Pastoral und Politik - Britt Schlünz - E-Book

Pastoral und Politik E-Book

Britt Schlünz

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Beschreibung

Spanien ist eine Region, die in der europäischen Geschichte lange vernachlässigt wurde. Britt Schlünz analysiert – im Zusammenspiel von Zentrum und Peripherie, zwischen Madrid, Katalonien, dem Vatikan und der Kolonie Kuba – die konfliktreiche spanische Säkularisierung des 19. Jahrhunderts. Ihre Studie stellt die klerikalen Akteure in den Mittelpunkt und trägt zum Verständnis der Schlüsselkonflikte und zentralen Phänomene des Jahrhunderts in Europa bei: den Adaptionsmöglichkeiten des religiösen Feldes, der Formierung des Liberalismus und den Prozessen der Dekolonialisierung.

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Britt Schlünz

Pastoral und Politik

Katholische Frömmigkeit im Spanien des 19. Jahrhunderts

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Spanien ist eine Region, die in der europäischen Geschichte lange vernachlässigt wurde. Britt Schlünz analysiert – im Zusammenspiel von Zentrum und Peripherie, zwischen Madrid, Katalonien, dem Vatikan und der Kolonie Kuba – die konfliktreiche spanische Säkularisierung des 19. Jahrhunderts. Ihre Studie stellt die klerikalen Akteure in den Mittelpunkt und trägt zum Verständnis der Schlüsselkonflikte und zentralen Phänomene des Jahrhunderts in Europa bei: den Adaptionsmöglichkeiten des religiösen Feldes, der Formierung des Liberalismus und den Prozessen der Dekolonialisierung.

Vita

Britt Schlünz ist gegenwärtig wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Einleitung

Kontext: Religion und Politik im Spannungsverhältnis

Fragestellung

Methodischer Zugang

Quellen

Forschungsstand

Gliederung

I.

Religiöse Stigmatisation unter Anklage: das Gerichtsverfahren gegenüber Sor Patrocinio, 1835–36

1.

Bürgerkrieg und antiklerikale Gewalt

2.

Zuständigkeitsbereiche reklamieren: Stigmatisation als Testfall für das neue Rechtssystem

3.

Das ärztliche Gutachten: die Widerlegung des Wunders als Aufgabe der Medizin

4.

Die Rolle des Beichtvaters

5.

Antiliberale Netzwerke: Karlistinnen im Kloster

6.

Presseberichterstattung und Legendenbildung

7.

Fazit

II.

Frömmigkeit und Bürgerkrieg in Katalonien: der Volksmissionar Antonio María Claret, 1840–49

1.

Volksmissionen in Europa und ihr Verhältnis zur Politik

2.

Predigen im antiklerikalen Umfeld

3.

Die Etablierung einer katholischen Presse: Ein Apostel wird gemacht

4.

Mit der Reinheit der Jungfrau gegen Blasphemie und Unglaube: die Herz-Marien-Bruderschaft

5.

Pastoral in Print: »Frauenliteratur« als Bestseller

6.

Distributionswege: die religiöse Verlagsbuchhandlung

7.

Netzwerke katholischer Apologetik

8.

Liberale Gegenwehr

III.

Klerikale Einflussmöglichkeiten auf die konstitutionelle Monarchie, ca. 1849–57

1.

Die Década Moderada (1844–54) und das Bienio Progresista (1854–56)

2.

Die wundertätige Nonne und das Gabinete relámpago

3.

Die klerikale Kamarilla um Francisco de Asís

4.

Eine Gefühlsgemeinschaft: Isabella II., Sor Patrocinio und die Jungfrau Maria

5.

Moralische Ökonomien am Hof: Isabella II. als Förderin religiöser Erneuerung

6.

Fazit

IV.

Koloniale Stabilität dank Seelsorge? Claret als Erzbischof von Santiago de Cuba, 1851–57

1.

Die immer treue Insel – kolonialer Anspruch und Wirklichkeit im 19. Jahrhundert

2.

Reinheit in der Kolonie: Marienfrömmigkeit adaptiert

3.

Der kubanische Klerus: Träger und Adressat religiöser Erneuerung

4.

Konflikte mit der Kolonialverwaltung: der Missionar Esteban de Adoáin

5.

»Mischehen« und die koloniale Taxonomie von Hautfarben

6.

Der Erzbischof als Garant für politische Stabilität? Claret und die Capitanía General

7.

Die Grenzen des religiösen Feldes: Exkommunikation als letztes Mittel

8.

Fazit

V.

Religiosität am spanischen Hof: die Seelenführung der Königin, 1857–68

1.

Der Beichtvater einer konstitutionellen Monarchin

2.

Konflikte um das Privatleben der Königin

3.

Die schönen Künste im Kulturkampf

4.

Grenzen der Macht: die Anerkennung des Königreichs Italien

5.

Königliche Reisen als fromme Öffentlichkeitsarbeit

6.

Konkurrenz um das Gewissen der Königin? Das Verhältnis von Claret und Sor Patrocinio

7.

Bilder der Andersartigkeit: Presse und antiklerikale Pornographie um 1868

8.

