Panikmache - Jörg Schindler - E-Book

Panikmache E-Book

Jörg Schindler

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Beschreibung

***Die Angst in Deutschland wächst. Jörg Schindler zeigt, wie wir trotz allem einen kühlen Kopf bewahren können*** Terroranschläge, Naturkatastrophen, "Islamisierung des Abendlandes", steigende Kriminalität, Inflation oder Deflation, nervöse Märkte, fallender Dax, die Super-Grippe, Gift im Essen – eine Krise jagt die nächste. Ständig werden wir mit neuen Bedrohungsszenarien konfrontiert. Wir fühlen uns immer unsicherer und wittern an allen Ecken und Enden Gefahren. Der Alarmzustand ist zum Normalzustand geworden. Dabei ist die Wahrscheinlichkeit, vom Blitz erschlagen zu werden, in Deutschland immer noch höher, als Opfer eines Terroranschlags zu werden. Und obwohl wir uns mit unserer Ernährung täglich zu vergiften meinen, werden wir so alt wie nie zuvor. In unserem Streben nach Sicherheit gehen wir den Panikmachern aus Politik und Industrie auf den Leim. Wir nehmen Einschränkungen unserer Freiheit hin und ermöglichen es staatlichen und kommerziellen Überwachern, jeden Aspekt unseres Alltags zu durchleuchten – was uns im Zweifel noch unsicherer macht. Jörg Schindler spürt den Gründen unserer Angst nach. Wer sie hat. Und wer sie macht. Er beschreibt, warum wir auch in unruhigeren Zeiten nicht panisch werden, sondern einen kühlen Kopf bewahren sollten: Weil wir sonst – mit Sicherheit – unser Leben verpassen.

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Jörg Schindler

Panikmache

Wie wir vor lauter Angst unser Leben verpassen

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Doro

Inhalt

Alarmzustand

Der Verstand glaubt stets,

dass wahr sei,

was er fürchtet.

Ovid

Es war im Advent, wenige Wochen nach den Terroranschlägen von Paris. Ich war auf dem Weg zum Büro und musste dafür an den Absperrgittern vor der französischen Botschaft in Berlin vorbei, die von einem Meer aus Blumen und Kerzen gesäumt wurden. Ich hatte das Ende des Blumenteppichs beinahe erreicht, als mir im Augenwinkel eine Frau auffiel, die sich mitten im Gewusel am Brandenburger Tor fast zeitlupenartig auf die Absperrung zu bewegte. Sie hatte die Arme vor dem Körper angewinkelt und die Augen geschlossen. Sie trug eine hellgraue Burka. In dem Moment erschrak ich. Im Bruchteil einer Sekunde lief ein Horrorfilm vor meinem inneren Auge ab, in dem ein Sprengstoffgürtel, eine Explosion und das blanke Chaos die Hauptrollen spielten. Im nächsten Moment erschrak ich wieder. Ich hatte innegehalten und beobachtete die Frau. Sie stand da und betete. Auf einem Platz, der nie stillsteht, war sie der einzige ruhende Pol. Nachdem ich sie einige Sekunden lang verstohlen angeschaut hatte, ging ich weiter. Und schämte mich.

Als ich Freunden später davon erzählte, berichteten alle von ganz ähnlichen Erlebnissen. Einem war im Flugzeug unwohl geworden, nachdem hinter ihm zwei bärtige Männer Platz genommen hatten, die offenbar Arabisch sprachen. Eine erzählte, sie habe jüngst auf dem Heimweg den U-Bahn-Waggon gewechselt, nachdem ein Mann mit einem rollenden Metallgestell zugestiegen war, auf dem sich eine klobige Kiste befand. Der Typ, meinte sie, habe irgendwie seltsam gewirkt. Ein Dritter berichtete, er habe mit seiner jungen Familie gerade erst die Urlaubsreise nach Thailand storniert. Thailand? In irgendeiner Zeitung habe er eine Meldung aufgeschnappt, dass dort ein Anschlag drohen könnte. Und mit seinem kleinen Kind sei ihm das zu unsicher.

Wohin ich auch blickte, von überallher starrte die Angst zurück. Sie prangte auf den Titelseiten aller Zeitungen und Magazine. Sie war zu Gast in fast allen Talkshows der Republik. Und sie waberte durch die sogenannten sozialen Netzwerke, in denen Menschen vieltausendfach unglaubliche Gruselgeschichten miteinander »teilten« und sich eine Art Bürgerkrieg herbeiphantasierten. Auf den Marktplätzen der Republik wurde frenetisch gejubelt, wenn davon die Rede war.

Nach Silvester wurde aus der Angst Panik. In Köln hatte angeblich ein 1000-köpfiger »Sex-Mob«, bestehend aus entfesselten arabischen Männern, gegen deutsche Frauen gewütet. Kurz darauf kursierten im ganzen Land noch mehr Meldungen, die das dumpfe Klischee vom triebgesteuerten, mordlüsternen Fremden zu bestätigen schienen. Eine furchterregender als die andere. Eine so falsch wie die andere. Aber Millionen nahmen sie für bare Münze, wie überhaupt in diesen Monaten Lüge, Gerücht und Wahrheit munter durcheinanderpurzelten. Nach Köln ploppten überall im Land – sogar in Dörfern, wo nur ein paar alte Großmütter Kopftuch tragen – »Bürgerwehren« aus dem Boden. Manche von ihnen bliesen zur Menschenjagd; alle paar Tage brannte eine Asylunterkunft. Behörden kamen nicht mehr nach mit dem Ausstellen kleiner Waffenscheine, Bürger stürmten Apotheken, um sich mit Pfefferspray einzudecken. Mancherorts waren sogar Tierabwehrsprays ausverkauft.

Irgendetwas war spätestens seit dem Sommer 2015 ins Rutschen geraten. Mit den zahllosen Hilfesuchenden aus Syrien, Irak, Eritrea, so schien es, war auch die Verunsicherung massenhaft eingewandert nach Deutschland. Oder war sie schon vorher da und durch den Treck der Elenden nur ausgelöst worden? Schnell war von einer »Flüchtlingskrise« die Rede, und gemeint war nicht etwa der Zustand der vor Fassbomben und fanatischen Halsabschneidern geflohenen Menschen, die nun zusammengepfercht in der Fremde auf eine Art Zukunft warteten. Gemeint war, dass diese Menschen uns bedrohten. Wenn man durchaus seriösen Politikern und Medien Glauben schenken konnte, würde Deutschland nicht mehr lange der steinreiche und strahlende Wirtschaftsmotor Europas sein, mit Verhältnissen, von denen andere nicht mal mehr träumen. Vielmehr sei das Land auf dem besten Weg zu einem failed state. Das ging an den Menschen nicht spurlos vorüber.

