Paranoia - Robin Felder - E-Book

Paranoia E-Book

Robin Felder

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Beschreibung

Held wider Willen

Ein Menschenfreund ist Conrad Peng nicht gerade. Er verdient sein Geld, viel Geld als Consultant; Menschen sind ihm lästig, und er liebt es sie von A bis Z einzuordnen. Der einzige Mensch, der ihm wirklich etwas bedeutet, ist ein achtjähriger Junge, der wie er selbst in einem Waisenhaus aufwächst. Um Flynn kümmert er sich rührend, auch als er spürt, dass ihm seine Welt immer mehr entgleitet. Dann jedoch gerät der Junge in Gefahr, und es kommt zur Katastrophe. Packend, ungewöhnlich, unkorrekt – ein Roman über Angst, Liebe und den Versuch, Grenzen zu überwinden.

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Seitenzahl: 461

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Robin Felder

Paranoia

Roman

Impressum

ISBN 978-3-8412-0442-4

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, März 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die Originalausgabe erschien 2012 bei Aufbau Taschenbuch,

einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung morgen, Kai Dieterich

unter Verwendung eines Fotos von bobsairport

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Inhaltsübersicht

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Impressum

Inhaltsübersicht

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Sämtliche handelnden Personen und Begebenheiten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen, existierenden Unternehmen sowie Ereignissen oder Schauplätzen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

»Wer spricht von Siegen?

Übersteh’n ist alles.«

Rainer Maria Rilke

»Halte grundsätzlich jeden für ein Arschloch, bis er das Gegenteil bewiesen hat.«

Frank Zappa

01

Wo bin ich? Meine Augen halb geöffnet, wandert mein Blick ziellos suchend umher. Wo bin ich? Wenn ich erst mal weiß, wo ich mich befinde, werde ich bestimmt auch erfahren, wie ich hierhergekommen bin.

In dem grauen Satin-Kissen hinterlasse ich eine Mulde, als ich meinen Kopf leicht anhebe und auf das Nachtkästchen schiele. Neben zwei flachen Tablettenpackungen und einem Restaurantführer entdecke ich mein Handy und greife danach. Ich richte meinen Oberkörper auf, klappe das Display hoch und prüfe die Uhr. Die Welt bekommt einen zeitlichen Rahmen. 10 Uhr 36.

Geweckt wurde ich eben von einem Traum. Meinem altbekannten Falltraum. Ich stürze kopfüber von der Bahnsteigkante eines S-Bahnhofs, nächtliche ländliche Gegend. Und bevor ich in dem Schotter der Gleise lande – zack –, kurz vor dem Aufprall, wache ich auf. Habe ich jede Nacht mindestens einmal. Richtig ruhig kann ich nur tagsüber schlafen.

Ich reibe mir die Augen, das hilft aber auch nichts. Würde sagen, ich bin in einem desolaten Zustand. Bringe mich auf der Bettkante in Sitzposition. Meine nackten Zehen berühren den grauen, kalten Estrich-Fußboden. Erst der linke Fuß, dann der rechte. Abergläubisch bin ich nicht. Das Zimmer ist hell. Was heißt Zimmer? Ein riesiger Raum, grau in grau, hellgraue Betonwände, steingraue Decke. Eher ein Loft. Eine grau-weiße Kochnische weit entfernt am anderen Ende der Wand, an der auch eine schmale Couch steht. Grau. Ein wandfüllendes Ölgemälde ohne Rahmen. Modern, abstrakt, die Grundfarbe ist gleichzeitig das Motiv. Der Titel: »Asche im Nebel«. Ist geraten.

Stilbruch lässt sich dem Innenarchitekten nicht vorwerfen. Die Kundenvorgabe könnte gelautet haben: bewusstes Understatement, inszenierte Lässigkeit, heruntergekommene Hightech-Bohemien-Künstler-Fashion-Atmosphäre. So jedenfalls ist es gedacht gewesen. Siehe auch: Es war sicher teuer, es so billig aussehen zu lassen.

Weiter drüben steht eine fahrbare Kleiderstange mit wenigen farblosen Fetzen, die wie schlaffe Liliputaner an dünnen Drahtbügeln hängen. Daneben ein Standspiegel, zu dessen Rollenfüßen zwei tischtennisballgroße Steppenläufer am Boden liegen. Haar- und Hausstaubknäuel.

In der Mitte des Raums, auf einem weiß getünchten Sockel, der Blickfang: die lebensgroße Skulptur eines halbnackten Römers im Lendenschurz, der zum Diskuswurf ansetzt.

Durch die eins, zwei, drei, vier Fenster kann ich erkennen, dass Vormittag ist. Das stimmt mit der Uhrzeit schon mal überein. Die knapp unter der Decke endenden Scheiben geben den lautlosen Blick frei auf vorbeieilende High Heels, Sneakers, Stiefel, Lederslipper, Knöchel, Socken und Hosenbeine ansonsten körperloser Passanten. Menschen vom Schuh bis zum Knie. Ich befinde mich also in einem Souterrain-Loft. Oder Tief-Parterre. Oder Halb-Keller. Warm ist es. Und etwas feucht.

Langsam drehe ich meinen Kopf um 90 Grad, dabei kratze ich mich am Nacken. Nicht, dass es gejuckt hätte.

Wen haben wir denn da? Auf der anderen Seite der französischen Kingsize-Matratze liegt eine brünette Gazelle, so dürr, dass es sich bei ihr entweder um eine dem Tod Geweihte oder ein Topmodel handelt. Hohe Wangenknochen. Fein gemeißelte Züge, fast wie retuschiert. 1,82 Meter groß. Mindestens. Kategorie A-Mensch. Grundsätzlich finde ich ja, dass dünne Frauen angezogen und fülligere Frauen ausgezogen am besten aussehen. Ich werde nach und nach wach.

