Parallelgeschichten - Péter Nádas - E-Book

Parallelgeschichten E-Book

Péter Nádas

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Beschreibung

Zwanzig Jahre nach seinem international gefeierten «Buch der Erinnerung» legt Péter Nádas sein Opus maximum vor. Als die Parallelgeschichten 2005 in Ungarn erschienen, wurden sie als ein «Krieg und Frieden des 21. Jahrhunderts» begrüßt. 1989, im Jahr des Mauerfalls, findet der Student Döhring beim Joggen im Berliner Tiergarten eine Leiche. Mit dieser kriminalistischen Szene beginnt der Roman, eröffnet zugleich aber auch die weitgespannte Suche nach dem düsteren Geheimnis einer Familie. Es ist die Geschichte der Budapester Familie Demén und ihrer Freunde, deren persönliche Schicksale mit der ungarischen und deutschen Vergangenheit verknüpft werden. Die historischen Markierungen sind die ungarische Revolution 1956, die nachrevolutionäre Zeit, der ungarische Nationalfeiertag am 15. März 1961 und, rückblickend, die Deportation der ungarischen Juden 1944/45 und die Vorkriegszeit der dreißiger Jahre in Berlin. Der Roman entwirft ein Panorama europäischer Geschichte, in einer überwältigenden Fülle von Geschichten, die keine realistische Konstruktion zu einer Story vereinen könnte. Die eine große Metaerzählung des Romans jedoch bilden die Geschichten der Körper, die für Nádas zum Schauplatz der Ereignisse werden. Der männliche und weibliche Körper und seine Sexualität prägen die Lebenswirklichkeit der Personen, sie sind das «glühende Magma», das «in der Tiefe ihrer Seele oder ihres Geistes ruhende Zündmaterial», das die «Parallelgeschichten» zur Explosion bringt. Aufgrund seines analytischen Scharfblicks und der Kraft seiner Personengestaltung stellt die internationale Kritik Péter Nádas neben Proust. Wenn dessen großer Roman am Beginn einer literarischen Moderne steht, dann mag diese in den «Parallelgeschichten» ihre Vollendung finden.

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Seitenzahl: 2434

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Péter Nádas

Parallelgeschichten

Roman

Aus dem Ungarischen von Christina Viragh

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

PARALLELGESCHICHTENIch beeile mich ...Es ist mir ...ERSTES BUCHVatermordDer Schöpfer hat es bestimmt so gewolltEin herrschaftliches HausIsoldes LiebestodesliedJeder in seinem eigenen DunkelDer echte LeistikowDöhrings Traum geht weiterNu féminin en mouvementIm Zauberspiegel sich selbstDurch den Eingang seines heimlichen LebensDie stillen Argumente der VernunftAber die Gräfin ...ZWEITES BUCHMargareteninselDas andere UferGruß von der eigenen ExistenzJene zweiIlonas ReishuhnEine brandneue ZivilisationAnders konnte es sich nicht austobenAmerican DreamEs reißt alles aufSie konnten es nicht vergessenIm Sommer siebenundfünfzig dannAlle Ungarn sind verlorenImprägnierte SchwellenJüngstes GerichtDRITTES BUCHAnus mundiWie ein feines UhrwerkMir bleibt keine Zeit mehrDer schöne RacheengelDiese verschreckte BefriedigungHans von WolkensteinIn diesem Haus bin ich schon gewesenDie Schlinge zieht sich zuDieser sonnengrelle SommernachmittagKaum einen Zoll voneinander entferntDie Würze des GlücksDas Fest läuft auf vollen TourenKlára holte unter ...Ein reich tragender AprikosenbaumLiebhaber seiner Schönheit
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PARALLELGESCHICHTEN

Ich beeile mich zu versichern, dass die Leserin, der Leser kein geschichtliches Werk, sondern einen Roman in der Hand hält und dass also sämtliche scheinbar der Wirklichkeit entlehnten Namen, Gestalten, Ereignisse und Situationen einzig der schriftstellerischen Phantasie entsprungen sind.

Mein Dank gilt dem Berliner Wissenschaftskolleg, insbesondere den Mitarbeiterinnen der hervorragenden Institutsbibliothek, Gudrun Rein und Gesine Bottomley, die meine Arbeit selbstlos unterstützt und mir mit Rat beigestanden haben.

Zu danken habe ich auch dem Berliner Künstlerprogramm des DAAD, das mir mehrere Arbeitsaufenthalte in Berlin ermöglicht hat.

P. N.

Es ist mir das Gleiche, woher ich ausgehe; denn dort werde ich auch ankommen.

PARMENIDES

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ERSTES BUCH

In stummen Gefilden

Vatermord

Noch in dem denkwürdigen Jahr, als die berühmte Berliner Mauer fiel, stieß man unweit der verwitterten Marmorstatue der Königin Luise auf eine Leiche. Ein paar Tage vor Weihnachten trug sich das zu.

Die Leiche war die eines gepflegten Mannes um die fünfzig, alle seine Sachen waren vom sogenannt Feinsten. Dem ersten Eindruck nach war er jemand von Ansehen, ein Bankier oder Manager. Schnee rieselte langsam, aber es war nicht so kalt, dass er liegen blieb, auf den Wegen im Park schmolz er gleich, nur an den Grashalmen hielt er sich. Die Ermittler gingen vorschriftsmäßig vor und arbeiteten wegen der Witterungsverhältnisse zügig. Sie sperrten die Umgebung ab und durchsuchten das Gelände systematisch, indem sie im Uhrzeigersinn spiralförmig nach innen vorrückten, um die Spuren zu sichern und aufzunehmen. Hinter einem aus schwarzer Plastikfolie improvisierten Sichtschutz entkleideten sie die Leiche vorsichtig, fanden aber keine Spuren von Gewalteinwirkung.

Der Tote war von einem jungen Mann entdeckt worden, der immer vor Tagesanbruch hierher zum Laufen kam. Er war der Einzige, der befragt werden konnte. Als er mit dem Laufen begonnen hatte, war es noch völlig dunkel gewesen, er lief fast jeden Tag dieselbe Strecke zur selben Zeit.

Wenn das nicht der Fall, nicht alles Routine und Gewohnheit gewesen wäre, wenn sich ihm nicht schon ein jeder Stein, ein jeder Schatten ins Gedächtnis geschrieben hätte, wäre ihm die Leiche wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Das Licht entfernter Lampen drang kaum bis hierher. Den auf der Bank liegenden, halb herabhängenden Körper habe er dennoch bemerkt, erklärte er den Polizisten aufgeregt, weil auf dem dunklen Mantel ein wenig Schnee liegen geblieben sei.

Und wie er da gleichmäßig laufe, blitze ihm etwas wie von der Seite in sein Blickfeld, sagte er viel zu laut.

Während er redete, machten sich innerhalb der Absperrung gleichzeitig mehrere Männer zu schaffen. Sie arbeiteten unter ideal zu nennenden Bedingungen, um diese Zeit hielt sich außer ihnen keine Menschenseele im Park auf, es gab keine Schaulustigen. Einer fotografierte mit Blitzlicht etwas auf dem nackten, durchweichten Boden, das zuvor schon von zwei Kriminaltechnikern ausnummeriert worden war.

Als der junge Mann zum dritten Mal mit seiner Geschichte anfing, wurde er nervös gewahr, dass bereits sämtliche Spuren markiert worden waren, und das erfüllte ihn mit einer Beklemmung, als hätte er nicht die Leiche entdeckt und Meldung erstattet, sondern als wäre er der Täter und würde jetzt mit den Indizien konfrontiert.

Es war wie eine Schneide, wobei er nicht hätte sagen können, was für eine Schneide, vielleicht eine Messerklinge oder die Kälte des Gedankens, aber das erwähnte er nicht.

Tatsächlich war sein erster Gedanke gewesen, dass er seinen eigenen Vater ermordet hatte. Wie war es denn möglich, dass er so etwas dachte, dass er den Tod dieses Menschen wünschte, das verstand er nicht und sprach es auch vor den Polizeibeamten nicht aus.

Es blieb kaum noch etwas übrig, worüber er hätte sprechen können.

Man beachtete ihn sowieso nicht weiter, die Polizisten, in Zivil und in Uniform, liefen hin und her und murmelten manchmal halblaut etwas vor sich hin oder warfen sich Sätze zu, die er nicht verstand.

Sie hielten ihn nicht länger auf, er hatte ja seine Personalien schon zweimal angegeben, und man hatte auch zu Protokoll genommen, dass er zu einer späteren Zeugenaussage bereit sei, aber er konnte sich nicht losreißen.

Um ihn herum lösten sich die Beamten ab.

Wenn er laufe, schaue er eigentlich nirgendhin, auf nichts, wiederholte er erregt seinen Bericht, er denke nichts. Psychologisch gesehen sei gerade das die Essenz des gleichmäßigen Laufens. Aber wie er nach etwa zwanzig Minuten ein zweites Mal an der Bank mit dem darauf liegenden Körper vorüberlaufe, erinnere er sich, dass Schnee nur auf einer erkalteten Leiche auf diese Art liegen bleiben kann.

Das habe er irgendwo gelesen. Und da habe er angehalten, um genauer nachzusehen.

Im Berliner Tiergarten ist wirklich schon viel geschehen, besser gesagt, es kann kaum noch etwas geschehen, das nicht schon vorgekommen wäre. Die Polizeibeamten hörten sich seinen Bericht ziemlich gleichgültig an, einer verzog sich auch gleich mit seiner Plastiktüte, um die Arbeit fortzusetzen, kurz darauf blieb ein Dritter bei ihnen stehen, den dann die anderen sich selbst überließen. Der junge Mann hingegen konnte sich nicht beruhigen. Auch diesem neuen Beamten erzählte er seine Geschichte so, als gehörten zu jeder Einzelheit weitere hundert Einzelheiten, als erheische jeder Satz eine Erklärung und als enthülle er mit jeder Erklärung ein hochbrisantes Geheimnis, während er seine eigenen Geheimnisse für sich behielt.

