamme empor, umhüllte ihn, umstrich seinen Körper und zehrte ihn auf. Er wehrte sich, eine kurze Zeit sah es so aus, als würde er tanzen. Ein einsamer, wilder Tanz ohne Musik, der mit Daniels Tod endete.
Das schwarze Etwas lag still in sich zusammengesunken. Einzelne rauchige Spiralen stiegen von dem Körper empor und lösten sich mit zunehmender Höhe auf.
Ein unangenehmer Geruch wehte allmählich hinüber.
Er hätte umkehren können. Daniel hätte einfach umkehren können, wie ehemals Tasala und Maxwell, und vielleicht wäre dann ebenfalls nichts geschehen. Aber sie hatten ihre Bestimmung. Alund sagte, jeder hätte seine Bestimmung. Und seiner Bestimmung könnte man nicht entfliehen.
Sie erinnerte sich auch an Lesters Worte. Lester hatte ihr einmal zugeflüstert, jene blauen, hin und her springenden Lichter wären kleine grausame, flinke Tiere, die in den dünnen schwarzen Leitungen hausten und zubissen, wenn man unvorsichtig genug war und sich ihnen zu sehr näherte.
Aber Lester war seit dem Tag der Niederkunft ein wenig wirr im Kopf gewesen und hatte viel erzählt, um sich die Zeit zu vertreiben. Als er noch ganz klein war, sei die Sonne aufgegangen und untergegangen. Es wäre langsam hell geworden und langsam wieder dunkel. Überhaupt hätte es zwei verschiedene Arten Licht gegeben. Das war einer der Beweise, das Lester nicht ganz richtig im Kopf war: Die Sonne war früh ebenso mit einem Schlag da, wie sie abends geschwind weg war, und die Nächte waren sternenlos und voller summender, knisternde Geräusche machender Dämonen.
*
Osborne stand von seinem Stuhl auf und hob das Glas, worauf die Anwesenden respektvoll verstummten. „Danke.“ Er nickte ihnen zu und lächelte ein wenig selbstgefällig, bevor er zu sprechen begann. Er besaß eine klare, ruhige Stimme. „Ich danke euch. Ich danke euch für zehn Jahre kooperativer Zusammenarbeit und auch Freundschaft. Für euer Verständnis und die Opferbereitschaft. Für eurer Tatkraft. Dafür, dass ihr so lange meine ... Diktatur erduldet habt.“
Eine Frau mit dünnen roten Haaren warf ihm verstohlen eine Kusshand zu. Osborne bemerkte es dennoch und verneigte sich leicht. „Und ich danke den Frauen, dass sie es so lange mit uns Männern ausgehalten haben - zumindest haben sie nie protestiert. Auch darauf möchte ich mein Glas erheben.“
Er trank einen winzigen Schluck, und die anderen folgten seinem Beispiel.
Osborne setzte sich auf die abgerundete Kante eines Tisches.
„Ich erinnere mich, als vor sechs Jahren die Mitglieder der wilden Bande geboren wurden.“ Er lachte ein wenig. „Acht gesunde rosige Babys ohne genetische Defekte, entgegen allen Vorbehalten von der Erde. Die ersten echten Einheimischen, wenn man so will. Lauter süße Eingeborene. Manche etwas wilder als Maxwell, manche etwas ruhiger als Maria. Ich denke, anlässlich des heutigen Tages können wir die Dinge etwas ruhiger angehen lassen. Die nächste Schicht beginnt einundzwanzig Uhr. Bis dahin gebe ich euch frei. Schwelgt in Erinnerungen, spielt etwas, liebt euch, nutzt die Zeit.“
Mit einer lässigen Handbewegung dämpfte er das schnell aufkommende Gekicher. Die meisten von ihnen hatten sich schon während der letzten vierundzwanzig Stunden des Tages den einen oder anderen Schluck genehmigt. Sie wurden schnell betrunken, denn Alkohol wurde nur zu besonderen Anlässen ausgegeben.
