Painting Marlene - Sabine Ludwig - E-Book + Hörbuch

Painting Marlene E-Book

Sabine Ludwig

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Beschreibung

Ich dachte zuerst, sie ist nicht echt. Sie lag da in einem Bett aus Immergrün neben einem roten Grablicht. Grün, rot, weiß. Eine weiße Taube. Von nahem hab ich das blutige Loch in ihrer Brust gesehen und dass sie kein Herz mehr hatte. Diese Taube ist vollendet schön bis darauf, dass ihr etwas Entscheidendes fehlt. Genau wie dir. Auch dir fehlt etwas, und das bin ich. Ja, ich weiß, es geht dir im Augenblick nicht gut, aber glaub mir, das Schlimmste ist überstanden. Bald ist es so weit, und du wirst erkennen, wer dich wirklich liebt und wer nicht.

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Seitenzahl: 479

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Sabine Ludwig

Painting Marlene

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

PrologZitronengelbIndischgelbBrillantorangeZinnoberrotPurpurrotKarmesinrotMagentaMauveUltramarinviolettIndigoblauPreußischblauKobaltgrünChromoxidgrünGrünolivTitangoldockerSepiabraunLichtgrauEpilog
[zur Inhaltsübersicht]

Prolog

Vor einem der Gräber bleibe ich stehen. Es muss ziemlich neu sein, verdorrte Blumengestecke liegen noch darauf, die Rosen sehen aus wie kleine Schrumpfköpfe, auf einer der Schleifen steht falsch, aber dafür in Gold: «Dein Cousein Heinz».

Vögel lärmen in den hohen alten Bäumen, aus dem Hintergrund ist ein beständiges Rauschen zu vernehmen. Ich schließe die Augen und versuche mir vorzustellen, es sei ein fernes Meer und nicht die Autobahn.

Friedhöfe habe ich immer geliebt, hab mir Geschichten zu den Menschen ausgedacht, deren Namen auf den Grabsteinen standen. Hab mir die Skelette in der schwarzen, feuchten Erde vorgestellt. Grünvermoderte Knochen, an denen noch Fetzen der Kleidung hängen.

Ich wünschte, Mama wäre in dem weißen Kleid beerdigt worden, das ich für sie gekauft habe. Weiß sei nicht ihre Farbe, hat sie immer gesagt. Noch nicht einmal bei ihrer Hochzeit hat sie ein weißes Kleid gewählt. Die Farbe der Jungfräulichkeit hätte wohl auch kaum zu ihrem dicken Bauch gepasst. Wie oft hat Er mir zu verstehen gegeben, dass Er Mama nie geheiratet hätte, wenn sie nicht schwanger gewesen wäre. Wahrscheinlich sollte das eine Entschuldigung für seine Affären sein. Mama ist nicht zuletzt deswegen gestorben. Die ständigen Verletzungen, Missachtungen, Zurückweisungen haben erst ihre Seele, dann ihren Körper getötet.

Als sie mich für immer verließ, hab ich geschlafen. Und nichts gespürt. Am Morgen wollte ich zu ihr ins Bett, so wie jeden Morgen. Da war Er ja meistens schon aus dem Haus. Diese Minuten, bevor ich mich für die Schule fertig machen musste, waren für uns die schönsten. Sie war so weich, so warm, sie roch so gut.

Doch an diesem Morgen war sie fort, und Er war da.

Beim Frühstück hat Er es mir dann mitgeteilt. Einfach so. Hat sich nicht mal die Mühe gemacht, seine Erleichterung zu verbergen. Ich habe geschrien, mich auf den Boden geworfen, wollte zu ihr, sie noch einmal sehen, aber Er hat mich festgehalten.

Von meinem Kommunionsgeld hab ich das weiße Kleid für sie gekauft, das wollte ich ihr anziehen, sie sollte schön aussehen im Sarg. Aber Er hat mir nicht gesagt, wo man sie hingebracht hat, auch bei der Beerdigung durfte ich nicht dabei sein. Ich stand zu Hause am Fenster, es regnete, und die ganze Zeit hab ich mir Mama in dem weißen Kleid vorgestellt, wie sie lachend über eine Wiese läuft mit wehendem Haar und hochwirbelndem Rock. Unberührt und rein und lebendig.

Doch mein Kleid hat sie nie getragen. Ich wollte so gern etwas von ihr behalten, einen Pulli, in dem noch ihr Duft hing, ein Nachthemd vielleicht, und hab den Altkleidersack geöffnet, in den Er all ihre Sachen gestopft hatte. Das Kleid lag obenauf. Er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, es zu verstecken.

Ich habe sie gesucht, bin nach der Schule auf Friedhöfe gegangen, hab Friedhofswärtern ihren Namen genannt, niemand wusste von ihr. Irgendwann hab ich aufgehört nach ihr zu fragen, aber ich gehe immer noch auf Friedhöfe. Sie beruhigen mich, fremde Trauer tröstet.

Hier liegt ein Kind. Kaum vier Jahre alt. Das Grab sieht aus, als habe der Kleine vergessen, sein Spielzeug wegzuräumen. Eichhörnchen aus Ton, Engelchen, eine Kette aus bunten Wimpeln. Der Schmerz der Eltern muss unermesslich sein. Wie würde Er wohl reagieren, wenn sein einziges Kind stirbt? Ich werde es nie erfahren. Wirklich schade, dass man bei seiner eigenen Beerdigung nicht dabei sein kann. Die Stelle bei «Tom Sawyer», wo er und seine Freunde sich in der Kirche verstecken, um ihre eigene Trauerfeier mitzuerleben, hab ich immer geliebt. Was für eine Befriedigung das sein müsste, Ihn weinen zu sehen.

Ich atme ein und wieder aus. Es ist ein Gefühl, als wäre ich gerade aus dunklen Tiefen aufgetaucht und könnte endlich, endlich Luft holen. Lange Zeit habe ich nicht gewusst, wie mein Leben weitergeht, ja nicht einmal, ob es überhaupt weitergeht, doch jetzt habe ich endlich ein Ziel vor Augen. Dieses Ziel bist du.

«Suchen Sie etwas?»

Ich hab den Mann nicht kommen hören. Er steht mit seiner Gießkanne vor mir und sieht mich misstrauisch an. «Kann ich Ihnen helfen?»

Ich schüttele den Kopf. «Nein, ich wollte nur …»

Er streckt den Arm aus. «Marlene liegt dahinten.»

Bei deinem Namen durchfährt es mich wie ein elektrischer Schlag.

«Marlene?»

«Sie sind doch wegen Marlene hier, oder? Marlene Dietrich.»

«Ja, natürlich, vielen Dank.»

Ich gehe in die Richtung, in die der Mann gezeigt hat. Fast wäre ich an Marlenes Grab vorbeigelaufen, so unscheinbar sieht es aus. Jemand hat eine kitschige Gipsputte auf den Stein gelegt. Ein Strauß Lilien welkt vor sich hin.

Ich drehe mich um. Der Alte steht immer noch an der gleichen Stelle und beobachtet mich. Sehe ich etwa aus wie ein Grabschänder? Ich fixiere ihn so lange, bis er seine Gießkanne nimmt und zu einem Wasserhahn schlurft.

Er wird sich an mich gewöhnen müssen.

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Freitag, 25. Juni

Zitronengelb

«Wo lag die Leiche denn?» Den Kleidersack fest an ihren ausladenden Busen gedrückt, bleibt Rike auf der Türschwelle stehen, als habe sie Angst davor, den Fuß auf verseuchten Boden zu setzen.

Hinter ihr zerrt Marlene ächzend einen prall gefüllten Karton die Treppe hoch. Sie lässt los, der Karton rutscht drei Stufen tiefer, trifft Georgie am Schienbein, platzt auf und verteilt seinen Inhalt auf der Treppe.

«Hast du sie noch alle?» Georgie setzt klirrend einen Korb mit Töpfen und Geschirr ab und reibt sich das Bein.

Marlene dreht sich zu ihm um. «Entschuldige, aber Rike spricht von meinem Vater.» Leise fügt sie hinzu: «Ich finde das nicht komisch.»

Rike hilft Marlene die Bücher einzusammeln, die auf der Treppe liegen. «Tut mir leid, aber ich hab noch nie … Ich meine, der Gedanke, dass da einer liegt und ist tot und …» Sie starrt auf eins der Bücher in ihrer Hand und schreit auf: «Exponentialfunktionen? Sag nicht, das hebst du auf!»

Marlene zuckt mit den Schultern und stopft einen Packen eselsohrige Hefter in die Kiste. «Ich kann Bücher nun mal nicht wegwerfen, auch keine Schulbücher.»

«Du kannst anscheinend überhaupt nichts wegwerfen.» Georgie zieht einen verbeulten Aluminiumtopf aus dem Korb. «Das Ding gehört ins Museum für Vor- und Frühgeschichte.»

«Das ist unser Spaghettitopf. Darin hat mein Vater früher immer …» Marlene bricht ab, als einen Stock tiefer eine Tür aufgerissen wird. «Brauchense Hilfe da oben?»

Sie beugt sich über das Geländer. «Nein, nein. Mir ist nur was runtergefallen. Aber danke.»

