Paranoid - Wolfgang Hiller - E-Book

Paranoid E-Book

Wolfgang Hiller

4,6

Beschreibung

"Paranoid", ist die Geschichte des alleinerziehenden Peter Kelly, der in Isny im Allgäu lebt. Der Verlagsangestellte träumt davon, endlich einen Bestseller zu schreiben. Während eines Schreibseminars ereignen sich in seinem Umfeld mehrere mysteriöse Morde und Unfälle. Immer mehr gerät auch er in Verdacht, zumal er einige Motive für die Taten hätte. Kelly hat auch ein weiteres Problem: Seit dem Tod seiner Frau leidet er zunehmend unter Wahnvorstellungen. Immer mehr verwischen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie.

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Zum Autor:

Wolfgang Hiller ist ein Allgäuer Autor. Er hat in den letzten Jahren, drei Wanderbücher und mehrere Krimis veröffentlicht. „PARANOID“ ist sein aktuellster Thriller. Für 2016 ist ein weiteres Wanderbuch geplant, mit dem Titel „Zauberhafte Bergseen (3)“. Im November ein weiterer Kriminalroman (nach wahren Begebenheiten), mit dem Titel: „Kinderschänder“. Zum Jahresende der Krimi; „Dorf der Mörder“. Bisherige Titel von ihm: Zauberhafte Bergseen (1 + 2), Verfluchter Schrecksee, Blutroter Chiemsee, Barfuss durch das Allgäu.

Unter dem Pseudonym „Marc Palmer“: Spurlos, Höllentrip nach Prag, Teufel im Kopf, Kalinka - das tote Mädchen vom Bodensee, Zürich außer Kontrolle.

Vorwort zum Roman:

„PARANOID“ ist ein fiktiver Thriller. Die Geschichte und die Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig. Einige (wenige) Schauplätze wurden aus dramaturgischen Gründen dazu erfunden oder sind leicht verändert wiedergegeben. Die Gemeinde „Hintersee“ wird einige Male erwähnt, ist aber frei erfunden, zumindest im Oberallgäu. Einer der Ortsteile von Bad Hindelang heißt Hinterstein, in dem es „gewisse Parallelen“ zu „Hintersee“ gibt. In dem Kurort Bad Hindelang, gibt es schon seit vielen Jahren keine Polizei station mehr, geschweige denn einen Polizeiposten. Einige Verlage und Kliniken sind ebenfalls erfunden oder wurden umbenannt. In Neutrauchburg, einem Ortsteil der Stadt Isny, gibt es mehrere Kliniken, unter anderem auch eine psychosomatische, die ebenfalls „verändert“ wurde. Schauplätze der Story sind im württembergischen und bayerischen Allgäu, Oberschwaben (Baden-Württemberg) und der Bodenseeregion.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG: Nikolaustag, 6. Dezember 2014

Kapitel 1: Ostern 2011

Kapitel 2: Jungholz (Tirol). Dezember 2010, kurz vor Weihnachten

Kapitel 3: Gegenwart

Kapitel 4: Dezember 2011, kurz nach Weihnachten

Kapitel 5: Gegenwart

Kapitel 6: März 2014, Rettenberg (Oberallgäu)

Kapitel 7: April 2014

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapiel 14: Marias Geschichte. Mitschnitt vom Diktiergerät

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17: Marias Geschichte, zweiter Mitschnitt

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22: Vier Monate später, Anfang September 2014. Stadtkrankenhaus Ravensburg, Zimmer 38

Kapitel 23: Einen Tag später

Kapitel 24: Frankfurter Buchmesse, Mitte Oktober 2014. Sieben Wochen vor Sophies Verschwinden

Kapitel 25: Eine Woche später

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29: 31.Oktober 2014, Leutkirch

Kapitel 30

Kapitel 31: November 2014, einen Monat vor Sophies Verschwinden

Kapitel 32: Montags, zwei Tage später

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39: Tatort „Haus Kelly“, zur selben Zeit

Kapitel 40

Kapitel 41: Bezirkskrankenhaus Kempten. Fachklinik für Psychosomatik, Psychiatrie und Schizophrenie. 28. Dezember 2014

Kapitel 42

EPILOG: Februar 2015. Buchenberg (Allgäu)

PROLOG

Nikolaustag, 6. Dezember 2014

Mein Name ist Peter Kelly und neben mir im Auto sitzt meine achtjährige Tochter. Ich wusste noch gar nicht, dass meine Sophie anhand der Sterne die Himmelsrichtung bestimmen konnte. Sophie hinterließ Nasenabdrücke auf dem Beifahrerfenster, während wir auf der Fahrt von Isny Richtung Bad Hindelang zum Weihnachtsmarkt waren. Sie zählte die Sternenbilder auf und murmelte: „Süden, Osten oder Norden“, wenn ich abbog.

„Wo hast du das gelernt?“, fragte ich sie.