Und besondere Anlässe gab es so gut wie nie.
*
Dell und Simm betraten den spärlich beleuchteten, in die Tiefe führenden Gang. Sie hörten, wie sich das Tor der Sicherheitsschleuse hinter ihnen schloss, dann hüllte sie die Stille ein. Selbst das Geräusch ihre Schritte wurde von den weichen, gepolsterten Sohlen ihre Stiefel und dem nachgiebigen Material des Bodenbelages geschluckt.
Simm deutete in die Dunkelheit vor ihnen, seine Stimme klang seltsam gedämpft. „Mein Gott, Dell, wenn du so lange unter einer ..., einer Art Glocke leben würdest? Wäre das nicht faszinierend?“ Er wartete einige Schritte lang erfolglos auf eine Antwort, bis er fortfuhr. „Nichts und niemand lenkt dich ab. Du musst dich nicht um Politik kümmern, dir keine Nachrichten über Krisen und Kriege anhören und niemanden aus deiner Verwandtschaft am Doomsdayabend besuchen. Stell´ dir vor, Dell, du hättest Bücher mitgenommen.“
„Bücher?“, wandte Dell schließlich träge ein. „Wer macht denn so etwas?“
„Das du dich nur nicht irrst. Das Chaos hat einen gewaltigen Schub gebracht. Eine Renaissance der Bücher. Wer heutzutage etwas auf sich hält, besitzt Bücher.“
Dell lächelte geringschätzig und winkte ab. Es schien eine schwere und gleichwohl endgültige Geste zu sein.
„Mein Gott, Dell. Man kann sie lesen, die Bücher. Die ganze Philosophie, die ganze verdammte Wissenschaft kannst du lesen!“ Die Augen von Simm glänzten.
„Ach ja?“ Aus Dells Kehle kam stoßweises ein gequältes Lachen. „Hast du in Vorbereitung auf diese Mission etwa ein einziges Buch gelesen? Wie lange benötigt man im Durchschnitt für vierhundert Seiten Text? Zwei Wochen? Zwei Monate? Ohne die Implantatindustrie wären wir ganz schön aufgeschmissen. Ich sage dir, wer heutzutage etwas auf sich hält, bestellt ein Implantat mit Spezialwissen. Sündhaft teuer, aber die Zeitersparnis ist enorm.“
„Aber ich würde Bücher lesen“, verteidigte sich Simm. „Berichte über das beginnende Chaos. Wie ein Schwamm würde ich Informationen aufsaugen. Unzensierte Bücher von früher. Allerdings frage ich mich manchmal, wie sie solche Projekte in die Wege gebracht haben bei dem Grad an Einfältigkeit, den sie damals an den Tag gelegt haben.“ Er wies erneut mit dem Kinn in Richtung der vor ihnen liegenden Dunkelheit. „In höchstem Grad erstaunlich.“
„Du bist ein Träumer, Simm: unzensierte Bücher. Warum nicht gleich alte Filme, he?“
Simm gab keine Antwort.
Sie überschritten eine gelbe Linie, die die Hälfte des Tunnels markierte, und schritten weiter voran in die Dunkelheit.
*
Die rothaarige Frau lag nackt auf dem Bett in Osborns Kabine. Wenn sie nach dem Kalender ging, war heute ein günstiger Zeitpunkt für die Empfängnis. Sie versuchte sich an den Tag zu erinnern, als sie ihren gemeinsamen Sohn Daniel zur Welt gebracht hatte, Daniel den Großen. Es fiel ihr schwer, so viel war in den letzten sechs Jahren geschehen. Wann eigentlich hatte er aufgehört, im Schlaf zu lächeln? Wann hatte er das erste Mal gezielt nach einem Gegenstand gegriffen? So viele Details waren schon in Vergessenheit geraten.