«Wer war das denn?», flüstert Georgie.

«Der Hausmeister», sagt Marlene leise. «Ich glaube, der klebt 24 Stunden am Tag hinter dem Türspion.»

Rike wuchtet die Bücherkiste durch die Tür. «Kann mir mal einer sagen, wieso Bücher so schwer sind?» Sie streicht sich die blonden Haare aus der Stirn.

«Das Problem wirst du bei deinem Umzug ja eher nicht haben», sagt Georgie spitz.

Marlene hört nicht, was Rike ihm antwortet. Sie ist in der Wohnungstür stehen geblieben und schaut in den Flur. In die Wohnung, in der ihr Vater die letzten fünf Jahre gelebt und gearbeitet hat. Und in der er vor einem halben Jahr gestorben ist.

Sie hat ihre Mutter nie gefragt, wo die ihren Vater gefunden hat. Vielleicht hatte er ja wirklich hier gelegen. Oder im Bett? Oder im Bad?

«Sie liegen meistens im Bad», sagt Georgie, als er sich mit dem Korb an ihr vorbeidrängt. «Mein Vater meint, das ist typisch bei plötzlichem Herztod. Es wird einem schlecht, man geht aufs Klo, und das war’s dann. Wo soll das Geschirr hin?»

«In die Küche», sagt Marlene und rührt sich noch immer nicht. Schließlich hebt sie den Kleidersack auf und geht hinter Rike in das erste der beiden Zimmer, aus denen die Wohnung besteht.

«Sieht ja fast so aus wie dein altes Zimmer», sagt Rike, und es klingt fast ein wenig enttäuscht.

«Aber bestimmt anders als bei deinem Vater», sagt Georgie. Er lässt einen geblümten BH um seinen Zeigefinger kreisen wie ein Lasso. «Das Ding lag zwischen den Tellern.»

Marlene reißt es ihm aus der Hand. «Ich hab einfach alles, was noch rumlag, irgendwo rein gestopft.»

Es sieht hier wirklich anders aus als vorher, denkt sie, während sie den BH zusammen mit Unterhosen und Hemden in die Schublade der Kommode legt. Ein Gründerzeitmonstrum, das nur noch drei Füße hat. Marlene ist schon darauf gewickelt worden. Sie tritt gegen die unterste Schublade, anders lässt sie sich nicht schließen.

Nicht nur die Kommode hat sie mitgenommen, auch ihr Bett, auf dem jetzt Georgie und Rike herumlümmeln und so tun, als seien sie ganz furchtbar erschöpft. Neu sind der Teppich, die roten Vorhänge und zwei Korbsessel mit roten Kissen, die um einen runden Tisch gruppiert sind. Auf dem Tisch steht ein alter Kerzenleuchter. Ihr Vater hätte das alles furchtbar kitschig gefunden. Als dieses Zimmer noch sein Schlafzimmer war, gab es eine breite Liege mit einem Pfeffer-und-Salz-Bezug, eine Kleiderstange und einen uralten Sessel mit zerschlissenem Polster, aus dem das Rosshaar quoll. Marlene hatte den Sessel neu beziehen lassen wollen, aber das wäre zu teuer geworden, also hatte sie ihn schweren Herzens den beiden Männern von der Entrümpelungsfirma mitgegeben, die ihn zusammen mit anderen Möbeln und Kartons voll Kleidung gleichgültig in einen Transporter luden.

Vielleicht ist er ja im Sessel gestorben. Ursessel hat Marlene ihn getauft. Sie und ihr Vater hatten sich vorgestellt, wer alles schon darin gesessen hatte. Hatten kleine Szenen improvisiert. Marlene als keusches wilhelminisches Fräulein, ihr Vater als Brautwerber auf den Knien vor ihr. Oder Marlene, die Hände ringend, vor einem unnachgiebigen Patriarchen, der seine gefallene Tochter in dröhnendem Bass aus dem Hause wies. Ja, es konnte nur im Sessel passiert sein. Marlene stellt sich vor, wie ihr Vater im Sessel saß, über ein Buch gebeugt, die Brille von der Nase gerutscht, als sei er nur mal kurz eingenickt.

«Er ist im Sessel gestorben», sagt sie. «Und der Sessel ist im Müll.»

«Ist auch besser, von wegen Leichenflüssigkeit und so», sagt Georgie. Rike boxt ihn in die Seite. «Du bist einfach widerlich.»

Georgie boxt zurück. «Wer hat denn von der Leiche angefangen?»

Marlene schaut die beiden an und muss unwillkürlich lächeln. Sie streiten, wie sie sich seit der 9. Klasse gestritten haben. Die große blonde Henrike, die mit ihrem stets geröteten Gesicht immer so aussieht, als habe sie sich gerade bei irgendetwas überanstrengt, und Georg, Marlenes bester Freund, seit ihr eines Morgens die Kette vom Rad gesprungen war und er sie wieder aufgezogen hatte. Sie waren beide zu spät zur Schule gekommen, Georgie noch dazu über und über mit Kettenöl beschmiert.

Es ist gut, dass die beiden hier sind. Marlene wäre jetzt nicht gern allein, allein in dieser Wohnung, die ihr vertraut und doch auch wieder fremd ist.

Den eigentlichen Umzug haben am Morgen zwei Männer von einem Unternehmen gemacht, in dem ehemalige Junkies arbeiten. Marlene hatte sich gefragt, wie die beiden hageren Typen, denen man ihre Drogenvergangenheit deutlich ansah, den schweren Kleiderschrank in den dritten Stock schaffen wollten, aber sie hatten ihn hochgetragen, als sei er aus Sperrholz und nicht aus massiver Buche.

Natürlich war Marlene mit dem Packen nicht fertig geworden, und Rike und Georgie hatten den Rest aus der Wohnung ihrer Mutter geholt, ihn in Georgies alten BMW gestopft und waren hierher in die Stubenrauchstraße gefahren. Zu diesem hässlichen Haus direkt an S-Bahntrasse und Stadtring. Obwohl die Wohnung nach hinten hinausgeht, hört man bei geöffnetem Fenster das unaufhörliche Rauschen der Autobahn.

Jetzt sind die Fenster geschlossen. Im Licht der immer noch grellen Sonne sieht man, wie schmutzig sie sind.

«Die Fenster müssten auch mal geputzt werden», sagt Rike und erhebt sich gähnend vom Bett.

«Kannst du ja machen», sagt Georgie. «Du brauchst wenigstens keine Leiter.»

«Kann ja nicht jeder so ein abgebrochener Gartenzwerg sein wie du», gibt Rike zurück.

Georgie ist einen Kopf kleiner als Rike und nur um ein weniges größer als Marlene, die in jeder Hinsicht das Gegenstück zu ihrer Freundin darstellt. Klein, zierlich, dunkel. Und dabei hat ihr Vater sie Marlene getauft, nach der Marlene, der Einzigen. Marlene Dietrich. Dieser großen, blonden, herben Frau. Marlene kennt nur ihre Stimme von einer Platte, die ihr Vater oft spielte: Sag mir, wo die Blumen sind. Marlene mochte weder das Lied noch die Stimme.

«Dürfen wir auch den Rest Ihrer Gemächer besichtigen, Mademoiselle, um uns ein Bild von Ihrem Zuhause machen zu können?», fragt Georgie jetzt und zückt sein Handy.

Die beiden sehen die Wohnung zum ersten Mal, in der Marlenes Vater die letzten fünf Jahre gelebt hat. Natürlich hätte nichts dagegen gesprochen, sie einmal hierher mitzunehmen, aber Marlene hat sich nie getraut. Sie konnte nie sicher sein, in welcher Stimmung ihr Vater gerade war. Wenn er gut drauf gewesen wäre, hätte er ihre Freunde mit Leichtigkeit um den Finger gewickelt. Georgie hätte sie wahrscheinlich um ihren unkonventionellen Vater beneidet. Seiner ist Chefarzt an einer Klinik und entspricht so sehr dem Klischee eines Halbgottes in Weiß, dass es schon fast wieder komisch ist.

Und bestimmt hätte ihr Vater mit Rike geflirtet, aber nicht so, dass es unangenehm geworden wäre. Und er hätte gut ausgesehen, viel jünger, als er war, allein schon durch die Begeisterung, mit der er redete, gestikulierte, sein Haare zurückwarf, viel zu lange Haare für einen Mann von Mitte sechzig.

Genauso gut hätten sie aber auch auf einen Mann treffen können, der ihnen nicht die Hand gegeben hätte und nach einem unfreundlichen «Hallo» einfach verschwunden wäre. Ein Mann, der stur an ihnen vorbeigeschaut und sehr viel älter ausgesehen hätte, als er war.

Marlene öffnet die Tür. Die Tür zum Atelier. Hier hat sie am wenigsten verändert. Da steht der Schreibtisch, das Holz mit Tintenflecken tätowiert, dann der breite Arbeitstisch, auf dem ihr Vater seine Entwürfe gemacht hat. Ungeduldig, ohne zu zögern, mit dicken Kohlestiften. Der Rollwagen mit den von Gelb über Rot und Blau nach Braun geordneten Farbtuben darauf, manche schon eingetrocknet. Pinsel mit Haaren und ohne, Joghurtbecher zum Mischen der Farben. Senfgläser, aus denen er abwechselnd Rotwein trank oder sie zum Reinigen der Pinsel benutzte. Und natürlich seine Staffelei.

