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Haroon Gordon

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Beschreibung

Eines Abends ist er einfach da. Baptiste, der scheue, junge Mann, von dem niemand in der verschlafenen Ortschaft in der Provence weiß, woher er gekommen ist. Und er scheint dort sein Glück zu finden, bis Jahrzehnte später seine verschwiegene Vergangenheit aufersteht. Mit aller Macht ziehen ihn die Erlebnisse vergangener Tage wieder in ihren Bann, und mit ihnen die Erinnerungen an Abda, das längst vergessene Frauengefängnis in der algerischen Wüste, in dem eine ungewöhnliche, tiefe Freundschaft, aber auch sein dunkelstes Geheimnis begraben liegen. Eines, das in einem dramatischen Wettlauf gegen die Zeit immer weiter an die Oberfläche drängt …

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Haroon Gordon

Palast aus Staub und Sand

Roman

Dieses Buch ist meiner wunderbaren Gegenwart gewidmet, namentlich meinen Eltern, meiner Schwester und ihrer famosen Monster-Magic Crew. Meiner geliebten Gefährtin und unserem Sohn, dessen Namen wir bald schon erfahren werden.

Prolog

Algerien, 1934

Gabriel wurde an einem Ort geboren, an dem Menschen gewöhnlich nicht das Licht der Welt erblickten. Sie starben dort höchstens. Streng genommen konnte man nicht von einem Ort sprechen, denn auf dem gesamten Areal standen gerade einmal sieben Gebäude. Sie lagen durch meterhohe Mauern abgeschottet auf einer leicht erhöhten Ebene am Rand des Atlasgebirges. Dort, wo die Wüste schon Oberhand gewonnen hatte, die Sonne der Sahara bereits ihre Hitze in die Felsen trieb und an fast allen Tagen die wenigen Menschen, die dort lebten, in ihrem brütenden Griff gefangen hielt.

Es war ein Ort, der viele Namen trug, doch keiner erzählte seine Geschichte richtig. Offiziell hieß er Abd-El-Quadir und huldigte dem größten aller algerischen Freiheitskämpfer, dessen Mut den französischen Besatzern das Leben im neunzehnten Jahrhundert zur Hölle gemacht hatte. Der damalige Stadthalter Algiers, ein französischer Militärattaché ohne jegliches Fingerspitzengefühl für die Mentalität der algerischen Bevölkerung, hatte es wohl für eine versöhnliche Geste gehalten, diesen Titanen des Krieges als Namenspaten auszuwählen. Und das, obwohl die Freiheit selbst in den Träumen der dortigen Bewohnerinnen schon lange nicht mehr auftauchte.

Die Menschen der umliegenden Dörfer nannten den Ort bei dem Namen, den ihm die Tuareg auf ihren Reisen durch die Wüste gegeben hatten: Jumanah, die silberne Perle. Das passte gut, da die Sonne Afrikas an den meisten Tagen so unbarmherzig auf die hellen Betonfassaden der vier Haupthäuser niederging, dass aus der Ferne nicht mehr als eine gleißende Reflektion mitten im Gebirge zu sehen war.

Doch die verlorenen Frauen, die in Abd-El-Quadir lebten und deren Expertise bei der Namensgebung als einzige hätte zählen können, nannten den Ort schlicht und einfach Abda.Schwarze Sklavin. Denn in Abda, dem dunkelsten aller Gefängnisse, waren nur Frauen inhaftiert, und eine Frau, die hierher gebracht worden war, besaß keinerlei Rechte mehr, auf die sie sich hätte berufen können.

Hier gebar die Gattenmörderin Yasmina ihren Sohn Gabriel.

Draußen war es mondlos, und selbst der Nachtwind mied Abdas trostlose Zellen. Stille und Hitze senkten sich wie zähflüssiger Kautschuk auf die Gemüter der Schlafenden. Gegen ein Uhr nachts durchschnitten kurze und heftige Schreie das Dunkel. Sie kamen aus dem als Krankenstation dienenden Häuschen, abseits der vier Hauptgebäude, die auf jeweils zwei Stockwerken die Zellen beherbergten und so angeordnet waren, dass ihre inneren Fronten einen großen Hof eingrenzten. Während tagsüber ranzige Gerüche aus alten gusseisernen Pfannen die Wände hinauf in die Zellen gekrochen kamen, bahnten sich nun erbarmungswürdige Schreie aus der Krankenstation ihren Weg in den Innenhof. Von dort aus verdoppelte und verdreifachte der Widerhall der massiven Mauern den Schall und sandte ihn durch die vergitterten Zellenfenster bis an die Betten und ins Mark der Insassinnen. Dem folgte ein Moment absoluter Ruhe – gefolgt von der nächsten, noch heftigeren Eruption.

Beängstigend waren jedoch nicht die Schreie selbst, sondern vielmehr deren irritierende Färbung. Die klang nicht nach einer werdenden Mutter, die aus Liebe zu ihrem Kind unter Schmerzen die Kraft für den Akt des Lebens gebar. Sie klang nach hysterischem Leugnen der unausweichlich nahenden Tatsache, nach Hass, nach Ablehnung und Widerwillen.

Auch Colonel Dumont konnte die Schreie hören. Das Echo bahnte sich seinen Weg den Hang zum separat erbauten und mit viel edlem Holz in italienischem Geist verzierten Anwesen hinauf, das dem Leiter der Haftanstalt zur Verfügung stand. Es lag auf einem Plateau, gut zwanzig Meter oberhalb und fast einhundert Meter hinter den übrigen Gebäuden.

Mit seiner mediterranen Lebensfreude wirkte das Wohnhaus im Vergleich zu den funktionalen und vermodernden Gefängnisgebäuden wie ein perverser Anachronismus. Eine große Fensterfont, die von einer weitläufigen Terrasse umsäumt wurde, gab den Blick auf das gesamte Areal frei. Hier stand der Colonel an der Balustrade und lauschte mit ausdruckslosem, von Cognac und anderen Branntweinen beherrschtem Blick in die Nacht. Von Zeit zu Zeit zuckte er ein wenig, sooft er von den Schreien Yasminas überrascht wurde.

In der Krankenstation versuchte derweil die Hebamme Laia mit der Situation fertig zu werden. Seit zwanzig Jahren war sie werdende Mütter gewohnt, die ein Inbegriff der Kooperation waren. Die lenkten ihre Kraft auf den Geburtsvorgang und delirierten sich in einen Rhythmus, um ihrem Fleisch und Blut den Weg ins Freie zu ebnen. Dort wartete Laia mit ihrer stattlichen Leibesfülle darauf, die Sprösslinge zu empfangen, und nahm zugleich den Müttern ihre Angst. Doch diese Frau war anders. Beklemmend anders. Sie arbeitete so verbissen gegen das Kind, dass Laia angst und bange wurde.

Sie war nun seit sechs Stunden hier in Abda, alles hatte ganz harmlos begonnen, doch diese Frau schrie seit gut einer Stunde, als wäre sie vom Irrsinn befallen.

Laia fürchtete sich hier. Sicher, es gab sogar Strom. Den hatte es beileibe nicht an allen Orten gegeben, an denen sie Kindern bisher auf die Welt geholfen hatte. Genügend heißes Wasser, saubere Laken und Tücher sowie eine breite Liege standen ebenfalls zur Verfügung. Auch keine Selbstverständlichkeit.

So war alles zum Besten vorbereitet, doch das Baby wollte einfach nicht kommen. Stattdessen begann die werdende Mutter in immer kürzer werden Abständen zu bluten. Das war kein gutes Zeichen und machte Laia nervös. Das Kind hatte die Beckenmitte fast erreicht, aber der Drang ins Freie schien zu erlahmen. Sie würde das Kind mit der Zange holen müssen. Sie sprach Yasmina an und versuchte ihr zu erklären, was ihr gleich bevorstehen würde, doch die schien nicht zu hören. Stattdessen schrie sie erneut kurz auf und drehte sich dabei mit dem Gesicht zur Seite, sodass Laia keinen Kontakt aufnehmen konnte.

Nach dreißig weiteren Minuten konnte sie nicht länger warten, sondern griff nach dem Instrument, das so erschreckend lebensfremd aussah. In der Sekunde, da sie es einführte, riss Yasmina die Augen auf. Augenblicklich verstummte sie und starrte Laia mit panischem Blick an, als hätte ihr letztes Stündlein geschlagen. Als die metallischen Zangenlöffel den Kopf des Kindes zu fassen bekamen, schloss Yasmina die Augen und schrie noch einmal. Doch Laia war erfahren, und nun galt ihr ganzer Fokus der Zange. Sollte sich Yasmina ruhig die Seele aus dem Leib schreien, darauf konnte sie nun keine Rücksicht mehr nehmen.

Nach dem ersten Versuch bemerkte sie jedoch, dass das Kind dem Zug der Zange nicht folgte. Laias Unruhe wuchs. Mit dieser verrückten Mutter würde sie keine Schnittgeburt machen können, schon gar nicht allein. Sie hatte im Laufe der Jahre vieles ohne fremde Hilfe meistern müssen, denn unzählige Male hatte sie sich in Situationen befunden, in denen weit und breit kein Arzt aufzutreiben war. Fast immer hatte sie das Kind irgendwie lebend auf die Welt begleitet und dabei auch das Leben der Mutter gerettet. So hatte sie all das gelernt, was oft nur dem Arzt vorbehalten war, und in der Vergangenheit war sie mehr als nur einmal mit dem guten Gefühl einer Lebensspenderin zu Bett gegangen.