Sie tut so, als würde sie schlafen. Macht sie gut. Würde sich ihr Brustkorb nicht minimal heben und senken, könnte man auch annehmen, sie sei tot. Auf die Weltbevölkerung umgesetzt, begehen, statistisch gesehen, von einhunderttausend Menschen fünf Frauen Selbstmord – dem stehen 19 Männer gegenüber. Dabei wählen Männer konsequentere Methoden, wie Erschießen und Erhängen, wohingegen Damen lieber eine Überdosis Schlafmittel einwerfen. So viel dazu.

Ich stiere die Bohnenstange, die keinen Mucks von sich gibt, forschend, aber vorsichtig an, um sie mit meinem Blick nur ja nicht aufzuscheuchen. Ihre Körperhaltung vermittelt einen bewusst zur Schau gestellten Eindruck. Wie jemand, der ziemlich stolz auf seine äußere Erscheinung ist. Phänomen der Jetztzeit: stolz auf Dinge sein, für die man nichts kann.

Und strenggenommen kann man für nichts was.

Innerhalb des Spielraums, den ein hübsches Gesicht hat, erkenne ich eine Neigung zu Kombi-Lippen: dicke Unterlippe, dünne Oberlippe. Aber eben in dem Rahmen, der die Attraktivität nicht beeinträchtigt.

Jetzt stellen sich mir also drei Fragen. Erstens, wo bin ich? Zweitens, wer ist die da? Drittens, was ist geschehen? – und seit wann? Das stumm geschaltete Handy zeigt 29 entgangene Anrufe und acht Nachrichten an. Das ist nicht ungewöhnlich und lässt keinen genauen zeitlichen Rückschluss zu. Könnten sich innerhalb eines halben Tages oder dreier Tage angesammelt haben.

Wie bin ich nur in diesen Schlamassel geraten? Vertagung der Frage. Aufstehen? Nach sehr kurzer Überlegung tue ich genau das. Als ich mich in eine aufrechte Position zwinge und steifbeinig vor mich hin stakse, gleicht mein Ausatmen einem erschöpften Seufzen.

Mein erster nüchterner Gedanke kommt angeflogen, während ich mich im Stehen mit hochgereckten Armen ausgiebig strecke und mir nicht die Mühe mache, meine raushängenden Eier wieder in die Unterhose zu stecken: Ja, richtig, ich bin frischgebackener neuer Partner bei Lutz & Wendelen Consulting, weltweit drittgrößte Unternehmensberatung, Nummer eins in Deutschland. Endlich. Die Visitenkarten sind bereits gedruckt, meine neue Bezeichnung lautet Vice President. Daran werde ich mich nicht lange gewöhnen müssen. Eigentlich kann ich mir gar nicht vorstellen, dass es jemals anders gewesen ist. Entsprechend folgt mein zweiter nüchterner Gedanke auf dem Fuße: Ich finde an meiner Beförderung weniger Gefallen, als ich müsste. Denn bedauerlicherweise bin ich unersättlich. Sobald ich ein bestimmtes Ziel erreicht habe, erhöhe ich sofort meine Erwartungen und finde keine Ruhe, bis auch diese erfüllt sind. Was sich dann natürlich als herb enttäuschend herausstellt und nach einer weiteren, noch höheren Wunschsetzung verlangt. Und so fort.

Die Bettwäsche raschelt. Das Mädchen bewegt sich, rückt einen Arm zurecht. Immer noch wie für ein Foto posierend, das niemand macht. Doch nicht tot. Meine Augenbrauen ziehen sich automatisch nach oben. Sacht bewege ich mich auf meine verkrumpelt in einer Ecke liegende Anzughose zu. Ich greife danach. Ein Bein angewinkelt in die Höhe haltend, ringe ich mit dem Hosenbein, stoße schließlich zur Hälfte mit dem Fuß durch. Plötzliche beträchtliche Gleichgewichtsschwankungen zwingen mich, in dieser grotesken Stellung zu verharren, auf einem Bein zu hüpfen und einen Zappeltanz zu veranstalten, der mich aussehen lassen dürfte wie einen einbeinigen Kriegsveteranen, dem man die Krücken versteckt hat. Mit jedem Sprung senkt sich die hochgereckte Sohle, und ich erwarte, augenblicklich festen Boden unter ihr zu spüren und meine Statik wiederherzustellen. Wie sich jedoch herausstellt, hat die glatte Estrichfläche andere Pläne. Eben noch springe ich umher. Und einen Moment später befinde ich mich auf meinem Hintern und spüre den harten, kalten Beton unter den Pobacken. Blöd schauend, peinlich berührt und etwas schmerzverzerrt, vergewissere ich mich sogleich, ob die Nymphe durch meinen Crash aufgescheucht wurde. Immer noch nicht. Obwohl ich nicht sehr laut war, hätte der Krawall doch ausreichen müssen, sie zu wecken. Da ist was oberfaul. Ihre künstliche Leichenstarre könnte also sehr wahrscheinlich heißen: Der Gast soll bitte keine Spuren hinterlassen und möglichst bald verschwinden. Einverstanden.

Ich hieve mich wieder auf die Füße. Die Welt taumelt ein bisschen. Während ich meinen Bauch einziehe, um den obersten Knopf der Hose zuzumachen, schaue ich dauernd zu dem Mädchen. Mit so einem zunehmend debiler werdenden Dauerbeobachtungsblick. Was wird sie sein? 19? 18? 17? 16? Menschen sehen heutzutage nicht mehr ihrem Alter gemäß aus. Und die Antwort spielt im Grunde keine Rolle.