„Wo hab ich was gelernt?“

„Na, die Sternenbilder.“

„In Büchern.“

„In welchen Büchern?“

„Einfach Bücher.“

Ich wusste, dass ich von Sophie nicht mehr erfahren würde. Das lag daran, dass wir beide Vielleser sind. Nicht unbedingt aus reiner Leidenschaft, sondern weil wir nicht anders konnten. Wir waren von Natur aus Beobachter, Deuter und Kritiker. Wir lasen nicht nur Bücher, sondern auch Comics, Reiseprospekte, Wanderführer, Zeitschriften, ja sogar Rezepte. Egal was, Hauptsache wir würden dadurch die Welt besser verstehen.

„Osten“, sagte Sophie und presste wieder ihre Nase an die Scheibe. Beide spähten wir auf die weithin sichtbare, zauberhafte Beleuchtung des vielleicht schönsten Christkindlmarktes im Allgäu. Es war kurz vor achtzehn Uhr, und langsam wie bestellt, fielen leichte dicke Schneeflocken vom Himmel, um dem Weihnachtsmarkt die richtige winterliche Atmosphäre zu verleihen. Nur wenige Meter vom Kurhaus entfernt konnte ich meinen Ford Focus parken. Ich war wie jedes Jahr, seit 2010, auf Sophies Wunsch hin, hierhergefahren. Aber nicht nur ihr, auch mir gefiel der zauberhafte und hübsch dekorierte Markt, wie auch zehntausenden von anderen Besuchern aus Nah und Fern. Es gab sogar Touristen, die jedes Jahr ihren Urlaub genau zum Zeitpunkt des Marktes hier verbrachten. Julia - Sophies Mutter, meine Exfrau - ist im achten Monat der Schwangerschaft gestorben. Nur mit viel Glück konnte das noch nicht geborene Kind, mit einer waghalsigen Operation gerettet werden, sodass mir wenigstens das Mädchen blieb, während meine geliebte Julia unter grauenvollen Umständen viel zu früh von dieser Welt ging. Seitdem ziehe ich die Kleine mit Hilfe meines Kindermädchens Alexa alleine auf. Wie alle kleinen Kinder liebte sie die Weihnachtsfiguren, die vielen Süßigkeiten, und natürlich auch den Nikolaus, der heute kam, um die (hoffentlich) braven Kinder zu beschenken. Wir stiegen aus dem Auto und ich nahm Sophie an die Hand. Die Kleine sah mich erwartungsvoll aus ihren rehbraunen Augen an. Jetzt wo ihr Gesicht halb im Schatten lag erkannte ich ihre Mutter darin. Von ihr waren auch ihre Freundlichkeit und Verletzlichkeit. Sie in ihren Zügen zu sehen, weckte das Gefühl in mir, jemanden zu vermissen, der noch immer da war, zumindest in meinem Herzen und Kopf.

„Papi, was ist los? Wollen wir nicht weitergehen?“, fragte mein kleiner Schatz, und riss mich aus meinen wehmütigen Gedanken, als ich sie solange anstarrte. Immer mehr Besucher strömten jetzt von allen Seiten auf den Weihnachtsmarkt. Dutzende von Busse aus ganz Süddeutschland, luden tausende von Besucher aus. Heute am Samstag war der vorletzte Tag. Ich zog Sophie die Kapuze hoch, dass ihre Pudelmütze nicht gleich nass war, da der Schneefall etwas stärker wurde. Wir liefen weiter bis zum Rundbogen am Kurhaus, wo ich den Eintritt zahlte. Der süße Duft gebrannter Mandeln, sowie von Bratwurst und Pommes, erweckte unsere Hungergefühle. Sophie und ich hatten weitestgehend den gleichen Geschmack, weniger nach Lebkuchen oder Mandeln, sondern vielmehr auf Currywurst und Pommes mit reichlich Ketchup. Ich bestellte an einer Bratwurstbude zwei normale Portionen, schließlich aß Sophie genauso viel wie ich, und musterte die herbeiströmenden Menschenmassen. Zu weihnachtlichen Klängen verschlangen wir genüsslich unser Lieblingsgericht, während der Schneefall immer stärker wurde. Das soll jetzt aber nicht heißen, dass es das fünfmal in der Woche bei uns daheim zum Essen gab. Alexa war eine ausgezeichnete Köchin, die uns fast jeden Abend mit genügend Vitaminen und Ballaststoffen versorgte. Während ich uns noch an der Bude zwei Cola light besorgte, entdeckte ich drei Stände weiter, Monika Ehret, eine Kollegin, die in dem gleichen Verlag arbeitete wie ich, bei den „Schwäbischen Nachrichten“. Seit wenigen Wochen war sie aufgestiegen zur stellvertretenden Chefredakteurin, manch einer munkelte, sie hätte sich hochgeschlafen. Zuzutrauen wär`s ihr, auch bei mir hatte sie nach dem Tode meiner Frau, diverse Annäherungsversuche gestartet. Sie war Mitte dreißig, vier Jahre jünger als ich, und bereits zweimal geschieden. Das sagte fast alles, dachte ich mir, als sie mir mit einem Glühweinbecher zuprostete und lächelte. Sie war mit einer weiteren Frau hier, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich nickte ihr nur kurz zu, sonst würde sie womöglich noch unseren Platz ansteuern. Als wir unseren Hunger gestillt hatten, schlenderten wir weiter. Wir mussten uns Richtung Rathausplatz orientieren, da dort in zehn Minuten die Geschenke verteilt wurden. An einem Stand mit kunstvoll geschnitzten Figuren und bezaubernden Krippen blieb ich kurz stehen. Ich nahm einen schicken Engel in beide Hände, und musterte ihn aufmerksam. Dann stellte ich ihn wieder ab und griff in die Innenseite meiner Jacke, um nachzusehen wie viel Geld ich noch dabei hatte. Nachdem ich sah, dass es noch für mehrere Kostbarkeiten dieser Art reichen würde, wollte ich aber erst mal meine kleine Maus nach ihrer Meinung fragen. Ich blickte nach unten und bekam einen Schreck. Meine Hände zitterten stark und ich begann zu schwitzen.