Osborne kam in das Zimmer und setzte sich zu ihr. Wenn er mit ihr allein war, wirkte er immer etwas linkisch und verlegen.
Sie schwiegen eine Weile, bis sie seine Hand nahm und sie behutsam auf ihren Bauch legte. „Was macht der Rest und wie geht es den Kindern?“, fragte sie schließlich und richtet sich halb auf.
Osborne lächelte matt. „Ich glaube, heute wird der Keim für eine neue Generation gesät, denn es haben sich alle in ihre Schlafzimmer zurückgezogen. Clara, Maria, Alund, Maxwell, unser Spross, alle Kinder sitzen alle brav im Gewächshaus, der Stimmung wegen. Tasala und Lester lesen ihnen etwas vor. Sie wollten mir allerdings um keinen Preis sagen, was es ist.“
„Wahrscheinlich eines dieser Bücher, die sie von daheim mitgebracht haben. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo Tasala sie versteckt.“ Sie winkte ab. „Aber ich will es auch gar nicht wissen. Soll sie ruhig ihre Geheimnisse haben.“
„Ein zwölfjähriges Kind braucht Geheimnisse. Außerdem müssen sie sich gegenüber dieser wilden Bande von Sechsjährigen einen Vorteil verschaffen“, erklärte ihr Osborne. „Ich habe Tasala gesagt, dass ich die Versammlung in zwei Stunden beende. Ich denke, heute können wir etwas großzügiger sein.“
„Ganz ohne Hintergedanken?“ Die rothaarige Frau nahm seine Hand von ihrem Bauch und biss vorsichtig hinein, wobei sie ihm in die Augen sah. „Zwei Stunden ist eine lange Zeit“, murmelte sie, horchte jedoch plötzlich auf. „Hörst du es auch, dieses Geräusch?“
*
Torr hatte sie bei der Auswertung zuerst gesehen, was wohl mehr an einem glücklich Zufall als an der Schärfe seiner Augen lag. Wie die Spitze eines Eisberges ragte eine Strebe verloren aus dem Sand empor.
Dell landete das Schiff fast einen Kilometer von dieser Stelle entfernt, da sie noch nicht wussten, in welcher Richtung sich die Station erstreckte.
Was für ein Fiasko, wenn die Station durch sie zerstört werden würde, denn immerhin war es theoretisch möglich, dass es noch Überlebende gab. Dass eine der zweiundzwanzig Personen, die die Union hierher geschickt hatte, noch lebte. Eine von jenen zwanzig Erwachsenen und zwei Kindern, zu denen nach zehn Jahren, fast auf den Tag genau, der Kontakt abgebrochen war. Nicht zu vergessen natürlich die acht Babys, die sechs Jahre nach Ankunft der Kolonisten fast auf einen Schlag zur Welt gekommen waren.
Dell allerdings glaubte anfangs nicht daran, dass es noch Überlebende gab. Und wenn, waren sie komplett wahnsinnig. Niemand, der in einer Enklave von vier Mal zwanzigtausend Quadratmetern lebte, konnte auf die Dauer bei klarem Verstand bleiben.
Und überhaupt, hatten sie damals nicht gewusst, dass der Wind auf diesem Planeten thermischen Schwankungen unterworfen war und die gewählte Stelle, auf der sie die Station gebaut hatten, sich damit als denkbar ungünstig erweisen würde? Oder dass ein Meteoritenschwarm aller achtzehn Jahre über den winzigen Planeten herfiel?
Pech für die Kolonisten, dass die Union und der überwiegende Teil der Menschheit zum Zeitpunkt des Kontaktabbruches eine Zeit lang andere Probleme hatte, als zwei Dutzend Leuten zu helfen, denen ein paar Millionen Kilometer weiter die Puste ausging.