Ein Bild steht darauf, das einzige. Ihr Bild.

***

«Klebste da jetzt fest, oder jibt’s da wat zu sehen?»

Frank Wedau wendet sich vom Spion ab und dreht sich zu seiner Frau um, die in der Wohnzimmertür steht und ihn abschätzend mustert. «Schließlich muss ick wissen, wer sich hier im Haus rumtreibt.»

«Ziehen da mehrere ein?»

«Keine Ahnung. Auf jeden Fall die Tochter von dem März. Und jetzt waren noch so ’n Jungscher Typ und ’ne dicke Blondine dabei.»

«Drei in der kleenen Wohnung, kann ick mir nich vorstellen, aber mir kann’s ja egal sein.»

Carola Wedau hat offensichtlich das Interesse an den neuen Mietern verloren, außerdem erklingt im Fernsehen gerade der Jingle, der die Werbepause auf ihrem Lieblingssender ankündigt. Carola sieht eigentlich nur wegen der Werbung fern. Ihr Gehirn sei gar nicht in der Lage etwas aufzunehmen, das länger als dreißig Sekunden dauert, sagt Wedau oft.

Er hat eine dumme Frau geheiratet. Eine sehr dumme Frau. Anfänglich hat ihn das nicht gestört, im Gegenteil. «Is schon was dran an dem Spruch ‹dumm bumst gut›», verkündet er gern am Stammtisch. «Wat soll ick mit ’ner Oberschlauen, die machen nüscht als Ärger und wollen auch noch bedient werden, wenn man nur mal kurz rüberwill.»

Doch seit ein paar Jahren lässt ihn Carola weder lang noch kurz rüber, sondern praktisch gar nicht mehr. Wird höchstens an den Doppelkopfabenden mit Hans und Helga schwach, wenn sie sich mit Baileys ordentlich in Stimmung getrunken hat, aber an solchen Abenden ist er selber jedes Mal so abgefüllt, dass er keinen mehr hochkriegt.

«Weiber!», murmelt er verächtlich und lässt die Klappe vor den Spion fallen. So eine wie die kleine März müsste man sich ranziehen. Die würde einen bestimmt nicht mittendrin von sich runterschubsen, weil ihr plötzlich einfällt, dass sie die Balkonblumen gießen muss. Mit der könnte man noch mal ganz von vorn anfangen …

«Kommste, Fränki?»

«Ja, ja, gleich.»

«Bringste mir ’n Eis mit?»

Wedau geht in die Küche zum Eisschrank und öffnet das Tiefkühlfach. Es enthält nichts außer Familienpackungen mit Vanilleeis. Carola isst fast nichts anderes. Und so sieht sie auch aus.

Er öffnet die Packung und steckt einen Löffel in die gelbe Masse, einen Esslöffel.

Carola sitzt auf dem Sofa, die Beine in den fliederfarbenen Leggings auf dem Couchtisch abgelegt.

Die Werbepause ist zu Ende, eine amerikanische Serie mit eingespielten Lachern beginnt, und Carola konzentriert sich auf ihr Eis.

«Versteh ja nich, warum so ’n junget Ding in die Wohnung von seinem Alten zieht», nuschelt sie mit vollem Mund. «Wo der da doch tot rumlag.»

Wedau greift nach der B. Z. und studiert die Seite mit den Sexanzeigen. «Weißt du, wer in dieser Wohnung schon alles den Löffel abgegeben hat?»

Carola hält mitten in der Bewegung inne und starrt stirnrunzelnd auf den Esslöffel, von dem Eis tropft. «Blödsinn, die alte Hoffmann, die vor dem März da gewohnt hat, is im Krankenhaus gestorben, hat ihre Tochter doch erzählt.»

Wedau zuckt mit den Schultern. «Erzählt wird viel, vor allem, wenn die Leute ’ne Wohnung loswerden wollen. Immerhin sind da oben nich irgendwelche Kanaken eingezogen. Das hätte mir noch gefehlt, wenn ick denen ihren Dreck wegmachen müsste.»

Von oben ist jetzt lautes Kreischen zu hören.

Wedau stellt den Fernseher lauter.

***

«Was ist das denn?» Rikes Stimme überschlägt sich fast, als sie auf den Schreibtisch zeigt.

«Ein Telefonapparat», sagt Georgie und macht ein Handyfoto. «Schätzungsweise Baujahr 1970, dafür spricht auch die diskrete grellorange Farbgebung.»

«Und damit kann man echt telefonieren?»

Georgie hält ihr den Hörer ans Ohr. «Soll ich dir zeigen, wie’s geht?»

«Nicht nötig, ich hatte mal ein Kindertelefon, das sah genauso aus, nur ’n bisschen bunter.»

«Du wirst es nicht glauben, aber mein Vater hatte auch einen Plattenspieler», sagt Marlene.

«Und wo ist der?», fragt Georgie interessiert.

«Einer der Typen von der Entrümpelungsfirma war total scharf drauf, auch auf die Platten, dafür mussten wir dann weniger zahlen.»

«Bestimmt hast du dich da übers Ohr hauen lassen», sagt Georgie. «Plattenspieler sind wieder total im Kommen, analog ist in, und digital ist out.» Er hat sich an den Arbeitstisch gesetzt und den Computer angestellt. «Apropos digital: Hast du hier Internet?»

«Nicht dass ich wüsste. Mein Vater hat von alldem nie was gehalten. Er hatte auch kein –»

Handy, wollte sie sagen. Vielleicht hätte er ja gar nicht sterben müssen, wenn er eins gehabt hätte. Wenn er nicht erst ins andere Zimmer zum Telefon hätte gehen müssen.

«Mist, es gibt kein offenes Netz», sagt Georgie mit einem Blick auf den Bildschirm, «aber vielleicht verrät dir der Hausmeister ja sein Passwort.» Er dreht sich zu Marlene um und grinst. «Wenn du schön bitte, bitte machst.»

«Ganz sicher nicht.»

«Ich denke, dein Vater war Maler», sagt Rike. «Ich seh hier aber keine Bilder.»

«Die sind alle bei einem Galeristen.»

«Schade, ich hätte mir gern was angeschaut. Wie hat er denn so gemalt, normal oder modern?»

«Normal oder modern, wie bekloppt bist du denn?» Georgie wiehert vor Lachen. «Man merkt, dass du von Kunst echt keine Ahnung hast.»

«Aber du, ja? Du hast Kunst-Leistungskurs doch nur genommen, um ’ne ruhige Kugel zu schieben, gib’s zu.»

Georgie setzt ein gespielt reumütiges Gesicht auf. «Bekenne mich schuldig, Frau Richterin.»

«Genützt hat’s dir ja nicht viel», sagt Rike, um sich gleich darauf die Hand vor den Mund zu schlagen. «’tschuldigung.»

Marlene geht zur Staffelei und zieht die Plastikfolie runter, die das Bild vor den Malerarbeiten geschützt hatte. «Eins hat er ja behalten.»

«Wow!» Georgie pfeift leise durch die Zähne.

«Bist du das?», fragt Rike.

«Nein, meine Oma», sagt Marlene.

«Natürlich ist sie das», sagt Georgie. «Sieht man doch.»

Das Bild zeigt Marlene. Fast lebensgroß. Sie sitzt auf dem alten Sessel, einen Arm über die Lehne gelegt, mit dem anderen stützt sie ihr Gesicht ab. Das Lebendigste an dem Bild sind die Augen. Sie sehen den Betrachter direkt an, egal von welcher Seite man das Porträt betrachtet.

«Das Kleid kenn ich ja gar nicht», sagt Rike fast ein wenig gekränkt.

«Das gehörte wirklich meiner Oma», sagt Marlene.

Es ist ein knielanges Kleid in einem blassen Rosé mit tief angesetztem Rock. Marlene erinnert sich daran, wie ungern sie es angezogen hat, aber ihr Vater hatte darauf bestanden, weil er meinte, der Farbton würde ihre Haut zum Leuchten bringen. Er hat recht gehabt. Kleid und Körper und vor allem das Gesicht sind realistisch gemalt, der Sessel ist mit ein paar dicken dunklen Strichen nur angedeutet, und der Hintergrund wirkt so, als habe der Maler ihn irgendwie mit Farbe füllen wollen und sei nicht ganz fertig geworden.

Aber Marlene weiß, dass er fertig geworden ist.

Sie hat ihrem Vater Modell gesessen an dem Tag, an dem sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte.

«Es sieht aus, als würde ich auf irgendeinem schwarzen Gestell hocken», hatte Marlene gesagt. «Kannst du den Sessel nicht richtig malen?»

«Richtig?», hatte er spöttisch gefragt. «Wie war das noch mal, machst du nicht demnächst dein Abi in Kunst?»

«Genau, und deswegen weiß ich auch, dass das einfach beschissen aussieht, fast als ob zwei Maler zu Werke gegangen wären.»

«Gut beobachtet», hatte er geantwortet und in aufreizender Langsamkeit den Pinsel an einem Lappen abgestrichen.