Sie war weg!

Nur wenige Sekunden hatte ich ihre Hand losgelassen. Ich schrie nach ihr, und drehte mich dabei mehrfach um die eigene Achse. Außer den nassen Schneeflocken, die mir in die Augen flogen, und grinsende Leute, die schon vom Glühwein angetrunken waren, sah ich nichts. Ich hatte sie keine Minute aus den Augen gelassen, und jetzt war sie wie vom Erdbeben verschluckt. Trotz der Kälte öffneten sich jetzt überall meine Schweißporen und meine Augenlider zuckten unkontrolliert. Wo war sie, verdammt noch mal? Sie ging nie einfach weg wenn wir irgendwas unternahmen. Wie ein Irrer durchstreifte ich den Markt, und fragte viele Budenverkäufer nach dem kleinen, süßen Mädchen mit der pinkfarbenen Pudelmütze. Viele starrten mich entgeistert an und musterten mich misstrauisch. Alle schüttelten nur den Kopf.

Nichts. Mein Blutdruck stieg in bedenkliche Höhen.

Als ich den Markt verließ, rempelte ich vor lauter Hektik noch eine Frau an, die daraufhin ihren Glühwein verschüttete. Ihr Freund beschimpfte mich wüst und drohte mir Schläge an. Dann war ich außerhalb der Menge und atmete erst einmal tief durch. Ich lief ohne Sinn und Verstand im Schneetreiben umher, als ich auf einmal eine Entdeckung machte. Vor mir auf dem Boden lag unverkennbar, einer ihrer beiden roten Handschuhe! Ich erkannte sie sofort, da Sophie sie zum Geburtstag von ihrer Oma bekommen hatte. Wieder brüllte ich ihren Namen, vernahm aber nichts, außer dem leicht pfeifenden Wind der mir die Flocken ins Gesicht peitschte. Hektisch lief ich weiter, bis ich Abdrücke von Spuren im Schnee sah. Sie konnten aufgrund der Größe nur von Sophie sein. Hechelnd wie ein Hund trottete ich weiter Richtung Wald. Ich kam an einem Bauernhof vorbei, und sah eine alte Frau, die mich ängstlich aus ihrem Fenster beobachtete. Als ich an dem Anwesen vorbei war, wurde es noch stürmischer und meine Angst nahm weiter zu. Keuchend hielt ich kurz inne und stützte die Hände auf meine Knie. Panik befiel mich und düstere Fantasien. Dann verlor ich die Spur an einem Wiesenhang. Ich stapfte mühsam weiter bei beißender Kälte, und benutzte die integrierte Taschenlampe meines Handys. Ich war jetzt ungefähr einen halben Kilometer außerhalb der Gemeinde, um mich herum nur gespenstische Stille. Der Halbmond verbreitete etwas Licht, sodass ich auf einmal einen Schatten wahrnahm, vielleicht dreißig Meter vor mir.

„Sophie!“, brüllte ich wie am Spieß. Aber das konnte unmöglich Sophie sein, der Schatten war riesig, wie von einem Monster, das über zwei Meter groß war. Dann sah ich einen zweiten kleineren Schatten, wenige Meter vor mir, auf dem Boden liegend. Daneben eine pinkfarbene Mütze. Sophie! Mein Gott, sie lag wie tot im Schnee, und der große Schatten kam unaufhaltsam näher. Verzweifelt tastete ich meinen Körper ab, auf der Suche nach einer möglichen Waffe. Der Schatten wirkte übermächtig und bedrohlich. Der Mann verfügte bestimmt über Bärenkräfte. War es überhaupt ein Mann? Noch fünfzehn Meter Distanz zwischen uns. Hatte er meiner Tochter was angetan?

„Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Was haben Sie mit meiner Tochter gemacht?“, fragte ich keuchend.

Außer dem Stapfen seiner Fußspuren vernahm ich keinen Laut. Verzweifelt sah ich auf den Boden, auf der Suche nach einem Stein oder Holzprügel. Nichts, außer diesem verdammten Schnee, der mich immer mehr bezuckerte. Kurzzeitig hatte ich die Hoffnung, dass ich mich in einem Albtraum befand, aus dem ich jeden Moment erwachen würde. Oder hatte ich nur den Verstand verloren, das würde erklären, warum ich hier hinter etwas herjagte, was es vielleicht gar nicht gab?

Der Bauernhof!

