Stadt - Land - Überfluss - Jörg Schindler - E-Book

Stadt - Land - Überfluss E-Book

Jörg Schindler

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Beschreibung

Es ist verblüffend, wir waren noch nie so frei und individuell und selbstbestimmt. Noch nie stand uns eine größere Auswahl an Arbeits- und Lebensentwürfen zur Verfügung. Und selten waren wir so gestresst und frustriert. Egal, welche Arbeit wir haben: Sie macht keinen Spaß. Egal, wie viel Geld wir haben: Es reicht nicht aus. Egal, wie viel Zeit wir sparen: Sie ist zu knapp. Egal, wie groß die Auswahl ist: Sie macht uns nicht glücklicher. Aber es geht auch anders. Jörg Schindler erzählt von Menschen, die nach- und umgedacht haben: ungewöhnliche Geschichten aus unserem Land des Überflusses. Immer billiger: Essen Immer schöner: Körperkult Immer kränker: Medizin Immer mehr: Arbeit Immer weiter: Reisen Immer teurer: Fußball Immer schwerer: Autos Immer alles: Shoppen Immer atemloser: Kommunikation Immer schneller: Alltag

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Jörg Schindler

Stadt - Land - Überfluss

Warum wir weniger brauchen als wir haben

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]EinleitungImmer billiger: EssenWie wir ein Land erschaffen haben, in dem Milch und Honig verrottenWie man Satte hungrig machtHitler, Brandt, Mandela: Finde den Vegetarier!Das Comeback der KrüppelImmer schöner: KörperkultWie wir unseren Körper zum Ersatzteillager gemacht habenDer Trend zum Entengesicht»Körperhass ist ein westlicher Exportschlager«Die Frankenstein-MethodeVon der Abschaffung des MenschenImmer kränker: MedizinWie die Unheilkunde zu einem profitablen Wirtschaftszweig wurdeIm Land der KrankmacherDie wundersame GallenvermehrungWie man Patienten von den Bäumen schütteltDes Wahnsinns fette BeuteMenschlichkeit als MedizinImmer mehr: ArbeitWieso wir uns »Minderleister« und andere Faulenzer einfach nicht mehr leisten könnenNicht wir haben Arbeit – die Arbeit hat unsDie Erfindung der Bullshit-JobsKein Platz für »Sozialfälle«Die gedopte BelegschaftEs ist ein Genie!Die GlückssucherImmer weiter: ReisenWarum wir andauernd unterwegs sind, aber nie wirklich wegNormbürger im NormhotelAlles in einem BootDie Entdeckung der GenügsamkeitImmer teurer: FußballWie aus einem Sport für die Massen ein Geschäft ohne Maß wurdeErst kommt das Siegen, dann die MoralModerner SklavenmarktDie Schere zwischen Arm und ReichElf Pfründen müsst ihr seinVom Wert des schönen SpielsImmer schwerer: AutosWarum uns unsere Stehzeuge heilig sindWie aus dem »Mini« ein »Maxi« wurdeDer ewige Frühling der Autobauer»Weil es Spaß macht«Immer alles: ShoppenWieso wir nicht nur George Clooney jeden Mist abkaufen würdenDie wundersame Welt der KloschüsselnVon der Ausweitung der KaufzoneKaufen – ein KinderspielDer Kapsel-CoupEin Pfund gutes Gewissen, bitteEinfach lebenImmer atemloser: KommunikationWarum uns eine Stunde ohne Handy beinahe um den Verstand bringtIm Netz verheddertIch poste, also bin ichWie man laufend neue Probleme erfindetSüchtig nach »Likes«Bin ich schon draußen?Immer schneller: AlltagWarum wir immer mehr Zeit sparen – und immer weniger habenAm Ende der ZeitKurz vorm ZeitinfarktLangsam, aber sicherSchlussDankeLiteratur

»Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.«

Paracelsus

Einleitung

»Wir werden immer maßloser. Immer größere Autos, immer weiter fort in den Urlaub. Etwas mehr natürliche Bescheidenheit würde uns gut tun.«

Uli Hoeneß

Neulich war ich mit meiner Frau in der Eisdiele. Wir hatten es etwas eilig, glücklicherweise war die Schlange nicht allzu lang. Es hat dann trotzdem ein bisschen länger gedauert. Vor uns war eine Mutter mit ihren zwei Kindern dran, vielleicht acht und vier Jahre alt.

»Schau mal, Jonas, die haben auch Butterkeks, das magst du doch«, sagte die Frau zu ihrem Jüngsten.

»Öh …«, machte das Kind.

»Oder lieber Schlumpfeis? Und guck mal: Nutella!«

»Hmmpfff …«, machte das Kind.

»Dann nehmen wir jetzt einmal Butterkeks und einmal Schlumpf«, sagte die Mutter.

»Nein!«, schrie da das Kind, »drei!!!«

Es folgte eine längere Diskussion über das gesundheitliche Für und Wider großer Eismengen, die Vorzüge von Keksstückchen in cremigen Bällchen und mögliche Sanktionen bei fortgesetztem Trotz, die schließlich in einen Kompromiss aus zwei Kugeln mit bunten Streuseln mündete. Als sie über den Tresen gereicht waren, schaute das Kind trotzdem etwas bedröppelt. »Will aber Schokolade!«, rief es im Weggehen. Der Rest verhallte weitgehend ungehört.

Ich muss gestehen: Mir geht es gelegentlich wie Jonas, ich kann mich einfach nicht entscheiden. Als wir vor acht Jahren in unser Viertel zogen, gab es im Umkreis von einem Kilometer genau eine Eisdiele, sie muss so um die 15 Sorten angeboten haben, ich glaube, die exotischste war Tiramisu. Heute hat jede zweite Straße im Kiez einen Eisdealer, die wollen auch leben, klar – wahrscheinlich überbieten sie sich deshalb von Sommer zu Sommer mit lustigeren Sorten. Gerade erst habe ich Litschi-Sauerrahm, Weiße Schokolade-Ingwer und Ziegenmilch-Erdbeere probiert. An Gurke-Zimt, Avocado-Chilli und Guinness habe ich mich noch nicht so recht rangetraut, wahrscheinlich bin ich altmodisch, aber ich finde, Eis sollte etwas Süßes sein. Komischerweise kann ich fast nirgendwo mehr Malaga entdecken. Egal, habe ich eh nie gemocht. Ich hasse Rosinen.