Ich ziehe die Socken über und stopfe meine Fersen in die dunkelbraunen Schuhe. Beim Bücken komme ich beinahe wieder ins Straucheln. Als ich meinen Gürtel zudrücke, die Schnalle im zweiten Loch von vorne arretiere, atme ich das schwere Parfum der Gazelle ein und fühle mich auf einmal entsetzlich einsam. In meiner Brust gefriert etwas zu Eis. Ich erinnere mich an nichts, aber es sieht ganz danach aus, als ob mit der da was lief. Aber was? Nicht besonders viel, nehme ich an. Sie hat gar keine blauen Flecken. Vielleicht war ich nicht in Form. Ich hab’s einfach nicht so mit jungen Mädchen.

Ich sehe sie an, als erwarte ich einen Einwand. Und verabscheue mich ein bisschen mehr als üblich.

Mit den Fingern kämme ich mir die Haare, hole zwei Flusen aus meinem Nabel, und während ich wie auf Stelzen zur Tür schleiche, stülpe ich mir unordentlich mein weißes, teilweise zugeknöpftes Hemd über und stecke meinen rechten Arm in mein anthrazitfarbenes Sakko. Ich drehe die rechte Manschette um ein paar Grad. Dann die linke. Recke meinen Kopf zum Schließen des zweitobersten Hemdknopfes. Meine Krawatte lege ich mir wie ein Handtuch um den Hals. Auf das Binden des zweifachen Windsor-Knotens, den ich zu dunklen Anzügen und einfarbiger Krawatte bevorzuge, verzichte ich. Zugunsten raschen Verschwindens. Verabschiedend schaue ich Barbarella noch mal aufmerksam an, um sie für immer zu vergessen. Luftküsschen. Muss los. Ihren Namen werde ich wohl nie erfahren. Die Klinke ist traumhaft leise. Ich ziehe die Tür auf. Die beiden Staubballen unter dem Standspiegel zucken und kriechen in den Luftwirbel. Ich wende mich ab, Blick in Fluchtrichtung.

Der Bordstein liegt genau auf Höhe meiner Augen. Noch mehr Schien- und Wadenbeine laufen im herbstlichen Nebel an mir vorbei. Diesmal mit Klanguntermalung. Die Schrittgeräusche, das Klackern der Absätze, alles klingt seltsam differenziert. Als könnte ich jeden auftretenden Schuh einzeln zuordnen. Ich bin draußen. Nichts wie weg. Langsam schließe ich die Tür, die in entgegenkommend geräuschlosen Angeln hängt. Kurz bevor das Schloss einschnappt, ballen sich meine Kiefermuskeln. Durch den Spalt höre ich eine weibliche Stimme aus der Wohnung dringen.

Ein argwöhnisches, hochgezogenes »Tschüss«.

02

Nur häppchenweise lässt sich die Oktoberluft atmen, so kalt ist es. Ich nehme die eins, drei, fünf Stufen nach oben, gelange auf Bodenniveau und stehe auf dem Gehsteig einer befahrenen Straße. Ein fehlzündendes Moped rauscht vorbei. Der befreiende Moment des Entkommens gewährt mir eine nur allzu kurze Erleichterung. Denn schon setzt eine verstärkte Gedankentätigkeit ein, und ich beginne nach Anhaltspunkten zu suchen, anhand derer ich das schwarze Loch meines Erinnerungsausfalls rekonstruieren könnte. Doch ich habe keine Zeit, unsicher zu werden. Muss weiter.

Ich drehe mich noch mal um, sehe hinunter auf die Souterraintür, kneife die Augen zusammen und strecke dabei mein Kinn vor. CL steht auf dem Klingelschild aus goldfarbenem Messing. Nichts sonst. CL kann eine Menge heißen. Initialen an der Tür suggerieren definitiv Bedeutsamkeit.

In dem Moment, in dem ich mich wieder abwende, knattert ein Sattelschlepper vorbei, sein schmutziger Wind stinkt unmittelbar nach Diesel. Ich schüttle mein Jackett zurecht, schlage den Kragen hoch, scheine mich dahinter zu verstecken und bewege mich Schritt für Schritt weg von meiner Nachtunterkunft. Meine Gedanken entfernen sich noch viel schneller von ihr.

Die Atmosphäre wiegt schwer wie Blei. Alles wirkt wie von einem Dunstschleier überzogen. Fahler Grünstich. Wie nachkoloriert und künstlich vernebelt. Es ergeben sich tausend Schattierungen von entsättigtem Grün. Und letztlich doch so grau wie die Wohnung, aus der ich komme.

Zum Glück muss ich erst jetzt niesen. Und noch mal. Und noch mal. Unterdrücken zwecklos. Bei mir bleibt’s nie bei einem Mal.

Die nächsten Minuten gehe ich ziellos geradeaus und malträtiere meinen Verstand regelrecht, wo ich mich aufgehalten haben könnte. Doch meine Hirnregionen geben nichts frei. Was für ein Systemabsturz! Kein lichter Moment. Nicht mal eine schemenhafte, ungenaue Ahnung. Nicht mal das. Gar nichts. Montagabend, das ist das Letzte, an das ich mich erinnern kann. Die Feier zu meiner Beförderung. Im Restaurant des Charles Hotel. Das Essen, Acht-Gänge-Menü, neunzehn Personen, danach in die Bar. Aus. Das ist der Schlusspunkt. Mehr ist da nicht. Ich kann mich einfach an nichts erinnern. Mir wird mehrfach angst und bange. Und ich ertappe mich dabei, wie ich einer Erkenntnis den Zugang verweigere. Eine Erkenntnis, die mich neuerdings immer öfter zu erreichen versucht.

