Todesspritze - Wolfgang Hiller - E-Book

Todesspritze E-Book

Wolfgang Hiller

0,0

Beschreibung

"Todesspritze" ist die Geschichte eines Mannes, der auf der Jagd nach dem Mörder seiner Tochter fast dreißig Jahre auf Gerechtigkeit warten musste. Die Polizei und Justiz die den Fall in zwei Ländern behandelte, legte ihm immer wieder Steine in den Weg. Obduktionen wurden nicht richtig durchgeführt und der Fall von der Deutschen Justiz vorzeitig zu den Akten gelegt. Andre Bamberg ermittelte auf eigene Faust weiter, um den Mann zufassen, den er für den Mörder seiner Tochter Kalinka hielt. Bis zum entscheidenden Moment nach vielen Jahren. - Eine bewegende Geschichte, nach einer wahren Begebenheit! - Die Geschichte wurde verfilmt und kommt im Herbst 2015 ins Kino.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 168

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für alle, die an die Gerechtigkeit glauben.

Zum Autor

Wolfgang Hiller ist ein Autor aus dem Allgäu. Außer dem Schreiben ist er noch als Trainer, Fotograf und Wanderführer aktiv unterwegs. Er schreibt auch Krimis unter Pseudonym. 2015 erscheint auch ein neuer Tourenführer von ihm.

Hinweis

Dieses Buch ist ein Roman. Die Geschichte ist zwar wahr, einige Details wurden trotzdem dazu erfunden. Manche Abläufe konnten nie endgültig geklärt werden. Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen sind ebenfalls rein zufällig. Bis auf einige wenige Personen (Kalinka und ihre direkten leiblichen Verwandten) wurden aus rechtlichen und persönlichen Gründen die Namen der meisten Protagonisten geändert. Auch der Nachname von Kalinka, ihres Vaters und der unmittelbaren Verwandten wurde verändert.

Einige wenige Schauplätze wurden aus dramaturgischen Gründen dazu erfunden oder geändert. Das Gleiche gilt für einige Firmennamen, Personen in diesen Firmen, Praxen, Ärzte, Kliniken und Hotels.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Autors