Manche der Läden gleich um die Ecke haben inzwischen 40 Sorten im Angebot. Gleichzeitig. Drüben in Westberlin soll es sogar eine Diele mit 99 Geschmäckern geben. Wobei ich vermute, dass da auch ordentlich Auswahl für Diabetiker und Veganer dabei ist, ein bisschen was mit Sojamilch und das eine oder andere Laktosefreie. Aber trotzdem, 99 Sorten, das ist schon ein Wort. Dafür reicht nicht mal ein ausgiebiger Sommer. Die Kugeln sind nämlich auch stetig größer geworden, leider bin ich heute immer schon nach zweien pappsatt. Zumal man jetzt ja meistens auch den Becher vertilgen kann. Er besteht aus irgendetwas Essbarem. Vermutlich sogar bio. Ich weiß nicht, wie es anderswo ist – aber ich glaube, eismäßig sind wir in Berlin ganz gut aufgestellt.

 

Manchmal beschleicht mich jedoch ein etwas komisches Gefühl. Würden wir etwas vermissen, wenn es, sagen wir: nur 30 Sorten gäbe? Wer denkt sich die anderen alle aus? Und wieso? Gibt es Menschen, die im Herbst zum Eismann gehen und sagen: Du, ich hätte nächste Saison gerne ein Eis aus 70-prozentiger ecuadorianischer Schokolade und einem Hauch mexikanischer Jalapeños? Wer weiß.

Bitte, ich gönne jedem seine Rosinen, aber ganz ehrlich: Mich überfordert das Angebot bisweilen. Zumal es ja nicht nur beim Eis immer weiter zunimmt. Schauen Sie in den Supermarkt. Glücklicherweise haben wir kein Haustier. Aber ich vermute, bis ich bei Kaufland oder Rewe die 20 Meter Hunde-, Katzen-, Hamsterfutter abgeschritten, die Preise verglichen, die Nährstoffe begriffen und die Auswahl getroffen hätte, wäre zu Hause mein Pudel verhungert. Und wenn nicht alles täuscht, bauen die jedes Jahr einen Meter an. Keine Ahnung, wieso. Machen uns 24 Anti-Schuppen-Shampoos glücklicher als 23? Ich habe meine Zweifel.

Trotzdem eröffnen in den Innenstädten immer mehr und immer schickere Kaufhäuser. In denen wir immer mehr Sachen kaufen. Im Schnitt besitzt jeder von uns inzwischen 10000 Dinge. Das ist schön. Nur: Die Hälfte davon liegt, einmal angeschafft, ungenutzt und unbeguckt in der Gegend herum. Dinge, die nicht gebraucht werden, aber Platz brauchen. Weshalb auch unsere Wohnungen seit Jahrzehnten immer größer werden. Und damit teurer. Weswegen wir wiederum mehr arbeiten müssen, damit wir sie uns leisten können. In diesen Wohnungen leben wir zwar immer häufiger allein, das macht aber nichts, weil es so viele andere schöne Ablenkungen gibt. In unseren Wohn- und Schlafzimmern zum Beispiel beglücken uns gewaltige Flachbildschirme rund um die Uhr mit mehreren hundert Kanälen.

Unsere Autos werden auch immer größer. Was irgendwie komisch ist. Weil ja doch der Platz in den Städten immer enger wird. Wollen wir das von den Autobauern? Oder wollen die Autobauer das von uns? Und macht das einen Unterschied? Wir reisen immer öfter, weil es so schön billig und bequem ist. Aber die Reisen selbst werden immer kürzer, weil wir nicht die Zeit und die Ruhe haben, uns weit weg von allem zu entspannen. Weit weg sind wir ohnehin nie, unsere digitalen Fenster in die Welt haben wir immer bei uns, so dass wir stets und überall wissen, was unsere Freunde gerade machen, die auch immer zahlreicher werden, seit sie über einen Klick jederzeit Verbindung mit uns aufnehmen können.

Und was fürs Haben gilt, gilt auch fürs Wissen und fürs Können. Ständig sind wir dabei, uns fortzubilden und zu optimieren. Wir trimmen unseren Geist, um in einer stetig komplexer werdenden Arbeitswelt bestehen zu können. Wir hetzen durch die Schule und stehen danach vor der Frage, für welchen der inzwischen 16000 Studiengänge wir uns einschreiben sollen. Die Möglichkeiten sind nahezu unendlich: An deutschen Universitäten kann man »Accessoire Design« und »Accounting, Auditing and Taxation« studieren, »Advanced Functional Materials«, »Adventuremanagement«, »Agrobiotechnology«, »Air Quality Control« und »Ambient Assistant Living« – und das ist nur ein winziger Bruchteil der Fächer mit A. Dass kaum jemand so recht weiß, was das ist, ist nicht weiter schlimm. Es wird schon einen Markt dafür geben.

Genauso wie es einen Markt für uns selbst gibt. Deswegen modulieren wir pausenlos unseren Körper, damit er den gephotoshopten Ikonen aus der Werbung ähnelt. Dafür legen wir uns sogar immer häufiger unters Messer und lassen uns schön operieren. Koste es, was es wolle. Als sei unser Organismus nur eines von den Dingen, die gelegentlich ein Update benötigen.

Kurzum: Alles wird immer mehr. Aber heißt das auch, dass zwangsläufig immer alles besser wird?

 

Niemand bestreitet die Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum dort, wo Mangel herrscht, wo Menschen nichts zu essen, kein Dach überm Kopf und kein Geld für die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse haben. Was aber ist mit Gesellschaften, in denen die große Mehrheit bereits alles hat? Und das mehrfach? Zumindest im statistischen Durchschnitt?