Er fror nicht, trotzdem zitterte er am ganzen Leib. Der Zivilbeamte bot ihm eine Decke an, er solle sie sich umlegen, aber er wies sie mit einer gereizten Handbewegung zurück, wie jemand, den der Zustand seines Körpers, ein wahrscheinlicher Schnupfen oder das täppische, peinliche Zittern, jetzt gerade nicht im Geringsten interessiert. Er hatte wohl, was einem Polizisten sicher nicht unbekannt ist, eine Art Nervenfieber. Offensichtlich war er sich auch nicht bewusst, wie er wirkte. Er machte keinen guten Eindruck, das spürte er bis zu einem gewissen Grad selbst, und es veranlasste ihn, alles noch detaillierter vorzutragen. Trotzdem musterte dieser Polizist wohlwollend, fast schon liebevoll seine aufgewühlten Züge, ja auch seine ganze Gestalt, jedes einzelne Glied, jede Geste, und er überlegte sich, ob er ihn für cholerisch oder eher für asketisch halten sollte, für überdurchschnittlich intelligent und sensibel oder eher für einen gewöhnlichen Stadtneurotiker, der sich nur mit sich selbst beschäftigt.

Wie jemand, der so ausgehungert ist nach Reden, dass er damit von jetzt bis zum nächsten Tag nicht mehr aufhören würde. Wie jemand, der noch nie irgendetwas erlebt hat, jetzt aber steckt er endlich mittendrin, jetzt kommt das große Abenteuer. Wie jemand, dem man nichts Geringeres anvertraut hat als das Geheimnis des Universums.

Er erregte Mitleid und eine gewisse Besorgnis. Am Ende konnte er nur noch mit diesem Beamten reden, den aber nahm er regelrecht in Beschlag, mit seinen fiebrigen Worten, seinen heftigen, wenn auch halbwegs beherrschten Gesten, seiner schwer einzuordnenden seelischen Struktur.

Nachdem der Polizist Körper und Kleidung des jungen Mannes systematisch mit dem Blick abgesucht hatte, erschien er ihm so durchschnittlich, dass es schwerfiel, auf seine soziale Stellung zu schließen, und deshalb erkundigte er sich, welche Universität er denn besuche, was er studiere, und fügte listig hinzu, er frage nicht berufshalber, sondern einfach so, privat. Eigentlich war er zu solchen Fragen nicht berechtigt. Nach seiner Erfahrung ließen sich aber solche sinnlosen und krankhaften Wortschwalle manchmal mit ein paar harmlosen Bemerkungen stoppen. Der Tod eines Unbekannten löst sogar bei Menschen von pyknischer Konstitution regelrechte hysterische Anfälle aus. Gleichzeitig war aber die Frage nicht rein formal gemeint, sondern es begann ihn zu interessieren, wieweit sich der junge Mann durch so eine beiläufige Frage manipulieren und von seiner Selbstverliebtheit ablenken, oder eben, wie leicht er sich einfangen ließ. Wie gefügig er war. Der Beamte gehörte zu den gründlich geschulten Fahndern, die es in der Regel vermeiden können, von einem unerwartet starken Eindruck oder von Phantasien auf eine falsche Fährte geführt zu werden, aber er hatte nicht der Versuchung widerstehen können, wenigstens mit einer provozierenden Frage ein Experiment zu starten.

Doch das richtige Maß lässt sich, sei es in der Anfangsphase der Ermittlung, die im Polizeijargon Erster Angriff heißt, oder auf dem Höhepunkt der Untersuchung, wenn die Ergebnisse zwar noch nicht feststehen, aber doch schon eine Art Bild ergeben, so oder so nicht halten. Manchmal stellte er kleine Fallen. Ermittler seines Typs schätzen die eigene Intuition doch höher ein als die allgemeinen kriminalistischen Regeln, nach denen die weniger mutigen Kollegen verfahren. Sie sind einfallsreicher, ihre Methoden haben allerdings zuweilen auch etwas Willkürliches. In der Fachsprache würde man sagen, dass sie gegenüber dem syllogistischen Verfahren dem heuristischen den Vorzug geben, was hin und wieder sogar dazu führt, dass sie die Gesetze übertreten.

Tatsächlich blieb der junge Mann unter der Wirkung der unbeteiligten Nachfrage in seinem Satz stecken; er studiere Philosophie und Psychologie, sagte er überrascht. Während er antwortete, überlegte er sich, was der Polizeibeamte wohl an ihm beobachtete oder was ihm aufgefallen war.

Hätte ich mir denken können, sagte der Beamte gleichmütig.

Was beobachtet der an seinem Hals, und was ist ihm an seinem Trikot aufgefallen, und jetzt an seiner Trainingshose.

Und darüber versiegte der Wortschwall. Als sei ihm plötzlich bewusst geworden, dass es niemanden interessierte, was immer er berichten mochte. Die Übrigen, so auch der Kommissar, beschäftigten sich mit den Details auf einer anderen Ebene, in einer anderen Tonart.

Nicht mit ihm, nicht mit seinem Bericht.

Seit einiger Zeit lief er in eng anliegenden kleinen Hosen, in gelben oder roten aus glänzendem Stoff, und der Blick des Kommissars setzte die Untersuchung jetzt an seinen Oberschenkeln fort, besonders auf seinem Geschlechtsbereich.

Was so grob war, ihn so bis ins Mark hinein traf, dass er auf den Menschen, der ihm in diesem nackten frühmorgendlichen Park gegenüberstand, endlich aufmerksam wurde, während um sie herum friedlich der Schnee rieselte. Aufmerksam auf die Lippen des Kommissars, seine Augen, seine auffällig dichten, hoch geschwungenen Brauen, auf alles, was er bisher auch schon flüchtig wahrgenommen hatte, seine Stirn, sein wirr gekräuseltes Haar, seine gutmütige Ausstrahlung. Ein Mensch, der ihn eindringlich, fast bekümmert ansah, als wisse er alles von ihm. Als unterziehe er im Rückblick und im Voraus seine verborgensten Geheimnisse einzeln einer Prüfung und täte das sogar mit Anteilnahme. Doch dem Kommissar in seiner großen Zerstreutheit war bloß in den Sinn gekommen, was er einige Tage zuvor im Wartezimmer seines Zahnarztes in irgendeinem dummen Magazin gelesen hatte, nämlich dass sich in Deutschland jedes Jahr siebzehntausend Studenten in Philosophie und zweiundzwanzigtausend in Psychologie einschreiben. Was bedeutet, dass pro Generation rund zehn Millionen mit der Mechanik des Geistes und der Seele befasst sind, mithin eine ansehnliche Anzahl, auch wenn sich ein Vielfaches mit Handel, Finanzen und Militär beschäftigt.

Der junge Mann war verstummt, er spürte, dass der Kommissar von ihm und seinen wissenschaftlichen Interessen nicht viel hielt, sein verfluchter Körper in der verschwitzten Trainingshose zitterte jedoch weiter.

Er lieferte sich aus.

Der Polizist seinerseits, rund zehn Jahre älter und mit abgeschlossenem Jurastudium, fragte in der plötzlich entstandenen Stille rasch, ob sie ihn nach Hause bringen sollten, und fügte noch rascher hinzu, sie würden das gern tun. Wenn er die Decke schon nicht wolle. Es wäre ihnen nicht recht, wenn sich der einzige Augenzeuge erkälte. Er benutzte den Plural wie einen Schild, nicht er sprach, nicht er machte dieses Angebot, sondern die Einheit. Aber es war doch nur er, der ihn hinter diesem Schutzmantel hervor durchdringend ansah. Als wären da kriminologisch gesehen verdächtige Zonen, die er erforschte. Oder als nähme er aus der beruflichen Deckung heraus den anderen Massenmenschen jetzt einmal so richtig in Augenschein.

Kein Wunder, dass der junge Mann das freundliche Angebot ablehnte.

Dieser Mann hatte unmerklich etwas mit ihm getan, ihn erfasst und eingeordnet, und war vielleicht im nächsten Augenblick zu allem fähig. Er sah eine freie Stirn, lockiges dunkles Haar, das irgendwie seinen Blick fesselte, große, volle weiche Lippen. Er musste auf der Hut sein. Mit einer einzigen Bewegung, eigentlich ziemlich ungehobelt, wies er das Angebot zurück, bloß weg hier, dachte er dabei, aber wenigstens stimmlich hatte er sich jetzt unter Kontrolle.

Er sagte, falls er noch benötigt werde, stehe er ihnen während der Festtage in keinem Fall, danach aber erneut zur Verfügung.

Das interessierte den Polizisten ganz offensichtlich nicht. Allerdings wäre ihm lieber gewesen, wenn der junge Mann das Angebot nicht zurückgewiesen hätte. Seine Personalien waren zwar aufgenommen, mit der Meldung war auch seine Stimme registriert, aber er hatte nichts dabei, um sich auszuweisen. Da kein unmittelbarer Verdacht vorlag, konnte man das auch nicht von ihm verlangen.

Er fahre morgen nach Hause, fügte der junge Mann verlegen hinzu.

Bei jedem Wort klapperten seine Zähne, er hörte es selbst.

Demnach leben Sie in Berlin, bemerkte der Ermittler rücksichtsvoll, sind aber woanders zu Hause.