 

Ende 2015 präsentierte die »Stiftung für Zukunftsfragen« die Ergebnisse ihrer jährlichen Umfrage zum persönlichen Empfinden der Bundesbürger. 55 Prozent der Befragten gaben demnach an, »angstvoll in die Zukunft« zu blicken – das waren fast doppelt so viele wie zwei Jahre zuvor.[1] Vor allem die älteren Menschen in Deutschland zeigten sich übermäßig besorgt, aber auch unter den Jüngeren zwischen 14 und 34 Jahren frisst sich die Angst, wie es scheint, zunehmend in den Alltag. Die Forscher attestierten überrascht eine »Rückkehr der German Angst«. Drei Monate später erstarkte dann bei drei Landtagswahlen eine neue Partei, die die bundesdeutsche Gegenwart in düstersten Farben gezeichnet hatte. Viele Bürger mochten das gerne glauben. Sie hatten die Angst gewählt.

Und kann man es den Menschen verdenken? 2015 war ja tatsächlich ein Jahr, das vor lauter Krisen kaum Luft zum Atmen ließ. Terror in Paris, Terror in Syrien und Irak, Ebola in Westafrika, der Absturz einer Germanwings-Maschine, Tausende Ertrunkene im Mittelmeer, ein verheerendes Erdbeben in Nepal, der drohende Staatsbankrott in Griechenland, schwere Turbulenzen bei der Deutschen Bank, Terror in Tunesien, Hunderttausende Fliehende auf dem Weg nach Europa, brennende Asylunterkünfte in ganz Deutschland, »Islamischer Staat«, ein Abgasskandal bei VW, ein gekauftes Fußball-Sommermärchen, Terror in der Türkei, ein Attentat auf die Kölner OB-Kandidatin, noch einmal Terror in Paris, eine Art Staatsputsch in Polen, Terror in Kalifornien. Ein Jahr so voller Heimsuchungen und Schrecken wie die Bilder von Hieronymus Bosch. Und mit einer Terrorwarnung in München und einem Terroranschlag in Istanbul fing 2016 gleich spiegelbildlich an. Der Alarmzustand war ganz allmählich zum Normalzustand geworden.

Zumal sich zu den vielen globalen und bedrohlichen Gefahren in unserem Alltag anscheinend noch unzählige weitere heimtückische und unterschätzte Risiken gesellen. Gift auf dem Acker, Chemie in Lebensmitteln, Feinstaub, Weichmacher, analoge und digitale Viren, Abzocker, Einbrecher, Scharlatane, Kinderschänder. Walter Krämer, Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Universität Bochum, sammelt seit Ausbruch der BSE-Krise in Europa an seinem Lehrstuhl die »Angst der Woche« – im Lauf der Zeit ist ein bedrohliches Kompendium dabei entstanden: Es reicht von A wie »Airbag als Todesfalle« über »Benzol im Babybrei«, »Brustkrebs durch Flatrate-Trinken«, »Gefahr durch Energiesparlampen«, »Invasion stinkender Käfer«, »Krebserregende Stoffe in Babyschnullern« und »Umweltgift in Babysocken« bis Z wie »Zuckerfreie Limonade«, die der Gesundheit anscheinend ebenfalls schadet.[2]

Kein Wunder also, dass immer mehr Menschen sich und ihr Umfeld als bedroht wahrnehmen. Nicht nur in Deutschland. »Westliche Gesellschaften werden in zunehmendem Maße von einer Kultur der Angst dominiert.«[3] Die Psychologin Jean Twenge von der San Diego State University hat 269 Studien zum Angstempfinden aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts miteinander verglichen. Ihr Befund: Die Angstkurve zeigt in allen Altersgruppen nach oben.[4] Die Zahl der Menschen, die sich wegen Depressionen und Angststörungen behandeln lassen, steigt daher in westlichen Gesellschaften seit Jahren. Ebenso die Zahl der Apps, mit denen sich Ängstliche – so das Versprechen – selbst auf Knopfdruck kurieren können: Sie tragen Namen wie »Panik Ambulanz«, »Relax Melodies«, »Inner Balance« und »Worry Watch« und werden Monat für Monat tausendfach aus dem Netz heruntergeladen.

 

Und welche Ängste sind es genau, die die Deutschen in ihren schlaflosen Nächten heimsuchen? Wenig verwunderlich sind es, neben finanziellen Sorgen, vor allem unkontrollierbare Bedrohungen von außen, die den größten Schrecken verbreiten: Kriminalität, Terror und Krieg, Naturkatastrophen und der »Zuzug von Ausländern«.[1]

Aber sind das auch tatsächlich die größten Gefahren, die den Deutschen drohen? Man darf es bezweifeln. Nehmen wir die Kriminalität: Jeder vierte Deutsche hat Umfragen zufolge Angst oder sogar große Angst davor, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden.[5] Und fast die Hälfte der Bundesbürger ist felsenfest überzeugt davon, dass derartige Verbrechen von Jahr zu Jahr zunehmen. Nur, das Gegenteil ist der Fall. Beispiel Mord: Registrierte die Polizei im Jahr 2000 noch 454 Morde in Deutschland, waren es fünf Jahre später 387, weitere fünf Jahre danach 293 – und 2015 noch 281. Einen deutlichen Rückgang der Fallzahlen gab es auch bei gefährlicher Körperverletzung und Raub. Die Gesamtzahl der Gewaltverbrechen nahm von 218000 (2007) auf 181000 (2014) ab. Aber fragt man die Menschen in Deutschland, sagen sie: Das kann nicht sein. Wir lesen es doch dauernd. Wir sehen es im Fernsehen. Unsere Freunde posten es auf Facebook. Von 2014 bis 2015 sprang die Angst vor Kriminalität in einem gewaltigen Satz von 60 auf 82 Prozent, was nicht einmal ansatzweise mit einer realen Zunahme von Delikten zu erklären ist.[6]

Die gefühlte und die tatsächliche Bedrohungslage klaffen also weit auseinander, was, wie wir noch sehen werden, auch für die vermeintlich schrecklichste Heimsuchung der 21. Jahrhunderts gilt: den Terrorismus. Ja mehr noch, es gilt für den größten Teil der vermeintlichen Risiken, denen wir uns Tag für Tag schutzlos ausgeliefert fühlen.