Prolog

1. Kapitel : Lindau (Deutschland), 9. Juli 1982, 9.30 Uhr.

2. Kapitel : Freitagabend. Wenige Minuten später.

3. Kapitel : 10. Juli, 8.15 Uhr. Circa neun Stunden später.

4. Kapitel : Lindau (Deutschland). Drei Stunden später.

5. Kapitel : Toulouse in Frankreich, 12. Juli 1982.

6. Kapitel : Mittwoch, 14. Juli 1982, Memmingen (Deutschland).

7. Kapitel : Einen Tag zuvor.

8. Kapitel : Mittwoch 9.00 Uhr, im Büro der Kripo Lindau.

9. Kapitel : Zur gleichen Zeit im Bayerischen Hof in Lindau.

10. Kapitel : Mittwoch, 14. Juli 1982, 15.00 Uhr. Kripo/Lindau.

11. Kapitel : Mittwoch, 14. Juli 1982, drei Stunden zuvor.

12. Kapitel : Lindau, 15.30 Uhr bei Familie Brugger.

13. Kapitel : Mittwochnachmittag, Lindau (Zentrum).

14. Kapitel : Gegen 16.00 Uhr bei Familie Brugger.

15. Kapitel : Donnerstag, 15. Juli 1982, 9.00 Uhr, Lindau.

16. Kapitel : Am gleichen Tag, 15.00 Uhr, bei der Kripo Lindau.

17. Kapitel : Donnerstag, 15. Juli, 16.00 Uhr, Lindau (Altstadt).

18. Kapitel : Freitag, 16. Juli 1982, 8.30 Uhr, Kripo Lindau.

19. Kapitel : 16. August 1982, Toulouse (Frankreich).

20. Kapitel : Anfang Oktober 1982, Toulouse (Frankreich).

21. Kapitel : 20. Juni 1984, Villa Dr. Erding, Lindau.

22. Kapitel : Lindau/Bodensee. Juni 1985, zehn Tage vor Pfingsten.

23. Kapitel : Lindau, wenige Tage später.

24. Kapitel : Am Tag darauf, 10.30 Uhr vormittags.

25. Kapitel : Zur gleichen Zeit in Toulouse.

26. Kapitel : St. Tropez, am Tag darauf. Zwei Stunden vor der Abreise.

27. Kapitel : Herbst 1985, Toulouse (Frankreich).

28. Kapitel : Oktober 1985, zwei Wochen später in Lindau.

29. Kapitel : Einen Tag später, Polizei Lindau. 8.00 Uhr vormittags.

30. Kapitel : Toulouse (Frankreich), Sommer 1992.

31. Kapitel : Mai 1993, Toulouse (Frankreich).

32. Kapitel : Frühjahr 1995, Toulouse (Frankreich).

33. Kapitel : Februar 1997. Lindau (Deutschland), Praxis Dr. Erding.

34. Kapitel : 17. März 1997, 10.00 Uhr, Landgericht Kempten (Allgäu).

35. Kapitel : Kempten (Allgäu), wenige Minuten nach dem Urteil.

36. Kapitel : Bregenz (Österreich), circa vier Stunden später.

37. Kapitel : Toulouse (Frankreich). Drei Tage danach.

38. Kapitel : 31. Januar 2000, Bregenz (Österreich).

39. Kapitel : 18. Januar 2002, Toulouse (Frankreich).

40. Kapitel : 2. April 2002, Toulouse (Frankreich)

41. Kapitel : Mai/Juni 2003, Paris (Frankreich).

42. Kapitel : Frankreich, 2004–2006.

43. Kapitel : November 2006, Scheidegg (Deutschland).

44. Kapitel : 2007, Coburg (Deutschland).

45. Kapitel : 2008 in Deutschland und Frankreich.

46. Kapitel : Juni 2009, Paris (Frankreich).

47. Kapitel : 9. Oktober 2009, Scheidegg/Bregenz (BRD/Austria).

48. Kapitel : 17. Oktober 2009, Mitternacht in Scheidegg (Deutschland).

49. Kapitel : 18. Oktober 2009, 8.30 Uhr. Mühlhausen (Frankreich).

50. Kapitel : Am gleichen Tag. Hotel Hilton, Mühlhausen, 15.00 Uhr.

51. Kapitel : November/Oktober 2009, Frankreich.

52. Kapitel : Dezember 2009, Frankreich.

53. Kapitel : 2011/2012 Frankreich.

54. Kapitel : 2012, Paris (Frankreich).

55. Kapitel : Sommer 2014, Toulouse (Frankreich).

Nachwort des Autors

Vom gleichen Autor ist bisher erschienen

Danksagung

Vorwort des Autors

Der „Fall Kalinka“ zählt zu den spektakulärsten Kriminalfällen der letzten Jahrzehnte. Bis zur Verhaftung des vermeintlichen Täters vergingen fast drei Jahrzehnte. Da trotz dicker Aktenberge und unzähliger Prozesse einiges nicht vollständig geklärt werden konnte, erlaubte ich mir in einigen Kapiteln einige „künstlerische Freiheiten“. Das betrifft insbesondere die Nacht des Todes von Kalinka und der achtundvierzig Stunden zuvor. Einige Abläufe konnten nur aufgrund diverser Zeugenaussagen beschrieben werden. Manche werden sich fragen, warum ich nicht die realen Namen der Beteiligten verwendet habe. Einige Personen, mit denen ich im Vorfeld Kontakt aufgenommen hatte, baten mich darum. Einige Beteiligte leben auch nicht mehr, und die Nachkommen und Überlebenden dieser Personen wollten mehrheitlich auch keine reale Namenserwähnung. Deshalb habe ich das zu berücksichtigen und bitte um Ihr Verständnis. Im Nachwort äußere ich mich ebenfalls nochmals dazu.