«Papa, bitte, das Bild ist echt gut, aber so … so häng ich mir das jedenfalls nicht hin.»

«Wer redet denn davon? Das Bild behalte ich natürlich. Das ist genau die Marlene, die ich liebe, sanft und schön.»

Sanft und schön. Bei diesen Worten hatte Marlene nur noch rot gesehen.

«Du hast doch gar keine Ahnung, wie ich wirklich bin. Und anscheinend interessiert es dich auch nicht!», hatte sie geschrien, war aufgesprungen und aus der Wohnung gelaufen.

Es war nicht das erste Mal, dass ihre wöchentlichen Treffen so endeten. Sie hatten sich oft gestritten, meistens hat ihr Vater nachgegeben, rief ein paar Tage später an und tat dann so, als sei nicht das Geringste vorgefallen.

Aber diesmal hatte es keinen Anruf gegeben. Er war einfach gestorben.

Das Telefon klingelt. Marlene zuckt zusammen. Womöglich ist jemand dran, der nicht weiß, dass ihr Vater tot ist, und sie muss es dem Anrufer sagen, aber wie? Sie kann das nicht.

«Willst du nicht rangehen?», fragt Rike.

Marlene nimmt den Hörer ab und flüstert fast: «Hallo?»

Ihre Mutter. Das hätte sie sich denken können.

«Nein, Mama, das ist lieb von dir, aber wir gehen gleich essen. Ja, es wird sicher spät, wir wollen vielleicht noch ins Ballhaus … ja, ja, ich pass auf, ich melde mich morgen, Mama, tschüs.»

«Was wollte sie denn?», fragt Georgie. «Glaubt sie, du schaffst es nicht ohne sie?»

«Ich glaube eher, sie schafft es nicht ohne mich», murmelt Marlene. Laut sagt sie: «Sie hat Chili con Carne gekocht und wollte es uns vorbeibringen.»

«Super!», ruft Rike. «Genau darauf hätte ich jetzt Appetit.»

«Ich aber nicht», sagt Marlene. «Schon gar nicht bei der Hitze. Wir wollten doch nach Mitte zum Vietnamesen und später dann ins Ballhaus. Jasper legt da heute auf.»

«Jasper legt da heute auf», äfft Rike Marlene nach, und zu Georgie gewandt sagt sie: «Erklär du mir doch mal, was unser Lämmchen an dem so großartig findet, dass sie freiwillig in den wilden Osten fährt. An seinen Haaren kann’s ja wohl nicht liegen.»

Den Blick immer noch auf Marlenes Porträt gerichtet, sagt Georgie: «Es soll Frauen geben, die auf Rothaarige stehen, aber ich bin sicher, Jasper hat noch mehr zu bieten als seine Haare.» Er macht eine Pause und seufzt. «Dummerweise fällt mir nur gerade nicht ein, was.»

«Ihr seid blöd», sagt Marlene und spürt, wie sie rot wird. Sie tritt an die Staffelei und stellt sich vor ihr Porträt.

«Schluss jetzt mit Wohnungsbesichtigung. Gehen wir was essen, ja oder nein?»

***

Julia Reichelt hält den Hörer in der Hand und drückt auf die Wiederholtaste. Papa steht immer noch auf dem Display. Sie wird es ändern müssen in Marlene, aber wie macht man das?

Bevor das Freizeichen ertönt, legt sie wieder auf. Sie wollte Marlene fragen, ob sie morgen am Samstag zusammen auf den Markt gehen. Aber so unwirsch, wie ihre Tochter auf das Angebot mit dem Chili reagiert hat, würde sie sich womöglich eine zweite Abfuhr einhandeln.

Was soll sie bloß mit dem ganzen Essen anfangen?

Sie zieht den Deckel vom Topf und probiert. Das Chili ist gut geworden, genau wie Marlene es liebt, scharf mit wenig Bohnen und viel Fleisch, genau wie auch Jochen es geliebt hat.

Julia schenkt sich ein Glas Rotwein ein. Normalerweise wartet sie damit bis nach sieben Uhr abends, aber sie braucht jetzt Alkohol. Alkohol und eine Zigarette. Marlene ist schließlich nicht da, um ihr Vorhaltungen zu machen.

«Mama, weißt du, was Rauchen mit deiner Haut macht? Abgesehen davon stinkt alles.»

Nun, in Zukunft kann Julia trinken und rauchen bis zur Besinnungslosigkeit, schließlich gibt es niemanden mehr, der sie davon abhalten könnte. Zuerst ist Jochen gegangen und jetzt Marlene. Jochens Auszug hat sie als Erleichterung empfunden, aber als die nach Schweiß riechenden Männer heute Morgen Marlenes Bett aus der Wohnung trugen, die alte Kommode, den Schrank, in dem sich Marlene immer verkrochen hatte, wenn es Streit zwischen den Eltern gab, hätte Julia heulen können. Einfach nur laut heulen, wie eines dieser Klageweiber. Sich an die Brust schlagen, die Haare ausreißen und heulen.

Für werdende Mütter gibt es zig Ratgeber, aber wer sagt einem, wie man sein Leben sortieren soll, wenn das Kind einen verlässt? Es tut so verdammt weh, schlimmer als der schlimmste Liebeskummer.

Das Weinglas in der einen, die Zigarette in der anderen Hand, geht Julia durch die Wohnung, die viel zu große, viel zu leere Wohnung. Was soll sie mit vier Zimmern?

Warum ist Marlene nicht geblieben? Wenigstens noch so lange, bis klar ist, was sie machen will. Nachher bekommt sie einen Studienplatz in Hamburg oder Leipzig, und dann? Der ganze Aufwand, um Jochens Wohnung in einen zumutbaren Zustand zu versetzen, für nichts und wieder nichts. Aber noch ist ja nicht klar, ob Marlene überhaupt studieren will. «Lass mir doch noch etwas Zeit, Mama», hat sie gesagt. «Ich hab jahrelang nur gelernt, gelernt und gelernt, jetzt will ich einfach nur leben.»

«Einfach nur leben, was für ein romantischer Schwachsinn», hatte Julia geantwortet. «Meinst du, die haben auf dich gewartet, wenn dir in ein paar Jahren, nachdem du genug ‹gelebt› hast, einfällt, du möchtest doch noch eine Ausbildung machen?»

Marlene sah sie daraufhin an mit diesem Blick, den Julia hasst. Mit dieser Mischung aus Nachsicht und Überlegenheit. Bei diesem Blick fühlt Julia sich jedes Mal, als sei sie eine alte Frau und nicht erst neunundvierzig. Alt wird sie erst mit fünfzig sein, und bis dahin hat sie noch ein Jahr Zeit.

Sie geht zurück in die Küche und gießt sich noch einmal nach. Sie könnte sich in ihr Arbeitszimmer setzen und den ganzen Kram ordnen, den man am Schuljahresende ordnen muss, dann hätte sie das Wochenende frei. Aber wozu braucht sie noch ein freies Wochenende? Für wen?

Keine gemeinsamen Einkäufe am Samstag, keine Backorgien, nach denen man jedes Mal die Küche hätte renovieren müssen. Kein spätes Sonntagsfrühstück mehr mit einer Marlene im Schlafanzug, mit beiden Händen die Teetasse haltend, um sich zu wärmen. Marlene ist immer kalt, und Julia ist immer warm. Wahrscheinlich Vorboten der Wechseljahre.

Sie betritt Marlenes Zimmer. Dicke Staubballen liegen in den Ecken, wo noch vor wenigen Stunden der Schrank und die Kommode standen. Ein zerknüllter Zettel liegt auf dem Boden. Sie stellt das Weinglas auf dem Klavier ab und hebt lächelnd den Zettel auf. Ein Briefchen, wie nett, dass es das noch gibt. Heute läuft doch alles per SMS.

Hast du heute Abend Zeit? Bin ab elf im Ballhaus und lege auf. J. Diese Schrift kennt sie. Jasper Hinrichs. Der erste Schüler, der es fast geschafft hätte, dass sie die Beherrschung verlor. Julia zerreißt den Zettel in kleine Schnipsel und wirft sie aus dem Fenster. Gegenüber steht wieder der unglaublich dicke Mann auf dem Balkon und glotzt zu ihr rüber. Ist Marlene etwa wegen dem Fettsack ausgezogen? In diesem Winter hat man den Ahorn gefällt, der bis dahin gnädigerweise die Sicht auf den hässlichen 60er-Jahre-Klotz verdeckt hatte.

«Wie praktisch, ich brauch keinen Fernseher im Zimmer», hat Marlene oft gesagt und auf eins der Fenster gegenüber gezeigt, hinter dem man einen riesigen Flachbildschirm erkennen kann.

An dem Tag, an dem der Baum gefällt wurde, hatte Marlene sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, die Vorhänge zugezogen und wie besessen auf das Klavier eingedroschen. Rachmaninow.