Revolution und Exil

Fazit

Dank

Abbildungen

Abkürzungen

Literatur

Ungedruckte Quellen

Periodika

Gedruckte Quellen

Literatur

Personenregister

Einleitung

»Es ist nicht die Politik, welche die Religion retten muss; es ist die Religion, welche die Politik retten muss.«1

So forderte der spanische Philosoph und Autor Jaime Balmes 1844 die politischen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in Spanien heraus. Den Rettungsauftrag adressierte er an die einzige für ihn dort vorstellbare Religion: an den Katholizismus. Aus seiner Feststellung sprach die Überzeugung, wonach sich die Politik in Spanien grundsätzlich an der Religion versündigt und sie eines neuen moralischen Kompasses und neuer Legitimation bedurft habe. Dass dies nur die katholische Kirche leisten könne, war nicht allein Balmes Standpunkt, sondern Mitte der 1840er Jahre Ansicht einer blühenden katholischen Apologetik in Spanien und Europa. Autoren wie Balmes verstanden es, dem Katholizismus nach dem Verlust weltlicher Macht neue Zuständigkeitsbereiche vermeintlich abseits der Politik zu sichern. Allerdings sollten sie dabei bedächtig vorgehen, wie es einer der zentralen neuen spanischen Publikationsorte für gläubige Katholiken, die Zeitung El Católico, formulierte:

»Sie [die Zeitung] wird keine politische Ausrichtung haben: EL CATOLICO wird KATHOLIZISMUS UND SPANIENLIEBE beibringen, sie wird zu allen mit Mäßigung und Respekt sprechen, wenn auch mit Unerschütterlichkeit, welcher Partei auch immer jemand zugehören mag, denn jeden geht die Religion und Moral etwas an.«2

Mit dem Anspruch an Distanz von politischer Positionierung bei der Verbreitung von katholischer Doktrin sowie der Aufgabe, sich Fragen der Moral zu widmen und dies mit einer ausgewogenen emotionalen Ansprache zu verbinden, formulierte El Católico den selbstdefinierten Handlungsrahmen klerikaler Akteure in Spanien Mitte des 19. Jahrhunderts.

Die Ausgestaltung dieses Anspruches und die daraus folgende konfliktreiche Grenzziehung zwischen dem Feld des Politischen und des Religiösen sind Thema dieses Buches. Der Kampf um die jeweiligen politischen und religiösen Kompetenzbereiche entwickelte sich zum Schlüsselkonflikt der konstitutionellen Monarchie unter Isabella II. (1833–68). Wo die Grenzen katholischer Zuständigkeitsbereiche lagen, wurde in Spanien im Laufe des 19. Jahrhunderts in einer bis dahin beispiellosen Vehemenz und Unerbittlichkeit ausgetragen. Die Studie umfasst den Zeitraum vom Ende des letzten absolutistischen Regimes 1833 bis zur Revolution von 1868, welche die Herrschaft Isabellas II. beendete und schließlich zur Ersten Spanischen Republik (1873–74) führte.

Kontext: Religion und Politik im Spannungsverhältnis

Die Beziehung zwischen der katholischen Kirche und Politik respektive der Monarchie in Spanien war über das Jahrhundert hinweg von Ambivalenzen geprägt. Für den spanischen Liberalismus im 19. Jahrhundert war die Frage nach der Stellung der Kirche im Staat und die Rolle der Religion innerhalb der konstitutionellen Monarchie bedeutend für die Schärfung ihres Selbstverständnisses. Die Herausbildung des Narrativs der Dos Espanas – die Wahrnehmung der unerbittlichen Lagerbildung zwischen einem Milieu, das für eine konstitutionelle Monarchie liberaler Ausrichtung kämpfte, und demjenigen, das für die angestammte gesellschaftspolitische Vorherrschaft der katholischen Kirche und der Monarchie ohne die Beschränkung einer Verfassung stritt – prägte auch lange die Sicht auf die Stellung der Kirche in der Epoche der isabellinischen Monarchie.3 In der weltanschaulichen Dichotomie zwischen einem absolutistisch-reaktionären Lager und einem konstitutionell-liberalen erschien die katholische Kirche als natürlicher Verteidiger der absolutistischen Monarchie und als Stütze der etablierten gesellschaftlichen Ordnung. Doch die Mehrheit des spanischen Klerus entwickelte eine Skepsis gegenüber den verbürgten Rechten einer Verfassung, die sich bis zur offenen Feindschaft gegenüber dem konstitutionellen System ausweitete, nicht unmittelbar mit Inkrafttreten der ersten liberalen Verfassung Spaniens (und Europas) zu Beginn des Jahrhunderts, sondern die Fronten verhärteten sich erst sukzessive während der zweimaligen Restauration des Absolutismus.