Der junge Mann begriff nicht, wie einen der eigene Körper so im Stich lassen und demütigen kann.

Auch dafür hatte der Detektiv vielleicht einiges Verständnis, er bedankte sich für die äußerst wertvolle Hilfe, sie nickten sich zu.

Berlin ist nur vorübergehend mein Wohnort, sagte, auf seine Zähne achtend, der Student, als müsse er sich für so viel Verständnis doch erkenntlich erweisen.

Sie schienen sich aus irgendeinem Grund nicht voneinander lösen zu können.

Meine Eltern leben in Pfeilen, ich bin dort geboren. Allerdings etwas außerhalb der Stadt.

Eine Stadt heißt so, fragte der Polizist, und eine Weile musterten sie sich misstrauisch.

Im Westen, sagte der Student und zeigte mit dem Finger in die Richtung, Niederrhein.

Habe ich noch nie gehört, ist aber bestimmt mein Fehler.

Wir haben da von alters her einen Hof, meine Eltern wohnen aber in der Stadt. Ein unbedeutender Ort, man muss ihn nicht kennen.

Der junge Mann wollte zuvorkommend lächeln, was eher zu einem Zähnefletschen geriet.

Es war nicht auszumachen, wer von den beiden zuerst die Hand ausstreckte. Jedenfalls gaben sie sich die Hand, der Händedruck brachte sie beide gehörig in Verlegenheit.

Der Polizist stellte sich zögernd vor, Dr. Kienast.

Der Doktortitel blieb zwischen ihnen in der Luft hängen. In der Berührung der nackten Handflächen, in den gegenseitig gespürten Wölbungen lag etwas übermäßig Körperliches. Der Doktortitel hatte eher mit Heilen zu tun. Als mache der Kommissar diesbezüglich ein Versprechen. Und es führte auch dazu, dass der Kommissar aus der unabsehbaren Menschenmasse, deren unbedeutende Teile sie beide gleicherweise waren, herausgehoben wurde. Aber der junge Mann erstarrte vor solcher Vertraulichkeit vollends und erwiderte die taktvoll zurückhaltende und vielversprechende Vorstellung nicht.

Wenn es den anderen interessierte, konnte er seinen Namen ja im Protokoll nachsehen, das ein uniformierter Kollege vorhin aufgenommen hatte. Und dann, im Glauben, dass er das unterbrochene Laufen ohne weiteres fortsetzen konnte, rannte er los.

Schließlich war ja nichts geschehen.

Nach ein paar Schritten wurde er gewahr, dass er sich völlig verkalkuliert hatte. Das alles ging über seine Kräfte. Es war doch etwas Fatales geschehen, etwas, worüber er nicht leicht hinwegkommen würde. Wenn er überhaupt mit heiler Haut davonkäme. Mit seiner blöden Geschwätzigkeit hatte er alles vermasselt, warum hatte er ausgepackt, wohin er reiste, warum hatte er freiwillige Erklärungen abgegeben. Er verlangsamte den Schritt, dann aber wechselte er den Rhythmus und versuchte, seinem Davonlaufen noch größeren Schwung zu geben, doch seine Schenkel schlotterten, seine Knie zitterten, er fand keinen Atem, und vor allem spürte er im Rücken den provokanten Blick dieses elenden Polizisten.

Tatsächlich blickte der ihm lange nach, dann wies er die Techniker an, den Fußabdruck des jungen Mannes zu sichern. In den Muskeln seiner Handfläche fühlte er noch den Druck der anderen Hand, ihre Wärme klebte an der Haut, zog in die Muskelfasern hinein, höchst angenehm, auch wenn die Bewertung der Berührung zweifellos Teil der Untersuchung war. Kienast, der seine Doktorarbeit über die magische, mythische und rationale Epoche in der Geschichte der Beweisführung geschrieben hatte, galt unter den strikt wissenschaftlich und streng nach Reglement vorgehenden Kollegen als großer Phantast. Seiner Methoden wegen hätten sie ihn sogar ein wenig abschätzig betrachtet, wären da nicht seine weitgefächerte Aufmerksamkeit und sein solides Fachwissen gewesen.

Allmählich wurde es heller, aber im fernen Licht der Lampen sah man noch immer Schnee fallen.

Als hätte er in dem Händedruck des jungen Mannes eine ungeheure Kraft und zugleich ein wahnsinniges Zittern gespürt, was er nicht in Einklang bringen konnte. Der Junge war vielleicht drogensüchtig, war gerade auf Entzug, vielleicht deswegen erschienen seine Gesichtszüge so vorzeitig gealtert und verbraucht.

Er konnte die schlanke Gestalt im Schneefall zwischen den Bäumen immer noch sehen.

Hoffnungslos, sagte er sich, hätte aber nicht sagen können, auf wen oder was sich das eigentlich bezog.

Als bekäme er noch einen hoffnungslosen Fall als Zugabe. Was er der Schicksalsfügung, im nächtlichen Bereitschaftsdienst nicht abgelöst worden zu sein, zu verdanken hatte. Und als wäre das bevorstehende Weihnachtsfest nur dazu da, die Komplikationen noch zu vergrößern. Wobei sich Kienast in diesem ihm zusätzlich aufgehalsten Fall im Prinzip nur mit zwei ganz schlichten Dingen hätte beschäftigen sollen. Die Identität der unbekannten Person feststellen sowie die Möglichkeit ausschließen, dass ihr Tod durch Gewalteinwirkung verursacht worden war. Er sah voraus, dass das ganz simpel war und er es doch nicht befriedigend würde lösen können. Der Junge würde ihm irgendwie reinpfuschen. Sein anderer hoffnungsloser Fall war aufregender, mit dem war er seit mehr als zwei Monaten beschäftigt. Ein Vatermord, dessen sich anstelle der regelmäßig von ihrem Vater missbrauchten minderjährigen Tochter die Mutter anklagte.

Nach dem Nachtdienst überkam ihn oft Verzagtheit, was ihm Angst machte, nicht zu Unrecht. Seine natürliche Trägheit bahnte sich auf diese Art einen Weg. Kienast ähnelte einer großen Katze, er liebte es weich, warm und bequem.

Es würde lange dauern, bis man den Leichnam identifizieren konnte, schon weil niemand den Mann vermisste, auch nach den Festtagen nicht.

Bevor sie ihn auf Eis legten, wurde er nur gerade einer oberflächlichen pathologischen Prüfung unterzogen. Die Kriminaltechniker untersuchten auch seine Kleidung gründlich. Nach wie vor fand man weder an ihr noch an seinem Körper Spuren, die auf eine Gewalttat hinwiesen. Ganz offensichtlich war der Mann auf der Parkbank einem Herzanfall erlegen.

Auch wenn es Kienasts Aufmerksamkeit nicht entging, dass die Leiche kein einziges Kleidungsstück trug, auf dem sich ein Etikett befunden hätte. In Fällen, in denen die Feststellung der Identität Schwierigkeiten bereitet, wäre das von großem Nutzen. Nach Etiketts muss man geradezu automatisch ausschauen. Mäntel und Jacken wenden, da ist es ja aufs Futter aufgenäht. Bei Hemden und Pullovern am Kragen und am Ausschnitt suchen, bei Hosen innen am Bund. Auf Socken und Unterwäsche sind sie zuweilen aufgestickt, auf billigeren Waren meistens bloß aufgedruckt. Manchmal bringt das mehr als die sogenannte Bertillonage, die Bestimmung jener elf Körpermerkmale, die zur Identifikation dienen soll, aber meistens nichts nützt und in der Tiefe von Schubladen oder Datenbanken verschwindet. Dieser tote Mann hatte keine billigen Sachen getragen. Dr. Kienast nahm schon das dritte oder vierte Stück in Augenschein, mit übergestreiften Handschuhen zog er sie vorsichtig aus den beschrifteten Plastiktüten, und als er erneut feststellte, dass die Etiketts fehlten, zischte er vor Überraschung unwillkürlich durch die Zähne.

Er war allein in dem Saal, das einsame Zischgeräusch hallte von den Kachelwänden wider.

Denn es ist ja noch verständlich, wenn jemand die Etiketts als unangenehm bunt empfindet oder wenn sie seine Haut reizen, oder wenn es ihm ganz einfach nicht gefällt, so beschriftet zu sein, und er sie aus seinem Mantel, seinem Jackett entfernt. Und es ist auch noch akzeptabel, wenn er das Etikett von seinem Pullover oder seinem Hemd abtrennt, weil es, sagen wir, seinen Hals reibt, aber wozu in aller Welt würde er es vom Bund innen an der Hose entfernen, wo man es ja sowieso nicht sieht. Eine Manie, aber was für einen Sinn oder eine Bedeutung konnte eine solche Manie haben. Als wäre Kienast wütend auf die Person, deren Leiche hier vor ihm lag.

Was für ein Neurotiker, der alle für die Identifikation geeigneten Zeichen von seiner Kleidung verschwinden lässt. Andere beachten die Etiketts gar nicht oder mögen sie im Gegenteil gerade, weil sie auf ihre Markensachen stolz sind. Sein Denken lieferte automatisch die Antwort. Verfolgungswahn, zwanghaftes Sichverstecken, berechtigte oder ungerechtfertigte Angst, Wunsch nach Spurenlosigkeit. Spurlos unter den Menschen verschwinden. Kienast betrachtete die Leiche, betrachtete die Sachen.

Auf der verblüffend kleinen Unterhose aus einem durchsichtigen, glänzenden, fast glitzernden Stoff fand er einen ausgedehnten Spermafleck. Jedenfalls war das jemand, der Blau geliebt hatte, alle seine Sachen waren blau, hellblau, dunkelblau.

