Owned by a God - Thea Hong - E-Book

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Thea Hong

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Beschreibung

Der neue Fantasyroman der K-Drama-Queen Thea Hong - Ein Own Voice Titel, der die alten Legenden Koreas in der heutigen Zeit lebendig werden lässt. Mit Farbschnitt in der limitierten Erstausgabe! Seit dem mysteriösen Tod ihrer Schwester hat die Violinistin Ari nur noch ein Ziel: Sie muss die Aufnahme in das exklusive Mirae Institut für besonders Begabte schaffen, das außerhalb von Seoul liegt und nur alle neun Jahre neue Studierende aufnimmt. Dort will Ari auf eigene Faust nach den Gründen für Binnas Tod forschen. Als sie schließlich durch die Tore der sagenumwobenen Einrichtung tritt, eröffnet sich ihr ein unerwartetes und überaus gefährliches Geheimnis. Der Großteil der Studierenden stammt von koreanischen Göttern ab. Menschen scheinen nur als Statisten für deren düstere Spiele zu dienen. Doch Aris Entschlossenheit scheint grenzenlos, genau wie die Grausamkeit ihrer göttlichen Kommilitonen. Eine K-Drama Roman, der alte asiatische Mythen von Mond und Sonne zum Leben erweckt. Dark Romance Vibe meets Urban Fantasy Für Fans der Koreanische Mythologie Mit Dark Academia Vibes Eine fein gewobene, virtuose Erzählung, die mit ihren düsteren Klängen, in dir wie eine unvergessliche magische Symphonie widerhallen wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Owned by a God

Thea Hong

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Social-Media: @novemberbeetle

Content Notes:

Andeutung von dissoziativer Identitätsstörung, Andeutung von Schizophrenie, Blut, emotionale Manipulation, Erwähnen von Femizid, Erwähnen von Selbstverletzung, Folter, Generational Trauma, Gewalt, Gewaltfantasien, Kannibalismus, Klassismus, Mobbing, Mord, Narben, Nacktheit, Panikattacken, Schmerzen, Selbstjustiz, sexuelle Handlungen, Stalking, Suizid, Taphephobie, Tod, Trauer

1. Auflage 2025

Copyright © Novel Arc Verlag, Fridolfing 2025

Novel Arc Verlag, Kirchenstraße 10, 83413 Fridolfing

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf im Ganzen, wie auch in Teilen, nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben, vervielfältigt, übersetzt, öffentlich zugänglich gemacht oder auf andere Weise in gedruckter oder elektronischer Form verbreitet werden.

Bei Fragen der Produktsicherheit wenden Sie sich bitte an: [email protected]

www.novelarc.de

www.novelarcshop.de

Umschlaggestaltung: Giessel Design

Envato Elements Bildnachweis: Aleruana, natika, frimages

Lektorat: Ellen Rennen | Texpertin

Korrektorat: Tino Falke

Klappenbroschur: 978-3-910238-66-4

E-Book Ausgabe: 978-3-910238-72-5

Für alle,

die unsichtbare Leben in sich tragen.

Für das kleine Mädchen,

das mit blutenden Fingern geübt hat.

Für die junge Frau, die mit jeder

Note Welten erschuf.

Für die Frau, die immer noch

einen bittersüßen Traum mit sich trägt.

Für mich.

Playlist

Gravity – Taeyeon

Fallen – Seo In Guk

Orbit – HWASA

Abyss – Jin

Blue & Grey – BTS

Neverending Story – Stray Kids

Tonight – Jin

Our Tears – Hyolyn

Answer: Love Myself – BTS

Vorwort

Die nächsten Stunden bist du Ari.

Eine junge koreanische Frau, die auf ihrer Suche nach der Wahrheit mit ihren Traumata konfrontiert wird. Sie durchlebt etwas, was man in Korea »Han« nennt: eine tiefe Trauer mit einem Hauch Bitterkeit und Wut, von der man sich nie vollständig erholt. »Han« ist etwas Urkoreanisches, hat viele Facetten und zieht sich wie ein roter Faden durch alle koreanischen Seelen.

Willkommen in Aris Welt. Willkommen in ihrem Traum, wo wir gemeinsam das Ende der Welt feiern.

Der Architekt

Wie viel Zeit war vergangen? Eine Minute, eine Stunde, ein Jahr oder ein Millennium? Sie leckt sich über ihre spröden, blutigen Lippen und berührt mit kalten Händen vorsichtig ihr Gesicht.

Wer bin ich?

Sie ertastet im fahlen Licht hohe Wangenknochen und eine kleine, gerade Nase.

Ist dies die Realität oder eine Illusion?

Sie versucht, sich vom groben Kiesboden aufzurichten, aber ihre Beine versagen ihr den Dienst.

So schwach, denkt sie, und mit einer Mischung aus Selbstverachtung und Angst versucht sie erneut aufzustehen. Ihre Beine zittern wie die eines neugeborenen Rehkitzes, und sie sinkt wieder zu Boden.

Schmerzen. Das sind … Schmerzen?

Für einen Moment verwirrt sie das ungewohnte Gefühl, als sich der Kies in die bloße Haut ihrer Knie und Handflächen bohrt.

Wie interessant.

Sie registriert fasziniert das Brennen der kleinen Steine, die an ihrer klammen Haut kleben. Wie eine Marionette, die zum Leben erwacht, erkundet sie tastend ihre Umgebung. Als urplötzlich eine Kette von Eindrücken auf sie niederprasselt, schnappt sie nach Luft, und ihr wird schwarz vor Augen. Ihre Gedanken rasen wie wild gewordene Bienen in ihrem Kopf. Bilder, Gerüche und Geräusche, die sie nicht zuordnen kann – das helle Lachen eines Mädchens, der Duft von Mandarinen, die Umarmung eines Mannes – ziehen an ihrem geistigen Auge vorbei. Tausende Bilder im Sekundentakt. Die Wucht dieser Visionen erdrückt sie fast, und in ihrer Verzweiflung schlägt sie auf den Kiesboden. Irgendwas spüren, irgendetwas tun, um den wirbelnden Informationen zu entkommen.

Und mit einem Mal verlangsamt sich alles. Der schnelle Informationsfluss ebbt ab, und sie fühlt sich, als wate sie durch zähen Sirup.

Wer bin ich? Was bin ich? Wo bin ich?