Er war doch nicht weit weg von hier, höchstens dreihundert Meter. Ich musste fliehen und Hilfe holen, dem Ungetüm war ich wahrscheinlich nicht gewachsen. Aber wie gelähmt blieb ich stehen. Meine Beine wollten mir nicht mehr gehorchen, dass Unheil kam erbarmungslos näher. Noch fünf Meter. Dann gaben meine zitternden Beine nach, ich sank mit den Knien auf den Schnee, mit dem dringenden Bedürfnis jetzt zu beten. Aber das hatte schon bei dem Tod meiner Frau nichts geholfen, Gott ließ mich erneut im Stich. Da bekam ich eine Eingebung, eine Erkenntnis. Etwas, dass ich aber niemals würde beweisen können, wenn es mir überhaupt noch möglich war. Ich wusste jetzt, wer meine Tochter entführt hatte, wer mir das alles antat. Ich kannte seinen Namen. Aber meine Stimme versagte, nicht einmal meine Hände konnte ich mehr zum Gebet falten. Ich blickte flehentlich nach oben, sah in das Gesicht einer fürchterlichen Fratze. Nichts Menschliches mehr war in dem Antlitz zu erkennen. Aus der Stirn ragten spitze Hörner in die Luft. Die Gestalt mit der Teufelsfratze grinste mich höhnisch an, als sie ihre mächtigen Pranken hob, mit einer fürchterlichen Waffe in der Hand. Mein letzter Gedanke galt meiner verstorbenen Frau, mit der ich vielleicht wieder vereint sein konnte, als die Sense auf mein Haupt hernieder sank.

1

Ostern 2011

„Osterkarten!“ Das war Sophie, meine fast fünfjährige Tochter, die in mein Zimmer rannte und selbst bemalte Osterkarten auf mein Gesicht regnen ließ.

„Heute ist der Tag des Osterkorbes mit seinen Geschenken“, antwortete ich und streichelte über ihr hellbraunes Haar.

„Wer ist dein Schatz, Papi?“

„Das bist du und Mami.“

„Aber Mami ist doch schon lange nicht mehr da?“

„Nur nicht mehr sichtbar Sophie, aber immer noch in meinem Herzen.“

„Wirklich?“

„Auf jeden Fall.“

„Und ist Alexa auch dein Schatz?“

Alexa war seit dem Tod meiner Frau unser Kindermädchen, oder auch Hausmeister und Hausdame für alles.

„Sie ist auch ein Schatz, aber nicht so wie du und Mami es gewesen ist.“ Ich war froh, dass ihr die Antwort reichte. Tage wie diese, die unvermeidlichen kalendarischen Feste - Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Muttertag - waren schlimmer als andere. Sie erinnerten mich immer daran, wie einsam ich war. Und wie diese Einsamkeit sich im Laufe der Zeit immer tiefer in meine Seele gegraben hatte. Eine Krankheit die zwar nicht akut war, sich aber noch verschlimmern konnte. Paul Glaser, meinem besten Freund, hatte ich mich vor vier Jahren erstmals anvertraut. Er sagte, und meinte es bestimmt gut mit mir, ich sollte einen Therapeuten aufsuchen. In letzter Zeit hatte sich nämlich noch mehr verändert. Die Leere trat noch mehr als bisher zutage, das volle Gewicht, des Verlustes meiner geliebten Julia. Ich dachte, ich hätte in den vergangenen Jahren genug getrauert. Aber vielleicht begriff ich erst jetzt, wie wertvoll sie für uns gewesen war. Womöglich kam die eigentliche Trauer aber erst noch. Sophie ist alles was ich habe. Nur sie hat mir geholfen zu überleben. Ich verbot mir zwar zu träumen, aber wie will man Albträume verhindern? Aber vielleicht war es auch ein Fehler, nicht wieder nach einer Frau zu schauen, sonst lebt man irgendwann gar nicht mehr. Auf Julias letzte Tage will ich hier jetzt nicht näher eingehen, aber ich gestehe jede Art von Fehlverhalten und falschen Einschätzungen. Aber ich werde nicht erzählen, wie es war, dem Leid meiner Frau zuzusehen. Zuzusehen wie sie gestorben ist. Eines möchte ich aber noch sagen: Sie zu verlieren hat mir die Augen geöffnet. Die vielen Stunden, die ich mich über enttäuschten Ehrgeiz, banalen Ärger bei der Arbeit, und eventuelle Ungerechtigkeiten aufgeregt habe. Die ganzen vergeudeten Chancen, etwas zu verändern, oder zu erkennen, dass ich mich hätte ändern können. Als Julia starb, war ich erst Anfang dreißig. Noch nicht einmal ein halbes Leben. Als sie mich verlassen hatte, wurde offensichtlich, wie vollkommen dieses Leben hätte sein können. Wie vollkommen es gewesen wäre, wenn ich es nur rechtzeitig erkannt hätte.