Die Länder Westeuropas und Nordamerikas haben seit den 1950er Jahren einen historisch beispiellosen Aufschwung erlebt. Zwar waren die dortigen Volkswirtschaften bereits seit Beginn der Industrialisierung kontinuierlich gewachsen, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg ging es plötzlich steil bergauf – und zwar für Sieger wie für Besiegte. Eine schlüssige Erklärung dafür lieferte der Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth Galbraith bereits 1958 in seinem Buch Gesellschaft im Überfluß: Nach dem großen Gemetzel verfügten demnach alle Industrieländer über eine gewaltige, plötzlich nutzlos gewordene Kriegsmaschinerie, die nun schleunigst umgewidmet werden musste, um die Einkommen und Arbeitsplätze von hunderten Millionen Menschen zu sichern. Aus der Kriegsmaschine wurde eine Konsummaschine, die Bedürfnisse weckte, von denen Otto Normalverbraucher nicht einmal geahnt hatte, dass er sie je haben würde. Der Plan ging auf und verschaffte den betreffenden Ländern binnen kürzester Zeit einen exorbitanten Lebensstandard. Von dem eine kleine Minderheit zwar sehr viel mehr profitierte als die große Mehrheit. Aber immerhin.

Die Sache, warnte Galbraith, habe jedoch einen Haken. Oder besser: zwei. Zum einen treibe die unablässige Produktion von mehr oder weniger nutzlosen Gütern den Staat allmählich in die Armut, weil dieser immer mehr Mittel und Ressourcen an den privaten Sektor verliere. Wichtige Investitionen in Infrastruktur, Kindergärten, Krankenhäuser, Schulen würden so für die öffentliche Hand unbezahlbar. Zum anderen mache die Bedürfnisweckungs-Industrie die Menschen allmählich zu wunschlos unglücklichen Konsum-Junkies, die vor allem eines wollten: immer mehr. »Wäre es so«, schrieb Galbraith, »daß ein Mensch jeden Morgen beim Aufstehen von Dämonen überfallen wird, die ihm eine unbezwingliche Gier einmal nach Seidenhemden, ein anderes Mal nach Küchengeräten, dann wieder nach Nachttöpfen oder nach Orangensaft einflößten, dann hätte man gewiß allen Grund, den Bestrebungen Beifall zu spenden, die darauf abzielen, geeignete Güter, mögen sie noch so wunderlich sein, herzustellen, um diese verzehrende Leidenschaft zu stillen. Wäre es aber so, daß seine Gier nur deshalb erwacht ist, weil er selbst zuerst die Dämonen herangezüchtet hat, und sollte sich außerdem herausstellen, daß seine Bemühungen, die Gier zu stillen, die Dämonen nur zu immer lebhafterer Aktivität anspornten, dann müßte man sich doch wohl fragen, was nun die vernünftigste Lösung sei. Der Mensch, der nicht durch konventionelle Auffassung beeinflußt ist, wird sich fragen: Mehr Waren oder weniger Dämonen?«[2]

Knapp 60 Jahre später lässt sich sagen: Die Sache ist entschieden. Habgier galt mal als Todsünde. Heute ist sie leider geil.

 

Morgen viel – übermorgen mehr. Wachstum ist für die meisten von uns derart selbstverständlich, dass wir überhaupt nicht mehr darüber nachdenken, ob es auch anders sein könnte und wie dieses andere dann aussähe. Alles wächst, und das ist gut so. Allein die Menge macht’s – ein Wort im Übrigen, das vom althochdeutschen »manic« abstammt und heute noch im Englischen gebräuchlich ist. Dort bedeutet es: verrückt.

Nach und nach hat sich das Diktat des Immer-höher, Immer-schneller, Immer-weiter in alle unsere Lebensbereiche gefräst, selbst in solche, die mit gesundem Menschenverstand nie und nimmer einer Gewinn-und-Verlust-Logik unterliegen dürften. »Vor dreißig Jahren waren wir noch weit davon entfernt, Gesundheit, Ausbildung, öffentliche Sicherheit, Strafvollzug, Umweltschutz, Freizeit, Fortpflanzung und andere gesellschaftliche Güter über die Märkte zuzuteilen«, sagt der Philosoph Michael Sandel. »Heute halten wir das weitgehend für selbstverständlich«.[3] Wohin aber eine Logik führt, in der nicht vitale Bedürfnisse und sachliche Notwendigkeiten dominieren, sondern allein der Wunsch nach Gewinnmaximierung, lässt sich nicht nur in unserem Finanzsystem, sondern beispielsweise auch in unseren Krankenhäusern beobachten: Wenn Knie- und Rückenoperationen in dem Maße zunehmen, in dem sie den Kliniken bares Geld garantieren, ist das der Offenbarungseid der Medizin.

Welchem Zweck die ständige Maximierung dient, ist dabei gar nicht mehr die Frage. Ein bisschen haben ist gut. Mehr haben ist besser. Mehr, vor allem, als die anderen. Das muss als innerer Kompass reichen. Alles ist Wettbewerb, von dem die einen mangels materieller Basis ausgeschlossen sind, während die anderen sich besinnungslos mästen. Aber was war noch gleich der Hauptgewinn?

Wir alle verhielten uns wie Wanderer, die auf dem Weg in eine Stadt seien, schreiben Robert & Edward Skidelsky in ihrem Buch Wie viel ist genug?: »Unterwegs verirren sie sich, doch sie gehen weiter, nun allein von dem Ziel getrieben, vor dem anderen zu bleiben und nur ja nicht ins Hintertreffen zu geraten. (…) Der Positionskampf wird zu unserem Los und Schicksal. Wenn es keinen richtigen Platz gibt, dann ist der beste Platz der an der Spitze«.[4]

Ein solches Rennen ohne Ziellinie ist auf Dauer zermürbend, wird aber von kaum jemandem in Frage gestellt. Schon gar nicht von der Politik. Im Bundestagswahlkampf 2013 setzten alle etablierten Parteien auf den Fetisch Wachstum. Sogar die Linke und die Grünen, die das mal ganz anders sahen. Noch Ende der 1980er Jahre stand im Wahlprogramm der einstigen Ökopartei, es komme »entscheidend darauf an, den Glauben an ungebrochenes Wirtschaftswachstum zu bekämpfen«. Heute hält das ein Urgrüner wie Ralf Fücks für lustfeindlichen Humbug, er propagiert statt dessen landauf, landab »nachhaltiges Wachstum«. Also alles weiter wie bisher – nur grüner und sauberer. Es gebe eben nicht nur Grenzen des Wachstums, glaubt Fücks, »sondern eine ständige Erweiterung dieser Grenzen«.[5] So ähnlich würde sich wohl auch ein unverbesserlicher Optimist anhören, der vom Hochhaus fällt und vor jedem Stockwerk, an dem er vorbeikommt, denkt: Bis hierhin ging es gut.