Julia setzt sich auf den Klavierhocker und greift zum Glas. Auch etwas, das sie nicht versteht. Warum hat Marlene ihr Klavier nicht mitgenommen? Sie spielt gut, natürlich nicht so gut, wie sie hätte spielen können, wenn sie richtig geübt hätte, aber das ist ja sowieso das Problem bei den jungen Leuten heutzutage. Sie bleiben alle weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Genau wie dieser Jasper. Als er frisch aus seinem norddeutschen Bauerndorf an Julias Gymnasium und in ihren Kunstkurs kam, hatte sie an eine Entdeckung geglaubt. Dieser Junge konnte zeichnen. Und wie! Nicht dieses zögerliche Rumstricheln und Radieren und wieder Stricheln, nein, Jasper Hinrichs, der aussah wie einer, der gewohnt ist, in Gummistiefeln durch den Mist zu waten, hatte mit ein paar Strichen Porträts seiner Mitschüler aufs Papier geworfen, so ausdrucksstark, dass Julia der Atem wegblieb.

Und dann erklärte er ihr eines Tages, dass er sich entschieden habe, statt Kunst lieber Musik zu wählen. Julia war außer sich. «Das können Sie doch nicht machen, Jasper, Sie haben eine Begabung, die dürfen Sie nicht einfach wegwerfen.»

«Das hab ich auch nicht vor, aber ich glaube nicht, dass ich hier noch viel lernen werde. Von Musik kann ich das nicht behaupten.» Zum Abschied hat er ihr mit süffisantem Lächeln eine Zeichnung geschenkt. «Sie fanden meine Porträts doch so gut, vielleicht gefällt Ihnen das hier ja auch.»

Natürlich gefiel es ihr nicht, aber sie musste zugeben, dass er sie gut getroffen hatte: den bitteren Zug um den Mund, die schlaffen Wangen, den Ausdruck von Müdigkeit und Resignation.

Julia empfand diesen unfreiwilligen Blick in den Spiegel als Ohrfeige und musste sich sehr zusammennehmen, ihm nicht ihrerseits eine zu scheuern.

Und dann kam Jasper an Marlenes Schule, an das Gymnasium mit Musik als Schwerpunkt, war mit ihr in einem Jahrgang und hat vor kurzem mit ihr Abitur gemacht.

Sie mussten sich bei der Musikfahrt vor einem Jahr näher kennengelernt haben. Erzählt hat Marlene natürlich nichts, umso größer war Julias Schock, als Jasper eines Tages vor der Tür stand. Gefreut hat sie nur, dass er offensichtlich genauso unangenehm überrascht gewesen war wie sie.

Wie konnte er auch ahnen, dass seine ehemalige Kunstlehrerin Marlenes Mutter ist. Nur der Direktor spricht sie korrekt mit «Frau Reichelt-März» an, die Schüler nie.

Nach der Begegnung an der Tür hat Marlene Jasper nicht mehr erwähnt, aber Julia weiß, dass sie immer noch in ihn verliebt ist – eine Mutter spürt so etwas.

Warum muss es denn ausgerechnet dieser Jasper sein? Warum nicht Georgie? Julia mag Georgie. Er ist witzig, ohne unverschämt zu sein, kann einem offen ins Gesicht sehen und besitzt darüber hinaus die schönsten Augen, die Julia je bei einem Jungen gesehen hat.

Aber vielleicht kennen die beiden sich einfach schon viel zu lange. Zum Verlieben gehört der Reiz des Fremden. Aber manchmal zündet der Funke ja auch mit Verzögerung. Die beiden unternehmen viel zusammen, gut, Rike ist fast immer dabei, trotzdem ist Julia sich sicher, dass Georgie Marlene lieber hat. Sie passen schon rein äußerlich besser zusammen. Beim Eröffnungswalzer auf dem Abiball haben sie das perfekte Paar abgegeben.

Als sie an den Ball denkt, fällt Julia wieder der Zettel ein. Hatte Marlene nicht erzählt, dass sie heute ins Ballhaus gehen will? Womöglich trifft sie sich da mit Jasper. Vielleicht nimmt sie ihn mit in die neue Wohnung. Vielleicht bleibt er sogar über Nacht. Und dann … Nein, das will sie sich nicht vorstellen. Ist Marlene etwa ausgezogen, weil sie ungestört mit Jasper zusammen sein will? Genau wie Julia gespürt hat, dass Jasper Marlene nicht gleichgültig ist, hat Marlene bestimmt auch gespürt, dass ihre Mutter Jasper nicht ausstehen kann.

Sie ist sensibel, viel zu sensibel. Deswegen muss Julia dafür sorgen, dass sie nie die Wahrheit erfährt. Die Wahrheit über den Tod ihres Vaters.

***

Sie sitzen beim Vietnamesen unweit des Hackeschen Marktes. Marlene hat eine Sommerrolle bestellt, wie immer. Sie liebt die gummiartige Umhüllung, aus der beim Reinbeißen Minze, Glasnudeln, Hühnerfleisch und Krabben quellen.

Georgie angelt ein Stück Fleisch aus seiner Pho und betrachtet es argwöhnisch von allen Seiten.

«Das ist Rindfleisch, Georgie», sagt Marlene. «Kann man essen.»

«Bisschen blass für Rindfleisch.»

«Dann ist es eben Schwein.»

«Ich hatte aber Rindfleisch bestellt.»

«Du meine Güte, Georgie, iss endlich deine Suppe und halt die Klappe!» Rike stopft sich ein Krabbenbällchen in den Mund und beginnt zu husten.

Am Nachbartisch sitzt ein schickes Mitte-Pärchen. Er mit straff zurückgegeltem Haar und Kassengestellbrille, sie mit Piroschka-Zöpfen im gepunkteten Kleinmädchenkleid. Nur der verkniffene Mund passt nicht dazu. Beide sehen immer wieder zu ihnen herüber.

«Mit euch kann man aber auch nirgendwo hingehen, ohne unangenehm aufzufallen», sagt Marlene.

«Sie gucken schon, sie gucken schon!», kreischt Rike und bekommt den nächsten Hustenanfall.

«Die zwei können uns dankbar sein», sagt Georgie und schlürft geräuschvoll seine Suppe. «Sieht man doch, dass bei denen längst die Luft raus ist. Jetzt haben sie wenigstens ein Gesprächsthema.»

Er schiebt die Suppenschüssel von sich. «Weiß nicht, was ihr Mädels an diesem asiatischen Zeug findet. Undefinierbares Fleisch, labbrige Nudeln und …», er zieht sich etwas Grünes aus den Zähnen, «viel zu viel Chlorophyll für meinen Geschmack.»

«Um die Ecke ist ein Dönerstand», sagt Rike.

«Da weißt du dann aber erst recht nicht, was du für Fleisch kriegst», sagt Marlene. «Vielleicht Katze. Oder Gammelfleisch!»

«Oder vergammelte Katze!» Rike kreischt schon wieder. Die Frau mit den Zöpfen verdreht die Augen und legt ihrem Begleiter besitzergreifend die Hand auf den Oberschenkel.

Marlene wühlt in ihrer Tasche. Mist! Sie hat ihren Kajalstift vergessen. Bei der Hitze und dem scharfen Essen ist bestimmt schon wieder alles verschmiert. Normalerweise hat sie immer ihre geräumige Umhängetasche dabei, aber wenn sie ins Ballhaus geht, nimmt sie nur eine kleine Tasche mit. Das ist praktischer beim Tanzen. Aber beim Umpacken vergisst sie jedes Mal etwas. An Geld und Schlüssel hat sie immerhin gedacht. «Kommst du mit auf die Toilette?», sagt sie leise zu Rike.

«Ich zahl schon mal», sagt Georgie.

Marlene zieht ihr Portemonnaie heraus.

Georgie winkt ab. «Lass mal, ich lad euch ein.»

«Das geht nicht, ich wollte euch einladen. Schließlich habt ihr mir geholfen.» Marlene legt einen Zwanzigeuroschein auf den Tisch. Rike nimmt ihn sich schnell. «Danke, den schuldest du mir noch. Erinnerst du dich? Als wir das letzte Mal im Ballhaus waren. Fürs Taxi.»

«Ach nee, hat dich der feine Herr Hinrichs etwa nicht nach Hause gebracht? So benimmt sich aber kein Kavalier», sagt Georgie spöttisch.

«Wo soll der denn Benehmen gelernt haben?», sagt Rike. «Im Stall bei den Kühen bestimmt nicht.»

«Vielleicht aber was anderes.» Georgie grinst anzüglich.

«Was willst du damit sagen?», fragt Marlene drohend.

«Na, Ausmisten, oder dachtest du etwa an …»

Er macht eine eindeutige Handbewegung.

«O nein!», schreit Rike. «Mit ’ner Kuh! Wenn ich mir das vorstelle! Das arme Tier.»

«Da spricht die zukünftige Tierärztin. Aber Pech gehabt, Rike, irgendeine Verbraucherministerin ist dafür, Sodomie nicht mehr unter Strafe zu stellen. Die Bauern wird’s freuen.»

«Könnt ihr nicht endlich mal aufhören!» Marlene springt auf und läuft in Richtung Toiletten.

«Hey, wo ist dein Humor geblieben?», ruft Rike ihr nach. Dann äugt sie in Georgies fast volle Suppenschüssel. «Magst du echt nicht mehr?»