Jemand, der sich nur gerade im Blau seines Hemds ein paar weiße Streifen gestattet hatte.

Da war viel Blau, zu viel.

Ein langweiliger Mensch.

Wahrscheinlich jemand, der seine langweilige Erlesenheit nur zur Tarnung getragen hatte und in Wahrheit obsessiv und manisch gewesen war. Ein so anspruchsvoller Mensch, gepflegt, während in ihm die Leidenschaft tobt, musste unerträglich gewesen sein. An den genauso durchsichtig feinen dunkelblauen Socken ebenfalls kein Markenzeichen. Von der Naht der silbrig schimmernden, pflaumenblauen kleinen Unterhose war das Etikett hingegen so weggeschnitten, dass eine vom Waschen ausgefranste kleine Zunge geblieben war. Es war ein ganz spezielles Stück. Nur heftig fetischistische Herren tragen so etwas. Er blickte auf die Leiche, dann nahm er den beträchtlichen Spermafleck auf diesem besonderen Wäschestück näher in Augenschein. Die Folge einer ausdauernden Erektion, eines Tröpfelns oder eines kleineren Ergusses. Auf der Stoffhose würden sie auch noch nachsehen müssen. Er sah die spitze, sehr scharfe Nagelschere, die das kleine Etikett mit einem Schnitt entfernt hatte, fast vor sich.

Dieser Mensch hatte sich zwanghaft bedeckt gehalten, und wahrscheinlich war er dauernd auf sein Ende gefasst gewesen.

An seinem dünnen, knochigen Handgelenk keine Spur einer Uhr, er hatte auch keine Ringe getragen. Trotzdem hielt ihn Kienast eher für verheiratet als für ledig. Sonst hätte er mehr Mut zu seiner Leidenschaft gehabt und unter der dezenten Kleidung wohl keinen Slip, sondern eher einen jock strap aus weißem oder rotem Satin getragen. In seiner weichen, schwarzen Lederbrieftasche hatte sich erstaunlich viel Geld befunden, aber nichts Persönliches. Was ebenfalls dafür sprach, dass er auf käuflichen schnellen Sex aus gewesen und ihn billiger als erwartet bekommen hatte. Eigentlich verrieten seine schwarzen geschnürten Halbschuhe als Einzige etwas, wenn auch nicht über den Besitzer, so doch über sich selbst; italienische Schuhe, eine der solidesten Marken. So gediegene italienische Schuhe gibt es nur in London zu kaufen. Und dann war da noch etwas, womit Dr. Kienast zunächst nichts anzufangen wusste, der durchdringende Duft des nackten Körpers. Kein unangenehmer Duft, eher ein angenehmer. Eine Art schwüler weiblicher Duft, den er irgendwo, vor gar nicht so langer Zeit, aus größter Nähe wahrgenommen oder sogar genossen hatte.

Zumindest hatte ihn ein Hauch angeweht, ein angenehmer Hauch.

Möglich, dass es ihn an einen anderen, ähnlichen Duft erinnerte, den aber vermochte er nicht mehr heraufzubeschwören. Ein Frauenduft, um einiges süßer und schwerer als ein gewöhnliches Männerdeodorant, Parfüm oder Aftershave, er strömte nicht nur aus den Kleidungsstücken des Mannes, sondern ging auch von seinem Körper aus.

Der Körper würde mindestens noch eine halbe Stunde brauchen, bevor er völlig erkaltet war, bis dahin würde sein Duft leben. Dr. Kienast war stark versucht, ihn wie ein Polizeihund abzuschnüffeln. Er getraute sich nicht, aber aus beruflicher Neugier konnte er der Anziehung des toten Körpers auch nicht widerstehen. Er schnupperte in die Luft, es schien ihm, als dringe ein bitterer Geruch von abgestandenem Tabak durch den überdrehten Duft. Vielleicht hatte er doch eher Angst vor einem solchen Parfüm. Aber seine momentane Feigheit amüsierte ihn auch.

Kein Zweifel, an den Fingern des Toten die gelblich braunen Verfärbungen, die auf leidenschaftliches Rauchen weisen.

Trotzdem hatte man weder Zigaretten noch ein Feuerzeug oder Streichhölzer bei ihm gefunden. Unter der Bank hingegen einen Schlüsselbund in einem schwarzen Lederetui.

Der Körper selbst war sauber und unberührt. Unberührt, das war das erste Wort, das Kienast eingefallen war, als man die Leiche, noch da draußen, vor ihm entkleidet hatte und er im Licht der Scheinwerfer die vorsichtig ausgezogenen Sachen hin und her zu wenden begann. Auch deshalb war der Duft so auffällig. Da lag der Körper eines Menschen vor ihm, der wahrscheinlich nur zögernd jemanden oder etwas berührt hatte, was unter Fetischisten nicht selten vorkommt. Die geben nur ihren stärksten Trieben oder intensivsten Anziehungen nach. Nicht miteinander, nicht mit dem anderen treten sie in Beziehung, sondern mit den symbolischen, den Körper des anderen repräsentierenden Gegenständen. Ganz anders als die gewöhnlichen Egoisten, die auch in der Gegenwart anderer nur mit sich selbst beschäftigt sind.

Während er den fast haarlos glatten, wohlproportionierten Körper betrachtete, dachte Kienast plötzlich, dass das ein trockener Mensch gewesen war. Er war auf die Begriffe der körperlichen Trockenheit oder Feuchtigkeit zum ersten Mal gestoßen, als er sich für seine Dissertation mit den Ermittlungstechniken der Antike beschäftigt und Originaltexte über die griechische Heilkunst gelesen hatte. Zu trockenen Menschen passt eine solche Todesart nicht. Laut Galen ist der Herzanfall die Todesart des feuchten oder nassen Menschentyps.

Auch konnte er den flüchtigen Gedanken nicht abweisen, dass das nicht der Duft des Mannes war, nicht sein Parfüm, dass er nicht passte, dass er in seinen letzten Stunden von einem anderen Körper an ihm haften geblieben war.

Von einem Seitensprung bringt man immer einen fremden Duft mit nach Hause, der nicht zu einem passt. Da kann man sich noch so lange duschen, einseifen, abschrubben, diese fremden Düfte, abstoßend oder süß, sind unglaublich hartnäckig.

Manchmal riechen sie am nächsten Tag noch so durchdringend, als klebten sie an den Härchen in der Nase, und man kann nicht anders, man gibt dem sündigen Reiz nach und geht zu seiner Quelle zurück. Dr. Kienast hatte sehr früh geheiratet, genauso bald war er wieder geschieden, seiner Seitensprünge wegen. Und wie er in der Gegenwart des Toten durchaus angenehm von seinen süßen Rückfällen träumte, fiel ihm jene kluge Frau mit der heiseren Stimme ein, von der niemand geahnt hätte, dass sie heimlich einen wahnwitzigen, leidenschaftlichen Kampf gegen ihre Hässlichkeit führte und zu diesem Zweck ein Arsenal an Duftwässern, Cremes, Gesichtslotionen, Badezusätzen, Lippenstiften und Pudern in den abschließbaren Regalen ihres geräumigen Badezimmers verwahrte, obwohl sie von Berufs wegen mit der Beurteilung von Düften befasst war und also den Kosmetika gegenüber eigentlich hätte skeptischer sein müssen. Sie hätte wissen müssen, dass die nicht viel brachten. Sie also würde es ihm sicher sagen können. Bestimmt würde sie den schweren Duft mit seinen versteckten herben Aromen erkennen, dachte er, und dieser Gedanke drängte ihn, sich den dunkelblauen Wollpullover des toten Mannes an die Nase zu halten. Vielleicht kam ja auch er darauf.

Möglicherweise war ihm die Frau nur deshalb eingefallen, weil er den Duft von ihrem Körper her kannte.

Er meinte die Anspannung ihrer Sehnen, das feine, verhaltene Zittern ihrer Muskeln zu spüren.

Der Körper vergisst nicht.

Diese Frau kam jeweils stumm nach Luft schnappend zum Höhepunkt, erst ein paar Augenblicke später, wenn es schon vorbei war, brüllte sie los, auch dann noch so, als wolle sie den Schrei zurückhalten. Doch nein, am dunkelblauen Pullover war der Duft des Parfüms kaum wahrnehmbar, der war eher vom Rauch durchdrungen.

Dann aber kam der Duft doch vom Körper.

Aus dem Raum mit dem kalten Neonlicht führten zwei Schwingtüren auf die Gänge hinaus. Durch die eine wurden die Leichen hereingeschoben, durch die andere in den Kühlraum weitergerollt, von dort dann zur offiziellen Autopsie. Die Flügel der einen Schwingtür ratterten leise gegeneinander, offenbar stand irgendwo ein Fenster offen.

Auf dem Gang keine Schritte. Während Dr. Kienast hinaushorchte, begann neben ihm auf dem fremden Schreibtisch das Telefon zu klingeln, er zuckte ein wenig zusammen, es klingelte, aber er ging nicht dran.