 

Und so wächst alles immer weiter. Das Bruttosozialprodukt und die Wirtschaft, die Gehälter der Dax-Vorstände, das private Vermögen und sogar die Boni der Banker, die nach einer bedauerlichen Delle nach dem Jahr 2008 das Vorkrisenniveau längst wieder erreicht haben. Die Autos und die Straßen, auf denen sie fahren. Die Städte und die höchsten Gebäude. Der Fußballzirkus und andere sportliche Großereignisse. Die Telekommunikation, die sozialen Netzwerke, die Schar unserer digitalen Freunde sowie die weltweite Informations- und Datenmenge. Die Bildschirmdiagonale, die Kartoffelchips-Marken mit unterschiedlichen Geschmäckern. Und natürlich die Eissorten.

Blöderweise wächst halt aber auch noch etwas anderes: die Zahl der prekär Beschäftigten, der Multijobber und der überschuldeten Privathaushalte. Staus, Luftverschmutzung und Lärm. Der Energieverbrauch, beispielsweise für sportliche Großereignisse wie die Fußball-WM im Wüstenstaat Katar. Mobbing und Aggression in Internetforen. Die weltweite Informations- und Datenmenge, die von Privatkonzernen und Geheimdiensten abgeschöpft wird. Der Ressourcenverbrauch und die gerodete oder versiegelte Fläche. Fettleibigkeit, Allergien und andere Unverträglichkeiten im täglichen Leben.

Vor allem aber wächst in Wachstumsgesellschaften eines: die Unzufriedenheit. Es ist verblüffend, wir waren noch nie so frei und individuell und selbstbestimmt. Noch nie stand uns eine größere Auswahl an Arbeits- und Lebensentwürfen zur Verfügung. Und selten waren wir so gestresst und frustriert. Egal, welche Arbeit wir haben: Sie macht keinen Spaß. Egal, wie viel Geld wir haben: Es reicht nicht aus. Egal, wie viel Zeit wir sparen: Sie ist zu knapp. Egal, wie groß die Auswahl ist: Sie macht uns nicht glücklicher. Den materiellen Mangel, der lange unsere Geschichte bestimmte, haben wir überwunden. An seine Stelle aber ist »eine neue Form von Mangel« getreten – der »Mangel an Sinn, an Zweck, an Nutzen«.[6] Folglich gibt es noch etwas, das stetig wächst: Depressionen und andere so genannte Zivilisationskrankheiten. Zufall ist das nicht. Tatsächlich leiden Menschen, die Besitz mit Glück verwechseln, häufiger als andere an psychischen Störungen, prägen mehr körperliche Stresssymptome aus, haben schlechtere Sozialkontakte und werden sogar signifikant häufiger kriminell.[7]

Dabei ist die Sehnsucht nach Veränderung groß. In einer aktuellen Umfrage gaben zwei Drittel der Deutschen an, dass sie gerne ihrer beruflichen Lage entkommen würden; 42 Prozent der Befragten würden gerne den Wohnort wechseln und immerhin noch 38 Prozent ihre private oder familiäre Situation verbessern.[8] Auf der Suche nach Sinn und neuer Einfachheit pilgern seit Jahren Hunderttausende, ob gläubig oder nicht, auf dem Jakobsweg. Das Wandern ist neuerdings des Städters Lust. Der neue Sehnsuchtsort der Deutschen ist die Provinz. Dort suchen sie Übersicht statt Überforderung. Ruhe statt Hektik. Land statt Überfluss. Das aber vor allem in der Theorie. Würden all die Millionen, die Zeitschriften wie Landlust oder Landidee verschlingen, ernst machen, wäre es in Frankfurt, Dresden oder Berlin bald ziemlich einsam. Tatsächlich ertragen die meisten weiter missmutig ihren Alltag und träumen bestenfalls davon, nicht aufzuwachen – weil ihnen die Fähigkeit zu mutigeren Träumen in Jahrzehnten des besinnungslosen Besitzanhäufens abhanden gekommen ist.

Und weil die Besitzstandswahrer die zaghaft aufkeimende Erzählung vom Weniger konsequent in eine schaurige Moritat verwandeln. Wer Verzicht predige, so wollen sie uns weismachen, der empfehle Sackleinen als Modetrend, Steckrübensuppe als Haute Cuisine und die Pferdekutsche als SUV. Der wolle zurück ins Mittelalter und habe nichts begriffen von den Zwängen der Globalisierung. Wer Wachstum mutwillig bremse, riskiere schimmlige Kindergärten, Schlaglöcher so groß wie ein Smart, Verteilungskämpfe, am Ende gar soziale Unruhen. Der wolle Nordkorea statt Wirtschaftswunderland. Es sind die üblichen Argumente, mit denen Systemprofiteure schon immer Systemkritik gekontert haben – Ende der 1970er Jahre klangen sie zum Beispiel so: »Atomkraftgegner überwintern bei Dunkelheit mit kalten Hintern«. Manche von denen, die so dichteten, stemmen heute putzmunter die Energiewende.

 

Verzicht, sagt der US-Psychologe Peter Walsh, bedeute eben nicht zwangsläufig Einschränkung, Askese, Begrenzung. »Weniger« bedeute vielmehr: »weniger Dinge, die uns belasten, weniger Stress, weniger Sorgen, weniger Abhängigkeit, weniger Frustration. Dafür aber mehr Freiheit, zu tun, was wir wirklich wollen, mehr Einfachheit, mehr Entspannung«.[9]

Worauf verzichtet man und warum, und was gewinnt man, wenn man freiwillig verliert? Das ist die Frage.