Die Sache geriet dreißig Jahre in Vergessenheit, bis schließlich jemand in den Archiven auf einen Planeten stieß, der zu neunzig Prozent aus Sand und Gestein bestand und auf dem vielleicht noch ein paar Menschen auf ihren Rückflug oder auch nur auf eine simple Botschaft warteten.
Torr und Simm werteten die Informationen der Spezialimplantate aus.
Die Station besaß die Form eines fünfblättrigen Kleeblattes. So gab es einen Sektor für die Schlaf- und Aufenthaltsräume und für die Nahrungsmittelherstellung. In den anderen Sektoren befanden sich die Energieanlagen, Arbeitsplätze, Laboratorien und Krankenstation. Die Sektoren waren über Gänge miteinander verbunden.
Sie hatten gehofft, zwischen den aus dem Sand ragenden Streben auf durchsichtiges Material zu treffen, um in das Innere schauen zu können.
Bis in eine Tiefe von zwei Metern hatten sie deshalb die Roboter den Sand beräumen lassen. Ihre Zuversicht wurde enttäuscht. Die festen Platten waren nicht durchsichtig. Ein leises Knacken und Nachgeben der Konstruktion hatte sie schließlich zur Aufgabe gezwungen.
Aber es gab Überlebende. Das verrieten die winzigen Sonden, die sie durch die Außenhülle gesteckt hatten. Wie sie ebenfalls bald wussten, lieferte das Energiezentrum der Station genug Strom für die nächsten dreihundert Jahre.
Die Räumungsroboter benötigten zehn Tage, um vom Schiff zu der Station einen begehbaren Gang zu graben, dessen Sohle dreißig Meter unter der Oberfläche im ewigen Sand dieses Planeten lag.
Der Gang würde auf einen der Haupteingänge treffen, auf eine übermannshohe schwarze Tür, eingelassen in eine der Metallstreben.
*
Maria erinnerte sich nur bruchstückhaft an das Beben und den Knall.
Mitten während der Geschichte, die Tasala aus ihrem sorgsam gehüteten Buch vorlas, hörte sie ein feines Zischen, als ströme Luft aus einem Ventil. Das Zischen wurde allmählich etwas lauter, klang aber keinesfalls bedrohlich. Dann vernahm sie ein weit entferntes Geräusch, das wie ein scharfes `Plopp´ klang. Unmittelbar darauf begann der Boden leicht zu vibrieren.
Tasala hatte aufgehört zu lesen. Lester versammelte die acht jüngeren Kinder zu einem kleinen ängstlichen Kreis.
Die Vibrationen nahmen weiter zu. Verschiedene kleinere Gegenstände begannen durch den Raum zu tanzen.
Plötzlich huschte ein riesiger blitzschneller Schatten wie ein Wimpernschlag über sie hinweg, fast im gleichen Moment erfolgte der Einschlag. Sie wurden zu Boden geworfen, aus den Regalen fielen Töpfe und zersplitterten. Alle Kinder hatten vor Angst geschrien.
Dann war es vorbei. Nur die Blätter der Grünpflanzen wippten noch auf und ab.
Minuten später machte sich die kleine Gruppe voller Furcht auf den Weg zu ihren Eltern.
Doch die Verbindungsgänge, die sowohl von dem Gewächshaus als auch von den Arbeitsräumen zu den Schlaf- und Aufenthaltsräumen führten, waren hermetisch abgeriegelt.
Und obwohl sie erst sechs Jahre alt war wusste Maria, dass eine Abriegelung nur unter einer bestimmten Voraussetzung erfolgte - und diese schreckliche Bestimmung war erfüllt wurden.
Ihre grüngrauen Augen waren voller Tränen, während Tasala sie an ihre schmale Brust drückte. „Du musst nicht weinen, Maria, du musst nicht weinen“, flüsterte Tasala ununterbrochen. Dabei weinte sie selbst am meisten.
*
In zweihundert Metern Entfernung, am Ende des Ganges, sahen sie ein einsames müdes Licht brennen, und nach einer unangenehmen Weile des Schweigens begann Simm erneut.