Sobald sie glaubt, Antworten gefunden zu haben, entgleiten ihr die Gedanken wie wendige Fische, und sie steckt hilflos in dem klebrigen, geistigen Gefängnis fest. Das Knirschen von näher kommenden Schritten zieht sie aus dem Sumpf ihrer festgefahrenen Gedanken. Für einen Augenblick glaubt sie, dass es in dem dunklen Raum heller und wärmer wird. Sie blinzelt, als der Umriss einer Gestalt sichtbar wird. Etwas Nasses klatscht vor ihr zu Boden, und ein unerwartet vertrauter, süßlicher Duft steigt ihr in die Nase.

Ein Hunger, der sich durch ihre Knochen nagt, erwacht in ihr. Es ist, als ob ihr Körper und ihr Geist langsam wieder zu funktionieren beginnen.

Hunger.

Automatisch graben sich ihre eleganten Finger in das rohe Stück Fleisch, das bluttriefend vor ihr liegt. Mit übermenschlicher Stärke reißt sie es in Stücke und stopft sich die faserigen Brocken in den Mund. Dieser Hunger, diese Gier nach etwas, was sie füllt, lässt sie zu einem Tier werden, das jede Ähnlichkeit mit einem Menschen verloren hat. Nur das hässliche Reißen von Fleisch und lautes Schmatzen sind zu hören. Das Fleisch liegt ihr schwer im Magen und sättigt sie nicht wirklich, aber sie kann wieder klarer denken. Bruchstückhafte Erinnerungen setzen sich wie Scherben in einem Kaleidoskop zusammen, bis ihr etwas klar wird: ein Mensch. Sie ist ein Mensch.

Sie hält kurz inne, wischt sich mit der blutigen Hand über den Mund. Nein, korrigiert sie sich selbst, Menschen sind böse. Und sie ist nicht böse. Also ist sie auch kein Mensch. Keuchend entweicht ihr die Luft, als sich der Schleier über ihren Gedanken lüftet, und sie spürt die Wucht der Gefühle, die ihr die Kraft gegeben haben, all die Zeit am Leben zu bleiben.

Tod und Rache sollen die treffen, die der Grund für ihre ewige Gefangenschaft sind.

Ist das ihr Herzschlag, der wild in ihr pulsiert und sie endlich, endlich mit Leben füllt? Sie lacht voller Freude, aber sie klingt rau und abgehackt, weil sie ihre Stimmbänder viel zu lange nicht benutzt hat. Hat sie sich jemals so wach gefühlt?

Sie schafft es, sich vom Boden zu erheben, und beginnt, sich zum Rhythmus ihres Herzens hin- und herzuwiegen. Es ist ein grotesker Tanz, der einem stillen Lied aus Hass und Verzweiflung folgt. Sie stoppt abrupt, als eine sanfte Stimme erklingt.

»Wie ich sehe, gefällt dir mein Opfer.«

Mit einem Zischen beginnen die Wände zu flackern, und der Raum wird in warmes, goldenes Licht getaucht. Das Erste, was sie sieht, sind schwarze, glänzende Schuhe. Ihr Blick gleitet nach oben. Ein teurer Anzug, gepflegte Hände. Und ein Lächeln, das ihr aus unerklärlichen Gründen das Herz zerreißt. Der Mann streicht ihr zärtlich das lange, verknotete Haar aus dem Gesicht.

Sie erinnert sich nicht an ihn, aber dennoch flutet pure Angst ihren Körper. Übelkeit lässt sie taumeln. »Nein!« Mit einem Mal wird ihr das trocknende Blut auf ihren Händen bewusst, und als sie den metallischen Geschmack in ihrem Mund schmeckt, würgt sie. Sie stolpert einige Schritte nach hinten und erbricht sich. Tränen laufen ihr über die Wangen.

Hustend, weinend und entsetzt verflucht sie sich selbst, verflucht das Monster, zu dem sie geworden ist.

Etwas, was nicht leben und nicht existieren darf. Ein Tabu.

Unbeeindruckt von ihrem Ausbruch zieht der Mann seinen Mantel aus und nähert sich ihr.

»Meine Königin. Mein Ein und Alles.«

Er ignoriert ihr angstvolles Wimmern und legt ihr das schwere Kleidungsstück um ihre schmalen Schultern. Zärtlich streicht er über den Stoff. Ihr wird wieder schlecht, als die Wärme des Mantels in ihre Haut dringt, sich in ihr festzubohren scheint. Er greift nach ihren zerkratzten, nun kraftlosen Händen, um seine Lippen auf die Handrücken zu pressen.

»Meine ewige Liebe.« Seine Augen leuchten, ein Blick voller Obsession. Er leckt ihr das Blut von den Fingern, und seine Lippen sind rot, als er sie erneut anlächelt.

»Willkommen zurück, Mutter.«

Kapitel 1 – Calando

Vor neun Jahren

Ein weißes Blatt flattert zu Boden, und meine Mutter sackt vor meinen Augen kraftlos zusammen. Ihre Schultern beben, als würde eine unsichtbare Last sie niederdrücken.

»Eomma?«

Meine Stimme klingt fremd in meinen eigenen Ohren, dünn und zerbrechlich wie Glas. Ich reibe mir die vom Schlaf verkrusteten Augen und tappe mit bloßen Füßen über die kalten Dielen. Der dünne Pyjama schützt mich nicht vor der Kälte, die sich langsam in mir ausbreitet.

»Was ist los?«

Anstatt zu antworten, krümmt sich meine Mutter und sinkt zu Boden, als hätte ihr jemand ein Messer in den Bauch gerammt. Ihr Atem stockt, bis ein ersticktes Schluchzen ihrer Kehle entweicht. Ihr Wimmern steigert sich zu einem animalischen Schreien, ein Klang so roh, dass sich meine Nackenhaare aufstellen. Meine Hände krallen sich in den Stoff meines Schlafanzuges, während mein Blick wie magnetisch von dem Brief angezogen wird, der neben ihren zitternden Händen liegt. Die paar Worte, die ich erkennen kann, brennen sich in mein Bewusstsein wie glühende Eisen.

Binna. Bedauern. Todesursache: unbekannt.

Meine Lunge verweigert ihren Dienst, während die Buchstaben vor meinen Augen tanzen. Ich will zu meiner Mutter, aber meine Beine sind wie festgefroren. An diesem Tag ist meine Welt für immer grau geworden.

Gegenwart

Was ist Liebe?