 

Wie man es auch dreht und wendet: Wir leben in so sicheren Verhältnissen wie selten zuvor. Elend und Krieg kennen die meisten Deutschen, ja die meisten Europäer, nur noch aus Erzählungen. Zwar ist der Reichtum in unserem Land grotesk ungleich verteilt, aber in bitterster Armut leben die wenigsten, kaum jemand leidet Hunger. Unser Essen ist, allen Lebensmittelskandalen zum Trotz, so gesund wie selten zuvor. Schon lange hat keine infektiöse Krankheit – nicht einmal Aids – ähnlich verheerend in unseren Gesellschaften gewütet wie Erreger in früheren Zeiten. Die Pest zum Beispiel tötete allein in den vier Jahren zwischen 1346 und 1350 ganze Landstriche Nordeuropas. Der Grippeepidemie im Winter 1918/19 fielen weltweit mindestens 25 Millionen Menschen zum Opfer – mehr, als im gesamten Ersten Weltkrieg starben.

Bisweilen kann auch ein Blick über den Tellerrand nicht schaden. Allen vollmundigen »Millenniumszielen« der Weltgemeinschaft zum Trotz gibt es noch heute etliche Länder, in denen nahezu jedes zehnte Kind niemals zur Schule gehen wird, weil es vorher stirbt. Nach Angaben des Welternährungsprogramms haben aktuell fast 800 Millionen Menschen zu wenig zu essen – das sind zehnmal mehr als in Deutschland leben. Bis 2050, so schätzt die Organisation, werden wegen des Klimawandels weitere 24 Millionen Kinder in Armut leben, die Hälfte davon in Afrika.[7]

Verglichen damit »ist die aktuelle Empfindsamkeit gegen alles und jedes, die wir derzeit in Deutschland und anderen Industrienationen zelebrieren, ein reiner Luxus, den wir uns nur deshalb leisten können, weil wir uns um sauberes Trinkwasser, ein Dach über dem Kopf, eine im Winter geheizte Wohnung und eine Möglichkeit zum ungefährlichen Kochen unseres Essens nicht mehr sorgen müssen (…)«.[8]

 

Aber viele von uns wollen nicht wahrhaben, dass die Bedrohungen unseres Lebens seit Jahrzehnten kontinuierlich abnehmen, schon gar nicht, wenn sie selbst einen nahen Menschen an eine furchtbare Krankheit verloren oder darüber gelesen haben, wenn es in ihrem Umfeld einen Raub gab, einen Mord oder gar einen Terroranschlag. Und wimmelt es nicht in unseren Nachrichten vor aberwitzigen Todesfällen, marodierenden Mordgesellen, unwahrscheinlichen Unfällen, Katastrophen? Muss man sich nicht wappnen? Jederzeit und überall? Es scheint so. Aber es scheint eben nur so. Und das vor allem deshalb, weil wir durch die neuen Medien, die uns inzwischen bis aufs stille Örtchen verfolgen, jede Katastrophe hautnah erleben. Das schreckt uns derart, dass manche von uns sich mittlerweile wirklich ducken, wenn in China ein Sack Reis umfällt.

In der Bilderflut, die solchermaßen auf uns niederprasselt, kann man dann schnell den Überblick verlieren. Bebt in Japan die Erde und zerstört ein Atomkraftwerk, kaufen wir, 9000 Kilometer entfernt, in rauen Mengen Jodtabletten, setzen uns aber tags darauf bedenkenlos vor ein Röntgengerät oder ins Flugzeug. Stürzt ein Flugzeug ab, fahren wir anschließend sicherheitshalber Auto. Nicht ahnend oder nicht wissen wollend, dass wir uns damit einem unendlich viel größeren Risiko aussetzen. So geschehen auch nach den bis heute unfassbaren – und einzigartigen – Terroranschlägen in New York und Washington am 11. September 2001, bei denen etwa 3000 Menschen ermordet wurden. Anschließend mieden unzählige Amerikaner über viele Monate Flugzeuge und begaben sich stattdessen in den Straßenverkehr. Die Folgen hat der Psychologe Gerd Gigerenzer in seinem Buch »Risiko« eindrucksvoll beschrieben: In den zwölf Monaten nach 9/11 stieg die Zahl tödlicher Verkehrsunfälle in den Vereinigten Staaten rapide an – rund 1600 Amerikaner bezahlten ihre Entscheidung, aus Sicherheitsgründen aufs Auto umzusteigen, mit dem Leben.[9] Als 14 Jahre später ein Pilot mutwillig ein deutsches Passagierflugzeug über den französischen Alpen zum Absturz brachte, reagierten in Deutschland etliche Menschen ähnlich. Erzählte man ihnen, dass 2015 eines der sichersten Jahre in der Geschichte der Luftfahrt war, würden viele es nicht glauben.[10] »Lügenpresse« würden manche murmeln.

Die meisten von uns können offenbar nicht zwischen tatsächlichen, minimalen und aufgebauschten Risiken unterscheiden. Gigerenzer nennt das Risikoinkompetenz: »Wir fürchten den seltenen Kernkraftwerksunfall, nicht die stetige Sterberate, die die Luftverschmutzung durch Kohlekraftwerke bewirkt. Wir fürchten die Schweinegrippepandemie, nachdem mehrere zehntausend mögliche Todesfälle angekündigt wurden – zu denen es nie kam –, während nur wenige Angst davor haben, zu den Zehntausenden zu gehören, die jedes Jahr tatsächlich der normalen Grippe zum Opfer fallen.«[11]

Rund zwei Drittel von uns haben, womöglich berechtigte, Angst vor gentechnisch veränderten Lebensmitteln. Aber nur wenige sorgen sich um ihre zu fette, zu süße, zu unausgewogene Ernährung, die erwiesenermaßen der Hauptauslöser vieler sogenannter Zivilisationskrankheiten ist. Um die Legalisierung von Drogen führen wir hysterische Debatten, machen dabei aber einen weiten Bogen um Alkohol, eine Droge, die mit Sicherheit mehr Menschen getötet hat als alle illegalen Drogen zusammengenommen. Und die Angst vor Terrorismus ist allgegenwärtig, obwohl die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland Opfer eines Terroranschlags zu werden, selbst in den vom Terrorismus dominierten 15 Jahren seit 9/11 stets geringer war als die, von einem Blitz getroffen zu werden. So merkwürdig es auch klingen mag: Selbst wenn sich ein Blutbad wie jenes von Paris vom 13. November 2015 mit 130 Toten Monat für Monat in Deutschland wiederholte, würden dabei weniger Menschen sterben als die durchschnittlich 3300, die jährlich Opfer des Passivrauchens werden.