Es war nicht das erste Mal, dass ihn seine berufliche Neugier in eine kritische Lage brachte, zuweilen musste er seinen eigenen guten Geschmack verletzen oder sogar gegen die Gesetze verstoßen. Wie sonst hätte er sich in die Gedankengänge Krimineller versetzen können, wozu sonst hätte er diese Laufbahn gewählt. Er legte den Pullover hin, nahm das blauweiß gestreifte Hemd in die Hand und konnte jetzt schon mit völliger Gewissheit sagen, dass der unbekannte Mann den letzten Tag seines Lebens nicht in diesem Hemd und wahrscheinlich nicht in diesem Pullover verbracht, sondern sich am Nachmittag umgezogen hatte beziehungsweise am frühen Abend, wie er sich rasch korrigierte. So etwas ist ganz einfach. Man riecht an den Sachen noch das Waschpulver und den Weichspüler, eventuell das Duftsäckchen aus dem Kleiderschrank. Seine letzten Stunden hatte der Mann bestimmt an einem verrauchten Ort verbracht, in einer Kneipe, Bar oder einem billigen Wirtshaus, an einem Ort jedenfalls, der nicht zu seinem gesellschaftlichen Status passte.

Das Parfüm war nur am unteren Drittel der Hemdschöße und an der Unterhose zu riechen. Hier nahm er auch den Geruch des rasch verfallenden Spermas wahr. Das Telefon läutete immer noch, sonst regte sich nichts. Kienast stellte sich an die Füße des Leichnams und berührte den einen Fuß des Toten, als bäte er die sterbliche Hülle des Mitmenschen um Verzeihung für das, was er jetzt tun würde, dann beugte er sich über dessen Leiste. In dem Augenblick verstummte das Telefon, wieder hörte man die Flügel der Schwingtür im Luftzug hilflos gegeneinanderrattern. Er schloss die Augen, vielleicht unwillkürlich oder vielleicht, weil er das Geschlechtsteil des Toten nicht von so nahem sehen wollte, wenn er schon daran roch. Sogleich schlug ihm der durchdringende Penisgeruch entgegen. Im Übrigen war alles so, wie er es erwartet hatte. Dieser Penis war höchstens zum oralen Geschlechtsverkehr gebraucht worden, nicht zum vaginalen oder analen, der Sachverhalt würde bei der Sekretuntersuchung auch noch exakt feststellbar sein. Das schwere Parfüm war im dichten, reichen Schamhaar und über den Bauch verteilt, von hier verströmte es sich in den Raum. Kienast hatte keinen Augenblick zu verlieren. Vom Gang kamen Schritte näher, er musste, bevor der Pathologe hereinkam, seine Beobachtung überprüfen. Weder auf dem Brustkorb noch in der Gegend der Achselhöhlen noch hinter den Ohren roch man den Duft. Das waren die letzten in Frage kommenden Punkte, mehr brauchte Kienast nicht zu wissen. Es war nicht das Parfüm des Toten, sondern ein neu dazugekommenes fremdes, das sich über seinen Körper verschmiert hatte.

Ein Türflügel schwang herein, er hob den Kopf.

Als hätten er und die Leiche sich geküsst.

Auf das Türgeräusch hin drehte er sich um und sagte, was ihn betreffe, sei er fertig.

Ob er etwas Interessantes gefunden habe, fragte der Pathologe leutselig.

Es war der diensthabende Arzt des Pathologischen Instituts, mit dem der Kommissar in einem täglichen herzlichen Verhältnis stand. Was aber nicht bedeutete, dass zwischen ihnen keine sanften oder gelegentlich auch heftigeren Reibereien vorkamen, womit sie aber, wie man zu sagen pflegt, problemlos leben konnten.

Das überlasse ich lieber dir, sagte Kienast zuvorkommend, ich wäre aber dankbar, fügte er ohne das geringste Zeichen von Verlegenheit hinzu, wenn auch du an seinem Bauch und den Schamhaaren riechen könntest. Da ist irgendein Parfüm, oder eine stark riechende Seife, oder so etwas.

Vielleicht erkennst du es.

Die Kollegen taten manchmal aus reinem Selbstschutz so, als hörten sie nicht, was Dr. Kienast sagte, wünschte oder haben wollte. Nicht nur die Leute, die in einer lockeren Beziehung zu ihm standen, sondern auch seine unmittelbaren Untergebenen. Man duzte sich in diesem Kreis meistens, war aber trotzdem bemüht, ihn und seine Manien auf Armeslänge zu halten. Er galt als komischer Vogel, als einer, den man mit gewissen Dingen einfach allein lassen und sich vom Hals halten musste, um nicht in dunkle oder unsaubere Angelegenheiten verwickelt zu werden. Auch jetzt war das so. Dr. Kienast wartete, ob der andere vielleicht doch noch auf seinen Wunsch eingehen würde, aber der tat nichts dergleichen. Nicht etwa, weil er auf diese Weise seine Missbilligung ausdrücken wollte, sondern weil er die Aufforderung anscheinend gar nicht gehört hatte.

So etwas schockierte Dr. Kienast, ließ ihn innerlich brodeln.

Er konnte nicht nachvollziehen, warum sich andere mit so wenig begnügten und wo ihr natürliches menschliches Interesse oder ihre berufliche Neugier blieb.

Als der Pathologe seine obligatorischen Untersuchungen beendet hatte, äußerte er sich dahingehend, dass der Tod des unbekannten, rund fünfundfünfzigjährigen, gepflegten und wohlgenährten Mannes mit größter Wahrscheinlichkeit wenige Minuten vor der Entdeckung durch den frühmorgendlichen Läufer eingetreten war.

Denkbar allerdings, dass es etwas später gewesen sei.

Ja, sogar denkbar, warf Dr. Kienast gallig ein, dass er immer noch lebt.

Der Mann ist erst seit ganz kurzem tot, erwiderte der Pathologe leicht beleidigt, da, bitte, schau ihn dir doch an. Er hob die leblose Hand hoch, zeigte die Nägel, legte sie dann wieder hin. Und als ob das noch nicht ausreichte, drückte er auch noch den Finger in die Muskulatur des Oberschenkels.

Möglich, sagte er, dass der gerade in den zehn Minuten ins Gras gebissen hat, als ihr mit dem Einsatzwagen zum Tatort fuhrt. Hätte ihn dieser Morgenläufer etwas früher entdeckt oder es früher gemeldet, oder hättet ihr nicht so lange rumgetrödelt, hätten ihn die Sanitäter höchstwahrscheinlich wiederbeleben können.

Dr. Kienast fragte, ob der Körper nicht in einer zu guten Verfassung sei, um von einem Herzanfall erledigt zu werden.

Der Pathologe lachte erleichtert auf, sagte, er solle doch nicht solchen Unsinn fragen, er rede ja wie ein Laie.

Och, redete sich Kienast heraus, er frage ja bloß so dumm, weil er sich überlege, ob man nicht woanders suchen müsste.

Wenn man es ganz genau nimmt, sagte der Pathologe, der nicht recht verstand, worauf Kienast hinauswollte, würde man beim ersten Hinsehen tatsächlich sagen, dass der Herzanfall unbegründet sei, aber das heiße nichts.

Sie sollten die Autopsie abwarten, fügte er nach einigem Schweigen hinzu.

Das sieht nicht wie ein verbrauchter Körper aus, beharrte Dr. Kienast.

Schau dir doch die Beine an, den Brustkorb, einen Bauch hat er auch nicht, der ist geschwommen oder hat Tennis gespielt oder was weiß ich, irgendeine Art Kraftsport. Und es wäre gut, wenn dann von seinem Bauch und vom Geschlechtsbereich Proben genommen würden, fügte er fast beiläufig hinzu, auf seiner Unterhose ist ein beachtlicher Spermafleck, und bitte auch eine Probe vom Anus.

Vielleicht ist ja das Sperma nicht von ihm. Über die Art des Geschlechtsverkehrs sollte man ebenfalls Näheres herauskriegen. Der Penis sieht nicht aus, als hätte er an vaginalen oder analen Freuden teilgehabt.

Es tue ihm leid, sagte der Pathologe ungeduldig, aber zu diesem Zeitpunkt wäre es unverantwortlich, mehr zu sagen. Er müsse sich das alles genauer ansehen. Das Sperma würde er selbstverständlich ordnungsgemäß untersuchen lassen. Von Dr. Kienast bekomme er ja dann bestimmt die Wunschliste, wie üblich. Was hingegen die Beine oder den Kraftsport betreffe, so sei der Mann seines Erachtens in jüngeren Jahren Rad gefahren.

Dass ich darauf nicht gekommen bin, rief der Kommissar überrascht.

Die knotigen Adern, klar, der ist Rad gefahren.

Und so nahm alles seinen ordentlichen Lauf.

In jenen chaotischen Tagen starben auch sonst ziemlich viele Leute, an Hirnblutungen, an Herzanfällen, plötzlich und unerwartet, aber bei denen wurden persönliche Ausweise gefunden.

Einmal wurde es warm, als käme der Frühling, dann wieder gab es einen Temperatursturz, und es wurde bitter kalt. Eine trockene Kälte, mit leichtem Schneefall. Als trüge das Wetter das Seine zum ganzen Durcheinander bei.

Sie schoben die Leiche durch die andere Schwingtür und stießen sie auf ihren vorläufigen Platz. Einigermaßen gekühlt würde sie hier auf die amtliche Freigabe warten. An ihrem Hals war ein kleiner Fleck. Jemand musste den Mann, um ihn zu überraschen, von hinten umarmt und sich so lange und so heftig mit den Lippen festgesaugt, ihn vielleicht gebissen haben, dass eine blutunterlaufene Stelle entstand. Vielleicht jemand, der ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte. Keiner von beiden erwähnte das, obwohl sie wussten, dass man die Spur sofort sichern musste. Mit Dentalwachs überziehen, das Negativ mit Dentalgips füllen, um auf diese Art einen vielleicht sogar prozessentscheidenden Abguss von Lippen oder Zähnen, möglicherweise denen des Täters oder des letzten Zeugen, zu erhalten.