Liebe ist etwas, das meine Seele verbrennt. Liebe schnürt mir die Luft ab und ist die permanente Sehnsucht nach etwas, das mir nie gehören wird. Liebe ist nur ein anderes Wort für Hass. Und Liebe ist der Grund, warum ich hier bin – um zu lügen und zu betrügen.

Mit feuchten Händen umklammere ich den Griff meines Geigenkastens. Meine Fingerknöchel treten weiß hervor, während sich ein kalter Schweißfilm auf meiner Haut bildet.

Die Nervosität kriecht bedächtig meine Wirbelsäule hinauf – und sie ist schlimmer als jedes Lampenfieber vor Konzerten. Mein Mund füllt sich mit bitterem Speichel, und mein Puls hämmert gegen meine Schläfen. Die drohende Panikattacke bekämpfe ich mit dem Mantra, das mich durch die vergangenen Jahre getragen hat.

Du kannst es schaffen. Du musst es schaffen. Du wirst es schaffen.

Ich flüstere die Worte, bis der Rhythmus meiner Stimme dem meines rasenden Herzens entgegenwirkt. Nach neun Jahren voller Opfer stehe ich kurz vor meinem Ziel, und dennoch möchte ich sofort fliehen.

Die Vorstellung, einfach umzudrehen, ist verführerisch. Wie würde es sich anfühlen, keine Verantwortung mehr für mein eigenes Tun zu tragen, endlich frei zu sein? Aber was bliebe mir dann?

Ich zwinge mich, tief einzuatmen. Die Luft strömt kühl durch mich, füllt meine Lunge fast zum Bersten. Ich zähle bis drei und atme aus. Noch mal. Ein und aus.

»Ari, meine liebe, kleine Ari.«

Die Stimme meiner Schwester in meinem Kopf ist so klar, als würde sie hinter mir stehen. Der Moment, als das Licht unserer Familie erlosch, hält mich noch immer gefangen – diese Stunde Null, als der Herzschlag unserer Familie erstarb. Seither kreisen meine Gedanken nur um eines: das Mirae Institut, ehrfürchtig MI genannt, vor dessen Toren ich nun stehe.

Eine knappe Autostunde von Seoul entfernt, liegt das Institut inmitten einer malerischen Landschaft aus sanften Hügeln und majestätischen Kiefern. Der Wind trägt den herben Duft der Bäume und von feuchtem Moos zu mir herüber, während die Morgensonne die Steinmauern in goldenes Licht taucht. Die Schönheit täuscht nicht über die Abgeschiedenheit hinweg. Hinter den hohen Mauern verbirgt sich ein kleines Dorf – das MI, das sich mit der Restaurierung jahrhundertealter traditioneller Gebäude rühmt, hat sich hier seine eigene Welt erschaffen. Keine unbefugte Person darf das Institut betreten, und Studierende verlassen das MI nur zu zwei Anlässen: nach ihrem Abschluss oder ihrem Tod.

Bei diesem Gedanken zieht sich mein Magen zusammen, verknotet sich schmerzhaft. Was geschah dort? Wie konnte Binna nach nur wenigen Monaten sterben? Warum verwehrte man uns den letzten Blick auf sie? Die Fragen brennen in meinem Inneren wie Säure.

Wie starb sie wirklich?

Die Worte »Todesursache: unbekannt« nagen seit neun Jahren an mir und fressen sich unerbittlich durch meine Seele. Ich sehe diese Worte jeden Morgen nach dem Aufwachen und jeden Abend vor dem Einschlafen vor meinem geistigen Auge, als seien sie in mein Hirn eintätowiert.

Meine Schwester lebte ihrem Namen entsprechend – Binna, die Leuchtende. Wenn sie einen Raum betrat, wurde sie früher oder später von allen bewundert, denn ihr inneres Strahlen und ihr außergewöhnliches Talent zogen Menschen an wie die Sonne die Planeten. Mit ihrer Begabung für die Violine und den zahlreichen nationalen wie internationalen Preisen entwickelte Binna sich vom Wunderkind zu einer brillanten Musikerin.

Ein Talent ohne harte Arbeit verkümmert. Der Lieblingsspruch meiner Mutter hallt in meinen Ohren wider. Doch ein Talent, kultiviert durch eiserne Disziplin, die Binna ausmachte? Nahezu unschlagbar.

Ihre sofortige Aufnahme am Mirae Institut überraschte niemanden. Selbst die Juilliard School und das Royal College of Music in London boten ihr Studienplätze an. Die Zugangsbestätigungen stapelten sich auf dem Esstisch, während unsere Eltern triumphierend Pläne für Binnas Zukunft schmiedeten. Doch zum ersten Mal stellte sie sich gegen den Willen unserer Eltern. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als sie aufstand, die Hände auf den Tisch stützte und mit fester Stimme sagte:

»Ich lasse Ari nicht allein.«

Heute glaube ich, Binna suchte im abgeschirmten MI auch Zuflucht vor der Kontrolle unserer Eltern, während sie gleichzeitig versuchte, mich nicht alleine in Korea zu lassen. Ein Studium in Europa oder in den USA hätte uns noch stärker auseinandergerissen.

»Ich lasse Ari nicht allein.«

Doch der Wind in ihrem langen schwarzen Haar, das Funkeln in ihren Augen, wenn sie Geige spielte – all das existiert nur noch in meiner Erinnerung. Nur Binna hatte in mir mehr als ihre blasse Kopie gesehen, sie liebte mich bedingungslos. Ihre starken Hände, die mir sanft über die Stirn strichen, ihr herzliches Lachen und die heimlich zugesteckten Süßigkeiten – diese Erinnerungen geben mir Kraft, das Unmögliche zu wagen. Ich schließe kurz die Augen.

»Es dauert nur ein paar Jahre, Ari.« Binna kämmte mein zerzaustes Haar und steckte die wilden Strähnen mit glitzernden Spangen zurück. Ihre Fingerspitzen streiften sanft meine Kopfhaut, und ich lehnte mich in ihre Berührung wie eine Katze. »Nur ein paar Jahre. Dann bin ich volljährig, und wir können zusammenleben. Du darfst dann tun, was du möchtest. Das verspreche ich dir.«

Sie machte es mir unmöglich, sie zu hassen. Meine schönere, klügere und talentiertere Schwester.

»Ari, meine liebe kleine Ari.« Binna neckte mich gerne damit, dass ich kleiner war, und besänftigte mein Schmollen mit Kitzeln, bis mir vor Lachen der Bauch wehtat.