 

Aber Statistik ist das eine, das Bedrohungsgefühl etwas ganz anderes. Und so leben wir alle in einer paradoxen Wirklichkeit: »Wir sind die gesündesten, reichsten und am längsten lebenden Menschen der Geschichte. Und wir werden immer ängstlicher.«[12] Deshalb unternehmen wir zum Teil aberwitzige Anstrengungen, um jedes erdenkliche Risiko für uns und unsere Kinder zu minimieren oder besser noch zu eliminieren. Eine mögliche Gefahr auszuhalten, und sei sie noch so winzig, ist keine Option mehr. Sie muss angegangen, bekämpft, ausgelöscht werden. Wir sind eine Null-Risiko-Gesellschaft geworden, die sich auch gegen die unwahrscheinlichsten Ereignisse mit allen erdenklichen Mitteln absichern will – und die offenbar bereit ist, dafür einen hohen Preis zu zahlen.

Nach dem Absturz der Germanwings-Maschine in den französischen Alpen – fraglos eine monströse, furchterregende Tat eines psychisch Kranken – kreiste die Diskussion über Monate allein um die Frage, wie eine Wiederholung der Katastrophe ein für alle Mal auszuschließen sei. Hanebüchene Vorschläge machten die Runde, Krankenakten zu öffnen, die ärztliche Schweigepflicht zu durchlöchern, Depressive von Schalthebeln in Flugzeugen zu entfernen, am besten auch gleich in Bussen, Bahnen, Atomkraftwerken. Besonnenere Stimmen wiesen indes darauf hin, dass die Panzertür, die das Germanwings-Cockpit zur uneinnehmbaren Festung gemacht hatte, ohne das 9/11-Trauma nicht existiert hätte und dass der noch immer hochgradig unwahrscheinliche Fall eines mutwilligen Absturzes niemals zu verhindern sein werde – es sei denn, man verböte das Fliegen. Aber kaum jemand hörte hin. Zu groß war der Schock, um schlicht nichts zu tun und einfach zu trauern.

Unsere Sicherheit ist uns heilig. Weshalb wir alles dransetzen, Un-Wörter aus unserem Alltag zu entfernen: Unsicherheit, Unglück, ungewiss, unvorhersehbar. Selbst den Unfall nehmen wir nicht mehr einfach so hin. Das British Medical Journal etwa kündigte bereits vor einigen Jahren an, den Begriff nicht mehr benutzen zu wollen, schließlich seien die meisten Tragödien vorhersagbar und damit vermeidbar. »Die Verletzungen, die bei einem Hurrikan durch herumfliegende Gegenstände verursacht werden, sind demnach kein Unfall, sondern Folge des Fehlers, nicht rechtzeitig Vorsichtsmaßnahmen getroffen zu haben.«[13] So kann man es natürlich auch sehen.

 

Wie sind wir eigentlich so geworden? Kann es sein, dass zu viel Sicherheit Angst macht? »Erstaunlicherweise wächst das Sicherheitsbedürfnis mit wachsendem Wohlstand«, sagt der CDU-Politiker Norbert Blüm, der uns einst, lange ist’s her, sichere Renten versprach.[14] Aber wieso erstaunlich? Wer viel hat, hat viel zu verlieren. Deshalb ist die Angst auch ein treuer Begleiter derer, die einen gewissen Wohlstand zu verteidigen haben. Wie Bergsteiger, die bei strahlendem Sonnenschein losgezogen sind, hängen sie plötzlich ermattet am Hang, versuchen, ihr einmal erreichtes Niveau mit immer mehr Sicherungshaken zu festigen, und verfolgen zunehmend nervös die Wettervorhersagen, die eher wolkig sind als heiter. Es geht eben nicht mehr automatisch bergauf.

Und dann gibt es diejenigen, die unten zurückgelassen wurden und nun selbst sehen müssen, wo sie bleiben. Menschen, ihre Zahl wächst, die Sicherheit so ganz anders definieren als die dafür zuständigen Behörden: Für sie ist es in erster Linie die Sicherheit, nächsten Monat noch die Miete zahlen, ihre Familie ernähren, ein würdiges Leben führen zu können. Die kommt langsam, aber sicher abhanden. Sie hören vom stetigen Wachstum und erleben persönlich doch nur, dass alles schrumpft, nicht zuletzt die Zuversicht. Und gehen am Ende großen Vereinfachern und Verführern wie Pegida oder der selbsternannten »Alternative für Deutschland« auf den Leim, die sich von den Ängsten der Menschen nähren und sie deshalb immer weiter schüren.

Wobei die deutschtümelnden Populisten längst nicht die Einzigen sind, die hohes Interesse daran haben, uns bange zu machen. Angst ist Big Business. Sie verkauft sich glänzend. Das gilt für den Horrorfilm wie für die Horrorschlagzeile. Und wenn es um unsere Kinder geht, dann gilt es eigentlich immer. Angst lässt uns, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn, auch Pillen schlucken, die wir sonst niemals anrühren würden. Sie ist ein wunderbares Ruhigstellungs- und Manipulationsinstrument. Nehmen wir allein das Thema Überwachung und erinnern uns an das Jahr 1987: Damals drohte beinahe ein Volksaufstand, als in der Volkszählung ein paar lächerliche Daten über uns erhoben werden sollten. Heute begegnen wir den Überwachungsorgien privater Konzerne und staatlicher Dienste mit fröhlichem Gleichmut – solange sie unserer Sicherheit dienen. Und die ist, da kann man sicher sein, fast immer bedroht. Wir sind von Angstmachern umgeben. Was sie tun und was sie bezwecken, das ist eine der Fragen, denen sich dieses Buch widmet. Welche Rolle spielen die Medien, die in Zeiten ihrer eigenen Krise immer rigider dem Motto »If it bleeds it leads« folgen und uns deshalb pausenlos mit Katastrophen- und Schreckensbildern aus aller Welt bombardieren? Welchen Anteil an unserem Bedrohungsempfinden hat die Wirtschaft, die mit Sicherheits- und Überwachungstechnik von Geschäftsjahr zu Geschäftsjahr so überaus erfreuliche Wachstumsraten erzielt? Welchen die Sicherheitsbehörden, die, wenn es um die Ausweitung ihrer Befugnisse geht, regelmäßig zu Verunsicherungsbehörden mutieren? Welchen die Politik, die vermeintliche und tatsächliche Gefahren so virtuos in Wählerstimmen umzumünzen versteht? Wer spielt sonst noch sein Spiel mit unserer Angst? Und weshalb ist es so dringend nötig, dass wir aufgebauschte Risiken und wirkliche Gefahren besser voneinander zu unterscheiden lernen?