2

Jungholz (Tirol). Dezember 2010, kurz vor Weihnachten

Norbert Bahrmann schmiss mehrere Scheitel Holz in seinen Kachelofen im Wohnzimmer. Ihm grauste schon vor dem bevorstehenden langen Winter, hier auf knapp über 1000 Meter Meereshöhe. Oft lag hier der Schnee bis Ende April. Aber ohne den Schnee und den langen Skibetrieb wäre der kleine Tiroler 300 - Seelen - Ort, „tot“. Jetzt kurz vor Weihnachten waren die Nächte schon bis zu minus 15 Grad kalt, die Schneedecke war fast einen halben Meter hoch. Bahrmann war fünfundsechzig und wohnte mit seiner Partnerin Karin, seit einem Jahr in dem kleinen Einfamilienhaus am Waldrand bei Jungholz-Habsbichl. Warum musste er auch ausgerechnet hier, vor zwei Jahren Skiurlaub machen, und dann seine jetzige Lebensgefährtin kennenlernen? Nur wegen ihr kam er vom schönen Freiburg, auf seinen letzten Lebensabschnitt in die Allgäuer Provinz. Außer drei Banken, einem Skilift und sechs Hotels, war hier nicht allzu viel geboten, eigentlich gar nichts, außer schöner Bergsicht und mittelmäßiger Skipisten. Ohne die Liebe zu Karin, wäre er niemals im Leben in dieses verschlafene Nest gekommen. Eine österreichische Enklave in den Allgäuer Alpen, wo früher vorwiegend Schwarzgelder in den Banken gebunkert wurden. Bis vor zweieinhalb Jahren war er noch Leiter der Bodenwaldschule in Titisee-Neustadt, einer Privatschule für „schwierige Jugendliche“, gewesen. Sollte er es hier in der ländlichen Provinz noch länger aushalten, war im nächsten Frühjahr die Hochzeit geplant. Für beide wäre es die zweite Ehe. Seine zukünftige Gattin war bei den Nachbarn am anderen Ortsende eingeladen. Er hatte heute keine Lust gehabt mitzugehen, er kümmerte sich lieber um das Haus, das seine Karin geerbt hatte. Morgen wollte er das erste Mal auf die Piste. Seit vier Stunden, und wahrscheinlich noch die ganze Nacht, liefen unentwegt die Schneekanonen. Morgen am Samstag war die geplante Ski-Eröffnung in Jungholz. Bahrmann hörte das Knacken und Prasseln des Holzes, setzte sich zufrieden mit einem kühlen Bier vor den Kachelofen, und schaltete den Fernseher ein. Es war kurz nach neunzehn Uhr, als er die Jalousien runterließ, und auf einmal einen Schatten draußen vorbeihuschen sah. Angestrengt sah er aus dem Fenster, oder hatten ihm seine Nerven nur einen Streich gespielt? Vielleicht war es auch nur ein Tier, aber Rehe trauten sich doch nie so nah ans Haus, obwohl sie unmittelbar am Waldrand wohnten. Und von einem kleinen Tier konnte der Schatten kaum gewesen sein, das wäre gar nicht aufgefallen. Er presste seine Stirn an die kalte Scheibe und sah angestrengt ins Freie. Normal würde durch den installierten Bewegungsmelder das Außenlicht angehen, sollte sich wirklich draußen jemand rumtreiben. Es blieb aber finster, also doch eine Sinnestäuschung? Vielleicht wurde man auf dem Land doch langsam bekloppt bei der Einsamkeit. Er würde morgen nochmals mit Karin sprechen, dass Haus doch lieber zu verkaufen, um ins belebtere und (für ihn) schönere Breisgau zu ziehen. Mit ihr natürlich, obwohl er ihre Antwort diesbezüglich kannte, er hatte es schon mehrfach angesprochen. Sie liebte das Allgäu, obwohl er fand, dass es im Schwarzwald genauso schön war, nur mit etwas niedrigeren Bergen. Dafür war Freiburg ein Traum, so eine schöne Stadt gab es im ganzen Allgäu nirgends.

Er holte aus der Küche ein fast zwanzig Zentimeter langes Brotmesser und ging zur Haustür. Sollte seine Frau vorzeitig zurückkommen, würde er sie mit ihrem Fiat Punto sofort hören, auch wenn der Fernseher lief. Bei der Gelegenheit konnte er jedoch noch einen Korb Holz mitnehmen aus der Garage, wo die ganze linke Wandseite aufgestapelt war bis fast zur Decke. Es wehte ein leichter Wind und Flocken wirbelten als er ins Freie trat.

Auf der Südhangseite vom „Sorgschrofen“, dem Hausberg von Jungholz, hörte er die Pistenraupen und Schneekanonen. Er steckte den Türschlüssel ein und zog die Eingangstür zu. Dann lief er zur großen Garage, die sich wenige Meter neben dem Haus befand. Beim Anblick, den er auf einmal auf dem zehn Zentimeter hohen Schnee sah, sträubten sich seine Nackenhaare. Profilierte Schuhabdrücke eines außergewöhnlich großen Fußes! Mein Gott, wer trieb sich hier rum? Instinktiv umklammerte er den Messergriff fester, sodass seine Knöchel weiß hervortraten. Die Abdrücke waren absolut frisch, sie konnten keine fünf Minuten alt sein, bei dem Schneefall seit einer Stunde. Er stapfte mit seinem rechten Schuh, in eine der Fußspuren. Er hatte Größe 43, das war bestimmt 48 - bis 50! Gab es so große Schuhgrößen überhaupt?, fragte er sich. Klar, Basketballer waren oft weit über zwei Meter, und brauchten bestimmt solche Riesenlatschen. Dirk Novitzki hatte bestimmt auch Größe 50. Plötzlich riss er abrupt seinen Kopf herum, als er den knirschenden Laut eines Schrittes vernahm. Was er sah machte ihm Angst. Große Angst. Seine Augen weiteten sich panisch. Keine fünf Meter entfernt, stand eine hünenhafte Gestalt vor ihm, bestimmt zwei Meter groß. Schwarz gekleidet, mit einer Kapuze über dem Kopf. Es sah aus, als ob das Gesicht im Schein der Beleuchtung rötlich war. Was ihm aber noch viel mehr Gänsehaut bereitete, war dass, was der Mann in seinen Händen hielt. Ein Arbeitsgerät, das vor vielen Jahrzehnten in der Landwirtschaft noch häufig eingesetzt wurde: Eine Sense!