»Warte auf mich, meine liebe, kleine Schwester, und du wirst sehen, wir werden beide endlich glücklich.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Damals dürstete ich nach Zuneigung wie eine Wüste nach Regen. Für Neid blieb kein Raum – Binna war meine Sonne, meine Wärme, die einzige Person, die mich um meiner selbst willen liebte. Mit Gewalt zwinge ich mich, weiterzugehen, und ersticke den unerklärlichen Widerwillen, der meine Beine schwer wie Blei werden lässt. Neun Jahre lang lebte ich das Leben meiner Schwester, folgte ihren Spuren für diesen Moment. Zu viel steht auf dem Spiel. Die mannshohen Mauern des Mirae Instituts werden von Uniformierten mit ausdruckslosen und kühlen Gesichtern bewacht. Die Warteschlange ist lang, doch wegen meines Brief darf ich problemlos durchgehen. Mit zitternden Fingern reiche ich das Dokument einem Wachmann am Tor.

»Special Admission. Ist Ihre Familie anwesend?« Der Mann mustert mich lange. Seine Augen gleiten über meine Erscheinung – die schlichte Jacke, der mit Noten vollgestopfte Geigenkasten, die ungebändigten Haare. Sein Blick verursacht ein unangenehmes Kribbeln unter meiner Haut.

»Nein.«

Das Wort kommt kratzig aus meiner Kehle. Vermutlich bemerken meine Eltern nicht einmal mein Fehlen. Seit Binnas Tod ist auch unsere Familie zerbrochen – Binna war das Zentrum von uns allen gewesen.

»Deinetwegen. Deinetwegen ist sie tot!«

Die tränenerstickte, hasserfüllte Stimme meiner Mutter und das bleiche Gesicht meines Vaters verfolgen mich bis heute. Die Erinnerung lässt meine Hände kalt werden. Nach neun Jahren begreife ich, dass der Schmerz sie diese Worte sagen ließ. An jenem Tag verlor ich nicht nur meine Schwester, sondern auch meine Eltern. Die unausgesprochenen Vorwürfe schweben seither im Raum wie giftiger Nebel: »Wenn es dich nicht gäbe, wenn du dich nicht wie eine Klette an sie gehangen hättest, dann würde Binna noch leben.«

So irrational es ist, dass ich lebe und sie tot ist – das werden mir meine Eltern nie verzeihen. Ich spüre ihre feindlichen Blicke auf mir, wenn ich durch das Haus gehe – nicht Binna, sondern ich, wegen der ihre geliebte, ältere Tochter in Korea blieb. Ich schüttele die Erinnerung ab wie ein nasser Hund und folge dem Mann durch die Menge. Er entfernt ein Absperrband vor einem breiten, traditionellen Torbogen.

Die neun Jahre Arbeit zahlen sich endlich aus. Ein Schauder läuft über meinen Rücken, als ich vor dem Tor stehe. Mir fehlen Binnas Talent, Schönheit und Brillanz – doch ich muss nicht so sein wie sie. Es reicht, wenn ich durch Übung die mechanische Perfektion erreiche, um vortäuschen zu können, ich hätte Talent.

Angetrieben von der Frage nach dem Warum, habe ich alles getan, um für die Aufnahmeprüfung des MI gewappnet zu sein. Die Hornhaut an meinen Fingern und die gerötete Stelle an meinem Hals zeugen von stundenlangem Üben, bis meine Finger bluteten und meine entzündete Haut schmerzhaft brannte.

Ich muss herausfinden, was mit Binna passiert ist – nicht für meine Eltern, sondern für mich selbst. Das MI nimmt nur alle neun Jahre neue Studierende auf, und ich nutze das Schlupfloch der Special Admission für Verwandte ehemaliger Studierender. Statt des normalen Auswahlverfahrens beweise ich mich direkt in einer Spezialisierung – wie Binna in der Violine.

In den letzten Jahren las ich jedes öffentlich auffindbare Detail über das MI. Jeden Forumsbeitrag, jeden Artikel, jedes Gerücht dokumentierte ich akribisch in Notizbüchern, die sich in meinem Zimmer stapeln. Mir wurde bewusst, dass meine Schwester nicht die einzige Studierende war, die unter mysteriösen Umständen starb. Aber niemand schien sich dafür zu interessieren, dass es am MI ungewöhnlich häufig zu Todesfällen kam.

»Danke.« Mechanisch nicke ich dem Mann zu, während mein Herzschlag in meinen Ohren dröhnt. Als ich durch das Tor trete, scheint es, als würde ich in eine andere Welt eintauchen – eine Welt, in der die Zeit anders verläuft, in der andere Regeln gelten. Für einen Moment bilde ich mir ein, dass die Luft schwerer ist und die Geräusche gedämpft klingen, fast wie unter Wasser. In der gespenstisch beleuchteten, fensterlosen Empfangshalle ist es unnatürlich still. Der große Raum verschluckt jeden Laut, als bestünden die Wände aus Schall absorbierendem Material. Links und rechts gibt es nummerierte Holztüren, in der Mitte thront ein massiver Empfangstresen aus dunklem, poliertem Holz. Die Atmosphäre erinnert an ein Gefängnis aus einem Horrorfilm, und meine unterdrückte Nervosität flammt wieder auf, lässt meine Kehle eng werden. Meine Schritte auf dem matten Steinboden dröhnen in meinen Ohren wie Hammerschläge.

»Ihren Bescheid, bitte.« Der Mann mittleren Alters am Tresen trägt eine goldumrandete Brille und einen schlichten Haarschnitt. Seine Finger sind lang und dünn, und seinen makellosen schwarzen Anzug ziert eine Armbinde mit dem Hanja für »Prüfer«. Seine Augen fixieren mich, hart und berechnend.

Wo sind die anderen Studierenden?

Die Frage pocht in meinem Kopf, während Stille und Leere mich umgeben. Ich greife in meine Tasche, wo meine zitternden Finger nach dem zerknitterten Umschlag tasten.

Während er meine Unterlagen scannt, suche ich mein inneres Gleichgewicht. Die Luft fühlt sich plötzlich zu dünn an, als stünde ich auf einem hohen Berg.

Deinetwegen.

Ich schließe gegen die schrille Stimme meiner Mutter in meinem Kopf kurz die Augen. Weiße Punkte tanzen vor meinen geschlossenen Lidern. Diese eine Erinnerung verfolgt mich seit Jahren. Der Geruch von Kerzenrauch und Blumen in der Trauerhalle, die leeren Blicke meiner Eltern, als wären sie Hüllen ohne Seele.