Wolfgang Hiller

PROLOG

Juli 1982, Lindau am Bodensee (Deutschland).

Es war an einem heißen Sommertag, als das Leben eines jungen, unbekümmerten Mädchens tragisch endete. Kalinka war am 9. Juli vierzehn Jahre alt, am 5. August hätte sie ihren fünfzehnten Geburtstag gefeiert. Für ihr Alter war sie schon reif und hochgewachsen, die fraulichen Züge nahmen immer konkretere Formen an, deshalb zog sie immer mehr männliche Blicke auf sich. Für sie selbst waren Jungen noch nicht so interessant wie umgekehrt, deshalb schenkte sie ihnen keine große Beachtung, zumindest nicht, wenn es um das Erobern und Flirten ging. Ihr lockiges, blondes Haar, das ihr häufig ein wenig zerzaust in die Stirn hing, verlieh ihr zudem eine gewisse Lässigkeit, die auch den ein oder anderen bewundernden Blick auf sich zog. Bis zu jenem unheilvollen schwülen Sommertag, an dem ein mysteriöses „Unglück“ so unerwartet ihre glückliche Kindheit beendete. Sie lebte an zwei Wohnorten zu dieser Zeit, weil sich ihre leiblichen Eltern Ende der siebziger Jahre trennten, was sie anfänglich nicht verstand. „Schuld“ daran war ein attraktiver deutscher Arzt, der 1974, als sie noch in Marokko lebten, auf einem Elternabend ihrer hübschen Mutter begegnete. Obwohl ihre Mutter bis dahin eine glückliche Ehe führte, erlag sie dem Charme und der Unnachgiebigkeit dieses hartnäckigen Mannes. Ihr späterer, zukünftiger Stiefvater Dieter war immer sehr zielstrebig gewesen, nicht nur im Berufsleben. Gezwungenermaßen pendelte sie dann zwischen zwei Familien und zwei Ländern mit ihrem Bruder hin und her. Ihrem leiblichen Vater Andre war das natürlich gar nicht recht, aber ihre Mutter bestand darauf, sonst hätte es nur unnötige Konflikte gegeben. Anfänglich störte sie es auch gewaltig, aber sie lernte sehr schnell die deutsche Sprache und fand auch Freunde in Lindau. Vor allem ihre liebe Freundin Corinna, die nicht weit weg von der Villa ihres Stiefvaters mit ihrer Familie lebte. Sie waren bald unzertrennlich und ein Herz und eine Seele. Auch Corinnas Eltern liebten die unkomplizierte und lustige Kalinka, die bald schon wie zur Familie gehörte. Seitdem war das Mädchen ein „Zwei‐Staaten‐Kind“, immer in der Hoffnung, beiden Elternteilen alles recht zu machen. Ihr leiblicher Vater Andre kam selten mit an den Bodensee, zumindest nie mit ihr. Als Nachkriegskind und polnischer Auswanderer mochte er die Deutschen nicht besonders, und jetzt hatte ausgerechnet ein deutscher Internist ihm auch noch seine Frau ausgespannt und das Familienglück zerstört. Bevor sie sich Ende der Siebziger in Frankreich niederließen, hatten sie ein schönes Domizil in Casablanca, wo Kalinka auch zur Welt kam. Nach den Avancen des Dr. Erding in Marokko half ihrem Vater auch die Rückkehr nach Frankreich nichts, um die Ehe zu retten. Aus der Liebschaft ihrer Mutter wurde eine Daueraffäre, und dann Liebe. Glaubten Kalinka und ihr Bruder Nicolas zumindest. Nach anfänglichem Zögern fuhr sie nach einem halben Jahr sehr gern an den Bodensee, auch konnte sie hier ihrer Leidenschaft, dem Surfen, frönen, was ihr daheim in dem kleinen Dorf bei Toulouse nicht möglich war. Es gab viele Dinge, die ihr wichtig waren, vor allem auch eine gute Harmonie zu beiden Elternteilen und auch zu ihrem neuen Stiefvater Dieter. Doch nichts von alledem konnte sie auf das vorbereiten, was an diesem lauen Sommerabend geschehen sollte, als einige merkwürdige Umstände dieses junge Leben auf grausame Weise zerstörten.