»Angst zeigt uns, was mit uns los ist.«[15] Sie ist ein ziemlich zuverlässiger Seismograph für tektonische Verschiebungen in Gesellschaften. Angst gab es immer, sie hat das Überleben unserer Spezies gesichert. Manchmal hat sie uns vor Schlimmerem bewahrt, manchmal Schlimmeres vorweggenommen.

Vermutlich lohnt auch deshalb ein Blick auf unsere heutigen Ängste. Vielleicht hilft uns das zu verstehen, warum wir uns so unheimlich geworden sind.

Teil I:Wohlstandsängste

1. Mein Haus – wie der Spruch »My home is my castle« allmählich Wirklichkeit wird

Im Hallenstadion zu Zürich blicken an diesem Nachmittag Hunderte Augen auf die Menschen herab. Sie registrieren jede einzelne Bewegung. Sie sind eingebaut in Schwenk- und Neigekameras, in wetter- und feuerfeste Kameras, in Bullet-, Box- und Fixdomekameras, in wenige analoge und viele digitale Kameras. Sie liefern zum Teil gestochen scharfe Bilder an die Monitore, die in vier Messehallen verteilt sind. Auf der »Sicherheit 2015« kann man sich selbst nicht entkommen.

Es ist bereits die 20. Leistungsschau der Security-Branche in der Schweizer Metropole. 200 Aussteller, 10000 Besucher, die Geschäfte laufen gut. Sie laufen immer besser. Die Anbieter strotzen vor Selbstbewusstsein. Siemens hat einen Katalog, dick wie ein Telefonbuch, angeschleppt, belegt einen Gutteil von Halle 3 und zeigt dort in Computersimulationen, wie sich ein einfaches Haus flugs in einen Hochsicherheitstrakt verwandeln lässt. Hier ein paar Boden- und Radarsensoren, da ein Mikrowellenbewegungsmelder, dazu Lichtschranken, Laserscanner, Kameras – fertig ist die Festung. Telenot präsentiert ein Holzklötzchenhaus mit Sicherheitsgurt: »Genießen Sie Ihr Leben. Wir passen auf.« Es blinkt, surrt und vibriert in Zürich, Rauchmelder melden Rauch, Feuermelder Feuer, Aussteller schlürfen Nudeln von Plastiktellern und plaudern über effiziente Schließsysteme. Fichet-Bauche hat mit dem schwarz-silbernen »Nevo« ein Gedicht von einem Safe mitgebracht und weiß: »Security has never been more beautiful.« Und wer vor lauter Zäunen das Haus nicht sieht, der ist sicher, dass nichts passieren kann.

Deswegen lachen auch überall junge, hübsche Frauen. So wie »Aurelia«, Mutter von drei Kindern, die augenzwinkernd gesteht: »In schlaflosen Nächten hatte ich mir schon überlegt, unseren Hamster zum Kampfhund zu dressieren.« Bis sie die Schließanlagen von Glutz entdeckte, seither ist alles gut. Leider ist »Aurelia« nicht echt. Wie auch die anderen entspannten Frauen und die knopfäugigen Kinder im Hallenstadion nur zweidimensional in Erscheinung treten, die Wirklichkeit in Zürich ist eine Männerwelt mit mehr als 50 Schattierungen von Grau.

Und in dieser Welt lauern Gefahren überall. Irgendwo hat einer eine Glasscheibe zertrümmert, irgendwo dringt eine sinistre Gestalt in ein Eigenheim ein, irgendwo überfällt eine Gang einen Laden, irgendwo fackelt einer Kisten ab. Aber nie besonders lange. Für jeden Angriff gibt es hier eine Abwehr. Für jedes Problem eine Lösung, die nicht einfach nur gut, sondern meistens »intelligent« ist. So wie die Venenbiometrie, die einem im Handumdrehen die Wohnungstür öffnet, sofern es die eigene Hand ist, und die das nächste große Ding der Verschlussbranche werden soll. Der gute alte Stacheldraht dagegen, den die Firma Wyss etwas verschämt am hinteren Hallenende präsentiert, spielt offenbar nur noch eine Nebenrolle. Wer es mit seiner Sicherheit ernst meint, setzt auf Hightech im Überfluss. Es ist, als spazierte man durch den feuchten Traum eines Despoten.

Alarmzustände

Messen wie die in Zürich, die nicht einmal zu den größten ihrer Art gehört, gibt es inzwischen mehrmals pro Woche. Allein in Deutschland präsentiert sich die Anti-Angst-Branche Dutzende Male im Jahr. Die Nachfrage ist gewaltig – sie steigt quasi im Gleichschritt mit dem Bedrohungsgefühl der Bevölkerung. Ein Wachstum, das so krisensicher ist wie kaum ein anderes.

Ende 2015 fühlte das Meinungsforschungsinstitut YouGov den Deutschen den Puls und kam zum Ergebnis, dass sich das Sicherheitsempfinden mit Blick auf Kriminalität in mehr als der Hälfte der Bevölkerung binnen eines Jahres verschlechtert oder sogar stark verschlechtert hatte[16]. Fast jeder Sechste gab an, inzwischen regelmäßig mit Pfefferspray, Taschenmesser und Schreckschusspistole unterwegs zu sein, um sich gegen etwaige Angreifer zur Wehr setzen zu können. Zehn Prozent teilten mit, sie hätten zu Hause bereits eine Alarmanlage installiert, weitere 20 Prozent kündigten an, das noch machen zu wollen.