„Nichts desto trotz“, sinnierte er tiefgründig, wobei er die Arme hinter dem Rücken verschränkte. „Es ist faszinierend. Du bist mit allem versorgt. Gefiltertes glasklares Trinkwasser direkt aus dem Tiefengestein. Pralle, tiefrote Tomaten von biegsamen, gut riechenden Sträuchern. Dicke Kartoffeln aus frischer, feinkrümliger Erde. Vielleicht sogar ein wenig süße Milch. Die ganzen guten alten Dinge, Dell. Abends liegst du mit gefülltem Bauch unter der Heizsonne und wackelst fröhlich mit den nackten Zehen, während du das oberste Buch vom Stapel nimmst.“
„Wie bist du mit diesen Ansichten durch die Tests gekommen?“, fragte Dell ein wenig bissig. „Du erwartest doch nicht im Ernst, dass sie die ganze Zeit nur gelesen haben? Das ich nicht lache. Lauter wohlgenährte lächelnde Buddhas mit vergeistigten Gesichtern, die von der Realität so weit entfernt sind wie von der Erde. Wissen die überhaupt, wer gewonnen hat?“ Er schüttelte entrüstet den Kopf und zeigte in die Richtung, in die sie gingen.
Vor ihnen begannen sich die Umrisse einer Tür abzuzeichnen.
*
Maria bemerkte erst nach einer Weile, dass der doppelt so alte Lester seit dem Tag der Niederkunft nicht mehr derselbe unbekümmerte intelligente Junge war wie vorher. Als hätte ein winziger Bruchteil des Meteoriten, oder was auch immer die Zerstörung verursacht hatte, an diesem Tag in seinem Gehirn eingeschlagen und die Basis seiner Vernunft und seines Denkens an manchen Stellen einfach ausgelöscht.
Und so blieb die Versorgung und Erziehung der acht Kinder, einer wilden Bande von Sechsjährigen, weitestgehend an ihrem großen Vorbild, an Tasala hängen. Tasala brachte ihnen alles bei, was sie über das Leben wusste. Soviel, wie ein zwölfjähriges Mädchen über das Leben wusste, fernab der Erde.
Doch sie hatten Glück. Die Versorgungsautomatik für das Trinkwasser lief einfach weiter, und so konnten sie zu jeder Zeit und in beliebiger Menge über gefiltertes, glasklares Trinkwasser direkt aus dem Tiefengestein verfügen. Sie ernteten das erste Jahr pralle tiefrote Tomaten von gut riechenden Sträuchern und holten Kartoffeln aus frischer, feinkrümliger Erde.
Doch auch Tasala kannte das Geheimnis nicht, mit dessen Hilfe man die Menge der Aussaat, die Fruchtbarkeit des Bodens und viele andere kleine bedeutsame Dinge steuern konnte. Und zwei Jahre nach dem Tag des Einschlages, den sie später den Tag der Niederkunft nannten, verschlechterte sich die Qualität ihrer Nahrung rapide. Doch die Kolonisten hatten als Notration drei Tonnen einer Art Teig mitgenommen, aus dem man problemlos Plinsen backen konnte. Diese waren nicht besonders wohlschmeckend, aber sie füllten den Magen.
Es mochten zehn oder elf Jahre nach der Niederkunft vergangen sein, als Tasala und Lester eines Tages plötzlich verschwanden.
Es wurde ein kleiner, von beiden unterschriebener Zettel gefunden. Sie würden zurückkehren, stand darauf. Irgendwann. Maria, Clara, Alund und die anderen würden es schon schaffen. Viel Glück.
Sei diesem Tag war die Tür zu Lesters Unterkunft von innen verschlossen und blieb es auch.
„Die Erde, die Erde.“ Alund läutete mit seiner Glocke, und das Ritual ging weiter.