1. Kapitel

Lindau (Deutschland), 9. Juli 1982, 9.30 Uhr.

Es war an einem dieser sonnigen, schwülen Tage, wie es sie am Bodensee häufig gab. Freitagmorgens herrschte an der Promenade des „Schwäbischen Meeres“, wie es gern von den Einheimischen genannt wird, jede Menge Trubel. Jetzt in der zweiten Juliwoche war die Region am stärksten besucht in der ganzen Jahreszeit. Aufgrund der Sommerferien und der vielen Tagesgäste aus nah und fern ging es zu wie an der italienischen Adria. Bodensee‐Liebhabern gefiel es hier natürlich noch viel besser. Kalinka Bamberg war seit einer Woche mit ihrem Bruder in der Villa ihres Stiefvaters, und sie planten, wie das Jahr zuvor, bis Ende Juli noch in Lindau zu bleiben. Die restlichen vierzehn Tage wollten sie mit ihrem leiblichen Vater in Frankreich verbringen. Nachdem Kalinka im Sommer zuvor die ersten Surfversuche am Bodensee genossen hatte, wollte sie diesen Sommer den Grundschein in Lindau absolvieren. Ihre Freundin Corinna konnte sie auch dafür begeistern. Kurz nach halb zehn radelten Corinna und ihre Mutter Sonja ans Gartentor der Villa. Kalinka sah sie schon vom Fenster der Küche, schmiss noch einen Liter Apfelschorle in die Badetasche und stürmte aus dem Haus. Ihr altes Fahrrad lehnte an der Hauswand und sie schob es zu den beiden Wartenden hinaus. „Hallo Corinna, hallo Frau Brugger“, rief sie und fiel beiden um den Hals. „Hallo Kalinka. Na, alles klar heut mit dem Surfkurs‐ Abschluss?“, fragte Sonja Brugger und strich ihr über das Haar. „Klar, kein Problem. Heute in fünf Stunden haben Corinna und ich den Schein in der Tasche.“

Dem wollte Sonja nicht widersprechen. Sie wusste aufgrund der Erzählungen ihrer Tochter, dass vor allem Kalinka ein Supertalent war und surfte, als hätte sie bereits vor zehn Jahren damit begonnen. Das war zwar nicht so, aber ihre ersten Versuche hatte sie als Zehnjährige noch in Marokko unternommen, deshalb war sie allen Teilnehmern des Kurses, zumindest was die Praxis betraf, um einige Längen voraus. Nur für die Theorie büffelte sie noch am frühen Morgen. Kalinka klemmte die Badetasche auf den Gepäckträger, und dann fuhren sie zum knapp ein Kilometer entfernten Strandbad, wo an einem abgeschirmten Bereich die Surfschule ihren Platz hatte. Um zehn Uhr standen die letzten beiden Praxisstunden auf dem Programm, bevor am frühen Nachmittag die Prüfung war. Außer Kalinka und ihrer Freundin waren noch weitere sechs Kursteilnehmer dabei. Die jüngste elf, und der älteste Teilnehmer war bereits stolze siebenundsechzig Jahre alt. Die anhaltende Hitze und die hohen Temperaturen seit vier Wochen hatten auch das Seewasser auf mittlerweile rekordverdächtige siebenundzwanzig Grad ansteigen lassen. Und ein Ende der Hitzewelle war nicht in Sicht. Deshalb surften auch alle Teilnehmer in ihrer Badebekleidung, einzig und allein der schwache Wind trübte etwas das Vergnügen. Während die Mädels und die anderen Kursteilnehmer erste Startversuche unternahmen, spannte Sonja Brugger ihren Sonnenschirm auf und breitete ihre Decke auf dem schon leicht vertrockneten Rasen aus. Jetzt um zehn waren noch genügend freie Plätze im Strandbad zu bekommen, was sich schlagartig ändern konnte, wenn die Langschläfer und Tagesgäste die Bäder stürmten, was meistens mittags der Fall war.