Ein Entschluss, bei dem auch die Bundesregierung etwas nachgeholfen haben dürfte: Im Herbst 2015 hatte die große Koalition beschlossen, Bürgern beim Einbau von Alarmanlagen großmütig unter die Arme zu greifen. Wer sein Eigenheim oder seine Wohnung für mindestens 2000 Euro hochrüstet und etwa Videokameras, Einbruchmelder oder Zutrittssteuerungssysteme installiert, darf sich künftig über staatliche Zuschüsse in Höhe von 200 bis 1500 Euro freuen.[2] Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) stellte zudem in Aussicht, dass Privatiers den Ausbau ihrer Heimstatt zum Sicherheitstrakt fortan von der Steuer absetzen können sollten.

Der Großmut der Regierung erklärt sich mit einem Blick auf die Statistik. Anders als viele andere Delikte nimmt die Zahl der polizeilich registrierten Wohnungseinbrüche seit 2008 kontinuierlich zu, 2014 waren es rund 152000, ein Jahr später 167000 – ein neuer Rekord. Politiker und Medien schlachteten die »horrende Zunahme« sogleich aus und rechneten genussvoll vor, dass alle drei Minuten irgendwo in Deutschland eingebrochen werde. Was so allerdings nicht stimmt. In die jährlich veröffentlichte Zahl werden nämlich auch erfolglos gebliebene Einbruchsversuche eingerechnet, sie machen – auch wegen immer besser überwachter Häuser – inzwischen rund 40 Prozent aus. »Erfolgreich« im Sinne der Täter verliefen 2015 also etwas mehr als 100000 Einbrüche, bei rund 40 Millionen Haushalten in Deutschland heißt das: In eine von 400 Wohnungen drangen im Laufe dieses Jahres Diebe ein. Zahllose Bundesbürger verwandeln ihr Zuhause dennoch mit ungeheurem Aufwand in Sicherheitszonen. Das auch deshalb, weil Sicherheitspolitiker bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor marodierenden Einbrecherbanden aus dem Ausland warnen und sie auf dünner Datenbasis neuerdings der Organisierten Kriminalität zurechnen. Dieselben Sicherheitspolitiker sparen allerdings seit Jahren die Länderpolizeien klein, weshalb die ohnehin grotesk niedrige Aufklärungsquote in diesem Feld noch weiter gesunken ist. Insofern ist es nur folgerichtig, wenn immer mehr Bürger auf Nummer Sicher gehen und den Schutz ihrer Privatsphäre in die eigene Hand nehmen.[3]

Allein der Markt für Überwachungskameras – im öffentlichen wie im privaten Raum – wächst seit Jahren ohne nennenswertes Zutun der Anbieter. Keiner hat all die Linsen gezählt, die inzwischen rund um die Uhr auf unbescholtene Bürger gerichtet sind. Aber mindestens eine halbe Million sind es schätzungsweise schon jetzt. Das ist noch nichts im Vergleich zum Videoweltmeister Großbritannien, das sich selbst mit fünf bis sechs Millionen Kameras überwacht. Aber Deutschland holt auf, und das ist genau das, was Deutschlands Bürger sich wünschen: Anfang 2016 ergab eine Infratest-Dimap-Umfrage, dass 82 Prozent der Menschen gerne noch mehr Videoüberwachungsanlagen im Land sähen.

Der private RüstungsWettlauf

Und das alles wirklich nur, um vor Einbrechern sicher zu sein? Es ist mehr als das, glaubt der Soziologe Zygmunt Bauman. Tatsächlich nähmen immer mehr Menschen eine »gespenstische Unsicherheit der allgemeinen Lebensbedingungen« wahr, denen sie sich weitgehend machtlos ausgeliefert fühlten. Diejenigen, die es sich leisten könnten, die »globalen Eliten«, versuchten wenigstens, sich mit Hilfe der »Haute Couture der Sicherheitsindustrie« schadlos zu halten.[17] Der Glaube an die wehrhafte Demokratie insgesamt sei erschüttert, meint auch der Politologe und Schriftsteller Johano Strasser. Sukzessive trete an ihre Stelle daher »eine wehrhafte Privatsphäre mit Alarmanlage und gut sortiertem Waffenschrank«.[18]

Das Misstrauen, das so in unseren Alltag sickert, gilt allem und jedem. Dem Nachbarn, dem Kollegen, dem Fremden sowieso. Man panzert sich deshalb, zu Hause, im Büro und auch auf dem Weg dorthin. Fitnessstudios können sich vor dem großen Andrang kaum noch retten, Kampfsportarten wie Thai- und Kickboxen sind in Mode wie nie. Auch »Mixed Martial Arts« erfreut sich wachsender Beliebtheit – ein brutaler Fight, bei dem auch noch getreten und gehauen werden darf, wenn der Gegner längst auf dem Boden liegt. Es ist ein, nun ja, Sport, der perfekt in eine Zeit passt, in der die Hemmungen allmählich fallen. In der Öffentlichkeit helfen Smartphone und Selfiestick, unangenehme, ja eigentlich alle Begegnungen mit Fremden zu vermeiden. Was auch für rollende Trutzburgen namens SUV gilt, mit deren Hilfe man im Stadtverkehr so gut wie jede Kollision unbeschadet überstehen kann. Ist es Zufall, dass sich kein anderes Fahrzeug in Deutschland mehr verkauft als die »Sports Utility Vehicles«, die in ihrer Frühversion US-Armeefahrzeugen nachempfunden wurden?[4] Vermutlich nicht: In den USA jedenfalls begann der SUV-Boom fast zeitgleich mit der erhöhten Nachfrage nach Heimalarmanlagen und dem Aufkommen ummauerter Wohngebiete, sogenannter Gated Communities.[19] Die gibt es zunehmend auch in Deutschland, wobei sich Bauherren und Architekten immer mehr Mühe geben, die abgeschotteten Anlagen, in denen die Angst unter sich bleiben kann, nicht auf den ersten Blick als solche erscheinen zu lassen. Der Begriff »Gemeinschaft« ist in diesen Fällen allerdings eher als Euphemismus zu begreifen. Tatsächlich bedeutet er »hier nichts anderes als Isolation, Separation, Schutzwälle und bewachte Tore«.[20] Die schöne Formulierung »My home is my castle« findet damit endlich zu sich selbst.