Den Menschen, die darauf eine überzeugende Antwort gefunden haben, widmet sich dieses Buch. Es sind Menschen aus völlig unterschiedlichen Bereichen: Ärzte und Künstler, Studenten und Vereinspräsidenten, Designer, Ingenieure, Banker. Sie alle haben früher oder später damit begonnen, sich bewusst einer Logik des Immer-mehr zu verweigern, ohne innerlich zu emigrieren oder ein mönchisches Leben am Rand der Gesellschaft zu führen. Sie sind weiter mittendrin, meistens erfolgreich und ziemlich zufrieden. Sie alle eint, wenn man so will, ein gerüttelt Maß an »natürlicher Bescheidenheit«, das uns allen gut täte. Besser vielleicht als immer nur die Wahl zu haben zwischen Gurke-Zimt und Litschi-Sauerrahm.

Immer billiger: Essen

Wie wir ein Land erschaffen haben, in dem Milch und Honig verrotten

»Viele Menschen haben das Essen verlernt. Sie können nur noch schlucken.«

Paul Bocuse

In der Kreuzberger Markthalle 9 stehen gelegentlich Krüppel zum Verkauf. Wann immer Tanja Krakowski und Lea Brumsack in der britisch anmutenden Halle im Herzen Berlins auftauchen, bringen sie Ungetüme von Brandenburger Äckern mit. Fünfbeinige Möhren, verbogene Pastinaken, verkümmerte Rote Bete, grotesk verdrehte Zucchini, verbeulte, verwachsene Kartoffeln. Es ist ein Bild des Jammers. Aber nicht für die beiden jungen Berlinerinnen. »Ich finde, unser Gemüse hat Charme«, sagt Krakowski. Ihre Kunden finden das offenbar auch. Wann immer die warzigen Wurzeln in der Markthalle 9 auftauchen, stoßen sie unterm hippen Großstadtvolk auf dankbare Abnehmer. Damit war nicht unbedingt zu rechnen.

Die Idee, mit Krüppeln ihren Lebensunterhalt zu verdienen, kam Tanja Krakowski, als sie Produktdesign studierte. So sehr sie sich auch mühte, es leuchtete ihr nie recht ein, warum sie beruflich noch mehr Sachen herstellen sollte, die zwar schön aussehen, die aber die Welt nicht braucht – während lebensnotwendige Dinge ausgesondert werden, nur weil sie vermeintlich hässlich sind. Nicht normgerechtes Gemüse zum Beispiel. Krakowski, 1975 in Franken geboren, erinnert sich noch gut an die Obstläden ihrer Kindheit, in denen angeditschte Äpfel und schrumpelige Kartoffeln selbstverständlich zum Sortiment gehörten. »Wo sind die alle hin?«, fragte sie sich irgendwann, lernte mit Staunen, dass abnormes Gemüse heute meist gar nicht mehr die Äcker verlässt – und kam so zum Thema ihrer Abschlussarbeit: »Culinary Misfits – Verschwendung, Esskultur und der Verlust von Wertschätzung«.

Es sei doch Wahnsinn, sagt Krakowski, dass Essen weggeschmissen werde, weil es bestimmten Schönheitskriterien nicht entspreche. Eine Gesellschaft, die auf der Suche nach Perfektion schon Karotten aussondere, sei wahrhaft entwurzelt. Je mehr die Berlinerin sich mit dem Thema beschäftigte, desto mehr packte sie die Wut. Im November 2011 schnappte sie sich einen Fahrradanhänger, belud ihn mit bizarren aussortierten Möhren von einem Teltower Bauern, radelte in die Markthalle 9, die gerade frisch eröffnet worden war, und postierte sich direkt vor dem Aldi-Markt, der neben all den kleinen Regionalständen ein seltsames Schattendasein fristet. »Esst Misfits!«, hatte Krakowski zuvor noch auf ihre braunen Gemüsetüten gestempelt. Dann verhökerte sie die Krüppel-Karotten für 1 Euro das Kilo, um zu demonstrieren, »dass auch Weggeworfenes einen Wert hat«.

Es sollte eine einmalige Aktion werden, doch dann passierte etwas Erstaunliches: Etliche Marktbesucher rissen Krakowski das Zeug aus den Händen, und das nicht nur wegen des Preises. Viele, sagt die Designerin, hätten sich daran erinnert, dass sie die verbogenen, verwunschenen, lustig verdrehten Dinger früher selber in Omas Garten geerntet hätten. »Die meisten haben über die Jahre die krummen Karotten vergessen.« So ergaben sich plötzlich Gespräche, Krakowski erklärte ihre Motivation, die Leute hörten zu und ermunterten sie weiterzumachen. Und als es Samstagnachmittag war, ahnte Tanja Krakowski, dass sie wohl noch häufiger Karotten retten würde.

Da traf es sich gut, dass an jenem Herbsttag auch Lea Brumsack in Kreuzberg vorbeischaute. Die beiden kannten sich bereits aus dem Studium, auch Brumsack hatte ihre Abschlussarbeit dem Essen gewidmet. Ihr Thema: Die absurden Entfernungen, die Lebensmittel bisweilen überbrücken, bevor sie auf dem Teller des Verbrauchers landen. »18250« lautete der Titel von Brumsacks Arbeit, das ist die Strecke, die zum Beispiel Bio-Spinat aus Neuseeland zurücklegt, bis er rund um den Münchner Gärtnerplatz oder in Hamburg-Eppendorf von grün angehauchten Müttern für den nachhaltigen Nachwuchs gekauft wird. Auch das: ein Wahnsinn.

Ein paar Wochen dauerte es danach noch, bis Brumsack und Krakowski sich dazu entschlossen, das »Culinary Misfits«-Konzept weiter auszuprobieren. Im März 2012 folgte die nächste Aktion in der Markthalle. Diesmal kneteten sie bis in die Nacht aus alten Brotresten Semmelknödel, die sie tags darauf mit krummem Pastinaken-Guglhupf und Krüppel-Karotten-Gemüse verkauften. Danach ging es Schlag auf Schlag. Im Mai gründeten die beiden Frauen »Culinary Misfits« offiziell als Gesellschaft bürgerlichen Rechts, dann suchten sie sich Bauern im Berliner Umland, die froh waren, ihre wertlose Ausschussware loszuwerden. Es folgten Anfragen zu Caterings, weitere Aktionen in der Markthalle, Kooperationen mit Läden der Bio-Company, wo die beiden unterm Motto »Schräge Schätze« regelmäßig Suppen ausschenken.