Aber hier steuerte die Situation einem schlimmen Ausgang entgegen. Die Mutter war fast vollständig erschöpft, und die Traktionen brachten weder den nötigen Schub noch waren sie synchron genug, um das Baby aus dem Leib zu ziehen.

Ganz plötzlich, ohne dass Laia eine Chance hatte, den Zug rechtzeitig zu stoppen, gab das Gewicht am anderen Ende der Zange nach, und sie spürte mit Entsetzen in ihren Händen, dass die Zange den Griff verlor und am Kopf des Kindes entlang rutschte. Sie hielt einen Augenblick inne – ganz so, als würde sie auf einen Schrei aus dem Mutterleib warten.

Nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte und ihre Hände endlich aufhörten zu zittern, zog sie die Zange behutsam aus dem Körper, ging um die Liege und wandte sich an Yasmina. So würde die Geburt in einer Katastrophe enden. Sie legte die Hand auf Yasminas schweißgetränkte Stirn und beugte sich bis an ihr Ohr. Sie sprach leise, aber bestimmt und eindringlich.

»Hören Sie Yasmina. Ich kenne Ihre Geschichte nicht. Weder weiß ich von der Sünde, die Sie in dieses Gefängnis gebracht hat, noch, was es mit diesem Kind auf sich hat. Aber eines weiß ich. Gott möchte, dass Sie dieses Baby auf die Welt bringen. Sonst hätte er Sie das Kind gar nicht erst empfangen lassen. Sie glauben doch an Gott, oder etwa nicht?«

Die Frage war so berechnend wie unnötig. Nicht nur, dass Yasmina in den letzten Stunden inbrünstige Gebete gen Himmel geschickt hatte, an deren Routine Laia unschwer hatte erkennen können, dass sie in endlosen Nächten tausendfach rezitiert worden waren. Auch ein Kreuz aus verfärbtem, abgegriffenem Holz hing um ihren Hals, wo Yasmina es nun seit Stunden umklammert hielt. Unwillkürlich schoss Laia durch den Kopf, ob Yasmina Jesus wohl die Augen zuhalten wollte.

Die Ratschläge der Hebamme hatte Yasmina bisher nur als entfernte Litanei wahrgenommen und weitestgehend ignoriert. Die Frage nach Gott hatte sie jedoch aufmerken lassen. Sie nickte hektisch. Natürlich glaubte sie an Gott. Das Einzige, woran sie jemals geglaubt hatte, war Gott. An diesem gottlosen Ort mehr denn je. Geboren als fromme Muslimin, hatte sie hier in Abda die wahrhaftige Kraft des Herrn Jesu kennengelernt. Hier war sie in den geheimen Kosmos des Christentums initiiert worden. Von Sahira. Sahira, der Hexe. Sahira, der Zauberin. Sahira, der ältesten aller Insassinnen. Von der mystischen Sahira, die schon so alt war, dass ihr Alter nicht mehr in Jahren gezählt werden konnte. So hatten die anderen Gefangenen es Yasmina erzählt, kurz bevor diese das erste Mal zu Sahira in die Zelle beordert worden war. Sahira, die mit den vielen Malen im Gesicht, die Hagere, deren Haut wie Hühnerfett von den Knochen hing, eingehüllt in unzählige, schweißtriefende Tücher. Die mit den wenigen, wirren, hennaroten Haaren, die nicht ausreichten, die Kopfhaut und deren unzählige Leberflecke zu bedecken. Kurzum, Sahira, vor der sich alle fürchteten, selbst die Verurteilten, die tagsüber den Innenhof beherrschten.

Yasmina urinierte vor Angst beinahe in ihre Unterhose, als sie Sahiras düstere Zelle betreten musste. Trotz der Dunkelheit leuchteten Sahiras Pupillen pechschwarz, als wäre ein Dämon in ihre Seele gefahren. Augen, die Yasmina glauben ließen, sie könnten jede der hier inhaftierten Frauen mit bloßem Blick in pure Asche verwandeln.

Sahira, die als Einzige aller Häftlinge das Privileg einer Einzelzelle genoss, hockte in der dunkelsten Ecke. Alle möglichen Laken hingen kreuz und quer durch den Raum und Yasmina schien es, als gäbe es einen Nebel, der dicht über den Boden kroch. Aber das war vielleicht nur das gesponnene Abbild ihrer Angst.

Yasmina unterwarf sich ihr noch im gleichen Moment, und Sahira hatte ihr daraufhin vom Herrn und Erlöser Jesus Christus erzählt. Sie las ihr im ersten Jahr geschlagene sechs Mal die gesamte Bibel vor. Wort für Wort. Erklärte ihr in langen Lektionen das Alte Testament. Wort für Wort – und darüber hinaus, während sie gleichzeitig in kleinen kupfernen Behältnissen allerlei Gerüche und Flüssigkeiten zusammenbraute, in Flaschen abfüllte und anschließend in die Nischen ihrer Zelle stellte. Bis sie eines Tages einfach so verschwunden waren, woraufhin sich wieder neue ansammelten. Obwohl sie neugierig war, getraute sich Yasmina nie zu fragen, was diese nach Eiter und anderen Sekreten stinkenden Essenzen für einen Nutzen hatten.

Sahira hatte ihr auch die dunkle, die unbekannte, die wirklich mächtige Seite des Herrn Jesu offenbart, von der nur Auserwählte wussten und deren Erzählung keinen Platz in der Bibel finden durfte. Die Wahrheit. Den wahren Grund über die alttestamentarische, unerschöpfliche Rachsucht Gottes.

Ja, Yasmina glaubte aus tiefstem Herzen an Gott und an das durch Sahira erfahrene Jesuitentum. Sie war eine der wenigen Wissenden in einer islamischen Welt. Hätte Sahira ihre schützende Hand nicht über sie gehalten, sie wusste nicht, was die anderen Häftlinge mit ihr angerichtet hätten.

Als Laia bemerkte, dass Yasmina einen so tiefen Glauben in sich barg, atmete sie erleichtert auf. Sie war inmitten einer streunenden Bande von Brüdern in den Slums von Algier aufgewachsen, und so gab es nur wenige Finessen der Manipulation, die sie im Laufe der Jahre nicht erlernt hatte, um sich durchzusetzen. Der Trick mit dem Appell an Gott funktionierte in solchen Situationen fast immer. Ansonsten wäre ihr noch die Drohung geblieben, Yasmina in diesem Zustand allein zu lassen, aber dieses letzte Mittel der Wahl war verfrüht, und bei dieser Frau war sie sich nicht einmal sicher, ob es funktionieren würde.

»Dann möchte ich, dass Sie mir jetzt genau zuhören.« Laia nahm Yasminas Hand, streichelte sie und schaute sie eindringlich an. »Wir müssen Ihr Kind, Gottes Kind, gemeinsam auf die Welt bringen. Konzentrieren Sie sich auf Ihren Unterleib und lassen Sie den Wehen freien Lauf.«

Aus Yasminas Auge löste sich eine Träne, und endlich gab sie ihren Widerstand im Angesicht völliger Erschöpfung auf.

Laia unternahm einen weiteren Versuch, führte die Zange wieder ein, und – wie erhofft – folgte das Kind mit den wehensynchronen Traktionen nun dem Zug der Zange.

Das Kind kam atmend zur Welt. Es schrie nicht und eine plötzliche, lebensfeindliche Stille sickerte durch den Raum. Laia trocknete den kleinen Körper ab, wickelte ihn in ein Leinentuch und hielt das Frischgeborene dann für einige Zeit einfach nur in den Armen.

Als sie den Säugling Yasmina schließlich auf den Bauch legen wollte, wandte die sich ab, anämisch, erschöpft und ohne die erkennbare Spur eines mütterlichen Gefühls. Dann machte Laia eine Entdeckung. Ein langes Hämatom, begleitet von einer hässlichen Abschürfung, zog sich von der linken Schläfe über die Wange hinab bis zum Kinn, und zeichnete den Weg der abgerutschten Zange nach. Doch das Baby schien keinen Schmerz zu empfinden.

Das eben geborene Kind, das erst nach vielen Wirren den Namen Gabriel bekommen sollte, schaute Laia unverwandt an. Und obwohl sie wusste, dass die Augen des Kindes noch nichts erkennen konnten, kroch ein unangenehmer Schauer ihren Rücken empor, denn ihr kam es so vor, als mustere Gabriel sie mit einem abschätzenden Blick.

Laia verließ das Gefängnis mit den ersten Sonnenstrahlen und beeilte sich, so schnell wie nur irgend möglich fortzukommen. Dieser Ort war verwunschen und böse. Dessen war sie sich sicher.

Erster Teil

Kapitel 1

Frankreich, 2001

Ein ganzes Menschenleben hatte Baptiste nicht auf das vorbereiten können, was ihm bevorstand. Dabei hatte die Nacht so harmlos begonnen, nämlich mit einem flüchtigen, schönen Traum rund um das kecke Lächeln der jungen Mademoiselle Bonnet aus der Musikalienhandlung Regondi, die mit ihrer ausgelassenen Fröhlichkeit Baptiste immer ein wenig aufheiterte.