Insofern ist es nur konsequent, dass auch die Branche der Wachleute und Sicherheitskräfte einen immer größeren Teil zum Wohlstand der Gesellschaft beiträgt, mit Wachstumsraten von bis zu 80 Prozent jährlich. Rund 4000 Sicherheitsunternehmen mit fast 200000 Beschäftigten wachen inzwischen über die Deutschen – etwa doppelt so viele wie vor 20 Jahren. Und es geht weiter bergauf. 2015 jammerte der Bundesverband der Sicherheitswirtschaft auf hohem Niveau, als er öffentlich kundtat, seinen Mitgliedsunternehmen falle es immer schwerer, Personal zu finden, obwohl man aufgrund der Auftragslage mühelos 10000 neue Stellen besetzen könnte. Schon jetzt tummeln sich zahllose windige Gestalten mit Hang zu Uniformen und Waffen in der Szene, Neonazis, Hooligans und andere Schläger – was man für einen Witz halten könnte angesichts der Jobbeschreibung: Kommt ein Hooligan zur Demo, um für Ruhe zu sorgen … Nur, es ist halt kein Witz, das wurde der Öffentlichkeit spätestens klar, als rechtsextremistische Wachleute in Asylunterkünften wie in Burbach, Essen und andernorts wehrlose Menschen quälten und verprügelten. Offenbar fiel der Politik erst da auf, dass es, um Wachmann in Deutschland zu werden, weder einer nachgewiesenen Qualifikation noch einer regelmäßigen Überprüfung, ja noch nicht mal eines halbwegs makellosen Führungszeugnisses bedarf. 2015 beschloss die große Koalition, das zu ändern.

Vielleicht lässt sich das Problem aber auch auf andere Weise lösen. Etliche Firmen arbeiten schon seit längerem an Überwachungsrobotern, denen man zumindest kein rassistisches Weltbild mehr wird unterstellen können. Relativ weit in der Entwicklung ist das Start-up-Unternehmen Knightscope, es hat einen fast mannshohen weißen Kasten auf Rädern entwickelt, der wie die aufrecht stehende Spitze einer Weltraumrakete aussieht. Gestatten: K5, 130 Kilogramm schwer und ausgestattet mit der Lizenz zum Schnüffeln. Was durchaus wörtlich zu verstehen ist. Der digitale Tausendsassa überprüft nämlich unter anderem permanent die Luftqualität in seiner Umgebung und schlägt Alarm, wenn er Rauch oder Gift wittert. Er verfügt außerdem über eine 360-Grad- und eine Infrarotkamera, Ultraschall und Radar, Mikrophone und Sensoren. Er erkennt Menschen an ihrem Gesicht und Autos an ihren Kennzeichen und gleicht beides mit seiner beständig wachsenden Datenbank ab. Hält sich jemand unberechtigt in einem von K5 überwachten Wohngebiet, vor einer Schule oder in einer Shopping Mall auf, meldet der Roboter das sofort. Angeblich erkennt er sogar, wenn ein Kind in ein falsches Auto steigt. Und zu allem Überfluss ist er auch noch konkurrenzlos günstig: Sein Hersteller will K5 künftig für umgerechnet fünf Euro die Stunde an Sicherheitsbedürftige vermieten, er ist damit billiger als alle Wachleute. Dass die ihre Jobs an einen Roboter verlieren könnten, sollten sie doch auch mal positiv betrachten, findet Knightscope-Geschäftsführer William Santana – immerhin sei deren Job nicht nur »langweilig«, sondern auch »gefährlich«.[21]

Zu den Waffen

Ein paar Jährchen wird es wohl noch dauern, bis K5 und Konsorten in Deutschland ihre Runden drehen. So lange werden sich die ängstlichen Bundesbürger konventionell behelfen müssen. Und weil die Zeiten so sind, wie sie sind, spricht vieles dafür, dass sie ihre private Rüstungsspirale dabei stetig weiter nach oben drehen werden. In letzter Konsequenz heißt das dann aber auch, sich so gut wie möglich zu bewaffnen, und zwar nicht nur mit Kameras und Alarmanlagen.

2015 jedenfalls war auch das Jahr, in dem die Deutschen sich so eifrig wie schon lange nicht mehr mit Schusswaffen eindeckten. Die Verkäufe seien »deutlich nach oben« gegangen, der Absatz habe sich im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt, frohlockte der Verband Deutscher Büchsenmacher und Waffenfachhändler. Rund sechs Millionen legale Waffen in Privatbesitz gibt es schon jetzt im Land, rechnerisch kommt damit eine auf 14 Einwohner. Sie befinden sich in der Hand von etwa eineinhalb Millionen Sportschützen, 400000 Jägern, 300000 Sammlern und 900000 Menschen, die anderweitig an sie gelangten, etwa durch eine Erbschaft.

Und noch viel mehr hätten gerne eine. Da das deutsche Recht – anders als etwa das amerikanische – vergleichsweise rigide ist, ist der Weg zur Waffe jedoch lang. Weil das Bedrohungsgefühl aber offenbar so überwältigend ist, beantragen immer mehr Menschen wenigstens den sogenannten kleinen Waffenschein. Wer das Dokument erst mal besitzt, kann nach Belieben Reizgas-, Schreckschuss- und Signalwaffen mit sich herumtragen. Die sehen echten Schusswaffen nicht nur täuschend ähnlich, ihr Gebrauch kann auch zu schwersten Verletzungen führen – bei entsprechender Manipulation sogar zum Tod. Im Advent 2015 starb in Anklam ein 36-Jähriger, nachdem ein 28-Jähriger mehrfach mit einer Schreckschusspistole auf ihn geschossen hatte. Der Anlass: Der Ältere hatte dem Jüngeren ein Laptop verkauft, das offenbar defekt war.