Die Aussage des Studenten konnte vorläufig noch nicht mit der Meinung des Pathologen verglichen werden. Auch fragte niemand, was zum Geier ein solcher sichtlich gutsituierter Herr nachts oder in aller Herrgottsfrühe in dem berüchtigten Park eigentlich gesucht hatte, beziehungsweise, wenn er noch nicht lange tot war, wie der Schnee auf seinen Schultern und Armen hatte liegen bleiben können. Der Kommissar hatte in Sachen vatermörderisches Mädchen eine Menge anderer Dinge zu erledigen. Es war ja auch sinnlos, sich über den Fall den Kopf zu zerbrechen, solange die kriminaltechnischen Ergebnisse nicht vorlagen. Die Mutter hatte den Mord nicht aus Selbstlosigkeit auf sich genommen. Es war ihre einzige Chance. Wenn die Tochter die Tat gestand, konnte die Mutter wegen fortgesetzter Beihilfe verurteilt werden. Manchmal war es auch besser, wenn Kienast die Fälle etwas ruhen ließ und sie in seinem Unterbewussten weiterarbeiten konnten. Und als er am Nachmittag halb ohnmächtig vor Schlafmangel nur gerade noch Kraft fand, rasch ein paar Papiere an die Staatsanwaltschaft und ans Bundeskriminalamt abzuschicken, blieb sein Blick wieder am Namen des jungen Mannes hängen, Döhring.

Interessant, dass sich so schwer neurotische Figuren in Psychologie und Philosophie einschreiben. Was ihre Aussichten eher verschlechtert als verbessert. Nach ein paar Jahren wissen sie zwar mehr, aber nicht unbedingt über ihre eigenen Probleme.

Er musste lachen, und als er auf die Adresse des jungen Mannes stieß, Fasanenstraße, nickte er selbstzufrieden. Der Junge kann beruhigt sein, sich schön weiterbilden, für den ist gesorgt. Kienast schob die neu angelegte Akte rasch in einen Umschlag und reihte sie unter die laufenden Fälle ein.

Der Student reiste früh am nächsten Morgen, wie geplant, aus der Stadt ab.

Der Schöpfer hat es bestimmt so gewollt

Immer wenn er die Stadt verließ, hatte er das Gefühl, er würde endgültig auf etwas verzichten, endgültig etwas verpassen. Er gab nicht viel auf seine Gefühle, solche Anwandlungen, die er zwar zur Kenntnis nahm, verletzten seine Prinzipien.

Emotionale Menschen verachtete er, lehnte Emotionalität überhaupt ab. Erst recht ein solches unwillkürliches und unkontrollierbares Zittern, das ihn vollends durcheinandergebracht hatte. Es erinnerte ihn an bestimmte Verwirrungen und Erregungen, die er sonst sorgfältig verdrängte. Er wusste nicht, woher das Zittern gekommen und wie es dann aus seinen Knochen und Muskeln wieder verschwunden war, jedenfalls fand er, dass es am Vortag zu viel der Emotionen gewesen war, am besten das Ganze so rasch wie möglich vergessen. Auch damit, mit dem Vergessen, wollte er sich nicht beschäftigen. Genauer, er beschäftigte sich damit, das Vergessen so rasch wie möglich zu vergessen.

Von hier aus gesehen erschien die Stadt wie ein endloser, öder Rangierbahnhof. Der Zug ratterte über Weichen, Birken wuchsen zwischen den stillgelegten Gleisen.

Wenn er seine Gefühle ernst genommen, sie nicht verdrängt, sondern sich erlaubt hätte, sie in Ruhe wirken zu lassen, hätte er seine Bitterkeit, seine Einsamkeit ganz nah an sich heranlassen müssen, alles das, was sein Unglück ausmachte und was er ganz und gar nicht zur Kenntnis zu nehmen wünschte.

Seit zwei Jahren lebte er in der Stadt und hatte weder Bekannte noch Freunde. Wie anders hätte er das begründen können, als dass es seinem freien Entschluss entsprach.

Er sagte sich nicht, stimmt, ich bin ein früh verbitterter, ziemlich trauriger Mensch und habe diese Wissenschaften gewählt, um meine Gefühle gegen das ständige Leiden zu wappnen und um gegen den klaffenden Zweifel auch geistig gerüstet zu sein, damit ich vielleicht eines Tages meinem Leiden auf den Grund gehen kann.

Leute, hätte er rufen sollen, ich tue den ganzen Tag so, als wäre alles in Ordnung, aber dadurch leide ich noch mehr. Helft mir, irgendjemand, egal wer, soll kommen, ohne anzuklopfen, rennt mir die Tür ein, egal wann. Nein, er machte es genau umgekehrt, dachte das Gegenteil. Seine Gefühle ließ er nur an seinen Verstand heran, damit der seine Seelenqualen niederringe. Es ging ja auch so. Er sagte sich, dass der Mensch prinzipiell ein Einzelgänger sei, jeder für sich, und am meisten betrügen sich die Menschen, wenn sie in ihrem Fortpflanzungstrieb einen Vorwand für eine dauerhafte Verbindung suchen und sich vormachen, in einem anderen Menschen das berühmte Glück gefunden zu haben. Die würden dann schon noch erwachen. Seelenschmerz vorgeplant. Sie wissen das auch, tun es aber trotzdem. Er hingegen habe mehr Glück, weil er nicht zu solchem Selbstbetrug neige. Er sehe ja, wie andere den ganzen Tag nichts anderes tun, als einander zu hassen, zu vermissen, zu begehren, anzubeten, zu besitzen, er hingegen begehre niemanden, ihm fehle niemand, er komme sehr gut mit sich selbst aus und brauche niemanden zu quälen und zu hassen. Ein erleuchteter Zustand, unvoreingenommen könne er beobachten, was diese einander und sich selbst ausgelieferten Unglücklichen miteinander anstellen.

Die taten ihm wirklich leid.

Döhrings Art war kühl und abweisend genug, jedem die Lust zu einer Annäherung zu nehmen, von seinem Äußeren hingegen hätte man nicht sagen können, dass es etwas Absonderliches hatte, höchstens dass es eher belanglos als aufregend oder interessant wirkte. Im Grunde verachtete er alle, einschließlich der toten Autoren, die er gerne las. Auch deren Leben war voller unappetitlicher, wirrer Angelegenheiten gewesen, was man ihren unsterblichen Werken auch ansah. Dahin wollte er nun wirklich nicht, bloß konnte er über diese Dinge, über die er leidenschaftlich nachdachte, mit niemandem reden, da ihn tatsächlich niemand ansprach, der sich mit ihm über dieses oder jenes Thema ausgetauscht oder eventuell seine Zärtlichkeit in Anspruch genommen hätte.

Solange der Zug noch durch Stadtgebiet fuhr, starrte er zum Fenster hinaus.

Wie jemand, der sich zurückzuhalten versucht oder darauf hofft, dass diese struppigen Gärten, rußschwarzen Brandmauern, trostlosen Bahnhöfe und bleigrauen Hinterhöfe wenigstens seinen Blick zurückhielten, ihn nicht losließen. Wie typisch für ihn, dass er die ganze Zeit auf dem Schoß ein Buch geöffnet hielt, in dem er lesen wollte. Als müsste er fortwährend zwanghaft signalisieren, was für ein beschäftigter Mensch er sei und dass man ihn nicht unnötig stören solle.

Er konnte seinen Kopf nicht abwenden, wollte die Stadt nicht loslassen.

Er fürchtete, man könnte ihn in seiner Abwesenheit irgendeiner Sache beschuldigen. Nicht darüber dachte er nach, was er getan oder unterlassen hatte, was seine Phantasie mit ihm machte oder was überhaupt mit ihm geschah, sondern bloß darüber, dass er sich dem Ermittlungsbeamten gegenüber ungeschickt verhalten hatte. Als habe er nicht nur die Deckung verlassen, sondern mit seiner Geschwätzigkeit eine Menge unübersehbarer und unangenehmer Konsequenzen heraufbeschworen. Das Nervenfieber vom Vortag hatte zwar keinerlei äußere Spuren hinterlassen, höchstens eine unbedeutende Erkältung, er schniefte. Wer ihn anschaute, hätte nur einen streng wirkenden, ruhigen, hochgewachsenen jungen Mann gesehen, der gerade ein wenig vor sich hin träumte, doch irgendwie hatte sich das Fieber in seinen Zellen verbreitet, ein wichtiges Zentrum seines Hirns überflutet und infiziert. Es wühlte seine individuell gestaltete, zerbrechliche innere Welt auf, in der er bis dahin isoliert gelebt hatte; es vergrößerte einzelne Gegenstände seiner Erinnerung und seiner Phantasie, blähte sie auf und ließ der einströmenden Außenwelt jetzt tatsächlich fast keinen Raum mehr. Als er in der Morgenfrühe in den Zug gestiegen war, hatte er beim Öffnen der Abteiltür die dort Sitzenden mechanisch gegrüßt, als er ein paar Stunden später ausstieg, verabschiedete er sich ebenso mechanisch.

Eine seiner Mitreisenden war von seiner Reglosigkeit geradezu überwältigt, aber auch diese junge Frau bemerkte er nicht.

Er fuhr bis Düsseldorf, wo er auf seine Zwillingsschwester warten sollte, die von Frankfurt kam, bis dahin aber waren es noch volle vier Stunden.

Als er endlich dort eintraf, dröhnte es in der mächtigen Ankunftshalle des Bahnhofs und auf allen Bahnsteigen von der widerlichen Masse der gehetzten, drängelnden Menschen.