Meine Schwester war das Wunderkind, nicht ich. Sie verkörperte die Hoffnung meiner Eltern, nicht ich. Ihr Name bedeutete mit Hanja geschrieben »die Leuchtende«, während meiner nur »die Zweite« hieß. Ein kosmischer Witz. Eine Wahl, die in ihrem Zynismus perfekt war.

Solche Gedanken begleiten mich, seit ich denken kann. Sie kreisen wie Aasgeier über mir, warten darauf, dass ich zusammenbreche. In schwachen Momenten frage ich mich, warum meine Eltern mich überhaupt zur Welt brachten. Ein Unfall? Ein Back-up-Plan, falls Binna sich als weniger formbar erwiesen hätte?

Ein Piepen bringt mich zurück in die Gegenwart.

Die Beklemmung in meiner Brust lockert sich ein wenig, als ich meine Augen wieder öffne.

»Vielen Dank, Ihre Anmeldung und die Bestätigung der Special Admission wurden verifiziert.«

Der Mann schiebt meine Dokumente über den Tresen. Seine Hände bewegen sich mit mechanischer Präzision. »Bitte folgen Sie mir zur schriftlichen Prüfung.«

»Schriftlichen Prüfung?« Verwirrt starre ich ihn an. »Ich habe mich für die praktische Prüfung angemeldet.«

Ich hebe meinen Geigenkasten hoch, und meine Muskeln spannen sich an.

»Meine Spezialisierung ist die Violine!«

Der Mann übergeht meinen Einwand. Seine Stimme bleibt monoton, emotionslos. »Sie haben eine Stunde für die Fragebögen. Laut Anmeldung sind Sie für die Fächer Politik und Sprachen vorgesehen.«

Er schiebt mir eine Keycard zu, die kalt unter meinen Fingerspitzen liegt. »Die Karte öffnet den Prüfungsraum Nummer vier. Rechte Seite. Die Zeit beginnt mit Ihrem Eintreten.«

Was zum Teufel?

Kalter Schweiß bricht mir aus, und ich ringe nach Luft. Ist das ein Versehen? Hat jemand meine Anmeldung manipuliert? Aber wer sollte ein Interesse daran haben, mich von dem Institut fernzuhalten? Hat meine Mutter doch von meinen Plänen Wind bekommen und meine Aufnahmeprüfung sabotiert? Mein Verstand arbeitet fieberhaft, während Panik sich in mir festkrallt.

»Das ist ein Fehler, ich habe mich fürs Departement Musik angemeldet. Meine Special Admission listet sogar die vorzutragenden Werke!« Ich halte ihm den zerknitterten Brief hin, doch seine Miene bleibt unbewegt. Seine Augen hinter den goldgerahmten Gläsern fixieren mich mit einer Intensität, die mich erschaudern lässt.

»Das MI macht keine Fehler.« Er tippt stoisch auf den Brief. »Haben Sie Ihre eigene Anmeldung nicht gelesen?«

Ungläubig starre ich auf die fett gedruckten Worte: Special Admission, Politik (international) und Sprachen (Deutsch, Englisch) – und zwar in meiner Schrift. Die Worte verschwinden nicht, egal, wie oft ich blinzele. Mein Blickfeld verengt sich, und ich möchte vor Frustration schreien.

Das kann nicht wahr sein!

Statt der Musikstücke von Bach, Mozart und Bartók steht dort etwas völlig anderes. Mein Magen dreht sich um, und Galle steigt meine Kehle hoch. Mit aller Kraft schlucke ich sie hinunter, der säuerliche Geschmack bleibt.

Wie konnte ich mich monatelang täuschen?

Der Mann strahlt keinerlei Verständnis aus. Nur Kälte.

»Entweder Sie nehmen an der schriftlichen Prüfung teil, oder Sie ziehen Ihre Anmeldung zurück.«

Das ist für mich keine Option. Nach all der Arbeit, den Schuldgefühlen und der Hoffnung auf Wahrheit kann ich nicht aufgeben. Diese Worte werden nie über meine Lippen kommen. Stumm nicke ich und greife nach der Keycard. Sie fühlt sich wie ein Stein an, der mich in die Tiefe ziehen wird.

Mir wird schon etwas einfallen.

Der Prüfungsraum ist im Gegensatz zur Empfangshalle in grelles Licht getaucht, das von den weißen Wänden reflektiert wird und in meinen Augen schmerzt. Außer einem quadratischen Tisch und einem Stuhl ist er vollkommen leer.

Ich setze meinen Geigenkasten ab, ohne mir die Mühe zu machen, die Jacke auszuziehen. Die Prüfungsbögen vor mir verschwimmen zu einem unförmigen Blob. Ich sehe absolut nichts und habe einen kompletten Blackout.

Keine Buchstaben, keine Sätze. Nichts. Nur ein weißes Rauschen in meinem Kopf, das jede Konzentration unmöglich macht. Meine Hände sind so kraftlos, dass ich den Stift kaum halten kann. Nicht einmal weinen kann ich, während ich wie in Schockstarre dasitze und auf die Papiere starre.

Das war’s, oder?

Fieberhaft überlege ich, wie ich dieses Totalversagen noch verhindern könnte. Die Verzweiflung schnürt mir die Kehle zu, und ich bin bereit, auf Knien um eine zweite Chance zu betteln. Trotz allem versuche ich, so gut es geht, die Aufgaben in den Prüfungsbögen zu beantworten – und scheitere kläglich.

Nach einem schrillen Klingeln schwingt die Tür automatisch auf, und ich blinzele benommen. Die Stunde verging schneller als gedacht. Eine mechanische Stimme scheppert aus den Lautsprechern.

»Alle Prüflinge bitte in den Wartebereich A.«

Ich greife wie im Autopilot nach meinem Geigenkasten und verlasse mit dem Wissen, dass mich jetzt nur ein Wunder retten kann, den Raum. Hinter mir fällt die Tür krachend zu und verleiht meinem Dilemma eine erschreckende Endgültigkeit.

Der Architekt

Absätze klacken rhythmisch auf Stein, als sich eine schemenhafte Gestalt nähert. Sie gleitet zum Tisch, an dem Ari eben noch saß. Mit einer fließenden Bewegung streicht sie über die Prüfungsbögen, die sofort in roten Flammen aufgehen. Die Gestalt kichert leise und schnippt mit langen, schmalen Fingern. Wo eben noch Asche lag, materialisiert sich ein Stapel mit eng beschriebenen Blättern.