Nach und nach eigneten sich Tanja Krakowski und Lea Brumsack so eine gewisse Meisterschaft im Umgang mit kulinarischen Sonderlingen an. Ihre pummeligen Beteküchlein, knolligen Wurzel-Quiches und grotesken Kreationen aus Blauen Schweden oder Bamberger Hörnchen – zwei von vielen vergessenen Kartoffelsorten – genießen in einer wachsenden Fangemeinde inzwischen Kultstatus. Ihre marinierten Möhrchenspieße sind gleichermaßen Gaumen- wie Augenschmaus – man traut sich fast nicht, in zwei sich umarmende Wurzelkerlchen hineinzubeißen. »Karotten«, sagt Krakowski, »können sehr sexy sein.«

Es gehöre zum Konzept, so die Wurzelfrau, das nicht normgerechte Gemüse auch mal im Urzustand zu zeigen. Die Leute sollen daran erinnert werden, dass kerzengerade Pastinaken und perfekt kreisrunde Kohlrabi eben nicht der Normalfall der Natur seien. »Wir haben uns innerhalb von gerade mal 40, 50 Jahren so weit vom Ursprung unseres Essens entfernt, dass wir nicht mehr wissen, wo es herkommt, wie es aussieht und was für eine Mühe es kostet, es herzustellen.« Deshalb versuchen Brumsack und Krakowski auch wirklich alles, was sie vom Bauern kriegen, zu verwerten. Kein Mensch wisse heute doch mehr, dass die Blätter vom Kohlrabi nahrhafter seien als die Knolle selbst. Niemand esse Radieschenblätter, dabei lasse sich daraus ein wunderbares Pesto machen. »Ist es nicht seltsam, dass wir uns heute mit lauter Sachen zufriedengeben, die nach nichts schmecken – Hauptsache, sie sehen gut aus?«

Und natürlich kommt bei »Culinary Misfits« nur auf den Tisch, was gerade Saison hat. Was die Deutschen beim Thema Spargel inzwischen zu einem fast kultischen Ritus überhöht haben – eine zehnwöchige Schälschlacht mit hohem Genussfaktor –, das ist für Krakowski und Brumsack auch für Tomaten, Erdbeeren und alles andere selbstverständlich: alles zu seiner Zeit. Im Herbst wird eingekocht und eingeweckt. So kommt das junge Unternehmen über den Winter.

Dass »Culinary Misfits« überhaupt schon zwei Jahre lang durchhält, und das nicht einmal schlecht, ist für Tanja Krakowski noch immer ein mittleres Wunder. Sie würde gerne glauben, dass langsam, ganz langsam ein Bewusstseinswandel in dieser satten Wohlstandsgesellschaft einsetzt. Aber sicher ist sie sich nicht. Einmal war sie mit Kindern draußen auf dem Land bei der Pfirsich-Ernte. Und während alle Kleinen auf die Bäume kraxelten, versuchte Krakowski ihnen zu erklären, dass die besten Früchte diejenigen auf dem Boden seien. Sie seien reif und deshalb runtergefallen. »Ist doch eklig«, antworteten die Kinder und angelten nach den makellosen Exemplaren an den oberen Ästen. Nicht nur deswegen glaubt Krakowski: »Es ist noch ein langer Weg, die Leute zu ändern.«

Wie man Satte hungrig macht

Die Deutschen und ihr Essen, das ist seit Jahrzehnten eine traurige Geschichte. Kein anderes Volk in Europa legt so wenig Wert auf Genuss, Qualität und Vielfalt. Nur noch wenig mehr als zehn Prozent seines Nettoeinkommens gibt der Durchschnittsdeutsche für Nahrungsmittel aus – nebenan in Frankreich ist es fast doppelt so viel. Zwischen Rhein und Oder aber zählt allein die Maxime »billig und schnell«. Nicht von ungefähr haben die Discount-Kraken Aldi und Lidl ihren Siegeszug um die Welt von Deutschland aus gestartet. Weil aber in den Augen des Verbrauchers nichts wert ist, was (fast) nichts kostet, landen hier Jahr für Jahr unfassbare Mengen an Lebensmitteln auf dem Müll, mit verheerenden Folgen für Umwelt, Klima, Tiere – und andere Menschen.

Nach Angaben der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen werden in Deutschland jährlich elf Millionen Tonnen Lebensmittel weggeschmissen. Jeder zweite Kopfsalat verrottet, Millionen Würstchen und Schinkenscheiben vergammeln, jedes fünfte Brot wird unverkauft entsorgt. Mit den 500000 Tonnen Brot, die im Jahr vernichtet werden, könnte rechnerisch der gesamte Bedarf von Niedersachsen gedeckt werden. Etliche Großbäckereien sind längst dazu übergegangen, ihre Öfen mit alten Brötchen zu heizen.

82 Kilogramm Lebensmittel pro Jahr schmeißt jeder Bundesbürger im Schnitt achtlos weg. Türmte man das alles auf, ließe sich damit die größte Kirche des Landes, der Kölner Dom, dreimal bis unters Dach füllen. Fast 1000 Euro könnte ein durchschnittlicher Vier-Personen-Haushalt im Jahr sparen, ginge er weniger verschwenderisch mit Lebensmitteln um. Aber wieso sollte er, wenn alles so schön billig und jederzeit verfügbar ist?

Die Deutschen spielen in der Champions League der Verschwender ganz vorne mit. Europäer und Nordamerikaner vollbringen gemeinsam das Kunststück, zehnmal mehr Lebensmittel wegzuschmeißen als Afrikaner oder Asiaten. Im Sommer 2013 legte die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) in ihrem Report »Food Wastage Footprint« kaum glaubliche Zahlen vor. Weltweit landen demnach 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel jährlich auf dem Müll. Mehr als ein Viertel des weltweiten Ackerlandes wird genutzt, um Nahrung zu produzieren, die nie gegessen wird; die direkten finanziellen Einbußen belaufen sich auf 565 Milliarden Euro – das entspricht in etwa dem Bruttonationaleinkommen der Niederlande. Sämtliche weltweit entsorgten Fische und Meeresfrüchte noch nicht eingerechnet.[10]

Gemeinsam mit einer anderen Zahl ergibt das einen in aller Regel konsequent ignorierten Skandal: Während der reiche Teil der Menschheit Brot und Wurst in ganz großem Stil für die Mülltonne produziert, leiden 900 Millionen Menschen Hunger.