Ich setze an, die Straße zu überqueren, werde vom wilden Gehupe eines Linienbusses zurückgescheucht, hebe entschuldigend meinen Arm zum Busfahrer und laufe neben dem wieder beschleunigenden Riesenkasten hastig weiter, bis er mich überholt hat und ich, diesmal aufmerksamer, über die Straße gehe. Ich sollte mich fassen.

Priorität Nummer eins, mich orientieren, lokalisieren und aus dieser hilflosen Situation befreien. Wegweiser finden. So was wie eine Stadtplantafel mit einem roten »Sie sind hier«-Klebepunkt.

Die Straße ist eher eine breite Allee und wird gesäumt von mehrstöckigen bürgerlichen Altbauten. Monolithisch dastehende Senioren der Architektur. Alle in tadellosem Zustand, keines fällt besonders ins Auge. Hier und da alter Baumbestand. Kopfsteinpflaster auf der Fahrbahn. Eine Brise treibt ein Bonbonpapier darüber. Der Bordstein bedarf neuer Bodenplatten, wenn man diesen Alte-Schule-Stil nicht für Kult hält. Diese ganze Kultscheiße ist auch schon irgendwie durch. Durch den Großteil der Gehsteigritzen drängt sich moosiges Gras. Die bienenkorbähnlichen Laternen bestehen aus gelbem Glas, aufgespießt von schwarzen Masten. Alles in allem, eine vornehme Gegend.

Derartige Betrachtungen geben mir immer noch keine genügende Antwort auf meine Frage, wo ich bin. Ich bin wie gelähmt. Bei der schätzungsweise dreißigjährigen Frau mit rosenwangigem Kindergesicht und Pagenschnitt, die mit Einkaufstüten an mir vorbeigeht, C-Mensch, werde ich mich schon mal nicht erkundigen. Wie hört sich so was denn an? »Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich bin?« Nein, lieber nicht. Ich möchte kein Aufhebens um mich machen. Bevor ich jemanden nach etwas frage, brauche ich immer erst eine gewisse Aufwärmphase, während der ich inständig hoffe, dass sich das Problem in der Zwischenzeit von selbst löst.

Ein Windstoß bringt die wenigen restlichen Blätter der Bäume zum Rascheln. Zig Eicheln fallen von den Ästen und prasseln zu Boden. Eine davon trifft mich im Nacken. Wie gezielt. Leicht angeekelt zucke ich zusammen, ziehe die Schultern hoch, um sie vom Weiterrutschen unters Hemd abzuhalten, und entferne sie aus meinem Kragen.

Ich erreiche eine Kreuzung, an der mir blaue Schilder mitteilen, dass ich mich an der Ecke Seydlitz-/Mauerstraße befinde. Hurra! Das sagt mir gar nichts. Nie gehört. Ich schaue umher, enttäuscht von der Nutzlosigkeit dieser Information. Und fühle mich ziemlich verloren. Ozeane und Landmassen von daheim entfernt. Ich irre nicht gern ohne Orientierung durch die Fremde. Ich liebe es, mich auszukennen.

Zu allem Überfluss bleibt mein Blick unwillkürlich an einer Doppel-Reklametafel hängen. Links, die Werbung für Feinwaschmittel, ignoriere ich. Nur das rechte Plakat, das von einem bahnbrechenden Haarwuchsmittel kündet, erregt kurz meine Aufmerksamkeit. Natürlich wird die Wundertinktur nicht funktionieren. Aber eine höher werdende Stirn raubt einem nun mal den letzten Nerv.

Ich schweife ab. Passiert mir immer öfter.

Gebieterisch und flehend sehe ich mich weiter um und drehe mich dabei zweimal um die eigene Achse, auf der Suche nach einem Anhaltspunkt. Auf den meisten Autokennzeichen steht ein D. Na also. Das ist doch schon mal was. Düsseldorf. Auch auf dem Taxi, das sich mir nähert. D. Gut! Aber ich sehe, es ist ein Großraumtaxi. Daher lasse ich es vorüberfahren. In so was steige ich nicht ein. Nicht allzu lange darauf kommt ein normales. Ich mache einen Schritt nach vorne, näher zur Fahrbahn und hebe meinen Arm. Dabei recke ich zusätzlich drei Finger in die Luft. Sie sind steif vor Kälte. Ich winke, ein reiner Routinevorgang. Der Mercedes fährt ran. Lässig öffne ich die hintere Tür des elfenbeinfarben beschichteten Wagens mit Dreckspritzern an den Seiten. Die Angeln machen ein Geräusch, als würde jemand mit seinen Fingernägeln über eine Tafel kratzen. Ein kurzer Schauer fährt über meinen Rücken. Ich steige ein, mit präsidialer Würde, wie ein Mann von Welt. Dem ein wenig die Beine zittern.

»Guten Tag«, sage ich schonungsvoll und lasse mich auf den Sitz sinken. Und schon bin ich in einer anderen Sphäre.

Verdutzt beantwortet der Fahrer mit serbokroatisch flachem Hinterkopf, aber perfektem Ausländerdeutsch (F-Mensch), meine anschließende, hilflose Frage mit »Na, Mittwoch natürlich. Heute ist Mittwoch.«

Ich sage: ah, danke. Denke mir: ah, zwei Tage. Und lehne mich zurück. Fast zwei Tage fehlen mir in meinem Gedächtnis. Mein Gott, zwei Tage.

Das Taxameter wird angeschaltet. Im leise gedrehten Radio verkündet jemand hochmotiviert und einfühlsam die meteorologischen Prognosen, als wäre schlechtes Wetter was Neues. Der ehemalige Freiheitskämpfer aus dem erschreckend nahen Osten sitzt halb zu mir gedreht da und wirft mir einen erwartungsvollen Blick zu, aus dem ich nicht ganz schlau werde. Er sieht aus wie eine Suppendose. Ich spreize die Hände. Sammle mich. Zwei Tage! Weg. Futsch. Ausgelöscht. Stumm stiere ich den Fahrer an, meine Miene spricht Bände. Was – ist – denn?