»Viel Glück, Ari.«

Der Wind trägt das Flüstern davon. Sekunden später öffnet der Prüfer die Tür – genau in dem Moment schwebt eine einzelne pinke Hibiskusblüte sanft zu Boden.

Kapitel 2 – Ritardando

Wie in Trance folge ich der Beschilderung, in Gedanken noch bei der desaströsen Prüfung. Die Architektur des Innenhofs ist beeindruckend: Gewölbte Säulen mit filigranen Schnitzereien tragen das Vordach, und der Weg ist mit polierten, dunklen Steinen gepflastert. Mein Ziel ist zum Greifen nah.

Was soll ich tun? Nein, was kann ich tun? Die Fragen bohren sich in mein Bewusstsein wie stumpfe Nadeln. Gibt es einen Ausweg aus diesem Schlamassel? Wird meine Suche nach Antworten zum Tod meiner Schwester jetzt enden?

Ich umklammere den Griff meines Geigenkoffers wie einen Rettungsring und versuche, das Chaos in meinem Kopf zu beruhigen. Wenn ich die zweite Prüfung bestehen will, darf ich nicht in Panik geraten – falls ich diese Chance überhaupt bekomme.

Es gibt immer einen Weg, immer eine Lösung. Ich kann nicht wieder neun Jahre warten – neun Jahre, in denen jede Note, jede Übungsstunde, jeder wundgeriebene Finger mich hierhergeführt hat. Ich muss alles tun, was nötig ist, um ins MI aufgenommen zu werden. Sonst ist mein gesamtes Leben eine völlige Verschwendung. Das Gewicht dieser Erkenntnis drückt auf meine Schultern. Seufzend betrete ich den Warteraum und begegne einer kleinen Gruppe von Prüflingen. Ich kann die angespannte Atmosphäre fast schmecken; sie ist erfüllt von sehnsüchtigen Träumen und zerbrechlichen Hoffnungen – untermalt von saurem Angstschweiß.

Das opulente Äußere des Innenhofs bildet einen krassen Gegensatz zum minimalistischen Wartebereich, der einem sterilen Vorzimmer eines Arztes ähnelt. Ist das Absicht, um uns zu verunsichern? Ein Schauder kriecht meinen Rücken hinauf. Der Innenhof ist schlimmer als der Prüfungsraum, der wenigstens beheizt gewesen ist.

Klapprige Plastikstühle stehen an der Wand, der Boden besteht aus rauen, festgestampften Kieselsteinen, die unter meinen Schuhen knirschen. Der Wartebereich sieht nach einem Ort aus, an dem die gescheiterten Kandidaten zusammengetrieben werden – alles andere als einladend. Die Kälte des Raumes kriecht mir durch die Schuhsohlen in die Knochen.

»Hallo«, murmle ich in die Runde und suche nach einem freien Platz. Neben einem jungen Mädchen mit Sommersprossen, das einen seidigen Hanbok in Pink und Grün trägt, sinke ich auf einen Stuhl, der unheilvoll unter meinem Gewicht ächzt. Meinen Geigenkasten lege ich auf meine Oberschenkel – eine automatische Geste, die mir in Fleisch und Blut übergegangen ist.

Das vertraute Gewicht des Kastens auf meinen Schenkeln spendet einen Hauch von Trost. Mir ist mein Instrument heilig, auf keinen Fall kommt es auf den kalten Boden.

Nervös öffne und schließe ich meine linke Hand, spüre das unangenehme Ziehen in meinen Sehnen am Handgelenk, während ich versuche, meine steifen Finger zu lockern. Zeit zum Aufwärmen und Einspielen habe ich nicht. Ob ich überhaupt vorspielen darf? Ich räuspere mich, um das Kratzen aus meiner staubtrockenen Kehle zu bekommen.

»Du bist also auch Musikerin?« Die Stimme des Mädchens ist unerwartet rau und passt nicht zu ihren runden, geröteten Wangen, die kindliche Unschuld ausstrahlen. Der weiche Stoff ihres Hanboks raschelt sanft, als sie sich zu mir dreht.

»Geige.« Meine Stimme klingt angespannt, und ich versuche, meine abrupte Antwort mit einem gezwungenen Lächeln abzumildern. »Und du?«

»Ich bin Duri, Pansori-Sängerin«, sagt das Mädchen mit einem Grinsen, aber der junge Mann gegenüber schnaubt so laut, dass ich zusammenzucke. Unsere Blicke kreuzen sich. Seine Mimik zeigt deutlich, dass er Musiker lächerlich findet, und eine Welle aus heißem Ärger steigt in mir auf. Der Tag ist bereits ein Desaster, schlimmer kann es nicht mehr werden. Scheiß auf Höflichkeit.

»Hast du ein Problem?« Die Worte rutschen mir heraus, meine Stimme klingt schärfer als beabsichtigt. Manchmal ist eine Konfrontation das Einzige, was solche Leute verstehen – damit rechtfertige ich meine Provokation, während mein Puls in meinen Ohren trommelt. Mit seinem zurückgekämmten Haar, das im Licht ölig glänzt, der teuer wirkenden Kleidung, die an ihm klebt wie eine zweite Haut, und der protzigen Uhr am Handgelenk sieht er aus wie der stereotypische reiche Enkel eines Chaebols – oder wie die Karikatur eines Gangsters aus einer Scripted-Reality-TV-Show.

Ich benutze absichtlich keine höfliche Anrede und duze ihn, ein subtiler Affront, der in unserer hierarchiebewussten Gesellschaft einem Schlag ins Gesicht gleichkommt. Sein hochmütiger Blick wechselt in Gehässigkeit, und seine Nasenflügel blähen sich wie bei einem wütenden Stier.

Urgh. Nicht diese Art von Individuum, das sich für etwas Besseres hält.

»Ich wusste nicht, dass sie so was wie euch reinlassen.« Die Mundwinkel verächtlich heruntergezogen, mustert er Duri und mich, als wären wir Ungeziefer, das er am liebsten zertreten würde. Seine Stimme klingt näselnd und selbstgefällig. »Solltet ihr nicht auf der Straße stehen und euch euer Mittagessen verdienen?« Er lacht über seinen billigen Witz. Duri verdreht nur die Augen und ballt ihre kleinen Hände zu Fäusten. Er hat sich bestimmt nicht für ein Musikstudium beworben, sondern vielleicht für einen der prestigeträchtigeren Studiengänge wie Jura oder Medizin –oder etwa für ein naturwissenschaftliches Fach?