Fünf Stunden später, als es Sonja Brugger gelang, trotz der großen Hitze unter dem Schirm zu schlafen, hörte sie eine freudestrahlende Stimme, die sie wieder weckte.

„Mami, wir haben‘s geschafft. Wir sind fertig.“

„Und? Habt ihr beide die Prüfung geschafft?“

„Klar, wir waren die besten. Nur Patrick ist in der Theorie durchgefallen. Die muss er nochmal wiederholen.“

„Na, dann habt ihr euch ja eine Belohnung redlich verdient. Wo ist denn Kalinka?“

„Sie surft noch draußen, weil der Wind etwas stärker geworden ist.“

Eine halbe Stunde später lag sie dann auch bei den beiden. Erschrocken sah Sonja ihre roten Schultern an.

„Kalinka, deine Schultern schauen ja gar nicht gut aus. Hast du die Creme mit dem hohen Lichtschutzfaktor nicht genommen?“

„Doch, aber erst mittags. Wahrscheinlich war das zu spät.“

„Ich tue dir eine kühlende ‚After‐Sun‘ drauf. Aber sonst geht‘s dir gut?“

„Ja bestens. Leicht entkräftet, aber ich leg mich jetzt eine Stunde hin, dann bin ich wieder fit.“

„Ja, mach das. Ich geh derweil ins Wasser.“

Bis halb sechs blieben sie noch im Strandbad, bis ihnen Sonja Brugger einen Vorschlag machte.

„Hört mal, Mädls. Ich hab euch ja versprochen, dass ihr eine kleine Belohnung erhaltet für einen erfolgreichen Kurs‐ Abschluss.“

„Ja? Was bekommen wir denn?“, fragten beide wie aus einem Munde.

„Wir packen in zehn Minuten unsere Sachen, fahren auf die Insel und essen ein Eis. Danach gehen wir ins Open‐Air‐Kino am Marktplatz. Habt ihr Lust dazu?“

„Super!“, schrien beide. „Da kommt doch ‚Grease 2‘, oder?“, fragte Kalinka.

„Ja, der ist bestimmt gut. Mir hat schon der erste Teil so gut gefallen“, bekräftigte Corinna.