Sie fuhren selten nach Hause, und diese Fahrten hatten ihr eigenes Ritual, das zu verletzen ihm bis jetzt noch nie in den Sinn gekommen wäre. Die Düsseldorfer Stunden waren, als würde er stufenweise wieder aufgenommen, von der Familie, der Gegend, von allem Vertrauten. Auch wenn er nirgendwo wieder aufgenommen werden wollte. Es war ihm unbehaglich mit seiner Zwillingsschwester, wenigstens hätte sie kein Mädchen sein und ihm nicht so nahe stehen sollen, er wollte seine Familie nicht. Ausbrechen wollte er, wohin aber, das hätte er nicht sagen können. Hinaus aus diesem Familiennetz, das ihn festhielt und dauernd zurückzog, weg von den Frauen. Zwischen den Schließfächern der Gepäckaufbewahrung bewegten sich unter den Überwachungskameras die Menschen, lächerlich auch sie. Jeder suchte sich das sicherste Schließfach, aus dem seine Sachen nicht gestohlen würden. Döhring stieß sein Gepäck demonstrativ in das erstbeste, vorderste Fach. Die Scherben einer zerbrochenen Bierflasche knirschten unter seinen Sohlen, in der Ecke stank ein Obdachloser, die Flasche hatte wahrscheinlich er fallen lassen, jetzt schnarchte er stockbesoffen.

Döhring nahm den gewohnten Weg zur Wohnung seiner Tante, die ihn bei solchen Gelegenheiten mit einem üppigen Frühstück erwartete.

Das waren ihre gemeinsamen Stunden, auf die sich beide still vorbereiteten.

Er hatte einen Fußweg von etwa zehn Minuten, aber in die Straße bog er nicht ein.

Womit tatsächlich ein langjähriges, in den unbewussten Dämmer der Kindheit zurückreichendes Spiel unterbrochen wurde. Das Spiel ging so, dass die schöne Tante seine Lieblingstante war, und sie beide würden sich im Widerstand gegen ihre primitive und durchschnittlich spießbürgerliche Familie heiß lieben. Als würde von ihm verlangt, dass er im Interesse seiner Unabhängigkeit statt seiner Schwester die Tante liebe. Welche tatsächlich eine ansehnliche Erscheinung war, eine amüsante, fröhliche, wohlhabende Fünfzigerin, seit Jahrzehnten in der Modebranche tätig, als Repräsentantin eines solid renommierten italienischen Großkonzerns, wobei sie ein strenges, beinahe asketisches, relativ freies Leben führte. Sie reiste auf dem ganzen Kontinent umher, beschäftigte an den entlegensten Orten Menschen, die ein außergewöhnliches Handwerk betrieben, Perlenaufzieher, Leineweber, Spitzenklöppler, Posamentierer. Wahrscheinlich war es eher sie, die einen Lieblingsneffen brauchte, von dem sie viel erwarten durfte, dessen Existenz sie aber zu nichts verpflichtete, das eigene Kinder von ihr verlangt hätten, und da sie zu gegebener Zeit überhaupt nicht daran gedacht hatte, Kinder zu gebären, war sie es gewesen, die den kleinen Jungen zu dem Endlosspiel verlockt hatte. Sie hatte ihn tatsächlich von seiner Zwillingsschwester getrennt. Bot ihm geistige und finanzielle Möglichkeiten, die ihm aus dem Familiennest, aus der Eingebundenheit in die Sippe hinaushalfen in die weite Welt.

Jedenfalls spielten sie das gefährliche Spiel, dass so etwas möglich sei.

Die Tante wohnte in der Nähe des Hofgartens, in einer teuren Wohnung, durch die drei hohen Fenster des Esszimmers sah man auf die mächtigen Bäume des uralten Parks hinaus. In Düsseldorf war es an dem Tag nicht sehr kalt, der Himmel aber war dunkel, zwischen den kahlen Bäumen heulte der Wind. In diesen vertrauten Park verkroch sich Döhring. Er vergaß seine Zwillingsschwester, an die er, im Sinn der gegen die Familie gerichteten Verschwörung, immer mit Befremden dachte, er vergaß die Tante, das reichhaltige Gabelfrühstück, die Termine und Verpflichtungen, genauer, alle diese Dinge gerieten an den äußersten Rand seines Bewusstseins, wo er sie kaum noch erreichen konnte.

Eines nur interessierte ihn, der tote Mann, dessen Tod beziehungsweise der Tod selbst, das, was vor seinen Augen geschehen war, was er aber mit niemandem teilen konnte. Er schritt aus, kümmerte sich um nichts, was gut tat. Er wusste, wo er war, was er zu tun hätte, aber er war gegenüber den Dingen um ihn herum gleichgültig geworden. Unabhängig von allen möglichen Gedanken beschäftigte ihn die Frage, ob auf den Bänken, unter den Sträuchern oder zwischen den Bäumen nicht Tote lagen. Er sah aber nur ein paar Eichhörnchen, da und dort einen scheuen Wildhasen. Als hätte der tote Mann noch Überlebenschancen, und als würden diese einzig und allein von Döhrings Aufmerksamkeit abhängen. Als wären ihm die verlassenen Parks der Welt anvertraut, und er müsste sämtliche durchstöbern. Auch das beschäftigte ihn, wie der Tote seine Angehörigen finden würde beziehungsweise sie ihn. Und ob er jemanden hatte. Und ob sich sein Schicksal zum Guten wenden würde, nachdem er so einsam und scheußlich in einem öffentlichen Park umgekommen war, und was er selbst tun könnte. Und was bedeutete überhaupt der Tod? Wie könnte er gutmachen, was er getan hatte. Oder vielmehr, was er nicht getan hatte. Döhring war erregt und gequält von der Möglichkeit, dass er noch etwas tun konnte, das er mit jedem Augenblick versäumte, weil er nicht zur Stelle war, oder vielmehr, dass etwas unwiederbringlich vorbei war und andere gerade etwas taten, das eigentlich er hätte tun müssen.

Er hätte den Toten nicht liegen lassen dürfen.

Gleichzeitig wusste er, wie gefährlich solche Fragen sind und dass man sie am besten so rasch wie möglich vergisst. Er würde ja sowieso nicht jeden Tag Leichen im Park finden. Wenn er in jenem Park eine gefunden hatte, würde er hier bestimmt keine finden. Die Katastrophe ist immer einmalig, zweimal tritt sie nicht ein. Obwohl es ja auch keine Regel gibt, wonach eine Katastrophe nicht gleich eine zweite hervorbringen könnte. Er hoffte jeden Augenblick, es jetzt wirklich zu vergessen, weil er es vergessen wollte, weil er hergekommen war, um es zu vergessen. Das wollte er. Wenn er noch eine Leiche fand, wäre es ja höchstens eine wildfremde. Als würde der Wind seine über den Kies knirschenden Schritte, das Schrittgefühl unter ihm wegblasen. Doch er merkte, dass er sich mit nichts anderem beschäftigen konnte als mit der Leiche, eben weil er ständig damit beschäftigt war, sie endlich zu vergessen. Fortwährend ging er im Geist durch, was wie geschehen war, was er getan und nicht getan hatte, er wollte sich aufs genaueste vergegenwärtigen, was er vergessen wollte und was er dem Kommissar hätte erzählen sollen. Und so lagen da wirklich überall Leichen herum, die er finden würde. Er verstand nicht, was er warum getan hatte, eigentlich war er sich nicht einmal sicher, ob er getan hatte, was er getan hatte, und ob er wirklich mit jedem Augenblick etwas zu tun versäumte.

Er verstand nichts, sah nur einen Film, einen Film über sich selbst, der manchmal riss, dann wieder an ganz anderer Stelle aufblitzte, weiterlief.

Und da, in diesem kahlen, winterlichen, sturmtosenden Park, kam ihm etwas so Unmögliches in den Sinn, dass er stehen bleiben musste.

Er merkte gar nicht, dass er stehen geblieben war. Der Schöpfer hat es bestimmt so gewollt, das war es, woran er plötzlich dachte.

Ich bin sein treuester Spürhund.

Noch nie hatte er daran gedacht, dass er oder die Welt einen Schöpfer hätte, ob es den nun gab oder nicht. Auch daran hatte er noch nie gedacht, dass sein Schöpfer etwas von ihm wollen könnte. Außer mir erledigt das niemand. Er sah deutlich, was er erledigen musste, es wurde ihm ganz leicht bei dem Gedanken, er fühlte sich geradezu erleichtert, vielleicht sogar ein bisschen glücklich. Auch die Rolle des Spürhunds begann ihm zu gefallen, sein Schnüffeln, sein Laufen, sein Herumpissen. Er roch auf einmal den Geruch des nahen Flusses. Oder aus einem rätselhaften Grund hatte die Nähe des großen Wassers plötzlich Bedeutung, der riesige Strom, der Rhein, den er von da nicht sehen konnte, doch dessen kalten Geruch ihm die Wellen des Winds in die Nase schlugen. Er konnte kaum atmen, als bekäme er zu viel Luft. Auf einmal hatten Kopfzerbrechen und Verwirrung ein Ende gefunden. Jetzt wusste er, was er zu tun hatte, er fand sich großartig, schwelgte in sich selbst, so wie in den Gerüchen der Luft.

Er hatte keine andere Wahl, er durfte keinen Punkt im Dunkeln lassen, er musste alles gestehen, und er würde alles gestehen.

Dazu fühlte er sich regelrecht berufen.

Er sah sich, wie er das erlegte Wild in der Schnauze jemandem apportierte, von dem er allerdings nicht hätte sagen können, ob es ein Mann oder eine Frau war, es war ja der Schöpfer, und der Schöpfer hat keinen Körper. Er war sich auch bewusst, dass für die Ausführung seines Entschlusses noch einige Kraft nötig war und dass das in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem durchdringenden Flussgeruch stand, mit den Düften, dem Rauschen seines Bluts, dem Zuviel an Luft.