Doch als ob es bestraft gehörte, in einer so schweren Zeit einen leichten, unschuldigen Moment wie diesen zu genießen – und sei es nur im Schutz eines unbedeutenden Traumes – klingelte nun, morgens um vier, das Telefon und läutete das Ende ein.

Noch vor dem zweiten Klingeln schlug Baptiste die Augen auf. Das spärliche Licht der Straßenbeleuchtung, das seinen Weg durch die ungenügend verhängten Fenster warf, erleichterte ihm die Orientierung im Schlafzimmer. Trotzdem griff er nicht gleich zum Hörer, obwohl nur eine Kombination weniger Bewegungen nötig gewesen wäre. Sich zur Seite zu Rollen, den Arm über die Bettkante baumeln lassen, das Telefon und dessen Hörer ertasten und ihn anschließend zum Ohr führen. Doch das, was so einfach klang und was für jeden gesunden Menschen weder einer besonderen Anstrengung noch eines bewussten Gedankens bedurfte, das war für Baptiste schon lange nicht mehr leicht.

Zur Seite Rollen. Es gab schon seit sechs, sieben Jahren kein leichtes zur Seite Rollen mehr. Nicht, seit Entzündungen sich seiner Knochen, Muskeln, Sehnen und Gelenke bemächtigt hatten und er den Kampf gegen Alter, Rheuma und Gicht Schlacht um Schlacht verlor. Mit einem Mal existierte keine Leichtigkeit mehr, die sich in zur Seite Rollen ausdrücken konnte. Zur Seite Rollen war nicht länger eine Bewegung, zur Seite Rollen war ein Privileg, das er sich durch Medikamente für einige Zeit erkauft hatte. Diese forderten für einen etwas schmerzfreieren Alltag jedoch einen hohen Preis. Sie raubten ihm Lachen und Freude und bescherten ihm dafür Durchfall, Krämpfe, Bluthochdruck und Depressionen, weswegen er sie eigenmächtig wieder absetzte. Sehr zum Leidwesen von Dr. Bellier, der fortan bei jedem Termin insistierte, Baptiste möge sie doch bitte wieder einnehmen, und zwar mit einer derart vehementen Penetranz, als wären Baptistes Schmerzen durch das Absetzen der Medikation auf den Körper des Arztes übergegangen.

Das Telefon klingelte weiter, doch Baptiste rührte sich nicht. Stattdessen verfolgte er die spärlichen Schatten an der Decke und versuchte, in ihnen eine Form zu erkennen. Es gelang ihm, sie zu anderen Konturen umzudeuten, so wie jede Wolke am Himmel ebenso ein Tier, ein Gesicht oder ein beliebiger Gegenstand sein konnte. Ein unschuldiger Zeitvertreib, der ihn schon seit Langem begleitete, und in jedem Fall war dieses belanglose Spiel die deutlich bessere Wahl, als den Hörer abzunehmen.

In der letzten Zeit hatte es keine Nacht gegeben, in der er nicht mit genau derselben Furcht vor diesem Augenblick die Augen geschlossen hatte und oft erst viele Stunden später eingeschlafen war.

In seinen mittlerweile über sechzig Jahren war er überhaupt erst zweimal durch nächtliche Anrufe geweckt worden. Der schöne Anruf, der nun fast sieben Jahre her war, als ihm sein Schwiegersohn Jacques mitteilte, dass sie endlich Großeltern geworden seien. So viele Sorgen hatte es in der Zeit vorher gegeben, dass Baptiste auch in jener Nacht den Hörer nicht hatte abheben wollen. Vor lauter Angst, die Komplikationen, die sich in den Tagen vor der Geburt ereignet hatten, könnten die Oberhand im Kampf um Leben und Tod ihrer kleinen, noch ungeborenen Enkelin und ihrer Tochter Michelle gewonnen haben. Alles kehrte zu ihm zurück: Die Stille, in die er ängstlich lauschte, als er den Hörer ans Ohr hielt. Die Ohnmacht während der ersten Bruchteile von Sekunden, bevor er an Jacques’ Tonlage erkannte, dass alles gut war.

Dann der vernichtende Anruf in tiefster Nacht, als sein inneres Schutzsystem bereits weit heruntergefahren war. Nur drei Tage später. Als er unbeschwert und leicht benommen aus einem schönen Traum im Hotelzimmer erwacht war und gedankenlos den Hörer abnahm. Ohne Schutz. Als Michelle, Jacques und die kleine Neugeborene ohne Namen innerhalb einer einzigen Sekunde von dieser Welt genommen wurden. Ohne Namen, weil Michelle die Auswahl nicht verraten und diesen besonderen Moment mit der gesamten Familie hatte zelebrieren wollen – bloß nicht vorher, um das Schicksal nicht herauszufordern.

Schicksal? Welches Schicksal konnte es denn überhaupt geben, wenn eine Familie auf dem Weg von der Entbindung heimwärts einfach so vernichtet wurde? Wie konnte man an Gott und an sein eigens für die Menschheit kreiertes Schicksal glauben, wenn er sie derart barbarischen Momenten auslieferte? Die Menschheit – seine angeblich liebste Schöpfung. Lächerlich angesichts von Momenten wie jenem, in dem ihn seine Frau Claire in der Nacht angerufen hatte, hysterisch, schreiend, weinend und wimmernd, dass die Leichen in einem völlig zerstörten Auto als die ihrer Tochter und ihrer kleinen Familie identifiziert worden waren. Ein Wimpernschlag nur, in dem alles Leben erlosch. Eine schreckliche Unachtsamkeit eines übermüdeten Fahrers, der die drei an einer Kreuzung übersehen und ihnen die Vorfahrt genommen hatte. Nein, lieber Gott – zwischen Prüfung und Perversion gab es große Unterschiede. Quasi himmelweite. Gott war als Heuchler überführt, denn er war so, wie er es den Menschen verboten hatte zu sein: Böse. Zynisch. Grausam.

Das Klingeln schreckte Baptiste aus einer überwältigenden Flut diffuser, schmerzhafter Gedanken. Damals hatte er sich angewöhnt, das Telefon nachts mundtot zu machen, indem er den Stecker aus der Wand zog und am nächsten Morgen oft vergaß, es wieder einzustöpseln. Was zu gereizten Diskussionen mit Claire führte, zu kargen Wortgefechten, bei denen keiner die Bedeutungslosigkeit erkannte, geschweige denn von dem sprach, was ihn wirklich quälte.

Sowieso hatte es lange gedauert, bis beide wieder in der Lage waren, sich einander zuzuwenden, denn an dem Tag, an dem ihre Tochter gestorben war, waren ihrer Welt die Farben, ihrem Äther die Töne und ihren Stimmen die Worte geraubt worden. Und zwar jedem für sich. In der einen Sekunde hörte die Erde auf, sich zu drehen, in der nächsten riss ihre Geschwindigkeit sie in einen haltlosen Sog voller Schmerz ohne Zeit und Raum. Und zwar jeden für sich.

So zogen sich beide zurück und verbargen sich vor der Welt und zunehmend auch voreinander, denn mit fortschreitender Dauer keimten stille Vorwürfe ohne rationalen Anspruch. Vielleicht, weil jede noch so stille Bewegung des anderen trotzdem noch Leben bedeutete. Oder, weil die Front meterhoher Wellen aus schmerzhaften Gedanken übermächtig war und die Wut auf den anderen ein effektiver Trick, um der Ohnmacht wenigstens für kurze Zeit zu entkommen. Möglicherweise, weil sie in dieser Zeit ohne Logik der Meinung waren, sie hätten in jener Nacht bei ihrer Tochter sein müssen, entgegen der früheren Überzeugung, dies käme als freudige Pflicht ihrem Schwiegersohn zu. Vielleicht aber auch nur, um durch das Aufladen einer Schuld, die nicht existierte, das Gefühl der Leere in andere Bahnen zu lenken.

Das Telefon klingelte noch immer, doch heute Nacht bedeutete es eben nicht den hektischen Befehl, sofort alles stehen und liegen zu lassen und dem Diktat des Anrufers zu gehorchen. Im Gegenteil, Baptiste lag auf dem Rücken und nahm das Klingeln nur noch als ein taktiles Maß wahr, das seinen Gedanken den Weg in die Vergangenheit erleichterte. Dort, wo Claire auf ihn wartete. Claire. Die Frau, der er irgendwann aufgehört hatte, ins Gesicht zu schauen. Claire, die er über alles liebte, die zu seinem Zentrum geworden war. Die wunderbare Frau, deren leerem Blick er seit dem schrecklichen Unfall nicht mehr hatte standhalten können.

Irgendwann hatten sie der Welt den Rücken gekehrt. Jeder für sich, einem Igel gleich zu einem Ball gerollt, ohne Anfang oder Ende, das Gesicht abwechselnd verborgen oder in eine Waffe verwandelt, alles Empathische verschlossen und verbarrikadiert.

Sicher, es gab Momente, wo der eine den anderen voller Tränen und Qual auf dem Sofa vorfand, das Herz übergelaufen vor Verzweiflung und Traurigkeit. Wo der eine in der Lage war, stark zu sein und den anderen zu wärmen, den hemmungslosen Niedergang des anderen auszuhalten und ihn behutsam ins Hier und Jetzt zurückzubegleiten. Aber oft genug sahen sie sich nur an, um sich anschließend abzuwenden und sich wieder in ihren Einzelzellen zu isolieren. So wurde im Laufe der Monate aus Tränen dumpfe Schwermut, die den Tagen ihre Form nahm und den Nächten ihre Unschuld.