»Wohin soll’s gehn?«, erkundigt er sich trocken.

Ach so, ja.

Will heim.

Ich sage harmlos genug: »Zum Flughafen bitte.«

Ich bin in der falschen Stadt.

03

Sechs Stunden werde ich wohl hier auf der Bank vor dem Panoramafenster mit Aussicht auf die Düsseldorfer Start- und Landebahnbahn sitzen und auf meine Maschine warten. Der Gedanke allein schlaucht. Warten. Ein Zustand, dessen Tristesse ja allgemein anerkannt ist. Und meine Flugangst potenziert sich dadurch auch noch überproportional. Was für ein Akt es eben war, überhaupt noch ein Flugticket nach Hause zu bekommen. Möchte man nicht glauben, dass die Strecke so begehrt ist. Ich fläze mich missmutig in meinen Sitz in der Abflughalle, Gate wasweißich, zücke mein Telefon und tippe einmal auf die Kurzwahltaste. Mit einigem Druck presse ich das chronisch fettige Rechteck an mein Ohr.

»Fynn, ich bin’s. – Ja, alles okay. Bei dir auch? – Nein, nein, ich bin nur gerade aufm Flughafen. – Ja, geschäftlich. Klar. – Bei uns bleibt’s bei kommendem Dienstag, oder? – Wenn du möchtest, können wir ins Kino gehen. Und dann auf ein Eis oder Sushi oder beides oder was du … – Gut! – Gut, ja. – Ist ja schon in … sechs Tagen. – Dann hole ich dich von der Schule ab. Wann hast du aus? Um Viertel nach zwölf? – Ah, früher, ja schön, dann … – Genau, dann um halb zwölf. Hast du der Frau Richling das mit der Hausaufgabe erklärt? – Das ist … ja, das klingt doch gut. – Aber wenn du dort bist, dann hol ich dich besser an der Pforte vom Heim ab, oder? – Kinoprogramm bring ich mit, oder hat der Herr besondere Wünsche? – Wie: keine Ahnung? Du bist ja lustig, ich schau mal, da finden wir schon was. Sonst gehen wir in den Zoo, haha. – Ich weiß doch, dass du das nicht ma… – Arme Löwen, ja, ich weiß. – Ja, und arme Tiger. Und … genau, die auch, ja. Tiergefängnis. – Ja, klar. Geht’s dir sonst gut? – Nö, das ist schon vorbei. – Bin gerade in Düsseldorf. – Ähm, wir haben hier, ähm, wir hatten ein Meeting wegen einer, ähm, nicht so wichtig, uninteressant für dich. So ein Großhandelskonzern. Funktioniert die Xbox jetzt? – Prima. – Ah, gut. Okay du, dann bis Dienstag, ja? – Egal, wir telefonieren davor doch sowieso noch mal. – In Ordnung, bis dann, Tschühüss.«

Ich lege auf. Mit unscharfem Blick schaue ich durch die Scheibe auf die kaum zu erahnende Sonne am Himmel. Die kenn ich. Ist immer dieselbe. Sie entfaltet keine wärmespendende Wirkung und ist so schwach, dass man ihr ins trübe Auge schauen kann. Ihre matte Erscheinung kündigt den nahenden Winter an. Ich mag den Winter lieber als den Sommer.

Mein verschwommenes Starren bleibt noch etwas haften. Der Zustand jenseits von Glück und Unglück. Von nichts aufgeschreckt, außer der Frist, die man sich selbst für solche gedankenverlorenen Momente setzt, sauge ich die Luft ein und fasse mich wieder. Wie wenn man sich sagte: Schluss, mehr gibt’s nicht. Mehr gibt’s auch nicht, weil der Herr neben mir den Umstand, dass wir beide ziemlich teure Anzüge tragen, für eine Gemeinsamkeit hält, die ihn glauben macht, sich gestatten zu können, mit mir Verbindung aufzunehmen. Er hält sich und mich für unsereins! Von wegen. Ich ahne, wir haben nicht die geringste Schnittmenge. Und ehe ich mich innerlich sortieren kann, fragt er mich beiläufig, aber hochinteressiert: »Ihr Sohn?«

»Wie bitte?« Ich sehe ihn von der Seite an.

»Entschuldigung, ich habe Ihr Telefongespräch mitbekommen. Ich meinte nur …«

Ich will nicht zu tief einsteigen, also antworte ich: »Ah. Ja, ja genau, mein Sohn«, obwohl Fynn nicht mein Sohn ist. Fynn hat keine Eltern. Sie konnten nie ermittelt werden. Das verbindet uns. Das ist einer der Gründe, warum ich Fynns Patenschaft übernommen habe. Es ist nichts Ungewöhnliches, dass erwachsene Vollwaisen sich um den Nachwuchs kümmern.

»Schön!«, sagt der graugesichtige Unbekannte, »Ihr einziger?«

Ich nicke. Wahrheit, Unwahrheit, ist doch egal.

»Wie alt ist er denn?«, erkundigt er sich weiter und behält mich eisern im Blick. Man darf solche Fragen niemals als Interesse an einem selbst missverstehen. Sie sind lediglich Vorwand und Vorlage für den Mitteilungsdrang des Fragestellers.