Mein Blut kocht, ein heißes Pulsieren in meinen Schläfen. Nicht, weil er uns beide mit Straßenmusikern verglichen hat – es gibt hervorragende Künstler, die aus verschiedenen Gründen auf der Straße spielen, Geld verdienen und Passanten für einen kurzen Moment in ihrem Alltag verzaubern. Nein, meine Wut kommt daher, dass er auf uns herabblickt, ohne zu begreifen, wie viele Opfer und welche Disziplin es erfordert, überhaupt ein Instrument zu halten oder einen Ton zu singen. Die zahllosen Stunden des Übens, die blutigen Finger, die schlaflosen Nächte, in denen jede Note, jede Passage immer und immer wieder wiederholt wird.

»Was ist das?« Ich atme übertrieben laut durch die Nase ein. »Ist das dein Parfum?«

Ich täusche ein Würgegeräusch vor. »Nein, das ist der Bullshit, der dir aus allen Öffnungen dampft.«

Das leise Kichern um mich herum ist wie Balsam für meine angespannten Nerven, und ich muss unwillkürlich grinsen, als der arrogante Typ vor Ärger rot anläuft. Seine Halsschlagader pulsiert unter seiner Haut. »Du kleines Drecks…« Er will aufstehen, die Stuhlbeine kratzen schrill über den Boden, aber eine große Pranke drückt ihn mit solcher Kraft zurück auf seinen Stuhl, dass ihm die Luft aus der Lunge gepresst wird.

»Was zum Teufel?« Er versucht, die Hand auf seiner Schulter loszuwerden, und verstummt, als er einen der anderen wartenden Prüflinge, einen Kerl mit Kurzhaarschnitt und dem Körperbau eines Wrestlers, neben sich sieht.

»Hey, wir sind hier alle Freunde, nicht wahr?«, sagt der Riese und klopft dem Typen auf die Schulter – mit der Wucht eines Hammers, der auf einen winzigen Nagel trifft. Das dumpfe Geräusch lässt mich innerlich zusammenzucken. »Kein Grund, die Nerven zu verlieren.«

»Misch dich nicht ein, du verdammter Freak!« Hochrot vor Wut und Scham versucht der Typ sich weiterhin zu befreien, aber der Riese lächelt friedlich und lässt sich umständlich neben ihn fallen.

Er braucht fast zwei Stühle, das Plastik ächzt bedrohlich unter seinem Gewicht. »Ruhig, mein Freund«, sagt er und grinst.

»Ich bin nicht dein Freund. Wenn du wüsstest, wer meine Familie ist …« Die Stimme des arroganten Typen überschlägt sich vor Empörung.

Ah, jetzt kommt es.

Ich mache mich auf das Geprotze gefasst, meine Schultern verspannen sich unwillkürlich, und gebe ihm in Gedanken den Namen »Nepo-Baby«. Ich habe viele Konzerte für Superreiche gespielt und weiß, dass es zwei Arten von reichen Leuten gibt: diejenigen, die sich wie leichtgläubige Lämmer benehmen, obwohl sie unter ihrer Maske Haie sind, und nicht mal vor ihren Kindern haltmachen – und Leute wie er. Von ihrer Macht betrunkene Ärsche, die keine Konsequenzen zu fürchten brauchen.

»Ist diese Familie hier mit uns im Raum?«, will ich übertrieben freundlich wissen und habe insgeheim Spaß daran, ihn weiter anzustacheln.

»Warte nur, bis diese Formalität vorbei ist. Ich werde dafür sorgen, dass ihr alle die Aufnahmeprüfung nicht besteht«, zischt er gehässig zwischen seinen zusammengepressten Zähnen. Als das Nepo-Baby das Getuschel der anderen Wartenden hört und spürt, wie die Stimmung seiner Kontrolle entgleitet und ihn niemand ernst nimmt, wird er lauter.

»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen?«

Ich lehne mich lässig zurück.

»Oh, ich wette, dass ich es wagen kann. Und ich wette auch, dass dein Papa dir vermutlich mit seinem Geld einen Platz kauft«, entgegne ich mit einem boshaften Lächeln. »Was hat er dir sonst noch gekauft? Die Nase? Augen? Zähne?«

»Du hast keine Ahnung, wen du vor dir hast!« Speicheltröpfchen fliegen. Außer leeren Drohungen hat er mir nichts entgegenzusetzen, und das Zittern in seiner Stimme schwächt die Wirkung ab. Er reagiert wie ein trotziges Kleinkind.

»Ich weiß, wer du bist«, säuselt Duri neben mir. Sie klatscht laut in die Hände, und ich zucke zusammen. Duri rezitiert ein Aniri auf grandiose und übertriebene Weise, ihre Stimme füllt plötzlich den ganzen Raum:

»Wer bist du? Ha! Wer kennt ihn nicht – den jungen Meister der Worte. Mit seinen Gesten, die so klein sind wie sein Geist, kann es trotzdem niemand mit ihm aufnehmen, denn er hängt viel zu hoch – oben an der Brust seiner Mutter.«

Ich schlage mir die Hand vor den Mund, spüre das Vibrieren meines unterdrückten Lachens gegen meine Handfläche, und Duri fährt mit einem verschwörerischen Zwinkern fort, ihre Augen funkeln vor Schalk. »Wer kennt ihn nicht? Der Reiche – und ich meine reich an Scheiße. Nehmt euch in Acht und macht Platz für ihn, er braucht ihn für sein schwingendes …«, sie blickt bedeutungsvoll auf seinen Schritt, eine perfekt gesetzte Pause, »sein Ego.«

Ihre spontane Pansori-Einlage zieht Nepo-Baby endgültig ins Lächerliche. Duri verbeugt sich theatralisch unter Beifall und Pfiffen der anderen Wartenden.

»Danke, danke.«

Mit wirrem Blick, die Augen weit aufgerissen und die Pupillen zu Punkten verengt, springt Nepo-Baby auf. Der Stuhl kippt krachend hinter ihm um, während er nach dem kleinen Beistelltisch neben sich greift. Alarmiert will ich aufstehen, Adrenalin durchflutet meinen Körper, aber es ist zu spät.