Das Telefon klingelte noch immer, und flüchtig regte sich der Impuls, nachzugeben und sich an die Oberfläche treiben zu lassen. In jenen Zustand, den Signore Regondi nach Stunden gemeinsamen Musikhörens einst so abfällig als Realität beschimpft hatte.

Tommaso Regondi. Es war seine List, die für Baptiste und Claire die Wende brachte. Er war der Musikalienhändler, war in seinem kleinen Dorf, das irgendwo zwischen den endlosen Lavendelfeldern der Provence vor einigen hundert Jahren entstanden war, Urgestein und Macht zugleich. Die kubische Raumforderung seiner äußeren Erscheinung schien seinen monarchistischen Anspruch zu untermauern, indem sein Leib zeitgleich in alle Richtungen expandierte. Er schob einen imposanten Wanst vor sich her, über den er bei seinen Spaziergängen den spielenden Kindern des Dorfes kleine Geheimnisse verriet. Beispielsweise, dass sein Bauch tatsächlich das wohlbehütete Versteck des Weltmeisterschaftsballs sei, mit dem die Squadra Azzurra den Deutschen im Finale ’82 eine so schmachvolle Demütigung beigebracht hatte. Die Traube von Kindern drängelte sich derweil neben ihm, zerrissen zwischen Respekt und Spannung, und wagte nicht, daran zu zweifeln. Schon deshalb nicht, weil er im Anschluss an seine Erzählungen meist leckere Karamellbonbons aus den Taschen seiner durchweg verblichenen Cordhosen zauberte.

In Abendgesellschaften verteidigte er hingegen seine Dogmen der guten Küche und somit die Passion und Pflicht, das Essen zu ehren und mit allen Sinnen möglichst oft zu genießen.

»Wissen Sie, wir Italiener, wir brauchen das gute Essen wie andere Nationen die Luft zum Atmen. Und gutes Essen, das ist nun einmal einfaches Essen. Wir Italiener sind die Meister des Simplen. Ein gutes Öl. Zwei, drei frisch gepflückte Sorten Kräuter. Tomaten, die den Namen wirklich verdienen, nicht dieses geschmacklose Wasser, das die Holländer in ihren lebensfeindlichen, licht- und luftdichten Gewächshäusern mit ihren chemischen Nährlösungen und Styroporplatten schneidbar gemacht haben. Unbedingt noch Knoblauch aus Apulien und dann auf selbst gemachter Pasta serviert, veredelt mit jeder Menge geriebenem Hartem. Voilà! Fertig ist ein Meisterwerk. So hat meine Mamma gekocht und mit ihr Millionen anderer Mammas.« So schwadronierte und philosophierte er am liebsten, um anschließend zum Angriff überzugehen.

»Aber ihr Franzosen, ihr kocht nicht. Ihr de-kon-stru-iert das Essen. Ihr baut die komplexesten Schaltpläne, die den Geschmack eurer Soßen, Soufflees und Quiches beherrschen. Als wären eure Köche in Wahrheit Atomphysiker, die da in ihren Küchen tüfteln und basteln. Und dann wiegt euer Essen im Magen auch noch so schwer.« Bei den letzten Worten verringerte er seine Sprachgeschwindigkeit, senkte dabei seine Stimme um mindestens eine Quinte und zog das Wort »schwer« kaugummiartig in die Länge, während sein Kopf so weit nach vorne nickte, dass er seinem Doppelkinn ein drittes anfügte. Dann blinzelte er zufrieden über den Rand seiner dicken Brille.

Es war der Schalk, der da abwartend über sein Gestell in die Gesellschaft schaute, vom Roten nippte und sich das Lachen verkniff. Und er war sich seiner Wirkung durch und durch bewusst, was ihn zu einem Meister der Dramatik und Dynamik machte. Die Dorfbewohner liebten ihn dafür.

»Aber Essen muss leicht sein wie eine Wachtelfeder.« Sprach’s und pfiff hauchfein durch seinen ergrauten, dichten Schnauzer, um das Federleichte zu imitieren.

Keiner wusste genau, wie es ihn aus Italien nach Frankreich verschlagen hatte. Man munkelte, dass er als Zwanzigjähriger 1953 über Mittelslowenien geflohen sei, weil die kommunistischen Partisanen Jugoslawiens sich ihre vom faschistischen Italien annektierten Gebiete zurückeroberten, und dass er zwischen Nacht und Nebel mit seinem Vater, einem italienischen Offizier mit übler Vergangenheit, nach Frankreich gelangt sei. Wie man sich weiterhin erzählte, hatte der Vater wegen seiner Verbrechen aus den Zeiten Mussolinis nicht in Italien bleiben können. Doch wie viel von all den Vermutungen überhaupt mit der Historie Italiens in Einklang zu bringen war, darüber hatten die Dorfbewohner in den unzähligen Iterationen der Gerüchte längst den Überblick verloren.

Vielleicht war das der Grund, warum Signore Regondi den jungen Baptiste bei sich aufgenommen hatte, damals, in den Siebzigern, als Baptiste eines Abends wie aus dem Nichts in seinem Dorf aufgetaucht war, verschlossen und verstört, mit einem karierten, schäbigen Koffer, der jede Sekunde auseinanderzubrechen drohte. Mit jämmerlichen Lumpen am Leib war er in seinen Laden gekommen, um ein wenig Brot, Milch und Käse zu erstehen. Das war lange her, zu einer Zeit, als man im Dorf mit Tonträgern keine Existenz bestreiten konnte und bei den Regondis daher alles Zweckdienliche feilgeboten wurde.

Ein väterlicher Instinkt musste sich in Regondi geregt haben, als er Baptiste vor sich hatte stehen sehen. Unauffällig startete er zwischen dem Abzählen der Semmeln und der scheinbar schwierigen Berechnung des Preises eine gekonnte Inquisition. Eine weitere Fähigkeit, die er seinen italienischen Wurzeln zuschrieb. Ob Baptiste lange in ihrem kleinen Städtchen zu bleiben gedenke? Wisse er nicht? Wo er denn hinwolle? Herrje, auch noch ohne Ziel. Ob er denn wenigstens eine Unterkunft habe? Grundgütiger, nicht einmal das! Wo doch der Herbstwind schon zickiger sei, als es für Fremde den Anschein habe. Anschließend bot er ihm eine kleine Kammer hinter dem Laden an, stellte auch eine Matratze, einen Tisch und Stuhl hinein und spendierte eine alte Stehlampe mit vergilbtem Schirm, der so zerschunden aussah, als hätte man gewaltsam eine Ziehharmonika gehäutet. Er hatte ihm Lohn und Brot besorgt. Mal ging es zum Spargelstechen hinaus auf die provenzalischen Felder, mal fand sich Baptiste auf den großen Baustellen neu entstehender Schnellstraßen wieder, die sich wie Betonschlangen durch das Land frästen. Keiner, der Arbeit zu vergeben hatte, schlug einem Signore Regondi die kleine Gefälligkeit ab.

Warum er all das für einen Fremden täte, hatte ihn damals seine Frau Martha gefragt. Für die Antwort musste er lange überlegen. Dass er es nicht wisse, hatte er schließlich gesagt, dass es aber wohl mit Baptistes Blick zusammenhinge, mit diesem melancholischen, tiefen Abgrund. Er wisse es nicht, wiederholte er, aber es sei gut und richtig, denn der Junge sei gut und richtig.

Doch nun, so viele Jahre nach ihrem Kennenlernen, war durch den tödlichen Autounfall von der Melancholie der Jugend nicht mehr als ein fast erloschenes Licht geblieben. Signore Regondi hatte wochenlang gegrübelt, was dagegen zu tun sei, und als ihn im Winter eine handelsübliche Grippe erwischte, brachte ihn Dr. Bellier auf die richtige Fährte. Dieser hatte ihm ein homöopathisches Medikament verschreiben wollen. Signore Regondi, der nun schon dreiundsiebzig Jahre alt war, wehrte sich mit einer abfälligen Geste vor »solcher Gier, den Patienten den letzten Sou aus der Tasche zu ziehen.« Aber während Dr. Bellier ihm die Philosophie solcher Präparate erklärte, kam endlich die Eingebung, auf die er so lange gewartet hatte. Eilig verabschiedete er sich, nicht ohne seinem Arzt an den Kopf zu werfen, dass der »ganze Kram schrecklich unsinnig« sei, ihn einen Quacksalber zu schimpfen und anschließend aus der Praxis zu stürmen. Bellier blieb trotz dieses immer wiederkehrenden Dramas lächelnd zurück. Er ahnte, dass Regondi sie wohl alle überleben würde.

Der Signore eilte direkt in seinen Laden, wälzte Kataloge, kritzelte eine Auswahl verschiedener Ideen auf Papier und grübelte daheim beim Abendessen weiter. Er murmelte Worte wie Kindertotenlieder und überlegte in seinem gutsherrenartigen Ledersessel, der schon Gastgeber so vieler Grübeleien zahlloser Vorbesitzer gewesen war, bis tief in die Nacht hinein. Übermüdet ging er erst in den frühen Morgenstunden zu Bett. Martha wurde wach, und als sie ihn fragte, was ihn denn so umtreibe, schwang sich Regondi zu einer nächtlichen Rede auf, auch um seine eigenen Gedanken noch einmal durch das laute Aussprechen zu ordnen.