Kurz darauf zogen sie sich um und packten ihre Sachen zusammen. Beide Mädchen hatten eine Urkunde bekommen, die Sonja sorgfältig in der Satteltasche ihres Fahrrades verstaute. Dann brachen sie auf. Der Radweg zur Altstadt‐Seite der Inselstadt war übersät mit Skatern, Spaziergängern und Zweirädern. Lindau war ein beliebtes Ziel für Radler, und vor allem im Sommer umrundeten viele Urlauber in mehreren Tages‐Etappen den großen Bodensee. Fünfzehn Minuten vor sechs saßen sie an der großen Hafenpromenade und ergötzten sich nicht nur am guten Eis, sondern auch an der prächtigen Alpenkulisse und dem herannahenden Sonnenuntergang. Sie beobachteten das rege Treiben und die Menschenmassen, die sich an ihnen vorbeischlängelten. Als die Sonne eine Stunde später hinter dem Alpenkamm verschwand und es langsam dunkler wurde, begaben sie sich Richtung Freiluft‐Kino. Der Andrang hielt sich in Grenzen, viele zogen doch bei dem lauen Sommerabend den Biergarten oder das Grillen im Garten vor. Als es noch nicht ganz dunkel war, begann ein kurzer Vorfilm, kurz darauf Werbung, bevor um Viertel nach acht der Hauptfilm startete. Alle drei amüsierten sich köstlich und tanzten zeitweise bei den flotten Rhythmen des Tanzfilms mit. Während des Films fiel es Sonja Brugger auf, dass Kalinka manchmal zitterte, trotz der immer noch hochsommerlichen Temperaturen von bestimmt acht‐undzwanzig Grad. Hatte sie sich einen Sonnenstich geholt? Sie holte ihre Windjacke aus der Tasche und legte sie ihr über ihre Schultern, sprach sie aber nicht darauf an. Hoffentlich machte Dr. Erding, ihr Stiefvater, ihr diesbezüglich keine Vorwürfe später. Aber vielleicht war es ja auch nur ein kurzzeitiger Anfall. Jedenfalls ließ sich Kalinka nichts davon anmerken und genoss den Film. Kurz vor zweiundzwanzig Uhr war der Film zu Ende, und sie radelten gut gelaunt zur Villa der Erdings. Bei dem Abschied fielen sie sich alle nochmals um den Hals und beschlossen, sonntags mit den Rädern nach Friedrichshafen zu radeln. Nur, es sollte kein nächstes Mal geben, denn es waren ihre letzten gemeinsamen Stunden.

2. Kapitel

Freitagabend. Wenige Minuten später.

Danielle Bamberg kam gegen zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig vom Grillfest der Nachbarn und öffnete leicht beschwingt die Haustür. Ihr Mann Dieter hatte bereits kurz nach einundzwanzig Uhr den Heimweg wieder angetreten, da er, wie er ihr kurz davor ins Ohr flüsterte, seinen „lallenden“ Nachbarn Max nicht mehr ertragen konnte. Außerdem quatschte ihm Max immer viel zu viel über Fußball, was Dieter gar nicht mochte, zumal auch das Endspiel der Fußball‐ Weltmeisterschaft am Sonntag war. Ein weiterer Grund war Nicolas, der müde war und den Dieter ins Bett bringen wollte. Der Kleine war beim Grillen dabei und hatte schon häufig gegähnt. Danielle war eine blonde, bildhübsche Frau mit knapp eins siebzig und lockigem, langem Haar. Ihre Figur war makellos und leicht gebräunt. Wenn sie beim Baden am Bodensee lag, war sie immer ein Blickfang für alle Altersgruppen. Sie war nicht sauer, als die beiden früher aufbrachen, obwohl sie aufgrund der Blicke wusste, dass ihr Nachbar ein Auge auf sie geworfen hatte. Trotzdem, einen mürrischen Ehemann an ihrer Seite konnte sie absolut nicht vertragen, deshalb war sie froh, als Dieter vor ihr das Grillfest verließ. Als sie daheim ankam und leise aufsperrte, war es mucks‐mäuschenstill. Wahrscheinlich schliefen schon alle. Nein, da war doch was. Eine Tür wurde zugemacht. Kalinkas Tür? War sie doch noch auf? Danielle und ihr Mann schliefen unten. Kalinka und Nicolas hatten je ein eigenes Zimmer einen Stock höher. Sie schaltete die Beleuchtung für den Treppengang ein und sah ihren Mann, der auf der obersten Stufe stand und sie entgeistert anstarrte.