»Haltet die Schnauze!«, brüllt er und schwingt den Tisch in Duris Richtung. Ein Kreischen bleibt mir in der Kehle stecken, als das Geschoss stattdessen auf mich zusegelt. Die Zeit scheint sich zu verlangsamen.

Was für ein Arsch!

Geistesgegenwärtig beuge ich mich über meinen Geigenkasten, mein ganzer Körper spannt sich in Erwartung des Aufpralls an, um ihn vor einem Treffer zu schützen.

Ein dumpfer Schmerz durchzuckt meine Schulter, als der Tisch gegen mich prallt. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken, und schmecke Blut. Hoffentlich ist nichts verstaucht, für meinen späteren Auftritt wäre das fatal. Die Situation ist viel zu schnell eskaliert, und der Kerl muss von den anderen Prüflingen zurückgehalten werden.

Der Schreck hat Spuren hinterlassen – meine Hände zittern, und meine Arme sind verkrampft, weil ich immer noch meinen Geigenkasten umklammert halte.

Hauptsache, die Geige ist unbeschädigt.

»Hey, ist alles in Ordnung? Bist du verletzt?« Duris warme Hand berührt vorsichtig meinen Arm. Ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen, mein Kopf fühlt sich an wie in Watte gepackt. Eine ruhige Stimme dringt durch das Chaos.

»Genug.« Ein schlanker Mann betritt den Raum. Er trägt einen traditionellen Hanbok in Blau und Weiß sowie eine schwarze Maske, die alles unterhalb seiner braunen, fast rötlich wirkenden Augen verdeckt. Sein langes schwarzes Haar ist zu einem strengen Knoten hochgesteckt.

Sind das Kontaktlinsen? Seine Augenfarbe wirkt unnatürlich, zu durchdringend, und ich muss blinzeln, um mich zu sammeln.

In Begleitung von zwei stämmigen Männern – offensichtlich Wächter des Instituts – schaut er sich um, seine Präsenz füllt den gesamten Raum. Er scheint in meinem Alter zu sein, seine Haltung und sein Auftreten verraten eine militärische Ausbildung. Unsere Blicke treffen sich, und einen kurzen, schrecklichen Moment lang habe ich das Gefühl, als würde mein Kopf explodieren. Ein brutaler Druck in meinem Schädel lässt mich beinahe schwarz sehen, als würde jemand einen Bohrer durch meine Schläfe treiben. Ich kneife die Augen zusammen und presse meine freie Hand gegen meine Stirn.

»Nehmt eure dreckigen Hände weg!«, ruft das Nepo-Baby schrill und bringt mich zurück in die Gegenwart, durchdringt den Nebel in meinem Kopf. Die Sicherheitsleute schleifen ihn regelrecht weg, während er sich mit aller Kraft wehrt.

Was ihn aber nicht daran hindert, weiter lächerliche Drohungen gegen alles und jeden auszuspucken, sein Gesicht zu einer hässlichen Maske verzogen. »Ihr werdet von meinem Vater hören! Er wird euch alle feuern lassen! Dieses Institut wird zerstört, genau wie alle, die jemals damit zu tun hatten!«

Seine Rufe verhallen, bis wir sie nicht mehr hören können.

»Wie enttäuschend«, murmelt der Mann in Blau-Weiß kaum hörbar, »sein Großvater war eine große Bereicherung für das MI.«

Er nickt uns brüsk zu, seine Bewegungen präzise und effizient. »Seid versichert, dass das MI solch ein Verhalten nicht toleriert. Status, Geld – nichts hat hier eine Bedeutung. Nur eure Fähigkeiten.« Seine Stimme wird leiser, fast hypnotisch, lässt mich an Samt denken.

Sein Blick streift mich erneut, und ich halte unwillkürlich die Luft an, meine Lunge brennt vor Anstrengung, weil ich mich an den merkwürdigen Kopfschmerz erinnere – aber dieses Mal ist es nur ein leichtes Kribbeln auf meiner Haut, als würden unsichtbare Finger darüber streichen.

Moment. Ich hätte schwören können, dass seine Augen vorhin fast rötlich gewesen sind. Wieso sind sie jetzt schwarz? Das muss die Reflexion des Lichts gewesen sein, rede ich mir ein und ignoriere das diffuse, ungute Gefühl in mir.

»Ich dachte, dass Sicherheitsleute einen Chaebol rauswerfen, gibt es nur in Filmen«, flüstert Duri und kichert nervös.

»Was für ein menschlicher Haufen Müll«, meint der muskulöse Hüne, der uns vorhin geholfen hat, sein Tonfall so locker, als würde er über das Wetter sprechen. Er nickt mir freundlich zu, seine kantigen Gesichtszüge werden weicher.

»Ich bin Seong-ho.« Er spannt spielerisch seinen Bizeps an. »Werde hoffentlich mit einem Stipendium in Ssireum einsteigen.«

Bevor ich mich vorstellen kann, meldet sich der Mann in Blau-Weiß wieder zu Wort.

»Wir beginnen nun mit der zweiten Prüfungsrunde. Je nach Thema werden zwei Professoren des Instituts eure Fähigkeiten bewerten.« Er wendet sich der Tür zu, seine Bewegungen viel zu elegant für jemanden von seiner Größe. »Folgt mir.«

Sein Tonfall ist kurz angebunden und befehlend, lässt keine Möglichkeit für Fragen oder Einwände. Ich presse meinen Geigenkasten an mich und folge als Letzte den anderen aus dem Raum. Während wir durch die Gänge des Instituts laufen, werde ich das ungute Gefühl nicht los.

---ENDE DER LESEPROBE---

Table of Contents

Playlist

Der Architekt

Kapitel 1 – Calando

Der Architekt

Kapitel 2 – Ritardando

Kapitel 3 – Forte

Der Architekt

Kapitel 4 – Agitato

Kapitel 6 – Tenuto

Kapitel 7 – Poco a poco

Der Architekt

Kapitel 8 – Con spirito

Kapitel 9 – Più

Kapitel 10 – Vivo

Kapitel 11 – Grave

Kapitel 12 – Affettuoso

Kapitel 13 – Brillante

Kapitel 14 – Cantabile

Kapitel 15 – Rubato

Kapitel 16 – Presto assai

Kaleidoskop – Ein Riss in der Welt

Kaleidoskop – Für die Ewigkeit

Kaleidoskop – Gemeinsam

Die Mutter – Der Architekt

Epilog – Tempo primo

Nachwort

Danksagung

Glossar

Guide

Cover