Er musste die Beute erwischen. Als hätte er sich gesagt, er müsse den Fluss erwischen.

Er stand mitten auf einem Kiesweg, unter einem Himmel, der sich fortwährend zwischen den Wolken öffnete und schloss. Er musste sich stellen. Und auch wenn an seinem Entschluss nichts mehr zu ändern war, tat es im Voraus doch ein bisschen weh. Seine Brust entblößen. Ein wenig scheute er schon davor zurück, wieder Dr. Kienasts durchdringenden, fast melancholischen, herausfordernden Blick auf sich zu spüren.

Der tödlichen Gefahr zum Trotz begehrte er den Körper des Unbekannten. Von diesem stets leicht lächelnden, vertrauenerweckenden braunen Augenpaar konnte er so wenig loskommen wie von der Gestalt des unbekannten Toten, von der Schneeschärfe, von der Zauberkühle des Entdeckens.

Er hatte noch geatmet, auf der Bank liegend, mit herunterhängendem Arm, Schnee war auf ihn gefallen.

Döhring ging zum Fluss, ohne aber die breite Straße zu überqueren, nicht ans Ufer hinunter, er wollte den Fluss nur von weitem sehen.

Damit wollte er sich selbst zeigen, dass alles noch vorläufig, nicht endgültig war, dass er bloß Kräfte sammelte, nur einen Moment, schließlich hatte er noch anderes, Wichtigeres zu tun. Von hier aus wurde erst richtig sichtbar, in was für einer endlosen Einöde, unter was für einem gewaltigen Himmel sich die Stadt duckte. So weit das Auge reichte, nur Einöde, über die Einöde des Himmels zogen Wolken ihre eigenen Wege. Auf der Einöde der Erde rasten Autos in zwei Richtungen, tief im Wasser liegend zogen schwer beladene Schlepper langsam vorbei, von Wellen überschwappt. Das Flussbett war zum Überlaufen voll, die vom Wind aufgewühlte Wasseroberfläche lag breit ausgewalzt und bleiig schimmernd. Er stand lange im Wind und hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Die Tante wartete seit fast anderthalb Stunden auf ihn, während er im Glauben, es seien nur ein paar Minuten vergangen, umherlief und herumgaffte. Er freute sich an dem Summen und Rauschen der klatschenden Erfülltheit, Leere, Dichte, Fläche der Welt. Der Wind kam vom Fluss her, schlug hinter seinem Rücken zusammen, fuhr durch die kahlen Bäume des Parks. Aber immer noch drang durch den rhythmischen Lärm des Windes das einheitliche Tosen der Stadt, in das sich manchmal das klagende Tuten der Schleppkähne mischte. Lange war der Widerhall unter den stummen, übereinander wegziehenden Wolken zu hören, die manchmal aufrissen, was jedes Mal auf der Erde ein rasches oder auch träges Lichtsignal hinterließ. Als blitzten oder strichen Scheinwerferstrahlen über die flache Landschaft, es klarte auf, es wurde dunkel, auf einmal so dunkel, als käme der Abend, dann wurde es für einen Augenblick strahlend schön, Himmel, Wasser und Erde pulsierten kurz auf, die Panzer der Fahrzeuge erglänzten, dann verschwamm wieder alles in Dämmer. Nichts kam zu einem Ende. Wahrscheinlich war es der Hunger, der ihn daran erinnerte, seinen Entschluss nun tatsächlich auszuführen. Der gedeckte Tisch der Tante, das Gabelfrühstück fielen ihm wieder ein. Er kehrte um, jetzt aber nicht auf dem Gehweg, nicht unter den Bäumen, sondern er bog in die stille Seitenstraße ein, wo die zurückhaltend vornehmen hohen Fenster auf den Park gingen.

Er kannte sich hier aus, wusste, wo eine Telefonzelle zu finden war. Menschen sah er keine, er begegnete niemandem.

Zuerst rief er die Auskunft an, hatte aber nichts bei sich, womit er die gesuchte Nummer der Polizeiwache notieren konnte, und so ritzte er sie mit dem Fingernagel in den gelb lackierten Deckel des Telefonbuchs. Weder die Vier noch die Acht gelangen. Er zögerte einen Augenblick, tippte eine andere Nummer ein. Um es rasch hinter sich zu bringen.

Wie es schon so ist, rechnete er genau nicht mit dem, womit er hätte rechnen müssen.

Die Tante hatte ihn von oben gesehen.

Sie war, wütend wegen des Wartens, schon mindestens eine halbe Stunde untätig in der Wohnung umhergelaufen und gerade in dem Augenblick am Esszimmerfenster stehen geblieben, als Döhring unterwegs zur Telefonzelle auf der anderen Straßenseite aufgetaucht war. In ihrer Überraschung schlug die Tante mit dem Kopf gegen die Scheibe. Sie begriff nicht, wieso er von dort kam, wo er doch vom Bahnhof her aus der Gegenrichtung hätte kommen müssen, und überhaupt befand sich der Hauseingang nicht auf der Seite des Parks. Und wenn er mit so viel Verspätung nun endlich aufkreuzte, warum zum Teufel ging er zur Telefonzelle. Sie sah, wie er in der Zelle verschwand, dann nichts mehr, weil sie aus dem dritten Stock in einem zu steilen Winkel hinunterblickte. Ein paar Sekunden lang wartete sie am Fenster auf das Klingeln des Telefons.

Sie so lange warten lassen, das durfte sich nur selten jemand erlauben.

Als trotzdem nichts geschah, das erlösende Klingeln ausblieb, ging sie wieder zum schön gedeckten, sinnlos gewordenen Tisch.

Sie beherrschte sich zwar, aber ihre hohen Absätze klapperten wütend auf dem Parkett.

Trank zerstreut vom kalt gewordenen Tee. Man muss sich mit etwas beschäftigen. Als hätte sie seit langem vergessen, dass es Dinge gab, mit denen man sie kränken konnte.

In der großen Wohnung herrschte Totenstille. Sie hielt die Tasse mit beiden Händen umfasst, stellte sie nicht auf die Untertasse zurück, wollte jetzt das gedämpfte Porzellangeräusch nicht hören. Die Türen standen weit offen, man konnte durch die Zimmerflucht sehen. Die hohen Fenster schirmten das Windgeräusch ab, aber an der Wand schaukelten die blassen, winterlichen Schatten der Äste.

In jenen Jahren hatten die wohlhabenderen Leute schon seit geraumer Weile den jahrzehntelang angehäuften Ramsch aus ihren Wohnungen geworfen. Kahle Räume waren zurückgeblieben. Vielleicht ging das letztlich auf die ungeheuren Zerstörungen des Kriegs zurück, auf die kaputten Städte. Leere, grellweiße Wände, glänzende Parkettböden, einige Leuchtkörper, die ein kaltes Krankenhauslicht verströmten, einige wie zufällig herumstehende Möbelstücke, das war alles. Auch die Tante hatte in ihrem riesigen Esszimmer nichts anderes stehen als einen langen, leeren Tisch und ungepolsterte, schlichte Stühle. Die moderne Kahlheit war gewiss nicht einfach nur eine Mode. Als lebten die Menschen weniger im Raum als vielmehr in der Zeit. Als hingen sie an nichts mehr stark und innig, weder an Orten noch an Gegenständen. Die Tante war dauernd im Flugzeug unterwegs, hatte überall zu tun, Termine waren das Wichtige, sie schlief in Hotels, besaß mehrere Ferienwohnungen, in denen sie aber nie Ferien machte.

Wenn sie in ihrer Wohnung nicht gerade Gäste zum Abendessen hatte oder schlief, gab es für sie hier eigentlich nichts zu tun. Die Zimmer hatten noch ihre Bezeichnungen, aber kaum mehr eine Funktion. Zum Beispiel gab es zwischen dem sogenannten Arbeitszimmer und dem sogenannten Esszimmer eine pièce de dégager, eine Art Durchgangszimmer, einstmals das Rauchzimmer, in dem sie nur einen antiken chinesischen Teppich gelassen hatte. Allerdings hing von der Decke ein riesiger barocker Lüster. Die beiden Gegenstände passten weder zueinander noch zu dem relativ kleinen Raum, hatten auch keine wirkliche Funktion, trotzdem wirkten sie nicht peinlich. Sie kamen miteinander aus, starrten sich aus unüberbrückbarer Distanz an, hatten nichts miteinander gemein, verkörperten nur unterschiedliche Weltanschauungen. Das entsprach völlig dem Zeitgeist.

Im Übrigen hatte die Tante schon immer allein gelebt, und so fiel es nicht auf, wenn sie in dieser leeren Wohnung tatsächlich allein blieb.

Einige Tage nach ihrem vierzigsten Geburtstag hatte ihr Lebensgefährte sie verlassen, und mit dem hatte sie weder hier noch anderswo in einer Wohnung zusammengelebt. Höchstens, dass sie auf ein paar Stunden das Bett teilten, je nach Lust und Laune, hin und wieder, an den Wochenenden. Seither hatte die Tante eigentlich niemanden mehr, auch wenn sie gelegentlich mit ihrem Agenten in Paris und dem einen oder anderen Mitarbeiter ins Bett ging, aus alter Gewohnheit. Aber im Grunde war schon immer das Sammeln von Bildern ihre tiefere, heimlichere Leidenschaft gewesen, nicht die Damenmode, nicht die Männer.

Sie sammelte nur bestimmte Maler, und ausschließlich Bilder von lebenden Zeitgenossen.