Den kleinen Waffenschein, den neuerdings so viele meinen haben zu müssen, bekommt im Prinzip jeder, der volljährig und nicht drogenabhängig ist und keine Vorstrafen aufzuweisen hat. Aus Bayern, Brandenburg, Sachsen und anderen Bundesländern meldeten die Behörden zuletzt einen starken Anstieg der Anträge. Bundesweit sind bereits knapp 300000 kleine Waffenscheine registriert. »Deutschland rüstet auf«, wunderte sich Der Spiegel – »mit Gaspistolen, Elektroschockern, Reizgas und Teleskopschlagstöcken und gegen eine offenbar zunehmende Angst«.[22]

Aber wird Deutschland dadurch auch sicherer? Und wann ist sicher eigentlich sicher genug? Reicht ein Zusatzschloss gegen gewiefte Einbrecher? Oder sollte es nicht doch eine zusätzliche Mauer sein? Reicht ein Kneebag für die Kniegelenke, um neben dem Airbag Unfälle zu vermeiden? Was ist mit den Hüften und den Händen? Reicht es, Schneeballwerfen auf dem Schulhof zu verbieten? Oder ist nicht jedes Kinderspiel potentiell gefährlich? Und wenn wieder irgendwo in Europa ein Anschlag passiert: Reicht es, Wachleute in Behörden zu postieren, um dort gegebenenfalls Taschen zu kontrollieren? Was ist mit Kinos, U-Bahnen, Kindergärten, Einkaufszentren?

Das ist das Tückische am Bedrohungsgefühl: Es ist ein Formwandler und kann an jedem Ort in unterschiedlicher Gestalt auftauchen. Es ist der kleine Cousin der Paranoia.

Und was immer wir in ihrem Namen unternehmen, es reicht niemals aus, sagt der Politologe Herfried Münkler: »Je eingemauerter oder eingezäunter eine Gemeinschaft ist, desto bedrohlicher und feindlicher wird für sie die Welt außerhalb, was zu einem weiter wachsenden Sicherheitsbedürfnis führt, noch höheren Mauern, noch größerem Misstrauen gegenüber Fremden etc.«[23]

Die Sicherheitsindustrie und ihre Helfer werden es gerne hören.

2. Mein Körper – weshalb wir uns selbst zur letzten sicheren Bastion machen

Im März 2015 schrieb Angelina Jolie in der New York Times bewegende Zeilen über sich selbst. In ihrem ausführlichen »Tagebuch einer Operation«[24] ließ die Schauspielerin die Öffentlichkeit wissen, dass sie sich die Eierstöcke und die Eileiter hatte entfernen lassen, um ihr Krebsrisiko zu senken. Wenige Wochen zuvor hatte ein Routinetest einige überhöhte Blutwerte ergeben, normalerweise kein Anlass zu akuter Besorgnis. Jolie jedoch weiß seit einigen Jahren, dass sie eine Genmutation namens BRCA1 in sich trägt. Frauen mit diesem Defekt bekommen mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 60 Prozent Brustkrebs, das Risiko, an Eierstockkrebs zu erkranken, liegt bei 20 bis 50 Prozent. Zu hoch, entschied Jolie, und begab sich in die Hand von Chirurgen.

»Ich habe meine Mutter, meine Großmutter und eine Tante an den Krebs« verloren, schrieb sie nun also in der Times. Daher dieser radikale Schritt. Mit der Operation habe sie das Risiko, an Krebs zu erkranken, zwar nur gesenkt, nicht aus der Welt geschafft. Aber »ich weiß, dass meine Kinder nie werden sagen müssen: Mama ist an Eierstockkrebs gestorben«.

Das Echo war gewaltig. Wie schon zwei Jahre zuvor lobten Frauen und Ärzte weltweit Jolie für ihren »Mut« und ihre »Stärke«. Damals, 2013, hatte sie sich aus denselben Gründen bereits beide Brüste entfernen und durch Silikonimplantate ersetzen lassen und ihr Brustkrebsrisiko damit angeblich von 87 auf fünf Prozent gesenkt. In der Folge wurden auch in Deutschland Kliniken und Krankenhäuser von verunsicherten Frauen überrannt. Vielen mussten Ärzte Operationen regelrecht ausreden. Der Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft sah sich zu einer langen Stellungnahme gezwungen: Gentests wie jener, dem sich Jolie unterzogen hatte, ließen keine belastbare Vorhersage darüber zu, ob und wann eine Frau an Brust- oder Eierstockkrebs erkranke; es sei unklar, ob mit derartigen Operationen die Lebensdauer verlängert werden könne, vielmehr drohten »medizinische Probleme von erheblicher Tragweite«.[25]

Dagegen stand Jolies Diktum: »Das Leben birgt viele Herausforderungen. Diejenigen, die uns unnötigerweise Angst machen, sollten wir angehen und kontrollieren.«[26]

Nun ist die Entscheidung eines Menschen, zur Vermeidung eines größeren Risikos ein vermeintlich kleineres in Kauf zu nehmen, nicht zu kritisieren. Jolies ungewöhnlich offener Umgang mit ihrer Krankengeschichte lädt jedoch zu einigen Gedankenspielen ein. Stellen wir uns vor, die Ärzte, die sie behandelten – und die sich zu so bemerkenswert präzisen Wahrscheinlichkeitsangaben in der Lage sahen –, hätten das Risiko einer Brustkrebserkrankung auf 50 Prozent taxiert. Und das Restrisiko nach einer Operation auf 25 Prozent. Wäre dann das eine zu wenig gewesen, um sich übermäßig zu sorgen, und das andere zu hoch, um deswegen eine derartige Tortur über sich ergehen zu lassen? Welches Risiko ist klein genug, um es zu ertragen?

Stellen wir uns weiter vor, Jolies Gendefekt würde nicht die Wahrscheinlichkeit für Brust-, sondern für Zungenkrebs erhöhen und eine vorsorgliche Entfernung der Zunge das Risiko drastisch senken. Wie wäre dann die Entscheidung ausgefallen? Hätte sie sich operieren lassen, wissend, dass sie damit mutmaßlich das Ende ihrer Schauspielerkarriere besiegelt? Und ist die Frage überhaupt mit Hilfe von Statistik zu beantworten?

Welche der »vielen Herausforderungen«, die unser Leben bereithält, ertragen wir einfach so, welche sollten wir versuchen zu vermeiden? Ist nicht das Leben als solches eine Art russisches Roulette? Gespickt mit derart vielen Gefahren, dass man es nur mit ganz viel Vorsicht riskieren kann? Und wenn wir jedes einzelne Risiko exakt vermessen und gegebenenfalls beschneiden könnten – sollten wir das wollen?

Von der Unverträglichkeit