»Heute hat mir dottore Bellier erklärt, wie seine neumodischen Medikamente funktionieren. Dieser Schmock dachte wohl, er kann einem Greis wie mir das Geld aus der Tasche ziehen. Er erklärte mir das Wesen aller Erkrankungen, wie er es so weltklug nannte.« Regondi sammelte sich kurz, um das Verstandene ebenso wiederzugeben.

»Wenn wir krank werden, dann ist alles in uns Entzündung. Das ist notwendig, denn sie ist die Kampfansage unseres Körpers an die Erkrankung. Und erst, wenn dieser Kampf nicht zu gewinnen ist, ändert der Körper seine Taktik und sucht sein Heil fortan im Vergessen. Was einer Niederlage gleichkommt. Der dottore nannte das Degeneration, es kann aber auch sein, dass ich seinen geistigen Zustand so bezeichnet habe, als er mir diesen Unsinn erzählt hat. Seine Medikamente jedenfalls sollen den Körper daran erinnern, dass da noch ein Kampf zu führen ist, also gibt er die Information wieder in den Körper hinein. So ungefähr hat er es mir erklärt.« Beim Wort hinein zeichnete er eine tröpfchenähnliche Bewegung in die Luft, bevor er seine Handflächen fragend nach oben drehte.

»Was hat das mit den Dumonts zu tun?«, fragte Martha, die nicht sicher war, ob sie das alles richtig verstand. Schließlich war es vier, fünf Uhr in der Nacht, und da war Verständnis in keinerlei Hinsicht leicht.

»Martha, ich glaube, die Tränen von Claire und Baptiste, das waren die Entzündungen des Tragischen und der Kampf gegen ihr unfassbares Schicksal. Aber, hast du die beiden in den letzten Wochen einmal gesehen? Da ist keine Trauer mehr. Sondern nur noch Schwermut. Ihre Trauer ist zu einem dumpfen Nichts degeneriert.«

Regondi machte eine kurze Pause, bevor er ärgerlich fortfuhr: »Sie sind dabei, sich aufzugeben und versuchen zu vergessen. Aber das wird nicht gelingen! Sie müssen verstehen, dass sie ihre Tochter nicht vergessen können, sondern sich von ihr verabschieden und sich mit dem Leben und ihrem Gott versöhnen müssen. Begreifen, dass nicht Michelles Tod, sondern ihr Leben als Vermächtnis in ihre Herzen gehört. Und deswegen muss ich ihnen ein Medikament verabreichen, das sie wieder daran erinnert, dass da noch ein Kampf zu führen ist. Ich muss nur noch die richtige Medizin finden. Den richtigen Nadelstich setzen. Verstehst du?«

Ob Martha verstand, sollte er jedoch nicht mehr erfahren, denn als sie schwieg, bemerkte er, dass sie schon wieder eingeschlafen war.

Am nächsten Morgen hatte er sich für den Nadelstich entschieden und gab telefonisch eine Bestellung bei seinem Pariser Großhändler auf. Als eine Woche später das Päckchen eintraf, rief er seinen Botenjungen Marcel zu sich und hieß ihn, eine Auslieferung zu tätigen. Er ließ seine Bestellung zusammen mit einer handgeschriebenen Notiz verpacken und schrieb mit schwungvoller Tinte obenauf »An meine Freunde Claire und Baptiste Dumont«.

Es war sicher auch dem glücklichen Zufall anzurechnen, dass Regondis List so gut funktionierte, denn nach langen, qualvollen und einsamen Monaten hatten Claire und Baptiste sich just an diesem Tage ein wenig mehr als nur wahrgenommen. Es begann mit Claires flüchtigem Lächeln, das Baptiste aus dem Augenwinkel registrierte, während sie ihm beim Öffnen des Paketes zusah. Sie wähnte sich unbeobachtet, hatte sie doch den Vormittag geschäftig putzend, wienernd und räumend in allen Zimmern der Wohnung verbracht. Sie erhaschte seine Freude, als er das Geschenk von Signore Regondi in Händen hielt. Eine CD. Baptiste hatte erst spät entdeckt, dass Musik auf diesen unscheinbaren Scheiben konserviert werden konnte, und sich seitdem fast kindlich verzückt auf alle Einspielungen gestürzt, die er ergattern und sich leisten konnte. Einmal fragte er Signore Regondi, wie es möglich war, dass aus zweidimensionalem Kunststoff dreidimensionale Musik entstand, und Regondi dekodierte daraufhin »das binäre Mysterium digitaler Nullen und Einsen« und versuchte, ihm nahezubringen, wie diese in Musik transformiert wurden. Er hatte sich in optischen Speichern, Makrolon, Polycarbonaten und anderem Fachchinesisch verrannt, ohne zu bemerken, dass Baptiste nur noch vor sich hin nickte, da sein Verständnis schon nach dem ersten Satz auf der Strecke geblieben war.

Als Baptiste jedoch den Titel der CD las, die Signore Regondi ihnen geschickt hatte, gab es einen furchtbaren Stich in seinem Herzen. Claire kam herüber und fragte, was denn sei, denn er war ganz fahl geworden. Als Antwort reichte er ihr wortlos das Geschenk und öffnete den Brief.

»Sehr geehrte Claire, sehr geehrter Baptiste,

ich möchte Sie inständig bitten, dieses Geschenk anzunehmen und gemeinsam in einem ruhigen Moment zu genießen.

In tiefer Ergebenheit,

Ihr Tommaso Regondi.«

Das war alles. Claire schaute auf die CD und las »Streichquartett Nr. 14 – DER TOD UND DAS MÄDCHEN«. Darunter »Franz Schubert«.

Claires Knie wurden weich, und am liebsten hätte sie die CD gleich an die nächste Wand geschmettert. Doch tief in ihrem Innern nahm sie auch einen schwachen Instinkt wahr, nicht mehr als einen Schimmer in rabenschwarzer Nacht, die so plötzlich über sie hereingebrochen war.

Baptiste hingegen war erstarrt und kauerte ohne Spannung auf dem Sofa. Claire ging zum CD-Spieler, legte die silberne Scheibe ein, startete die Musik und kam mit verschränkten Armen und unsicheren Schritten auf Baptiste zu. Sie blieb vor ihm stehen und fragte ihn mit schweigendem Blick, wie nahe sie sich zu ihm setzen dürfe. Baptiste antwortete ihr durch die Qual in seinen Augen. Die Erinnerung drohte, ihn ein weiteres Mal fortzuspülen, doch nach einer kleinen Weile reichte er ihr wort- und kraftlos seine Hand und zog sie neben sich auf das Sofa.

Als unvermittelt die wuchtigen, punktierten Akkorde durch die Lautsprecher schlugen und von einem fragenden Echo beantwortet wurden, und als anschließend die treibenden Violinen durch ihre Seelen hetzten, da rückten beide ganz nah zueinander. Und noch ein wenig näher, bis sie nach wenigen Minuten eng umschlungen mit vor der Welt verschlossen Augen auf jene Reise gingen, die Signore Regondi für sie ersonnen hatte. Gemeinsam und jeder für sich. Sie fühlten ihre Körper, sogen ihre Wärme ein und zeigten sich in ihrer Trauer. Sie wurden eins und dankbar, da sie einander wiederfanden, einander brauchten, einander liebten.

Als im Andante der Tod mit anämischer, kurzatmiger Stimme dem Mädchen seine versöhnliche Offerte machte, konnten beide ihre Michelle mit ihrer kleinen Familie sehen, sie spüren, ihnen zuwinken und ihre Herzen mit auf deren Reise geben. Konnten ihre Tränen ohne Druck rinnen lassen, sich von ihrer geliebten Tochter, ihrem Schwiegersohn und ihrer kleinen Enkelin verabschieden, von der sie nun verstanden, dass es besser gewesen war, sie nie in Armen gehalten zu haben.

Als sie im Presto auf die Stationen ihres gemeinsamen Lebens blickten, lag Claire mit dem Kopf auf Baptistes Schoß, ihm mit erschöpftem, aber liebevollem Blick zugewandt. Er schaute zu ihr herab, liebkoste ihre Wange, und sie sah die Dankbarkeit in seinen Augen. Dann, als die Virtuosen in atemberaubendem Tempo durch die letzten Takte einer sich stetig verdichtenden Stretta jagten, um sich schlussendlich in einer ausladenden Geste immer höher steigender Figuren zu entladen, lächelten sie sich an. Baptiste und Claire hatten einander wiedergefunden.

Aber jetzt klingelte das Telefon, und er wusste, was folgen würde.

Er stützte sich langsam auf, spürte einen schlimmen Stich tief in seiner Schulter, wie er ihn sonst erst am Morgen bekam, wenn er vom Harndrang getrieben aus dem Bett musste. Langsam drehte er sich zur Seite, um die Schmerzen nicht zu verschlimmern, und setzte sich dann vorsichtig auf die Bettkante. Nun musste er sich nur noch bücken, um an den Hörer zu kommen.

Sorge, der oder die Anruferin würde wieder auflegen, hatte er nicht. Er wusste – das Telefon würde noch so lange klingeln, bis er den Anruf entgegennahm.