„Was wollen Sie hier?“, presste Bahrmann mühsam hervor. Er musste sich stark konzentrieren, diese Worte überhaupt aus seiner trockenen Kehle hervorzubringen. Panik durchflutete seinen Körper, seine Hände waren schweissnass. Instinktiv lief er leicht rückwärts, Richtung Hauseingang. Die Gestalt sah ihn nur schweigsam an und schritt langsam auf ihn zu.

„Verdammt, was soll das?“. Bahrmann hielt sein langes Messer zitternd vor seinen Körper. „Kommen Sie keinen Schritt näher!“

Unbeeindruckt von seinen Worten war der Hüne nur noch drei Meter vor ihm. Mit seinen eins fünfundsiebzig, war Bahrmann um einen Kopf kleiner, sodass er zu dem Hünen hochsehen musste. Er versuchte ein letztes Mal seine Haut zu retten.

„Ich hab im Haus Geld und Schmuckstücke, Sie können alles mitnehmen.“ Kaum hatte er ausgesprochen, passierte ihm ein Missgeschick. Er geriet ins straucheln und fiel rückwärts auf den Hintern. Verzweifelt brüllte er in die kalte Nachtluft:

„HILFE!“

Dann war der Mann über ihm, holte aus und schlug zu. Das letzte das Bahrmann sah, waren die Hörner der Gestalt, der wie der leibhaftige Teufel aussah, bevor die Sense seinen Kopf abtrennte.

Als eine halbe Stunde später, Karin Wiedemann, ihren zukünftigen Mann suchte, bekam sie einen Schock, als sie den zugeschneiten, blutigen Kopf neben dem Garagentor liegen sah. Die noch offenen Augen des Schädels starrten sie wehklagend an, als begriffen sie immer noch nicht, welches Grauen hier geschehen war.

3

Gegenwart

Das Haus in der Argenstrasse in Burkwang, hatten wir als frisch verheiratetes Ehepaar gekauft. Der kleine Weiler mit fünf Häusern, gehört zu Kleinhaslach, einem Ortsteil von Isny im Allgäu. Ich hatte mir die Anzahlung damals kaum leisten können, nur weil Julias Eltern einen stattlichen Betrag dazu sponserten, war eine Realisierung überhaupt möglich. Nach ihrem Tod kam ich nur deshalb über die Runden, weil wir nach den Flitterwochen eine Lebensversicherung auf Gegenseitigkeit, über 200.000 Euro abgeschlossen hatten. Dadurch konnte ich mir später ein Kindermädchen für Sophie leisten. Und ich wollte hier auch weiter wohnhaft bleiben. Zum Gewerbegebiet wie auch zur Stadtmitte war es nicht weit, und mit den Nachbarn hatten wir ein prima Verhältnis. Sophie wurde entweder von mir oder Alexa zum Kindergarten oder später zur Schule gefahren. Meinem Kindermädchen hatte ich den alten Golf meiner Frau zur Verfügung gestellt. Rein dienstlich versteht sich, an ihren freien Tagen blieb das Auto bei uns stehen. Ich selbst fuhr einen Ford Focus, knapp acht Jahre alt, in Silber. Völlig ausreichend, um damit tagtäglich meinen zwanzig Kilometer entfernten Arbeitsplatz in Leutkirch, bei den „Schwäbischen Nachrichten“ anzusteuern. Leutkirch ist mit knapp zweiundzwanzigtausend Einwohnern etwas größer als Isny, hat mehr Gewerbebetriebe, aber dafür deutlich weniger Touristen und auch keine Reha-Kliniken. Mit Neutrauchburg, einem kleinen Ortsteil von Isny, besaß die Stadt ein regelrechtes „Reha-Dorf“, da dort fünf große Reha-Kliniken für die eigentliche Belebung sorgten. Isny erlebte in den letzten Jahren auch einen Bauboom. Immer mehr Wohngebiete und immer mehr Menschen, die hier leben wollten, bis sich vor einigen Monaten auf einmal merkwürdige Zwischenfälle ereigneten. Angst-Geschichten von willkürlicher Gewalt machten die Runde, von Überfällen auf Privathäuser und auch von Einbrüchen hörte und las man viel. Die Spannung war inzwischen fast überall spürbar, eine Aggressivität aus unstillbaren Bedürfnissen war geboren. Gemeinsam war allen der Wunsch nach mehr. Aber das Wünschen hat auch dunkle Seiten, Menschen die zuvor Freunde waren, könnten zu Konkurrenten werden.