 

Marlene schaut in den Spiegel. Natürlich ist der Kajal verlaufen, sie sieht aus wie eine traurige Eule. Und wenn schon, irgendeins der Mädchen, die im Ballhaus auf dem Klo rumhängen, wird ihr bestimmt einen Schminkstift leihen. Hauptsache, sie trifft Jasper. Sie hat ihm eine SMS geschickt, dass sie kommt, um ihre neue Wohnung zu feiern. Vielleicht bringt er sie ja heute nach Hause und vielleicht … In diesem Moment brummt ihr Handy. Sie zieht es aus der Tasche.

Gratuliere. J. Mehr hat er nicht dazu zu sagen? Nicht mal ein: «Freu mich, dich zu sehen»? oder «Bis später»?

Sie steckt das Handy wieder ein. Vielleicht haben Rike und Georgie doch recht und Jasper ist es nicht wert, dass sie sich so um ihn bemüht. Was ist denn auch schon zwischen ihnen vorgefallen? Auf der Musikfahrt haben sie zusammen im Bus gesessen und geredet. Über alles und nichts. Er hat ihr von dem Bauerndorf erzählt, aus dem er stammt. Von seinem Vater, der nach dem Tod der Mutter völlig versteinert war. Mechanisch hatte er seine Arbeit verrichtet. 120 Kühe waren zu versorgen. Jasper hat mitgeholfen, so gut er konnte. Morgens vor der Schule und am Nachmittag. Hat abends gekocht. Doch egal was er auf den Tisch brachte, sein Vater hat es nur stumm in sich reingeschaufelt. Bis Jasper es nicht mehr aushielt und nach Berlin ging. Zuerst wohnte er bei einem Cousin seiner Mutter, doch seit einem Jahr hat er ein Zimmer in einer WG in Steglitz. Das Geld dafür verdient er sich als DJ. Zuerst war Marlene erstaunt, dass er ihr das alles erzählte. Schließlich kannten sie sich kaum. Der einzige Kurs, den sie gemeinsam besuchten, war Physik. Und da war er ihr nie groß aufgefallen, obwohl er mit seinen roten Haaren wirklich nicht zu übersehen war.

An der Musikfahrt konnten alle Schüler teilnehmen, die im Chor, im Orchester oder in der Big Band der Schule mitmachten. Eine Woche lang wurde geprobt, gesungen und abends Party gemacht. Marlene hatte nicht mitfahren wollen, weil Rike zum ersten Mal nicht dabei sein würde. Sie hatte das Saxophonspielen, das sie eh nur halbherzig betrieben hatte, letzten Sommer zugunsten der Ruder-AG aufgegeben.

Die Chorleiterin hatte Marlene angefleht mitzukommen, da die Schülerin, die sonst immer die Klavierbegleitung übernommen hatte, mitten im Abitur steckte und keine Zeit hatte.

Widerstrebend hatte Marlene schließlich eingewilligt und es eigentlich schon bereut, bis sich Jasper im Bus neben sie setzte. Er spielte E-Bass in der Big Band. Und immer, wenn sich Marlene freimachen konnte, hatte sie ihm zugehört. Es gefiel ihr, wie ernst und konzentriert er aussah, wenn er musizierte, und dennoch nichts Verbissenes hatte. Er war begabt, das war nicht zu übersehen und zu überhören erst recht nicht.

Abends hatten sie den wenig einladenden Essraum der Jugendherberge mit Hilfe von Tüchern, Kerzen und heimlich eingeschleusten Alkoholika in einen Club verwandelt. Und getanzt. Jasper hatte aufgelegt. Marlene hatte immer allein getanzt. Nur für ihn. Für Jasper.

Am letzten Abend hatte ein anderer am Discopult gestanden, und Jasper tanzte einen Blues mit ihr. Irgendein Spaßvogel schraubte dann die Sicherung raus, und im Schutz der Dunkelheit hatte Jasper sie geküsst. Ehe Marlene darüber nachdenken konnte, wie sich das anfühlte, war das Licht wieder angegangen.

Wie auf Wolken schwebend war Marlene nach Berlin zurückgekehrt, hatte geglaubt, jetzt wäre es so weit. Jetzt wäre sie da: die Liebe. Und alles andere auch.

An einem Samstagabend hatte sie sich mit Jasper verabredet. Sie wollten ins Kino gehen. In das Kino bei ihr um die Ecke am Cosima-Platz. Jasper holte Marlene ab. Ihre Mutter kam lächelnd aus dem Arbeitszimmer, um den «Verehrer» ihrer Tochter zu begrüßen. Marlene konnte nicht sehen, wie dieses Lächeln erstarb, aber das war auch nicht nötig, Jaspers Gesicht sagte genug.

«Ihr kennt euch?», hatte sie gefragt.

«Allerdings. Schönen Abend noch.» Ihre Mutter war in ihrem Zimmer verschwunden, und von Jasper hatte Marlene nicht mehr erfahren, als dass er kurze Zeit ihr Schüler gewesen war.

«Ist nicht so gut gelaufen zwischen uns», war sein einziger Kommentar. Der Abend war ein Reinfall. Nach dem Film, an den Marlene sich kaum noch erinnert, waren sie zwar noch etwas trinken gegangen. Aber der Ton zwischen ihnen blieb verkrampft und gezwungen.

Beim Abschied hatte er sie kurz umarmt und sich dann nicht mehr bei ihr gemeldet. Dafür sah sie ihn auf dem Schulhof immer öfter mit einer aus der Zehnten rumstehen, an der nichts weiter bemerkenswert war außer ihren sehr langen, sehr dünnen Beinen.

Eines Mittags in der Physikstunde steckte er ihr dann einen Zettel zu: Hast du heute Abend Zeit? Bin ab elf im Ballhaus und lege auf. J. Sie hatte an dem Abend keine Zeit. Wie auch? Für den nächsten Tag war eine Leistungskurs-Klausur angesetzt. Wie konnte er sich da die halbe Nacht um die Ohren schlagen? Damals wusste sie noch nicht, dass Jasper prinzipiell nicht lernte und trotzdem jedes Mal die Höchstpunktzahl bekam. An ihrem nächsten freien Abend ging sie dann ins Ballhaus, aber er war nicht da. Sie hatte nach ihm gefragt und erfahren, dass er in Zukunft nur noch freitags auflegen wollte. Seitdem ging sie freitags hin oder auch nicht. Je nachdem, wie sie drauf war. Denn sie wusste nie, wie er sich verhalten würde. Manchmal nickte Jasper ihr mit breitem Grinsen zu, manchmal tat er so, als würde er sie nicht sehen. Offensichtlich hatte er ein Problem mit ihr.

Ihre Mutter wollte Marlene nicht fragen, was zwischen ihr und Jasper vorgefallen war. Im Gegensatz zu Rike, die ihr Liebesleben bis ins kleinste Detail mit ihrer Mutter erörterte, sprach Marlene mit ihrer nie darüber, ob und in wen sie verliebt war. Wahrscheinlich aus Angst davor, dass dann unweigerlich die Trennung ihrer Eltern zur Sprache gekommen wäre. Sie wollte davon nichts wissen. Sie wollte nicht wissen, warum ihr Vater vor fünf Jahren türenschlagend die Wohnung verlassen hatte und nie mehr zurückgekommen war.

«Marlene?» Rike steht in der Tür. «Ich dachte schon, dich hätte einer in der Kloschüssel ertränkt. Georgie ist übrigens schon gegangen.»

«Gegangen?»

«Du weißt doch, dass er keinen Bock auf diesen Tourischuppen hat. Und auf den Anblick von deinem Jasper kann er gut verzichten. Geht mir übrigens auch so.» Rike lehnt in der Tür der Toilette und sieht auf Marlene herab.

«Was habt ihr eigentlich alle gegen ihn?», sagt Marlene lauter als beabsichtigt. «Er hat euch doch gar nichts getan!»

«Reg dich ab, cool down. Er ist einfach ein Schnösel, das ist alles. Tut so, als ob er was Besseres wäre mit seinem Einser-Abi. Lächerlich.»

«Das stimmt doch gar nicht!»

«Und ob das stimmt! Für den Abiball war er sich ja auch zu fein, aber vielleicht kann er ja bloß nicht tanzen.»

«Er kann tanzen», sagt Marlene leise, aber Rike ist noch nicht fertig.

«Weißt du, was er zu Georgie gesagt hat? So richtig von oben herab: ‹Es geht doch wirklich ungerecht zu auf der Welt. Da kriegt der Bauerntölpel einen Medizinstudienplatz, den er nicht will, und das Chefarztsöhnchen guckt dumm aus der Wäsche.›»

«Das glaub ich nicht.»

«Kannst Georgie fragen. Oder nein, lieber nicht. Du weißt ja, dass das ein wunder Punkt bei ihm ist. Sein Vater will seine Beziehungen spielen lassen, damit er einen Studienplatz bekommt, aber er will das Ding allein durchziehen und bewirbt sich für ein Stipendium in den Staaten. Mit seinem Schnitt hat er da aber echt ein Problem.» Rike seufzt theatralisch. «Armer Georgie, ich wüsste schon, wie man ihn trösten könnte, aber ich steh nun mal nicht auf kleine Männer.»