Der nächste Schmerz jagte durch seinen Körper und produzierte eine Träne, die ihm die Wange hinab lief. Endlich erreichte er den Hörer, nahm ihn ab und bewegte seinen Oberkörper behutsam zurück in die aufrechte Position. Er atmete tief durch, nannte seinen Namen und schloss dabei die Augen.

Kapitel 2

Malawi, 2001

Die Sonne schob sich nach tiefster Nacht über den Gebirgszug und glich einem überdimensionalen Zyklopenauge, das mit weit aufgerissener Pupille die Erde nach Veränderungen zur Vorabenddämmerung absuchte. Ihr durchdringender Blick ließ keinen Zweifel daran, wer diesen Kontinent wirklich beherrschte. Der atmosphärische Staub zahlloser afrikanischer Wüsten verlieh dem gewaltigen Schauspiel eine blutrote Färbung und ließ Ella demütig werden.

Sie saß an ihrem morgendlichen Stammplatz unter einer Akazie und beobachtete den malawischen Tagesanbruch. Seit fünf Uhr war sie wach, hatte in ihrer Hütte auf ihrem Gaskocher eine Kanne weißen Tee aufgebrüht und sich damit unter ihren Lieblingsbaum auf eine Decke gesetzt. Der Boden hielt den nächtlichen Frost des umgebenden Berglandes gespeichert, sodass ein leichter Pullover notwendig war. Aber in zwei, drei Stunden, wenn die Kraft der Sonne Oberhand gewonnen hätte, würde sie unter der afrikanischen Hitze leiden, denn ihre blasse Haut weigerte sich seit ihrer Ankunft vor gut einem Jahr, auch nur die geringste schützende Bräune anzunehmen.

Sie wärmte ihre Hände an der Tasse, trank in kleinen, achtsamen Schlucken und ließ ihre Gedanken schweifen. Zunächst nach links zu den Hütten des Dorfes, dessen Name Chila angeblich aus den alten Zeiten der Chewa stammte, wobei die konkrete Bedeutung ebenso verloren gegangen war wie der Grund, aus dem sich gerade hier einst Menschen niedergelassen hatten. Entlang einem Pfad aus roter Erde standen unscheinbare Ziegelbauten, die mit ihren Dächern aus getrockneten Blättern dem Betrachter aus einer industriell geprägten Welt etwas diffus Romantisches vermitteln mochten. Vielleicht war es die verklärte Sehnsucht nach allem Simplen, das sich bei genauerem Hinsehen als Armut jenseits des Fassbaren entpuppte.

Die Wände waren alt, verfallen und speicherten den Moder der Regenzeiten. Die Fenster entstanden durch das Weglassen von Ziegeln, von denen randseitig immer wieder einige herausfielen, sodass die Öffnungen sich stetig vergrößerten. Die Sonnenstrahlen wurden, wenn überhaupt, mit löchrigen Strohmatten mehr schlecht als recht außen vor gehalten. Im gesamten Dorf gab es weder fließendes Wasser noch Strom. Als Latrinen dienten behelfsmäßige Aborte zwischen den Hütten, nicht mehr als Jauchegruben mit halbhohen Bretterverschlägen, die von mehreren Familien geteilt wurden und an stickigen Tagen den Geruch fauliger Fäkalien verbreiteten. Die Hütten stammten aus den Zeiten, da europäische Missionare im Gewand der Barmherzigkeit die einheimische Bevölkerung dem monströsen katholischen Moloch einverleibt hatten. Die umliegenden, später gebauten Hütten waren meist nur aus Holz, bestenfalls aus Lehm, denn Ziegel waren teuer und der Weg zur nächsten Stadt weit und beschwerlich.

Mitleid erfasste Ella, weil die Einheimischen in solch bitterer Armut lebten. Noch mehr bemitleidete sie die Kinder, derentwegen sie hier war. Gleichzeitig keimte ein zaghaftes Gefühl von schüchternem Stolz in ihr auf. Sie half, brachte sich ein und achtete darauf, dies in Eintracht mit den hier lebenden Menschen und der Natur zu tun. Sie wuchs an ihrer Aufgabe und manchmal fragte sie sich, wer hier eigentlich wem half.

Ellas Empfindungen vollführten kleine Pirouetten, denn schon meldete sich ihr schlechtes Gewissen, da letztlich das Leid der anderen Basis ihres Stolzes war. War das schändlich? Ja, sie war hier, um zu helfen, und ja, sie fühlte sich gut damit. Aber sie war auch hier, weil ihre australische Heimat sie enttäuscht hatte. Weil sie eine Suchende war, die sich nicht damit abfinden wollte, dass es im Leben um nicht mehr als Wohlstand, Ignoranz und Sicherheit gehen sollte.

Nach der Schule, die sie vor fünf Jahren beendet hatte, war sie aufgebrochen, um ihren eigenen Weg zu finden, und mit nicht mehr als einem Rucksack ging es zunächst nach Indien. Dort hatte sie sich im Charisma eines gut zehn Jahre älteren, blonden Schweden mit gewinnendem Lachen, lockigem Haar und manipulierender Rhetorik verloren und sich fast drei Jahre in einer undurchsichtigen Gruppe umherziehender und Marihuana rauchender Aussteiger wiedergefunden. Nur sich selbst hatte sie dabei nicht entdeckt.

Also war sie weitergezogen. War nach Thailand geeilt, um die Kunst des Kochens, Meditierens und Nichtstuns zu erlernen. Irgendwann aber bemerkte sie, dass ihre Reise nicht mehr als eine Flucht war, auf der ihre Ängste, Nöte und der schmerzende Stachel der Einsamkeit ihr als stete Weggefährten treu blieben. Ein Jahr hielt sie es aus, bevor sie bereit war, den Weg zurück in ihre Heimat anzutreten.

Wenige Tage, bevor sie ihren Onkel Shawn, der in Frankreich zu Wohlstand gekommen war, um das Ticket für den Heimflug hätte bitten müssen, erhielt sie eine Nachricht von Jason. Eine lange, persönliche Mail ihres innigsten Freundes, in der er seine letzten Jahre summierte, von ergreifenden Erlebnissen auf seiner Reise durch Afrika erzählte und ihr schlussendlich von dem Little HeartsProject berichtete, das er ins Leben gerufen und dem sich ihre gemeinsamen Freunde Sam, Simon und Lester bereits angeschlossen hatten. Ellas Entscheidung fiel, noch ehe sie den letzten Satz gelesen hatte, und keine vierzehn Tage später landete sie in Lilongwe, der Hauptstadt Malawis.

Von dort benötigte sie einen weiteren Tag mit dem Bus nach Chipita, wo es zu einem wunderbaren Wiedersehen mit Sam kam und beide einen Gewaltmarsch in den bergigen Norden begannen, der einen weiteren vollen Tag in Anspruch nahm. Sie erreichten Chila am späten Abend und fanden sich einer Horde braungebrannter, von körperlicher Arbeit zerschundener Freunde gegenüber, die ihnen wild vor Freude entgegen stürmte. Und hier, in einer archaisch wirkenden Urzeit, hatte sie sich binnen kürzester Zeit geborgener und wertvoller gefühlt als je zuvor. Dieser Ort war magisch.

Sie wandte den Blick zu ihrer Rechten und sah die Baustelle, knapp dreißig Meter unterhalb des Dorfrandes. Dort entstand das Gebäude von Little Hearts, das Jason in seinem Herzen ausgebrütet hatte und seitdem mit nicht zu stoppender Energie vorantrieb. Die Bauarbeiten hatten vor knapp einem Jahr begonnen, und in dieser Zeit hatten die Arbeiter mit den wenigen vorhandenen Mitteln ein stabiles Holzgerüst für ein zweistöckiges Gebäude geschaffen, das elf Räume und eine Terrasse beherbergen sollte.

Es gab auch Phasen, in denen die Arbeiten über lange Zeit ruhten. Dann fehlten Freiwillige und Baustoffe, oder das Wetter lähmte den Fortgang über Tage. Doch nach und nach gaben alle an dem Projekt Beteiligten ihren Blick auf Planungen, Ziele und Zeiteinheiten auf und begannen stattdessen, Erfolge in kleinsten Einheiten zu definieren.

Im Gegensatz zu den spartanischen Hütten wirkte dieses einzige wirkliche Haus schon jetzt imposant. Dennoch erstaunten die raffinierte Architektur und der gewählte Platz außerhalb des Dorfrandes, indem sie sich in die natürliche Umgebung integrierten. Jasons Inspiration, die mächtigen Bäume und breiten Sträucher mit dem Haus verschmelzen zu lassen, stammte aus alten Daktari-Folgen, die er in seiner Kindheit verschlungen und seither nie vergessen hatte.

Von Ellas Platz aus mischten sich die tragenden Pfähle fast symbiotisch unter die kleineren Gruppen der Bäume und vermittelten die Atmosphäre einer friedlichen Lodge inmitten eines Naturschutzgebietes. Der Platz war klug gewählt, denn die Wege, die am Gebäude entlangführten, markierten wichtige Knotenpunkte zu mindestens drei weiteren Dörfern in höchstens zweistündiger Marschweite.

Ellas Gedanken wurden unterbrochen, denn inmitten der Stille hörte sie Schritte durch den Sand auf sich zukommen. Sie kniff die Augen zusammen, um dem Sonnenlicht etwas zu entgegnen. Nötig war das nicht, denn den Rhythmus dieses Gangs hätte sie aus Tausenden heraus erkannt.