Maria horchte auf. Sie war sich nicht sicher. Mit einem Mal schien etwas anders zu sein. Als würde etwas fehlen. Oder ein Geräusch. Ein Rhythmus. Plötzlich wurde es dunkel.
*
Die beiden Männer von der Erde erreichten das Ende des Ganges. Die Tür vor ihnen war schwarz, fast drei Meter hoch und zwischen den Streben eingelassen. Der Räumungsroboter hatte erwartungsgemäß Präzisionsarbeit geleistet. Die Wände des Ganges schlossen auf den Millimeter mit dem Rahmen der Tür ab.
Die Männer sahen sich an.
„Ich hoffe ...“, begann Simm, wurde jedoch von Dell unterbrochen. „Ich hoffe ebenso wie du, Simm. Also los.“
Simm sprach eine paar Worte zu ihrem Kameraden Torr, der im Raumschiff auf sie wartete. Torr langte hinüber zu einer Konsole, hob die Arretierung auf und legte einen Schalter um.
Der Stromkreis der Station brach zusammen.
Durch den Meteoriteneinschlag war die sensible Elektronik der Station beschädigt worden. Ein Teil des Energiepotentials der Station war auf den umlaufenden Ringerder umgeleitet worden, während die Beleuchtung seitdem zufällig in scheinbar ewig gleichbleibendem Rhythmus erlosch und wieder anging.
Wären sie bei eingeschaltetem Strom durch die Tür gegangen, hätten sie wahrscheinlich erst aufgeleuchtet wie ein St. Elms Feuer und wären dann verbrannt.
Simm schloss das kleine mitgebrachte Energiemodul an das Steuersystem der Tür an und drückte eine Taste. Nachdem sie mehr als zwanzig Jahre untätig geruht hatte, glitt die Tür nur widerwillig in der Strebe empor.
Vor Dell und Simm lagen Dunkelheit und Stille. Dell ließ die Staustromlampe ein paar Meter vorfahren und schaltete sie an.
Sie sahen eine kleine Gruppe von vier Menschen, die vielleicht sechzig Meter von ihnen entfernt stehen mochten. Sie schienen eine Versammlung abzuhalten oder zu beten, einer von ihnen hielt etwas in seiner Hand, was wie eine Glocke aussah.
Schließlich kam eine Frau aus der Gruppe auf sie zu.
Die Frau schien alt zu sein, Sie war barfuß, ihre Kleidung verschlissen. Ihr ungekämmtes Haar fiel in leichten Wellen bis auf ihre Hüfte, während in ihren grüngrauen Augen ein unruhiges Flackern lag. Sie legte ohne zu zögern eine Hand auf den Unterarm von Simm. „Ihr wart lange weg.“ Ihre Stimme klang federleicht und melodisch. „Wir haben uns Sorgen gemacht. Doch nun wird alles gut.“ Sie sah an Simm und Dell vorbei in den dunklen Gang hinein. „Wo ist Tasala?“
Als Nara ihr Zimmer betrat, fiel ihr als erstes der blinkende grüne Punkt auf, der signalisierte, dass der Konverter eine Sendung für sie bereithielt. Es kam nicht besonders häufig vor, dass sie auf diesem Weg Dinge oder Nachrichten übermittelt bekam, und noch seltener waren diese dann positiv. Sie musste einige Kleidungsstücke und Dosen mit Nahrungsmitteln beiseite räumen, bevor sie an die den Konverter herankam. Mit einer Mischung aus Neugier und Furcht öffnete sie die Klappe, um in den kleinen Hohlraum sehen zu können. Darin lag eine glänzende, kleine Karte, noch nicht einmal so groß wie ihre Handfläche.
Sie zögerte ein paar Sekunden, bevor sie den Gegenstand mit spitzen Fingern herausnahm. Ein kaum spürbares, nicht unangenehmes Vibrieren wie von leichtem, träge pulsierendem Strom schien ihre Hand zu durchfließen.