Die Verschwendung setzt dabei an allen Gliedern der Nahrungskette an. Gigantische Mengen an Getreide und Gemüse werden in Deutschland allein zu dem Zweck geerntet, anschließend wieder untergepflügt zu werden. Die Schätzungen klaffen weit auseinander: Während etliche Bauern angeben, dass mehr als ein Drittel ihrer Ernte nicht in den Handel gelangt, präsentierte die damalige Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) im Mai 2013 eine scheinbar akkurate Studie. Demnach verrotten auf deutschen Äckern 3,3 Prozent des geernteten Weizens, fünf Prozent der Kartoffeln, elf Prozent der Tafeläpfel und 4,2 Prozent der Speisemöhren. Schuld seien vor allem Krankheiten und Parasiten. Die Verluste, so die traditionell industriefreundliche Ministerin, »bewegen sich auf einem relativ niedrigen Niveau«.[11] Was Aigner verschwieg: Ein erheblicher Teil der produzierten Lebensmittel wird zusätzlich allein deshalb entsorgt, weil er nicht den Vorstellungen der den Markt beherrschenden Supermarktketten entspricht. Es handelt sich um die krummen Gurken und vielbeinigen Möhren, die Tanja Krakowski und Lea Brumsack mit ihrem »Culinary Misfits«-Konzept vor der Vernichtung bewahren.

Die Bürokraten der Europäischen Union sind hierfür – anders, als viele glauben – nur noch zum Teil verantwortlich. Im Jahr 2009 strichen sie ihre berüchtigte Gerade-Gurken-Verordnung und weitere Vermarktungsnormen für 25 Obst- und Gemüsesorten. Für die elf meistverkauften Sorten allerdings existieren nach wie vor bis ins kleinste Detail gehende Vorschriften. So regelt etwa die Vermarktungsnorm für Erdbeeren, dass diese mindestens 18 Millimeter groß sein müssen und maximal »leichte Formfehler« aufweisen dürfen; der Kelch muss dran, der Stiel frisch und grün sein, eine kleine weiße Stelle ist zulässig, aber nur, »wenn sie ein Zehntel der Fruchtoberfläche nicht überschreitet«. Dazu muss der Inhalt jedes Packstücks »gleichmäßig«, bei der Extraklasse sogar »besonders gleichmäßig« sein. Die Erdbeere ist durchreguliert. Nur nach Erdbeere muss sie nicht schmecken, die Verordnung schreibt lediglich vor, dass ihr kein »fremder Geschmack« anhaften darf. Nach nichts zu schmecken – so wie die winterlichen Erdbeer-Mutanten aus den Gewächshäusern Südeuropas – ist dagegen in Ordnung.

Bei Gurken und Karotten hält sich die EU, wie gesagt, inzwischen raus. Trotzdem sucht man in Deutschlands Supermärkten vergeblich nach krummen oder mehrbeinigen Dingern. Wieso? Weil der Kunde die schöne gute Ware bevorzuge, heißt es unisono bei den Handelsketten. Nur: Der Kunde ist diesbezüglich gar nicht gefragt worden. Tatsächlich verträgt sich das natürliche Wachstum von Gemüse nicht mit dem industriellen Verarbeitungsprozess. Verbeulte Kartoffeln passen nicht in moderne Schälmaschinen, krumme Zucchini lassen sich nicht anständig in genormten Kästen stapeln. Was trotzdem vorschriftswidrig wächst, wird entsorgt. Jede große Handelskette hat inzwischen ihre ganz eigenen Normen zu Form, Farbe und Größe von Gemüse. Die Bauern treibt das zunehmend in die Verzweiflung.

Dummerweise fallen als Abnehmer heute auch Bioläden und -supermärkte weg. Noch bis in die 1990er Jahre waren die Alternativläden mit dem Hippieflair so etwas wie Asylunterkünfte für vieläugige Äpfel, Schrumpelkartoffeln und andere Sonderlinge aus dem Erdreich. Aber das ist lange her. Inzwischen sind manche Bioläden zu mehrstöckigen Gourmet-Tempeln mutiert, in denen es zur Hochglanz-Paprikaschote das gute Gewissen gratis gibt. Biobauern wie Peter Stinshoff aus Obergrasdorf kommen aus dem Wundern gar nicht mehr raus: »Als wir vor 20 Jahren anfingen, war ein Biosalat nur ein Biosalat, wenn auch ordentlich Läuse und Schnecken drin waren. Da war es für unsere Kunden ganz normal, dass das Biogemüse nicht makellos war. Heute haben wir die umgekehrte Situation. Bio wird als Premiumprodukt vermarktet, und der Kunde denkt sich: Wenn ich schon so viel für einen Biosalat bezahle, dann muss der auch perfekt sein«.[12] Bei Salat, sagt Stinshoff, könne der Ausschuss auch mal einhundert Prozent betragen. Er pflügt ihn dann eben wieder unter.

Dazu kommt: Weil wir es längst für selbstverständlich halten, dass alles jederzeit verfügbar ist, existiert ein gigantisches, weltumspannendes Logistiknetz, das Sternfrüchte aus Vietnam oder Mangos aus dem Wüstenstaat Israel Stunden nach der Ernte in unsere Einkaufskörbe zaubert. Der Haken bei der Sache: Auf dem Weg um die halbe Welt geht locker ein Drittel der leicht verderblichen Ware unwiederbringlich verloren. Das Obst wird beim Lkw-Transport zerquetscht, in Hafenanlagen schlecht oder gar nicht gekühlt, durch chemische Dämpfe verunreinigt, durch Dreck und Feuchtigkeit ungenießbar oder beim Umladen am Zielort beschädigt. Nur die Besten kommen durch.