»Guten Morgen, Elizabeth.«

Der Ankömmling war Jason, mit nicht mehr als einer schlichten, knöchellangen Stoffhose am Körper, die ohne Taschen auskam. Ein hochgewachsener Mann mit schlankem, definiertem Oberkörper und chaotisch dichtem Haar, in Jahren unter malawischer Sonne ausgebleicht.

Ella formte ihre flache Hand zu einer Sonnenblende, um mehr als nur seinen Schattenriss zu erkennen. Er war wohl der Einzige, der sie mit ihrem tatsächlichen Namen ansprach, weil er, wie er oft betonte, die Verniedlichung eines Namens unerträglich fand. Sie neigte ihren Kopf zur Seite und lächelte ihn an. »Guten Morgen, gut geschlafen?«

Er reckte sich gähnend. »Nein, leider nicht so gut.«

Sie musterte ihn und überlegte, ob sie fragen sollte.

»Ich hatte einen üblen Traum«, kam ihr Jason zuvor. »Ich war wieder mit Clarissa zusammen. Wir standen uns einfach nur gegenüber. In meinen Handgelenken war Gift, injiziert von widerlichen, schwarzen Käfern, und wir sahen zu, wie meine Adern dick und blau aus meinen Unterarmen hervortraten und ganz langsam in Richtung Herz wanderten.«

Er schüttelte sich, um den Ekel dieser kleinen Retrospektive loszuwerden. Ella kam in den Sinn, dass die Käfer wohl eher Clarissa selbst darstellten und das Gift für ihren liebenswerten Charakter stand, sie unterdrückte aber einen boshaften Kommentar. Stattdessen bot sie ihm einen Schluck ihres Tees an. Er setzte sich neben sie auf die Decke und nahm ihr die Tasse aus der Hand.

»Du siehst nachdenklich aus«, bemerkte er.

Sie sah ihn an und überlegte, ob ihr Blick sie während seiner Traumnovelle verraten hatte. Sie mochte nicht über Clarissa reden. Zu viele Jahre hatte sie die kleineren und größeren Dramen der beiden aus nächster Nähe miterlebt. Daher lockte sie ihn auf eine andere Fährte.

»Ich frage mich, ob die Menschen hier glücklich sind.«

Jason musterte sie. »Wer sind denn die Menschen?«

Ella dachte kurz nach. Sie wusste, dass sie sich auf dünnes Eis begab, denn so begannen oft die Diskussionen, die Jason in der Regel für sich entschied, während sie sich am Ende missverstanden fühlte. »Gestern habe ich mich mit einem der Männer unterhalten, die uns an der Baustelle geholfen haben. Sein Bruder ist kürzlich gestorben, und er muss nun dessen fünf Kinder, seine Schwägerin, seine eigene Frau und seine drei Kinder versorgen.« Ella zählte nach und fuhr dann fort.

»Er hat über Nacht eine elfköpfige Familie zu ernähren. Wie soll er das schaffen? Der Boden seiner Parzellen gibt ihm kaum die Möglichkeit, mehr als Kassaven zu ernten, und auch das fällt oft dürftig aus.«

Jason hielt inne, als wöge er zwischen zwei Strategien ab. Offensichtlich war es ihm für einen Angriff zu früh, denn er wählte die friedliche Variante. »Das ist kein Faktor, der über Glück bestimmt«, begann er sein Plädoyer. »Schau dir die Menschen in unserem Land an. Schau nach Europa und in die USA. Wir schmeißen gut ein Drittel unserer Nahrung in den Müll, so viel haben wir davon. Und? Sind wir glücklich? Tatsächlich sind die Menschen hier mit nicht mehr oder weniger als den ureigenen Problemen ihres Lebens konfrontiert, so wie wir mit den unsrigen zu kämpfen haben.«

Jason ließ ihr kurz Zeit, ihm zu folgen. »Sicher, wenn du ihr Leben mit deinen Augen beurteilst, kommst du schnell auf den Gedanken, dass sie unmöglich glücklich sein können. Tatsächlich sagst du jedoch nichts anderes, als dass du mit deiner Sozialisation hier kein Glück finden würdest, wenn deine Ernährung nicht gesichert wäre.«

Ella malte Kreise in den Sand und schwieg. Sie sah einen langen Jasonschen Monolog am Horizont aufziehen, den sie seit ihrer gemeinsamen Schulzeit zur Genüge kannte, doch sie spürte auch, dass er recht haben könnte. Noch gestern Abend hatte sie mit einigen Dorfbewohnern am Feuer gesessen, Nsima gekocht, süßeste Mangos direkt vom Baum gepflückt und schüchtern versucht, in die Gesänge der anderen einzustimmen.

Keine Spur von Unglück. Im Gegenteil, eine würdevolle Gelassenheit hatte sie bemerkt. Andererseits waren da die hilflosen Momente, denen sie ebenfalls regelmäßig ausgesetzt war und die unmittelbar mit dem Klima und den hier herrschenden Verhältnissen zu tun hatten. Die Familien bewirtschafteten ihre Felder nur, um sich selbst zu ernähren, doch die Rohböden waren durch die starke Nutzung erosionsanfällig und wiesen oft nur einen geringen Humusanteil auf. Dabei waren die Regenfälle regelmäßig, da die Winde vom Ozean die Feuchtigkeit über dem großen Malawisee aufnahmen und in den bergigen Norden trugen.

Es gab Zeiten, zu denen sich auf den Feldern nicht genügend erwirtschaften ließ, sodass alle hungrig zu Bett gingen. Und Hunger erschien Ella als ein erniedrigendes Gefühl. Wenn aus Hunger Schmerz wurde und keine Gewissheit herrschte, wann er gestillt werden konnte, verlor die Welt ihre Farben. Ganz so, als sei Hunger eine heimtückische Krankheit. Die Blicke hungriger Kinder, deren natürlicher Bewegungsdrang langsam erlahmte und sich in Lethargie verwandelte, hatte sich in ihr Herz gebrannt. So gesehen war sie sicher, dass Jason doch nicht ganz recht hatte, aber eben nur auf dieser emotionalen, nicht durch sachliche Argumente zu fassenden Ebene.

Jason hatte sie beobachtet und wusste, dass sie ihm keine Antwort geben würde. Also stellte er die leere Tasse vor sich ab, schob vorsichtig ihr langes Haar zur Seite und bettete ihren Kopf behutsam an seine Schulter. Ella kam in den Sinn, dass ihr dünnes Haar, das sich an den Schläfen ungeordnet kräuselte, weder für dieses noch für das australische Klima sonderlich geeignet war. Wie ihre blasse Haut. Sie schmiegte den Kopf an seine nackte Schulter, und so saßen sie eine Weile still, beide in ihren eigenen Gedanken verloren, bis Chila langsam zu morgendlichem Leben erwachte.

Jason unterbrach die Stille. »Die Gefühle, die du empfindest, sind Gefühle, die deiner Seele entspringen. Es sind nicht die der Menschen, die hier aufgewachsen sind. Es ist wichtig, diese Unterscheidung schnell zu lernen, denn sonst wirst du hier zugrunde gehen.«

Ella fühlte sich entlarvt und ihr niedergeschlagener Blick verriet sie. Also wechselte Jason das Thema.

»Bist du bereit für unsere Tour?«

Ella nickte in Richtung des Baumstamms und wies zu ihrem Rucksack, der dort angelehnt auf seinen Einsatz wartete.

»Wollen wir frühstücken?«, fragte er. »Es ist ein langer Weg nach Chipita.«

Ella schüttelte den Kopf.

»Nein, mir reicht mein Tee, und ich habe uns Obst und Getränke für unterwegs eingepackt. Sind die anderen schon wach?«

Jason machte eine flüchtige Geste in Richtung Sams Hütte. »Ich habe Sam und Simon zumindest schon gehört. Sie werden sicher gleich kommen. Wir wollten noch einmal die Einkaufsliste gemeinsam durchgehen. Bis dahin hole ich rasch meinen Rucksack, denn wir sollten nicht zu spät aufbrechen.«

Die beiden hatten geplant, die fast unsichtbaren Pfade hinab vom Bergland durch die Savanne Richtung Chipita zu wandern und notwendige Besorgungen zu erledigen. Mit sehr viel Glück würden sie von einem vorbeifahrenden Auto mitgenommen werden, andernfalls wollten sie auf halber Strecke in der Nähe eines Dorfes im Freien übernachten, falls die Hitze die Bewältigung der Strecke innerhalb eines Tages unmöglich machte. In Chipita galt es, eine größere Bestellung an Baustoffen und gebrauchten Möbeln aufzugeben, notwendig, um den Bau des Gebäudes voranzutreiben. Es würden sicher wieder zähe Verhandlungen vonnöten sein, bis die Händler versprachen, die Materialien in den bergigen Teil Malawis auszuliefern, ohne dass dies dann unbedingt der Wahrheit entsprach. Im schlechtesten Fall würden sie sich einen Pickup leihen müssen, wenn sie überhaupt einen bekamen. Beim letzten Mal hatten sie geschlagene drei Tage warten müssen, bis ein Auto zur Vermietung frei geworden war, und dann hatten sie während der gesamten Fahrt fürchten müssen, dass die tragende Substanz des Fahrzeugs aus mehr Rost als Karosserie bestand.