Die Karte war auf einer Seite nur mit einem dünnen schwarzen Strich bedruckt. Als sie die Karte umdrehte und die fünf Buchstaben las, die mittig darauf standen, begannen ihre Finger zu zittern. `YABIC´ stand darauf, `Yorkshire and Bantum Industrie Corporation´, das zweitgrößte Unternehmen der Welt.
Mit immer noch zitternden Fingern schob sie die Karte in den dafür vorgesehenen Wandschlitz. Augenblicklich erschien das Gesicht eines Mannes an der Informationswand. Es war ein volles, dunkelhäutiges Gesicht mit grauen, leicht schräg stehenden Augen.
„Mein Name ist Logan Boon Sana“, sagte der Mann lächelnd. „Ich bin Beauftragter der YABIC. Sie sind auserwählt, Nara. Aus diesem Grund möchte ich Sie morgen gern besuchen. Morgen neun Uhr. Sie sind danach bis zwölf Uhr von der Arbeit freigestellt. Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Frühstücken Sie morgen nicht zu üppig, ich bringe frisches Obst und Schokolade mit.“
*
Nachdem er sich vorgestellt hatte, legte Logan Boon Sana seine fleischige Hand auf ihre schmale Schulter. „Es freut uns außerordentlich, dass Sie so schnell zugesagt haben, Nara“, dröhnte er in ihr Ohr. „Wir wissen das zu schätzen. Allerdings denke ich auch, dass der Name `YABIC´ für höchste Seriosität und einen gewissen Anspruch bürgt.“ Er dirigierte sie sanft zu einem der zwei Stühle in ihrem kleinen Zimmer, sorgfältig darauf bedacht, die herumliegenden Gegenstände und Kleidungsstücke nicht zu berühren. „Aber auch wir sind auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen, deshalb, wie ich schon sagte, wissen wir Ihr Entgegenkommen zu schätzen.“
Logan Boon Sana wartete, bis sie sich gesetzt hatte, dann wanderte er mit schweren Schritten um den Tisch, zog sich behutsam den zweiten Stuhl heran, setzte sich ihr gegenüber und sah sie mit glänzenden Augen an. „Ich hatte Ihnen Obst und Schokolade versprochen.“ Er wuchtete seine Aktenkoffer auf den Tisch, um diesem schließlich zwei unterschiedliche große Dosen sowie zwei dünne Mappen zu entnehmen. Bevor er die Dosen zu ihr herüberschob, öffnete er die Deckel. „Das Feinste vom Feinen. Gesund, nahrhaft und absolut lecker.“ Sein dicker Zeigefinger wies auf eine daumengroße, grünliche Frucht. „Die sollten Sie lutschen. Sie schmeckt am Anfang säuerlich, aber nach einer Weile kommt die Süße durch. Zu der Schokolade gibt es nicht viel zu sagen, außer, dass es ein Premiumprodukt ist. Ich wünsche Ihnen genussvolle Stunden.“
Nara betrachtete versonnen den Inhalt der zwei Dosen, während ihr mit rasender Geschwindigkeit das Wasser im Mund zusammenlief. „Danke“, sagte sie leise.
Ihr Gegenüber nickte wohlwollend, bevor er auf eine der zwei Mappen wies. „Ihr Befund.“ Er legte seine schwere Hand darauf. „Die Werte könnten nicht besser sein, Nara. Herzfrequenz, Knochenausbildung, Größe des Gehirns, Beweglichkeit, Blutbild und was sonst noch alles zählt. Sie sind eine schöne, blonde, begehrenswerte Frau. Sie werden ein hervorragend gesundes männliches Baby bekommen, um dass sich die Damenwelt später reißen wird.“
Sie nickte beklommen. Das war die Bestätigung ihrer Vorahnung: Sie war auserwählt auf Grund ihrer Schwangerschaft.