Rike beugt sich vor, um an Marlene vorbei in den Spiegel zu schauen. Sie fährt sich mit den Fingern durch die Haare. «Hast du einen Kamm?»

«Nein. Hast du Kajal?»

Rike schüttelt den Kopf. «Ist doch wurscht, im Ballhaus ist es eh dunkel. Ich hab Bock zu tanzen, und wenn’s nach Musik von ABBA ist.»

 

Im Ballhaus steppt der Bär, wie immer an einem Freitagabend. Die Stimmung ist bestens. Marlene kennt keinen Ort, wo sich vom gepiercten Teenie über die aufgebrezelte Mittvierzigerin bis hin zum achtzigjährigen Opa mit gepunkteter Fliege alle gleichermaßen gut amüsieren. Im Ballhaus tanzen sie alle. Die, die schon zu Ostzeiten hier waren, Touristen aus aller Herren Länder, die glauben, das sei das wahre Berlin, Frauen, die die große Liebe suchen, und Männer, die eine schnelle Nummer finden. Es gibt keine flackernden Stroboskoplichter und coole Drinks, dafür weißgedeckte Tische und Rotkäppchensekt. Ihrem Vater hätte es bestimmt gefallen. Vielleicht hätte er nicht getanzt, obwohl er ein guter Tänzer war, aber er hätte die Menschen beobachtet, auf einer Serviette oder der Speisekarte Skizzen von ihnen gemacht.

Ein paarmal hatte Marlene ihn gefragt, ob er nicht mitkommen wolle. Sie hätte ihm so gern Jasper gezeigt. Gesagt: «Guck mal, der Typ am Discopult geht in meine Schule. Wir machen Abi zusammen. Wie findest du den?» Aber dazu ist es nie gekommen. «Machen wir, Marlene, versprochen, aber nicht diese Woche. Ich hab grad ein Bild im Kopf, da muss ich aufpassen, dass es nicht durch andere Bilder überlagert wird.»

Wenn ihr Vater «ein Bild im Kopf hatte», schlug er keine Zeitung auf, ließ die Jalousien herunter und verließ das Haus nicht, um keine fremden Bilder aufzunehmen. Aus diesem Grund besaß er auch keinen Fernseher. «Fernsehen ist der reinste Terror, Bilderterror!», hatte er immer gesagt.

«Warte kurz, ich will nur Miss Pinky abgeben», sagt Rike. Miss Pinky heißt ihr Rucksack, ein hässliches Teil aus rosa Lackleder. Marlene hat Rike im Verdacht, dass sie ihn auch mit ins Bett nimmt.

An der Garderobe sitzt wie immer der ältere Herr mit dem ausladenden Schnauzer, der aussieht, als habe er nie in seinem Leben etwas anderes getan, als Mäntel und Taschen und Regenschirme entgegenzunehmen. Das gesamte Personal stammt noch aus der untergegangenen DDR, aber die Besitzer des Ballhauses sind Wessis. Das hatte Jasper Marlene erzählt, als sie ihm einmal während seiner Pause ein Bier gebracht hat.

Ein ebenfalls nicht mehr junger Mann mit betoniertem Scheitel, der die Tische vergibt, zuckt bedauernd mit den Achseln. «Tut mir leid, es ist nichts mehr frei.»

«Wozu brauchen wir einen Tisch, wir wollen schließlich tanzen!», ruft Rike und stürzt sich zu «Hands up, baby, hands up!» in die wogende Menge.

Marlene weiß, dass dieser Song nicht unbedingt Jaspers Musikgeschmack entspricht, aber darum geht es ihm nicht, er hat die Gabe, genau die Titel auszuwählen, die beim jeweiligen Publikum ankommen.

Heute ist eine größere Gruppe von Skandinaviern da, die schon ordentlich getankt haben und hektisch die Arme hochreißen.

Marlene bewegt sich zur Musik und immer näher ans Pult heran. Jasper, die unförmigen Kopfhörer auf den Ohren, kaut auf seiner Unterlippe herum. Sie liebt es, wenn er das tut, es sieht erwachsen und kindlich zugleich aus.

Sie fixiert ihn mit ihrem Blick. «Sieh mich an, sieh mich an!», flüstert sie. Und er schaut hoch, schaut ihr direkt in die Augen!

Marlene fühlt, wie ein glühender Ball von der Brust in ihren Unterleib schießt. Jasper lächelt kurz, fast verlegen, dann scheint er einen Moment zu überlegen, und schließlich ertönt «Never gonna give you up». Die Skandinavier sehen sich irritiert an, sie haben etwas Rockigeres erwartet. Doch schließlich tanzen sie irgendwie weiter, wenn auch nicht ganz im Rhythmus.

Rike wirbelt an Marlene vorbei und tippt sich an die Stirn. «Barry White? Den hört meine Oma, in welchem Jahrhundert lebt dein Typ?»

Marlene lacht, sie fühlt sich wunderbar, zum ersten Mal begreift sie, was es bedeutet, «frei» zu sein: Sie kann machen, was sie will, so lange bleiben, wie sie will, nach Hause gehen, wann und mit wem sie will. Keine Fragen mehr: «Wie war’s denn gestern, Schatz? Hast du dich gut amüsiert? Wer war alles da? Erzähl doch mal!»

Natürlich liebt sie ihre Mutter, und seit sie achtzehn ist, bemüht die sich auch um Toleranz, es gibt keine Vorschriften mehr, aber egal zu welcher Zeit Marlene nach Hause kommt, ihre Mutter ist wach. «Konnte nicht schlafen, hab noch gelesen, gab so einen spannenden Film im Fernsehen …»

Natürlich weiß Marlene, dass ihre Mutter Angst hat, ständige Angst, ihrer Tochter könne etwas zustoßen. Die Angst ihrer Mutter hat sich auf Marlene übertragen. Kein Gedanke, dass sie nachts um eins allein mit der U-Bahn fährt oder mal eben für ein Wochenende nach London fliegt, wie Rike das neulich gemacht hat.

Aber jetzt ist sie frei, frei, frei!

***

Ich sehe, wie du strahlst, wie du tanzt, wie du dich bewegst. Wie du dein Becken kreisen lässt, das hat fast schon etwas Obszönes. Weißt du eigentlich, wie aufreizend deine Brüste auf und ab wippen, wenn du wie jetzt im Takt mit den Schultern zuckst? Bilder schießen mir durch den Kopf. Bilder, die ich nur für Sekundenbruchteile gesehen habe und die mich trotzdem nicht loslassen. Bilder aus dem Internet von Frauen, die ihre Brüste in die Kamera halten und dabei in vorgeblicher Lüsternheit die Zunge im Mundwinkel spielen lassen. Widerlich! Nein, nein, so bist du nicht. Du bist ganz und gar unschuldig. Im Gegensatz zu all den Frauen hier, die es schwitzend und hechelnd nur darauf anzulegen scheinen, dass einer sie packt, sie an den Haaren über den Boden schleift oder gleich auf einem der Tische nimmt, bist du rein, unbefleckt von Wollust und Gier.

Du wirfst den Kopf vor und zurück, wie ein Vorhang fallen die dunklen Haare über dein Gesicht. Du bist so unglaublich schön. Das einzige Mädchen mit einem absolut klaren Gesicht. Ein Gesicht, in dem jede Gefühlsregung unverstellt sichtbar wird: Zorn, Mitleid, Angst, Spott, Zuneigung … Irgendwann werde ich in diesem Gesicht auch noch etwas anderes lesen können: Liebe. Bedingungslose, hingebungsvolle, reine Liebe. Ich bin bereit, darauf zu warten. Ich warte schon lange.

Die fette Kuh hier vorn soll verschwinden! Sie nimmt mir die Sicht. Wenn die wüsste, wie lächerlich sie sich macht mit ihrem Hinterngeschwenke und Rumgestampfe. «Beat it! Beat it!» Kann sie gern haben! Hier und jetzt. Ein Schlag in ihre nuttige Visage, und ihr wird das Lächeln schon vergehen. Tut so, als ob sie sich selbst genügen würde, nach dem Motto: «Guckt mal her: Ich kann mich auch ohne Mann amüsieren.» Dabei hat sie bestimmt Stunden damit verbracht, um sich für heute Abend herzurichten. Na, ist die Bikinizone auch schön glatt? Die Achseln sind rasiert und parfümiert? Die Augenbrauen gezupft, die Wimpern geformt? Vergebene Liebesmüh, die kommt heute eh nicht auf ihre Kosten. Vielleicht spendiert ihr einer einen lauwarmen Sekt, reibt sich beim Tanzen an ihrem feisten Oberschenkel, aber das war’s auch schon. Außer Spesen nichts gewesen, meine Dame. Und nun gehen wir mal schön das Näschen pudern, wird’s bald? Na also, klappt doch.

Ah, da bist du wieder, meine Schöne. Wem winkst du da? Hast du mich etwa gesehen? Nein, du winkst deiner Freundin zu. Die Ärmste hat sich da ja einen tollen Typen angelacht. Der Kerl ist so besoffen, der kotzt ihr bestimmt gleich auf die Bluse. Du lachst. Noch nie hab ich dich so glücklich gesehen, so gelöst. Ich hab Angst davor, dass heute Nacht noch etwas passieren wird. Etwas Entscheidendes. Etwas, das dir nicht guttun wird. Ich muss es verhindern und weiß nicht, wie.