„Du?“, flüsterte er so leise, dass sie ihn kaum verstand. „Du kommst schon so früh, Danielle? Dachte, du bleibst noch bis weit nach Mitternacht?“

„Nein, ich war müde und hatte keine Lust mehr. Du wirkst ja sehr überrascht, dass ich schon komme. Habe ich dich bei irgendwas gestört?“

„Gestört? Quatsch! Es hätte ja auch ein Einbrecher sein können.“

„Nein, Glück gehabt. ‚Nur‘ ich bin es. Schlafen die beiden Kinder schon?“

„Ja. Nicolas gleich nachdem ich ihn ins Bett brachte. Kalinka erst seit ein paar Minuten. Ihr ging es nicht so gut.“

„Weshalb?“

„Ihr war etwas schwindlig. Ich glaube, sie hatte Kreislaufprobleme.“

„Du glaubst? Na, wenn du dir als Arzt nicht mal sicher bist, wer soll es dann wissen?“, meinte sie leicht spöttisch.

„Kein Grund, sarkastisch zu werden. Es ist ziemlich sicher der Kreislauf, hervorgerufen durch zu viel Sonne.“

„Zu viel Sonne?“

„Ja. Sie war zu schlecht eingecremt, sie hatte auch gerötete Schultern. Deshalb hat sie vermutlich einen Sonnenstich, sie hätte nach dem Surfen am besten gleich heimgehen sollen. Sie sind aber ins Kino. Das Open‐Air am Marktplatz. Sonja hätte ja eigentlich sehen müssen, dass sie nicht ganz in Ordnung ist.“

„Und hast du ihr Tabletten gegeben?“

„Nein, eine Spritze.“

„Warum gleich eine Spritze?“

„Danielle! Bin ich hier der Arzt oder du?“, antwortete er gereizt.

„Entschuldigung. Man wird ja wohl noch fragen dürfen.“

„Schon gut, ich weiß, was ich mache. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gespritzt, weil sie auch etwas zitterte und hohen Blutdruck hatte. Aber morgen ist sie wieder fit.“

„Na hoffentlich“, meinte sie etwas besorgt. „Dein Wort in Gottes Ohr.“ Dann drehte sie ab, wendete sich dann aber plötzlich blitzartig erneut nach ihm um. Er stand immer noch wie angewurzelt auf der obersten Treppenstufe.

„Dieter?“, fragte sie leicht zögerlich.

„Ja, was gibt‘s noch?“

„Eine Bitte, wenn du nochmals zu Kalinka reingehst.“

„Ja? Welche denn?“

„Mach doch bitte deinen Hosenladen zu. Was soll bloß das Mädchen von dir denken, wenn sie dich so sieht!“

3. Kapitel

10. Juli, 8.15 Uhr. Circa neun Stunden später.

Kurz nach acht stand Danielle auf und sah den strahlenden Sonnenschein, trotz geschlossener Vorhänge im Schlafzimmer. Ihr Mann schnarchte leise vor sich hin und schien noch tief und fest zu schlafen. Sie zog sich ihren weißen BH an, der auf der Kommode lag, dazu ein buntgemustertes Sommerkleid und braune Sandaletten. Dann schminkte sie sich kurz und strich mit der Bürste durch ihr volles blondes Haar. Knapp fünfzehn Minuten später ging sie wieder ins Schlafzimmer.

„Schatz, ich lauf mal zum Bäcker.“ Sie zog die Vorhänge auf und sah, dass ihr Mann sich regte. „Aufstehen Faulpelz, es ist ein Traumwetter draußen!“

„Wie spät?“, murmelte er schlaftrunken.

„Gleich halb neun. Du musst Kalinka dann wecken, wenn ich weg bin. Sie wollte doch mit den Bruggers nach Friedrichshafen radeln.“

„Okay, mach ich. Wann kommst du wieder?“

„In dreißig bis fünfundvierzig Minuten, je nachdem wie viel beim Bäcker los ist.“

„Dann nimm mir noch eine Schachtel Marlboro mit.“

„Okay, bis gleich dann.“

Danielle hängte sich ihre Handtasche um, schnappte sich einen kleinen Beutel, nahm ihre Sonnenbrille vom Tisch und ging aus dem Haus. Der Bäcker, bei dem sie öfter einkaufte, lag etwa einen halben Kilometer von ihrem Haus entfernt. Er war beliebt