»Er ist acht«, gebe ich konziliant Auskunft. Ich muss mitspielen, wenn ich nicht will, dass Herr Neugierig sein Gesicht verliert. Lieber würde ich noch ein paar Telefonate machen oder die zerfledderte »Financial Times« lesen, die jemand auf einem der schräg gegenüberstehenden Stühle hat liegen lassen, als mich mit diesem hinterkopfglatzigen Arschloch und seinem kurzgetrimmten Bart zu unterhalten.

»Ich selbst habe drei Söhne. Fünf, neun und vierzehn«, fährt der aufdringliche C-Mensch fort, der sich zwei Minuten später als Zahnarzt aus Grünwald vorstellt. Es gibt mir seit jeher Rätsel auf, dass es ein derart hohes soziales Ansehen genießt, anderen ganztätig im Mund rumzustochern. Ich verstehe das nicht.

Dr. dent. schildert mir deplaciert selbstbewusst seine familiären Verhältnisse, obwohl ich kein sonderliches Interesse zeige. Er schnallt es nicht. Er nimmt unseren ähnlichen Dresscode anscheinend tatsächlich zum Anlass, uns beide irgendwie auf derselben Ebene zu verorten. Aber es ist so gut wie sicher, dass er sein Studium nicht mit Summa cum laude abgeschlossen hat. So wie ich. Es ist so gut wie sicher, dass er nicht erst mal zusehen musste, ein Stipendium zu bekommen, um sich eine akademische Laufbahn überhaupt leisten zu können. So wie ich. Denn gemäß den Verhältnissen, aus denen ich stamme, hätte ich mir eine solche Ausbildung ganz einfach nicht leisten können. Ich wette, der Zahnklempner war nicht deutschlandweit jahrgangsbester Uniabgänger. So wie ich. Vermutlich habe ich mehr vergessen, als er je lernen wird. Wie es ihm auch scheinen mag, wir haben nichts gemeinsam. Aber das glaubt er. Er solidarisiert sich auf die Art, die ich gar nicht mag, indem er manche seiner zunehmend ausufernden Sätze mit »Sie wissen ja selbst, wie das ist« beendet. Das ist nicht auszuhalten. Dieser Pseudo-Miteinbezug meiner Person. Welch gnädige Zubilligung! Ich komme mir vor wie sein netter Zeitvertreib. Sein After-Shave-Geruch ist unerträglich. Hatte heute wohl was Besonderes vor, wenn er sich so damit überschüttet. Auf der Piste hebt ein weiterer Flieger ab und durchschneidet die Luft, und ich spähe verstohlen abwechselnd zu der einsamen Zeitung auf dem Stuhl und dem Nachrichtenbildschirm, über den die immer gleichen Weltnews in Endlosschleife ohne Ton flimmern, während mein Zahnbohrer vom Hundertsten ins Tausendste kommt. Ihm steht der Sinn nach ratschen, und er hat mich als Zielobjekt auserkoren. Worauf ich mir nichts einbilden sollte. Er ist einer der Menschen, die die Gabe besitzen, sich mit jedem beliebigen Fremden unterhalten zu können und total locker dieses Gefühl von Affinität und Beziehung herzustellen, obwohl sie wissen, dass man sich nach diesem Gespräch nie wiedersehen wird.

Seinen Ausführungen entnehme ich, dass die Zahnbranche blüht. Und als er mich nach meinem Job fragt, bringe ich das Thema mit meiner eigenen Masche schnell wieder auf ihn zurück, weil es im Allgemeinen so ist, dass ich von einer Sache umso weniger spreche, je mehr sie mich interessiert. Ich neige dazu, meine berufliche Tätigkeit als etwas anzusehen, das in meinem Leben einen gesonderten Platz einnimmt und auf keinen anderen Bereich übergreifen soll.

Er schwafelt dankbar weiter und sagt so was wie, er wolle »künftig vermehrt die Welt bereisen … Fremde Kulturen kennenlernen … Vor allem Asien … Japan, Korea, China … So spannend alles …«. Etwas in der Art. Wenig Inspirierendes. In professioneller Nullkonversation geübt, erzähle ich ihm, einfach, damit ich was erzähle, wie sagenhaft toll Hongkong ist. Ich war nie dort. Empfehle ihm, es unbedingt mal zu bereisen. Wunderschön, ehrlich. Muss man gesehen haben. Ich überlege mir, Fakten dürften einen wie ihn sowieso nicht interessieren. Ihm geht’s um die Idee von Asien, das Ideal der Ferne. Nicht um hundefressende Schlitzaugen, rassistische Kleinwüchsige, frauenunterdrückende gelbhäutige Prolls. Ja, ja, die mir schwer begreifliche Romantisierung von Reisezielen und fremden Kulturen. Da stört die rationale Auseinandersetzung mit fremden Sozialisationen doch erheblich. Mir kommt in den Sinn, dass ich immer denselben Kopf aufhabe, egal, wohin ich reise.

Mein ungebetener Gesprächspartner berichtet davon, sich auf Immobiliensuche zu befinden. Er träumt von einem eigenen Ferienhäuschen im Süden. Irgendwo in Italien, wo’s schön und warm ist, schwärmt er und krault seinen Bart.

Donnerwetter. Das ist in meinen Augen die beste Unterhaltung aller Zeiten. Und ich bin dabei. Wer kann das schon von sich behaupten!