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Samstag, 26. Juni

Indischgelb

Marlene wacht auf. Im ersten Moment weiß sie nicht, wo sie ist. Sie hebt den Kopf und lässt ihn gleich wieder fallen. Ihr ist schlecht, so was von schlecht!

Sie schließt die Augen und atmet ein und wieder aus und wieder ein. Dann schiebt sie vorsichtig die Beine unter der Decke hervor und stellt sie auf den Boden. Und nun ein zweiter Versuch. Langsam richtet sie den Oberkörper auf, öffnet ebenso langsam die Augen und möchte sie am liebsten wieder schließen. Nicht wegen der rasenden Kopfschmerzen, sondern wegen des Chaos, das sie umgibt. Aufgerissene Pappkartons, ein Berg Kleider, Bücherstapel. Ihr erster Gedanke ist: Mama! Mama muss mir helfen. Ihr zweiter: Nein, ich schaffe das allein!

Und dann schiebt sich zwischen die Verzweiflung angesichts der Arbeit, die auf sie wartet, ein Gefühl, ein angenehmes, warmes Gefühl. Jasper!

Es hat sich gelohnt, dass sie gestern im Ballhaus so lange geblieben ist, bis Jasper seinen Platz am Discopult für die Liveband geräumt hatte. Eine grottenschlechte Band übrigens. Der Typ am Schlagzeug sah aus, als ob er gleich einschlafen würde. Wahrscheinlich war er nur bekifft. Jasper war zu Marlene gekommen, und sie hatten sich beide über die Möchtegernrocker amüsiert, die ihr Verfallsdatum längst überschritten hatten.

Marlene fasst sich an die pochenden Schläfen. Wenn sie bloß diese Cocktails nicht getrunken hätte. Sie war so aufgeregt gewesen, als Jasper endlich neben ihr stand, dass sie den ersten runtergekippt hatte wie ein Glas Saft. Nach Saft schmeckte er auch, aber natürlich war viel mehr drin, Wodka, Gin, auf jeden Fall Hochprozentiges. Zuerst fühlte sie sich gut, ganz leicht und vor allem auch ganz mutig. «Warum gehst du mir dauernd aus dem Weg?», hat sie Jasper gefragt. «Bereust du etwa, dass du mich geküsst hast?»

«Geküsst?», sagte Jasper mit einem Grinsen. «Kann mich nicht erinnern.»

Da versetzte ihr irgendein Trottel, der sich zu «Satisfaction» nicht auf den Beinen halten konnte, einen Stoß, und sie fiel Jasper direkt in die Arme.

«Ups!», konnte sie gerade noch sagen, und dann spürte sie seine Lippen und wunderte sich überhaupt nicht darüber, dass er sie küsste, so selbstverständlich erschien es ihr in diesem Moment. Nach einer halben Ewigkeit hielt Jasper ihr Gesicht ein Stück von sich weg, sah sie prüfend an und sagte: «Doch, jetzt erinnere ich mich.»

Marlene musste gleich noch einen Cocktail trinken.

Wieder und wieder lässt sie diese Szene in Zeitlupe vor sich ablaufen, drückt zwischendurch auf die Stopptaste und versucht noch einmal, diesen Kuss zu schmecken. Er war einfach perfekt. Wenn sie da an ihren ersten richtigen Kuss denkt! Ein Albtraum. Klassenfahrt in der Zehnten. Leon hatte seinen Mund auf den ihren gestülpt wie einen Rüssel, mit seiner Zunge wild zwischen ihren Zähnen herumgefuhrwerkt, am Ende war Marlene sein Sabber übers Kinn gelaufen. Nur Rike konnte diese Erfahrung noch toppen. Bei ihrem ersten Kuss hatte sich das Zungenpiercing des Jungen in ihren Brackets verhakt. Die Rechnung des Kieferorthopäden war am Ende vierstellig gewesen.

Marlene schüttelt den Kopf und stöhnt auf. Warum denkt sie jetzt an diese uralte Geschichte? Weil sie nicht weiter denken will, nicht an das, was passiert war, nachdem Jasper sie geküsst hatte.

Ein wenig schwankend war sie zum S-Bahnhof Oranienburger Straße gelaufen. Jasper neben ihr. Wenn sie stolperte, hielt er sie fest. Sie hatten gelacht und laut «Stranger in the night» gesungen. In der S-Bahn war Marlenes Kopf gegen seine Schulter gefallen, und in diesem Moment spürte sie, wie er sich plötzlich versteifte, wie sein Körper nur eins signalisierte: Ablehnung. Sie rückte ein Stück von ihm weg und sah ihn fragend an. Er drehte sich zur Seite und sah zum Fenster hinaus, obwohl es nichts zu sehen gab außer seinem eigenen Spiegelbild.

Wenn Marlene zu diesem Zeitpunkt nicht schon so schrecklich schlecht gewesen wäre, hätte sie etwas gesagt, aber so war sie voll und ganz damit beschäftigt, die Sommerrolle bei sich zu behalten.

«Bis wohin fährst du?», fragte Jasper.

«Zum Bundesplatz. Ich steige Schöneberg um.»

«Bist du mir sehr böse, wenn ich bis Feuerbachstraße durchfahre und dich nicht nach Hause bringe?» Jasper lächelte schief. «Aber ich bin halb tot. Will nur noch ins Bett.»

Marlene nickte, und schon diese kleine Bewegung löste eine Welle von Übelkeit aus. Jetzt musste sie aussteigen. Mit Mühe erhob sie sich. «Nächsten Samstag mach ich ’ne Party. In meiner neuen Wohnung. Kommst du?»

Sie konnte seine Antwort nicht mehr abwarten, sondern stürzte aus der Tür und auf den Bahnsteig. Und übergab sich in den Mülleimer. Glücklicherweise war da die Bahn bereits weitergefahren.

 

Jetzt erhebt sich Marlene. Bleibt einen Moment stehen und ist erleichtert, dass der Boden unter ihren Füßen nicht mehr schwankt. Sie geht ins Bad. Es kostet sie viel Überwindung, aber sie duscht kalt, na ja, lauwarm. Sie stellt die Dusche ab und greift automatisch nach einem Lappen, um die Kacheln trocken zu reiben. Zu Hause musste ihre Mutter sie ständig daran erinnern, hier in ihrer Wohnung möchte sie alles sauber haben.

Sie schlingt sich gerade ein Handtuch um die Hüften, als es an der Tür klingelt. Ihre Mutter? Nein, die hätte vorher angerufen. Es war am Ende fast zum Lachen gewesen, wie demonstrativ sie versucht hat, Marlenes Privatsphäre zu respektieren. Sie hatte sogar an Marlenes Tür geklopft, wenn diese gar nicht geschlossen gewesen war.

Sie schaut auf die Uhr, gleich zwölf. Wahrscheinlich bloß der Briefträger. Sie zieht schnell ihr langes T-Shirt über, das sie zum Schlafen getragen hat, und drückt auf den Summer. Da hört sie vor der Tür ein Räuspern. Sie will durch den Spion gucken, aber die Klappe davor klebt fest, die Maler haben sie einfach übergestrichen. Nach kurzem Zögern öffnet Marlene die Tür. Der Hausmeister, auch das noch! Sie zupft am Saum ihres T-Shirts und ist sich im gleichen Moment bewusst, dass das ein Fehler war, denn Wedau starrt unverhohlen auf ihre nackten Beine.

«Ja?», fragt sie. Es kommt viel zu piepsig heraus. Sie schiebt «Gibt’s ein Problem?» hinterher, aber das klingt auch nicht viel besser.

Wedau lässt seinen Blick genüsslich von ihren Beinen über ihren Bauch hoch zum Busen wandern, dann grinst er sie an. «Aber, aber, Frollein, wir beede kriegen bestimmt keene Probleme.» Er hält ihr einen dicken Möbelprospekt hin. «Der lag bei Ihnen unten vorm Briefkasten, ick dachte, den brauchense bestimmt, wo Se doch grade eingezogen sind.»

Marlene greift nach dem Prospekt. «Danke», sagt sie und schließt die Tür. Den Geruch nach billigem Rasierwasser kann sie nicht aussperren.

«Stehe jederzeit zur Verfügung», hört sie noch.

Gott, ist das ein Widerling. Marlene ärgert sich selbst darüber, wie stark ihr Herz klopft.

Der Mann ist ihr immer schon unangenehm gewesen. Wenn sie ihren Vater besucht hat, ist sie immer die letzte Treppe ganz schnell hochgelaufen, weil er oft genau in dem Moment seine Tür aufgerissen hatte, wenn sie daran vorbeikam.

«Wegen dem musst du dir keinen Kopf machen, Marleneken», hatte ihr Vater versucht, sie zu beruhigen. «Der markiert den starken Max, dabei steht er bei seiner Frau unterm Pantoffel. Einmal hat er sogar nachts auf der Treppe schlafen müssen, weil sie ihn so besoffen, wie er war, nicht reingelassen hat.»