Als ich meinen Focus an diesem Tag, hundert Meter von unserem Verlagsgebäude entfernt, abstellte, kam langsam die Sonne zum Vorschein. Hier hatte ich vor knapp vier Jahren angefangen zu arbeiten. Anfänglich als einfacher Anzeigenvertreter, der sich aber durch viel Erfolg, Biss und Ehrgeiz, bis zum stellvertretenden Chefredakteur für ein monatlich erscheinendes Freizeitmagazin hocharbeitete. Für einen Quereinsteiger eine absolut sensationelle Leistung, betonte mein Chef schon mehrfach. Zuvor war ich, Sie werden es nicht für möglich halten, bei der Polizei gewesen, als einfacher Streifenbeamter, zuletzt beim einzigen Polizeiposten in Hintersee, einem kleinen Ortsteil von Bad Hindelang im Oberallgäu. Mittlerweile gibt es dort keinen Polizeiposten mehr, da alles von der nächstgrößeren Stadt Sonthofen aus betreut wird. Geboren bin ich in Biberach an der Riß, einer kleinen Stadt, knapp zwanzig Kilometer von Ulm entfernt. Meine Eltern zogen aber nach Hintersee, bevor ich in den Kindergarten kam, deshalb kenne ich auch jetzt noch, viele von der Hinterseer Dorfbevölkerung. Was sich in dem Dorf, während „meiner Zeit“ so alles ereignete, darauf möchte ich jetzt noch nicht eingehen, aber Sie werden es zu einem späteren Zeitpunkt noch ausführlich erfahren.

Ich suchte mir deshalb im westlichen Allgäu einen Job, weil ich hier mit Julia eine Familie gründen wollte. Sie war gebürtig aus Isny, und wir lernten uns kennen, als ich selbst vier Wochen auf Reha war, in einer psychosomatischen Klinik in Neutrauchburg. Ich hatte damals starke Depressionen, und war auf Anraten meines damaligen Therapeuten in Reha gegangen. Der Job als Dorfpolizist hatte mir zum Schluss schwer zu schaffen gemacht, aufgrund von düsteren und grauenvollen Vorgängen, die sich zuletzt in Hintersee abspielten. Auch jetzt, Jahre später, verfolgen mich manche dieser Vorgänge noch bis in die Träume. Ein Gutachter stellte fest, dass ich für den Polizeidienst lebenslang nicht mehr geeignet bin.

Als ich Julia zum ersten Mal sah, wusste ich, dass sie die Frau fürs Leben für mich war. Julia war als Pflegerin tätig gewesen, bis sie eine furchtbare Krankheit heimsuchte. Die Beziehung mit ihr, trug wesentlich zu einer starken Verbesserung meines seelischen Zustands bei. Damals war ich noch voller Ehrgeiz, und sah den Job bei den „Schwäbischen Nachrichten“, nur als Sprungbrett zum Literaturkritiker. Ich wollte werden, wie der altehrwürdige Marcel Reich-Ranicki, der vor einigen Jahren verstarb. Mit gnadenlos hohen Ansprüchen, gestützt von der Überzeugung, dass all die Leuchten, die ich niedermachen würde, noch erkennen würden, dass ich sie zu Recht verrissen hatte. Aber dazu zählte nicht nur viel lesen und jahrelange journalistische Arbeit, sondern was ganz Besonderes: Ein eigenes Buch schreiben! Oder besser gesagt, nicht nur eins schreiben, es sollten auch viele lesen, also kurzum, einen Bestseller landen! Das die, die man später kritisieren würde, erkennen, dass sie es nicht nur mit einem nörgelnden Kritiker zu tun haben, sondern mit einem erfolgreichen Bestseller-Autor, der weiß, was die Leute lesen wollen. Solange ich mich erinnern kann, hatte ich schon immer das Gefühl, dass etwas in mir schlummerte, das irgendwann einen Ausdruck finden würde. Wahrscheinlich hatte das alles mit meiner Kindheit zu tun, mit der Einsamkeit eines Einzelkindes, dessen einzige Freunde oft Bücher waren. Und mit den Wochenenden, an denen ich mich zu Hause verkroch, wie eine Katze zusammengerollt auf den sonnigen Flecken des Teppichs. Nie jedoch zweifelte ich daran, dass ich eines Tages ein großer Schriftsteller werden würde. Meine Romane würden bestimmt ein Millionenpublikum finden. Ich akzeptierte, dass ich vielleicht nicht von Anfang an gut sein würde. Es gab schließlich auch Lektoren und Kritiker. Rückblickend wurde mir bewusst, dass die Idee vom Schreiben so etwas wie eine Religion für mich war. Totale Hingabe und aufrichtige Offenbarung, und trotz der Gottlosigkeit nicht weniger heilig. Schließlich gab es die Aussicht auf Erlösung. Die Möglichkeit, eine Geschichte zu schaffen, die für mich sprach, die besser sein würde als ich. Zwingender, fantasievoller, geheimnisvoller.