Ich signalisiere ihm vollste Nachvollziehbarkeit seines Plans und kann mir nichts Idiotischeres vorstellen. Ich sage ihm nicht, dass er für die Kohle, die so ein Haus im Ausland in Anschaffung und Unterhalt kostet, ewig in einem Fünf-Sterne-Hotel wohnen könnte und dann auch nicht lebenslänglich auf einen Urlaubsort festgelegt wäre. Ärger, Sorgen und Verantwortung mal ganz außen vor gelassen. Auch hier geht es wieder mal um die Idee, nicht um Tatsachen. Aber wie soll jemand so etwas verstehen, der gleich darauf diesen Klischeekrampf aller Klischeekrämpfe absondert: »Es ist auch, weil, … ich meine, finden Sie nicht auch, die Deutschen sind so steif. Im Süden sind die Menschen viel netter und lockerer. Bei uns ist alles so eng und spießig.« Man kann es nicht mit anhören. Und ich denke mir, gerade du musst so was sagen, ja, dann hau doch ab, mal sehen, wie du reagierst, wenn dich die ganzen öligen, korrupten, unzuverlässigen Itaker-Chaoten schön auflaufen lassen und du nach einem Jahr immer noch keine Antwort vom römischen Einwohnermeldeamt oder vom Heizungsinstallateur bekommen hast und an diverse Spaghettifresser unzählige Euro Schmiergeld abdrücken durftest. Dann definieren wir noch mal den Begriff »spießig«, du Spießer. Die Weichbirnen in diesem Land schreiben offenbar alle voneinander ab. Wie oft habe ich das schon gehört, diesen hanebüchenen Woanders-ist-alles-besser-Müll. Immer nur von ultra angepassten Schwachmaten, denen es an jeglicher Originalität fehlt, die eigentlich scheiß Nazis sind, mit Ausländern in Infinitiven sprechen und die nach spätestens vier Wochen ernsthafter Landflucht heulend nach Hause zurückgerannt kämen. Was für Träume und Wünsche hinter den Nichtdenkerstirnen dieser Leute schlummern! Ich verstehe das nicht.

Ich beschränke mich darauf, nur noch Geräusche als Antworten von mir zu geben. In meinem Kopf arbeitet es parallel die ganze Zeit. Was ist mit mir die letzten beiden Tage passiert? Meine Beunruhigung umgibt mich wie ein Dauerrauschen.

Die aktuelle Maschine für dieses Gate ist laut Durchsage bereit zum Einsteigen. Aber mein Oralmediziner ist in redseliger Laune, bleibt noch sitzen, bis zuletzt. Durch ein Klingeln in meinen Ohren höre ich ihn fragen: »Aber wissen Sie, was ich wirklich gerne hätte?«

Ein Hirn? »Nein. Was denn?«

»Zeit!«

Ich bin überwältigt von seinem philosophischen Turn. Ich lache. Eigentlich ihn aus, aber ich kriege die Kurve und lasse es wie eine sentimentale Beipflichtung durch meine Lippen strömen.

»Zeit! Das ist doch das Wertvollste überhaupt, finden Sie nicht?« Das sind seine Worte. Das Wertvollste überhaupt, was immer das heißen mag. Ich denke mir: Wirf dein Leben weg, und du hast nichts verloren. Aber ich begreife schnell, dass er seinen Käse als gewichtiges Schlusswort betrachtet und aufsteht. Er reicht mir die Hand, und als ob das noch nicht genug wäre, salbadert er, mit bohrenden Augen: »Grüßen Sie Ihren Sohn unbekannterweise recht herzlich von mir. Fynn heißt er, richtig?«

Und mit der Erwähnung von Fynns Namen ist bei mir Schluss mit lustig. Ihn zu nennen, steht diesem Typen nicht zu. Dazu hat er kein Recht. Auch ohne böse Absicht. Ein Sakrileg. Ganz im Ernst. Fynn ist tabu, für diesen Zipfel aus dem Tal der Ahnungslosen. Ich fühle mich plötzlich von jeder Rücksichtnahme befreit. Unterdrücke das Gefühl sich anbahnenden, besinnungslosen Hasses jedoch sofort und glaube mit einem Mal, den wahren Sinn von Manieren, Anstand und Heuchelei zu begreifen. Tugenden, die mir schon ziemlich früh eingebläut wurden. Einzig der Mäßigung darf man uneingeschränkt frönen, hat Pater Cornelius immer gesagt. Ich stehe zum Händeschütteln sogar auf, lasse einen kräftigen, gesunden Händedruck einwirken. Sage ernst, aber ruhig: »Hat mich gefreut. – Ja, ich muss noch eine weitere Maschine abwarten, nicht schlimm. – Auf Wiedersehen. Und guten Flug.« Dr. Karies nickt und macht sich forsch auf den Weg zum Boardingschalter. Irgendwann kommt für alles der letzte Augenblick.

Die »Financial Times« hat sich inzwischen jemand anderes unbemerkt gekrallt. Ich setze mich wieder.

Das Gespräch hat mir überhaupt nicht gutgetan.

Und, ich muss noch zwei weitere Maschinen abwarten. Schrecklich.

04

X Stunden später, zu viele, um sie aufzuzählen, lande ich in der richtigen Stadt. Mit wetterbedingter Verspätung von drei Stunden. Das hat mir gerade noch gefehlt. Als Flug LH852 aus Düsseldorf in München aufsetzt, fällt feiner Schnee. Wir haben kurz nach 22 Uhr, stockdunkel draußen. Möchte noch ins Büro. Noch mal Taxi. Pro Jahr produziere ich über 300 Taxiquittungen, die ich auf meiner Spesenliste abrechne.

Ich weise den Fahrer (E-Mensch) an, zuerst noch eine Privatadresse in Schwabing anzufahren. Die Wohnung eines befreundeten Chefarztes (B-Mensch), mit dem ich mich vorhin telefonisch verabredet habe. Ich brauche Tablettennachschub. Mein Insidon-Vorrat neigt sich dem Ende zu. Meine ganzen Psychopharmaka beziehe ich über ihn und zahle immer aus eigener Kasse. So stelle ich sicher, dass mein Konsum nicht bei meiner Krankenversicherung aktenkundig wird. Man weiß nie. Eine Enthüllung meiner Gewohnheiten und Gepflogenheiten könnte ich nicht brauchen. Nicht nur, was meine Medikation betrifft.