Daher hofften sie auf ein wenig Glück, rechneten aber damit, die Lebensmitteleinkäufe in ihren Rucksäcken zurücktragen zu müssen – doppelt anstrengend, denn dann ging es in kaum sichtbarer Steigung stetig bergauf.

Und dann war da noch der wichtige Gang zum Postamt in Chipita, in der Hoffnung, dass die Genehmigung aus dem Verwaltungszentrum in Mzuzu endlich eingetroffen sei und sie ihr reines Schulbauprojekt um ein Waisenhaus erweitern durften. Die Behörden hatten dies bisher verweigert, unter anderem, weil sie überzeugt waren, dass ein Waisenhaus in der viel größeren Stadt Chipita besser aufgehoben war. Aber gerade das Waisenhaus war ihnen wichtig. Jason war vor zwei Jahren während einer ausgedehnten Backpacker-Tour zufällig durch Chila gekommen und hatte beobachtet, wie eine Gruppe obdachloser Kinder frierend auf dem Boden schlief. Also breitete er seinen Schlafsack aus und versuchte, möglichst viele der fragilen Leiber zu bedecken. Er tat in dieser Nacht kein Auge zu und entschied sich im Morgengrauen, in Chila zu bleiben.

Nach einigen Tagen begriff er, dass diese Kinder zwar im Schutz der Dorfgemeinschaft lebten, aber eben auch unbeachtet blieben, wenn es um Dinge ging, die sie dringend benötigten. Jason redete mit der Handvoll Menschen im Dorf, die ein wenig Englisch sprachen, und überzeugte sie, dass eine kleine Schule die beste Lösung sei. Damals war ihm ein Waisenhaus nicht in den Sinn gekommen, vielleicht, weil ihn eine solche Aufgabe komplett überfordert hätte. Jetzt jedoch verhielt es sich anders, denn nach und nach waren seine Freunde hinzugestoßen, und an den friedlichen Abenden, an denen sie im Laufe der Monate immer wieder über den bestmöglichen Erfolg ihres Projektes diskutiert hatten, war die Idee gereift, diesen Kindern ein eigenes Dach über dem Kopf zu geben.

Seit dem ersten Tag des Genehmigungsverfahrens hatten sie schwere Rückschläge einstecken müssen, denn nun lernten sie eine andere, dunkle Seite dieses Landes kennen. Ohne Warnung schlug ihr jugendlicher Elan gegen eine meterdicke Mauer korrupter Beamter. Freundlich lächelnde Galgenvögel, deren nicht vollzukriegende Hälse kaum noch aus dem klebrigen Morast der Bestechlichkeit schauten. In den hitzigen Debatten über die richtige Strategie war es einzig Ella gewesen, die versucht hatte, das Verhalten der störrischen Beamten in den Kontext der Probleme dieses Landes zu stellen. Aber damit war sie meist ungehört geblieben. Und nun, nach der Ablehnung ihres Antrags, schienen die anderen recht zu behalten.

Sam schaute aus der Hütte, rief seinem Bruder etwas zu und verschwand wieder aus dem Sichtfeld. Kurze Zeit später kamen beide auf Ella zu, feixend und lachend, in Boxershorts, mit freiem Oberkörper. Die morgendliche Kälte machte ihnen offenbar nichts aus.

»Signorina Carter, mi amore, ich hoffe, du hast gut geschlafen?«, rief Sam ihr zu, mimte einen italienischen Aristokraten und machte einen vornehmen Diener.

Ella stand lachend auf und umarmte beide. »Lass mich raten, du möchtest, dass ich dir eine Extra-Ration Bier mitbringe. Aber du weißt schon, dass wir mit nur zwei Rucksäcken unterwegs sein werden?«

Sam hielt Ella fest und versuchte ihren Pullover ein wenig hochzuschieben, um sie auszukitzeln. »Wehe, wenn du nicht jedem mindestens drei Extra-Flaschen mitbringst.«

Sie quietschte vor Vergnügen, rief: »Träum weiter, Sam«, und versuchte durch ungelenke Bewegungen, seine Attacke abzuwehren. Viel Erfolg hatte sie nicht, aber so tollten die beiden herum, bis Jason sich zu ihnen gesellte und sie unterbrach.

Ella löste sich aus der Gruppe und stellte sich ein wenig abseits in den Schatten, um ihre drei Musketiere zu betrachten, während die begannen, die Einkaufsliste ein letztes Mal auf Vollständigkeit zu prüfen und über den spärlichen Platz für private Besorgungen zu verhandeln. So musste es sich wohl anfühlen, in der Geborgenheit einer Familie zu leben. Diese Bande war etwas Besonderes, einmalig und ewig unter Tausenden, dessen war sie sich sicher. Und deshalb wurde ihr schwer ums Herz, nun, da sie für einige Tage aufbrachen. Obwohl sie sich auf die gemeinsame Zeit mit Jason freute, denn hier in Chila gab es kaum persönliche Momente oder Zeit für sich.

Bereits früh am Morgen begannen die verschiedensten Arbeiten auf den Feldern sowie am Schulgebäude und wurden erste Schulstunden im improvisierten Klassenraum abgehalten. Während die Kinder auf umgelegten Baumstämmen im Freien saßen, stand unter einem vorstehenden, nach allen Seiten offenen Wellblechdach eine große Tafel, die Simon einer Sprachschule in Chipita abgeschwatzt hatte. Ella war für die Jüngsten unter ihnen verantwortlich, für diejenigen, die weniger Bildung, sondern Zuwendung benötigten. Sie spielte, sang und streifte mit ihnen durch die nähere Umgebung und erklärte alles Sichtbare, Duftende und sich Bewegende durch Gesten und Mimen, ließ Worte sich in Gesang verwandeln und Neues in Staunen.

Dann kam die Zeit des Essens und während Sam und Simon abwechselnd auf den Feldern arbeiteten und den Bau vorantrieben, kochte Ella mit Etta und Malia das Essen für alle anderen.

Das Äußere der beiden malawischen Schwestern, deren genaues Alter sie selbst auf knappe dreißig schätzten, hätte unterschiedlicher nicht sein können. Etta strahlte eine bezaubernde Grazilität aus, die vor allem ihrer unglaublich aufrechten Haltung geschuldet war. Von der Ferse bis zum Kopf zog sich eine senkrechte Achse in den Himmel, nur unterbrochen von einem Po, der durch die leicht nach vorn geneigte Hüfte aufreizend nach oben stand. Die lotrecht nach unten fallenden Röcke, die sie stets trug, verstärkten das Gefühl der Leichtigkeit um ein Vielfaches. Malia hingegen war massiv. Nicht dick, eher von kleiner, stämmiger Statur. Ihr Körper wirkte umso gröber, je näher sie neben ihrer Schwester stand. Ihr Lachen, das sie um das Tausendfache häufiger gebrauchte, war grell, fröhlich und ungestüm. Dabei glänzten ihre Wangen, und ihr Körper bebte im Takt.

Etta hatte in Lilongwe studiert und war nach einigen Jahren in ihr Heimatdorf zurückgekehrt, da sie ohne ihre Familie nicht leben mochte. Malia hingegen war die erste Freundin, die Ella hier fand. Oder genauer gesagt, war sie von Malia gefunden worden, denn kaum zwei Tage nach Ellas Ankunft und dem Abklingen des naturgemäßen Jetlags, erschien Malia in ihrer Hütte, nahm sie ohne viele Worte an die Hand und schlenderte mit ihr durchs Dorf. Sie erzählte in einem undefinierbaren Gemisch aus Englisch und Tumbuka die älteren und jüngeren Geschichten Chilas, marschierte in die halboffenen Küchen ihrer Freundinnen, die von mehreren Familien gleichzeitig genutzt wurden, und sorgte dafür, dass Ella schnell als eine von ihnen akzeptiert wurde. Malia und Ella sahen sich bald jeden Tag, und es dauerte nicht lang, da wurde aus dem Vorhaben einer kleinen australischen Gruppe von engagierten jungen Menschen ein Projekt, das immer mehr Einwohner Chilas nach ihren Möglichkeiten unterstützten.

Malia war es auch, die ihre Schwester Etta davon überzeugte, dass ihre sprachlichen Fähigkeiten unbedingt genutzt werden mussten. So wurde Etta die wichtigste Schnittstelle zu denjenigen Dorfbewohnern, die sich bis dato ignorant oder skeptisch gezeigt hatten.

Fast jeden Mittag trafen sich die drei, begutachteten die tägliche Ernte und versorgten alle hungrigen Mägen, so gut es ging, was jedoch nicht immer gelang.

Nach dem Essen ging es dann in die Hütten oder unter die Bäume, um der sengenden Hitze zu entkommen. Hier traf Ella meistens auf Lester, Sam und Jason, um über Hindernisse, Geld- und Versorgungsengpässe und deren Lösungen zu diskutieren oder um einfach ein gemeinsames Nickerchen zu machen.

So eilte Ella von einer Aufgabe zur nächsten, um am späten Abend erschöpft mit ihren Freunden im Freien zu sitzen, manchmal auch mit den Bewohnern Chilas, die sich entweder sporadisch dazugesellten oder die Abende mit ihren Traditionen dominierten. Dann gab es keine Devisen, Aufgaben und Nöte mehr, sondern nur das, was vom Tage übrig blieb.