So viel zur Theorie und meinen Absichten. Stattdessen landete ich nach dem Abitur auf einer Polizeischule, und musste mich mit Gesindel und sonstigem Abschaum rumplagen.

Denn das Problem bisher war, es gab kein Buch von mir! In einer stillen Nische meiner Seele wartete ich immer noch. Auf den ersten Satz, auf den Einstieg. Aber es kam kein erster Satz. Und was machte ich? Ich bastelte jeden Monat an einem Freizeit-Magazin, wo mir gesagt wurde, wenn die Skiliftpreise sich verteuerten, wenn der Alp-Abtrieb war, oder welche Radrunde angeblich die schönste in der Region sein sollte. Bestimmt keine üble Aufgabe, aber ich war zu Höherem bestimmt. Nach meiner Hochzeit und der Geburt unserer Sophie, dachte ich nicht mehr so sehr an das Buch. Eher an meine Familie, Reisen, Haus und weitere Kinder. In meinem tiefsten Inneren kam aber dann doch wieder häufiger das Verlangen ein Buch zu schreiben. Auf den Titel, auf den ersten Satz, auf den ersehnten Einstieg. Aber es kam nichts davon, dafür kam Sophie. Ich war Anfang dreißig, Julia achtundzwanzig, als sie schwanger wurde. Kurze Zeit verschwand die Sehnsucht nach einem Buch. Ich war verliebt - in meine Julia, in mein noch ungeborenes Kind, das eifrig an die Bauchdecke seiner Mutter klopfte. Ich hörte auf, mir den Kopf darüber zu zerbrechen über was ich schreiben sollte. Ich war zu beschäftigt mit Beruf, Familie und Glücklichsein. Dann die Tragik: Vor Sophies Geburt, war meine Julia - Sophies Mutter - nicht mehr da. Es grenzte an ein Wunder, dass das ungeborene Kind noch lebend aus der sterbenden Mutter herausgeholt und gerettet werden konnte. Julia war wenige Stunden vor der Not-Operation noch im Koma, mit winziger Hoffnung die Geburt auch mit zu überleben. Vor Verzweiflung wollte ich mich damals umbringen, als ich die sterbende Julia in meinen Armen hielt. Düstere Visionen überfielen mich, nur die winzige Sophie hielt mich am Leben. Sophie war in den ersten Jahren zu jung, um zu verstehen, dass ihre Mutter fehlte. Erst als sie sprechen und lesen lernte, fragte sie immer häufiger; „Warum andere Kinder denn eine Mutter hätten, aber sie „nur“ einen Vater? Ich musste ihr immer wieder von ihrer Mutter erzählen, bis mich die Gefühle übermannten und ich weinen musste. Aber ich wollte die Erinnerung für uns beide bewahren, auf Ewigkeit. Kurz darauf kehrte mein alter Glaube an das Buch wieder zurück. Ich begann, auf die Chance zu lauern, die EINE wahre Geschichte zu erzählen, welche die Toten zurückbringen würde. Die Degradierung, Demütigungen und das Mobbing begannen, als ich nach dem unbezahlten Urlaub, den ich wegen dem Tod von Julia und der neugeborenen Sophie genommen hatte, in die Firma zurückkehrte. Wir hatten einen neuen Verlagschef bekommen, der im Mittelalter lebte und nicht verstand, wie ein Mann allein sein Baby aufziehen wollte. Dann wurde meine Position als „rechte Hand“ des Chefredakteurs, einfach an eine neue Mitarbeiterin aus Immenstadt vergeben, die zuvor beim „Allgäuer Anzeigeblatt“ gearbeitet hatte. Mein Schwiegervater, - Julias Vater - der mir näher stand als mein Eigener, kam auf tragische Weise kurz darauf, bei einem Autounfall ums Leben. Wir waren fast wie Freunde zueinander gewesen. Er und Paul Glaser, waren die Einzigen, die damals in diesen schweren Stunden zu mir hielten. Trotzdem bekam ich einen schweren Nervenzusammenbruch und brauchte therapeutische Hilfe, bis ich mich langsam, viele Monate später, wieder gefangen hatte. Gott sei Dank fand ich Alexa, die sich rührend um Sophie kümmerte, und mich wieder moralisch aufrichten konnte. Um es auf den Nenner zu bringen: Es kamen harte Zeiten auf mich zu. Die hinter mir liegenden Monate privaten und beruflichen Niedergangs hatten dazu geführt, dass ich mehr Zeit denn je damit verbrachte, auf dem Sessel meines Therapeuten zu verbringen. Glücklicherweise wirkte sich das nicht auf das Kind aus. Sophie war ein braves, kluges, folgsames Kind und war überall beliebt. Das Problem lag bei mir: Beinahe unbemerkt war mein Kindheitstraum zurückgekehrt, mein Buch! Wie ein irres Flüstern im Ohr, verfolgte es mich auch im Schlaf. Ein Fluch, ein Versprechen des Teufels. Eine Obsession, mit der Besessenheit, einen Bestseller zu landen, wenn ich nur die richtigen Wörter in die richtige Reihenfolge bringen könnte, dann ging es mir besser. Vielleicht konnte ich meine Sehnsucht bald in Kunst umwandeln.

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Dezember 2011, kurz nach Weihnachten