Wie schön, dass sich in unseren Supermärkten die Regale trotzdem unter der Last makelloser Frischware biegen. Und weil das Zeug so herrlich billig ist, nehmen wir es eben mit. Es wird schon wegkommen. »Das sorgfältig arrangierte Überangebot verführt uns, mehr zu kaufen, als wir letztendlich verarbeiten können«, schreibt der Food-Aktivist Valentin Thurn in seinem Buch Die Essensvernichter.[13] Der wahre Grund für die paradiesische Fülle unterm Neonlicht sei dabei mitnichten der immer wieder behauptete Kundenwunsch, »sondern der Fetisch einer Überlegenheit der kapitalistischen Konsumwelt«.[14] Rationierte Orangen, halbleere Regale und Zonen-Gabis Traum von der Banane: das war der dunkle Osten. Die neue Zeit, das sind: Kumquats, Physalis und andere Köstlichkeiten aus dem Fremdwörterlexikon, Papayas per Easyjet und Drachenfrüchte, bis der Arzt kommt. Ob es schmeckt oder nicht? Egal, Hauptsache, es ist da. Michael Gerling, Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband des deutschen Lebensmittelhandels, bringt die Sache auf den Punkt: »Wenn wir historisch zurückblicken in die 1960er Jahre, da mussten wir hungrige Menschen satt machen. Heute leben wir im Überfluss und müssen satte Menschen hungrig machen«.[15]

Man darf sagen: Das gelingt den Konzernen ganz gut. Und das nicht nur mit ihrem Frischwaren-Angebot. In keinem Land der Welt verfügt der Lebensmittelhandel über mehr Verkaufsfläche pro Kunde als in Deutschland. Fünf Meter Salzgebäck, zehn Meter Süßigkeiten, zwanzig Meter Wurst und Käse – daran muss man erst mal vorbeikommen. Überall im Supermarkt lungern die kleinen Verführer. Was heißt klein? Obwohl es immer mehr Single-Haushalte gibt, werden die Packungen immer größer. XL, XXL, kauf zwei und nimm ein drittes gratis. Also kaufen wir und essen. Und wenn wir ehrlich sind: Es sind dann doch mehr Hüftsteaks und Chips als Kumquats und Physalis. Gesunde Ernährung ist nicht so unsere Sache. Sie soll auch nicht so unsere Sache sein.

Es ist kein Zufall, dass die großen Lebensmittelkonzerne in aller Regel zu fettige und zu süße Waren überall großflächig bewerben – und nicht etwa Äpfel, Birnen oder Sellerie. Die Gewinnmargen bei den mit Zucker und Fett vollgepfropften Nahrungsmitteln sind um ein Vielfaches höher. Damit niemand so genau mitbekommt, wie viel Fett und Zucker selbst in von Natur aus salzigen Produkten steckt, wehrt sich die Industrie seit Jahren in einer heldenhaften Lobbyschlacht gegen eine Kennzeichnungspflicht, die so genannte Lebensmittelampel. Auf dem Weg, satte Menschen hungrig zu machen, wäre jede leicht verständliche Information einfach nur lästig.

Die Verführungskunst der Konzerne strebt so allmählich der Vollendung entgegen: Anfang 2013 meldete das Verbraucherschutzministerium, dass 67 Prozent der deutschen Männer und 53 Prozent der deutschen Frauen übergewichtig sind. Jedes fünfte Kind gilt mittlerweile als dick, das sind 50 Prozent mehr als noch in den 1990er Jahren. 6,3 Prozent der Jungen und Mädchen sind gar fettleibig. Tendenz stark steigend. Die Deutschen sind damit die dicksten Europäer und das viertdickste Volk der Welt.

Hitler, Brandt, Mandela: Finde den Vegetarier!

Aber ist es nicht unsere Sache, wie wir uns ernähren, was wir essen und was wir wegschmeißen? Schon. Die Auswirkungen der westlichen Verschwendungssucht sind allerdings weltweit zu spüren. Nehmen wir das Beispiel Getreide. Seit der Jahrtausendwende reichte in einer Mehrzahl der Jahre die Weltgetreideernte nicht mehr aus, um den Bedarf der inzwischen mehr als sieben Milliarden Menschen zu decken. Nicht mal die Rekordernte 2011, als Bauern der Erde 2,29 Milliarden Tonnen Getreide abrangen, konnte die angespannte globale Ernährungssituation beschwichtigen. Rechnerisch müsste niemand hungern: Die Bauern auf der Welt produzieren aktuell täglich rund 2800 Kalorien Nahrung pro Person, 2100 würden ausreichen. Dennoch sind fast eine Milliarde Menschen chronisch unterernährt, während in Deutschland und anderen reichen Nationen Millionen Tonnen Getreide im Müll landen.

Verschärft wird die Lage dadurch, dass westliche Staaten seit Jahren immer mehr Nahrungsmittel für die Herstellung von Biosprit verwenden. 14 Prozent der Weltgetreideproduktion wanderten im Jahr 1998 in den Tank, zehn Jahre später waren es bereits knapp 19 Prozent. Und der Bedarf wächst stetig.

Weil das so ist, hat sich längst eine neue Form des Kolonialismus etabliert: Um Getreide für ihr Volk, Ölpflanzen für ihre Autos oder Kautschuk für ihre Reifen anzubauen, liefern sich zahlreiche Nationen einen zunehmend erbitterten Wettlauf um fruchtbares Ackerland auf dem Globus. So wurde etwa im Jahr 2009 bekannt, dass das sagenhaft reiche Öl-Emirat Katar in großem Stil Land im afrikanischen Kenia erworben hatte. Der bettelarme, erst seit 2011 unabhängige Südsudan soll bereits vier Millionen Hektar Ackerfläche verkauft haben – die Investoren kamen vor allem aus den Ölfördernationen Norwegen, USA und Saudi-Arabien. Seit 2001 haben nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Oxfam 227 Millionen Hektar Land auf diese Weise den Besitzer gewechselt.[16] Das Millenniums-Ziel der Vereinten Nationen, den weltweiten Hunger zu bekämpfen, verkommt somit immer mehr zur Farce.