Die Übergabe klappt wie stets reibungslos und wird im Flur abgewickelt, die Kinder schlafen schon, und seine Frau (B bis C-Mensch) mag diese konspirativen Besuche nicht. Dabei kauft sie sich vom Gewinn sicher schönes unnützes Zeug. Ich verabschiede mich. Und noch auf dem Weg von der Wohnung zurück zum wartenden, warnblinkenden Taxi ziehe ich einen flachen Streifen aus der Packung, drücke zwei kleine Tabletten in die Handfläche und schlucke die runden Dinger, die meine Depressionsschübe, meine Stimmungsschwankungen und die Stimmen, die ich höre, seit zwölf Jahren in Schach halten, mit gesammelter Spucke runter.

Der Langzeitverträglichkeit wegen wechsle ich meine Präparate alle sechs Monate aus. Es besteht für mich kein Zweifel daran, dass ich ein ernsthaftes Narkotikaproblem habe.

Mit knarziger Stimme weise ich den Fahrer an, mich ins Büro zu fahren. Er ist ein älterer junger Mann, ewige Mitte zwanzig, also Anfang dreißig, der die für sein Alter erwarteten beruflichen Fortschritte nicht vorweisen kann und noch in zehn Jahren fest glauben wird, nur übergangsweise Kunden durch die Nacht zu kutschieren. Tagsüber versucht er sich schätzungsweise als Videogame-Entwickler, in Webdesign oder als Redakteur für gratis-online-Portale. Vorerst noch für lau, Vorleistung, alles braucht Zeit, der große Durchbruch kommt schon noch. Und sobald sich da was tut, kann er auch für die unehelichen Kinder zahlen, die zu bekommen er sich natürlich entschieden hat, er findet es nämlich wichtig, »dazu zu stehen«, so wie er ja auch »bereit ist, Verantwortung zu übernehmen«. Die trostlose Version des modernen, entmännlichten Mannes im neuen Jahrtausend eben. Die Deppen, die auch ständig »nicht wirklich« anstatt nein sagen und »weißt, wie ich mein?« anstatt gar nichts.

Der Schnee fällt in pappigen Schlieren gegen die Wagenfenster. Entgegen weitverbreiteten Mythen bringen sich in kalten Monaten weit weniger Leute um als in warmen. Laut Selbstmordstatistik.

Die Tabletten setzen ein und entschärfen mein paranoides Delirium, meinen Taumel rund um die Frage, was in den fehlenden Stunden bloß mit mir geschehen sein mag.

Der ewige Verlierer am Steuer lenkt den Wagen auf nassen Straßen durch die City Richtung Norden, vorbei an der Universität, die am symbolträchtigen Geschwister-Scholl-Platz liegt. Diese Adresse fällt mir deshalb auf, weil ich immer, wenn ich hier entlangkomme, eben an diese Geschwister Scholl und ihr Unternehmen »Weiße Rose« denken muss. Die berühmte Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus. Sehr löblich. Sie genießen Heldenstatus. Was man mir jedoch mal erläutern muss. Sie haben nämlich nichts erreicht. Die beiden ließen sich unter peinlichen Umständen bei einer ihrer Flugblattverteilungs-Aktionen erwischen und haben NICHTS bewirkt. Das Dritte Reich nahm durch ihre Existenz und stümperhaften Handlungen keinerlei Schaden.

Wenn folglich lediglich die gute Absicht zählt, dann besteht für mich dringender Erklärungsbedarf.

Würde ich mir vornehmen, die Taliban auszurotten, ihr Hauptquartier ausfindig machen und ins Zimmerfenster des Oberbefehlshabers rufen: »Du, du, du, böse, böse, böse. Nicht mit Terror weitermachen, gell!«, und meiner mündlichen Verwarnung wagemutig einen Stoffteddybären hinterherwerfen, wäre ich dann auch reif für die internationalen Geschichtsbücher? Wäre ich dann bewunderungswürdig? Allein der hehre Vorsatz zählt? Des Ergebnisses ungeachtet? Echt? Echt, ich verstehe das nicht.

Ich spiele mit der Tablettenschachtel in meinen Händen herum, drehe sie um ihre Achse, stecke sie ein. Der Geschwister-Scholl-Platz zieht an uns vorbei. Und noch etliche andere Gebäude. Ein paar Minuten lang. Dann hält das Taxi. Da wären wir. Noch eine Quittung mehr.

05

Es ist Mitternacht, und ich sitze in meinem Büro im 21. Stockwerk des VelCo Office Towers. Das ganze Gebäude wird von Lutz & Wendelen gemietet. Es ist das Hauptquartier, die Schaltzentrale sämtlicher weltweiten Niederlassungen. Über 2 400 Mitarbeiter zählt das Unternehmen. Trotz später Stunde möchte ich wenigstens die Post und meine Mails, die sich seit Montag angehäuft haben, bearbeiten. Nicht umsonst bin ich, wo ich bin. Aber ich bin nicht der Einzige, der noch hier ist. Beim Hereinkommen habe ich gesehen, dass bei zahlreichen Kollegen Licht brennt. Überstunden sind hier an der Tagesordnung. Hier kommt nur durch, wer bereit ist, sich zum Wohl der Firma alles abzuverlangen. Grundvoraussetzung Nummer eins. Auch nach vierzehn Stunden einen hohen Energielevel beizubehalten ist hier jedem in Fleisch und Blut übergegangen. Schlafentzug wird zum Kick, Erschöpfung zum kräfteverleihenden High. Die Sogwirkung kollektiver Erfolgsgier.

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