Während der Herausbildung einer liberalen, konstitutionellen Ordnung zu Beginn des Jahrhunderts war das Verhältnis von Kirche und Politik durchaus produktiv: Nachdem napoleonische Truppen 1808 große Teile der Iberischen Halbinsel besetzt hatten und sowohl Karl IV. (1748–1819) als auch sein Sohn Ferdinand VII. (1784–1833) durch Napoleon zum Thronverzicht zugunsten seines Bruders Joseph Bonaparte gezwungen wurden, formierten sich Volksaufstände gegen die Besatzung im gesamten Land. Die Guerilla [kleiner Krieg] genannten Aufstände aus weiten Teilen des Heeres und großen Teilen der Bevölkerung heraus waren nicht primär national, sondern vor allem auch religiös motiviert. Der Spanische Unabhängigkeitskrieg, wie die antinapoleonischen Kriege auf der Iberischen Halbinsel in der spanischen Geschichtsschreibung genannt werden, war damit nicht nur wichtig für die Herausbildung einer nationalen spanischen Identität. Auch ein katholisches Selbstverständnis spielte für die Kämpfenden eine wichtige Rolle.4 Die Kirche stand dabei oftmals auf Seiten der Guerrilleros und predigte gegen eine atheistische Invasion durch Napoleons Truppen.5

Die Junta Suprema Central in Cádiz – eine Institution, die in den von Frankreich nicht besetzten Gebieten die Regierungsgewalt für Ferdinand VII. ausübte – berief 1810 die Cortes de Cádiz, eine verfassungsgebende Versammlung, ein, die schließlich 1812 die erste liberale Verfassung Spaniens, die Verfassung von Cádiz, verabschiedete. Die Abgeordneten der Cortes (Parlament), die sowohl aus Spanien als auch aus den überseeischen Gebieten des spanischen Imperiums stammten, ließen dabei keinen Zweifel an den katholischen Grundpfeilern dieser Verfassung und schufen eine »newly born bi-hemipherical Catholic nation aimed to achieve freedom, under the cross.«6 Die Konfession der spanischen Nation wurde im zweiten Kapitel, Artikel 12, unmissverständlich definiert:

»Die Religion der spanischen Nation ist und wird ewiglich die einzig wahre, die römisch-katholische, apostolische sein. Die Nation schützt sie durch weise und gerechte Gesetze und verbietet die Ausübung jeder anderen Religion.«7

Die Verfassung schloss damit Religionsfreiheit explizit aus. An diesem Umstand wurde auch im Verlauf des Jahrhunderts über die Rumpfverfassung des Estatuto Real von 1834 und die Verfassungen von 1837 und 1845 hinweg nicht gerüttelt.8 Eine öffentliche Debatte über den Platz von religiöser Toleranz in der Verfassung und der Akzeptanz anderer Religionen und christlicher Denominationen entwickelte sich erst im Laufe der 1860er Jahre. Die erste Verfassung, die Religionsfreiheit in Spanien zusicherte, war die postrevolutionäre Verfassung von 1869.

Dabei war das Bekenntnis zur Kirche von Seiten der Abgeordneten in Cádiz keineswegs einseitig. Die Kirche stellte sich in Form ihrer Infrastruktur wie auch durch Kleriker, die für die Sache des Liberalismus eintraten, hinter das neue politische System: Die indirekte, dreistufige Wahl des Einkammerparlaments fand in der Organisationseinheit der kirchlichen Gemeinenden statt, kontrolliert und durchgeführt vom Ortspfarrer. Dazu fand eine Art Staatsbürgerkunde von der Kanzel herab statt, indem die Verfassung während der Gottesdienste im ganzen Land laut vorgetragen und so allen vermittelt wurde, die selbst nicht lesen konnten.9

Beispiele für das fruchtbare Engagement des höheren Klerus für politische Reformen in dieser Zeit stellt das Wirken von Klerikern wie Joaquín Lorenzo Villanueva (1757–1837) und Luis María de Borbón y Vallabrigda (1777–1823) dar. So stand Villanueva als Beichtvater Karls IV. noch für eine andere Tonart des klerikalen Einflusses, als dies unter Isabella II. üblich wurde: Sein Catecismo de Estado según los principios de la Religión von 1793, geschrieben unter den Eindrücken der Französischen Revolution, wurde ein Grundlagenwerk zur Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik im 19. Jahrhundert in Spanien. Das Werk verteidigte zwar die Monarchie und lehnte jede Idee einer Revolution ab, dennoch suchte Villanueva im Laufe seines Lebens immer die Möglichkeit einer Verbindung von christlicher Überzeugung und politischen Forderungen der Zeit, sowohl publizistisch als auch als Mitglied der Cortes.10 Ebenso konnte sich Luis María de Borbón y Vallabrigda im direkten höfischen Umfeld für die liberale Sache engagieren. Als Erzbischof von Toledo und einziger Angehöriger des spanischen Königshauses blieb er während des Unabhängigkeitskrieges im besetzten Teil des Landes und war ab 1810 Mitglied der Cortes. Damit verlieh er als einer der hochrangigsten Kleriker des Landes revolutionären Prinzipien wie der nationalen Souveränität die kirchliche Akzeptanz. Luis de Borbón setzte sich ebenfalls für Reformen innerhalb der Kirche ein, so war er mitverantwortlich für die Abschaffung der Spanischen Inquisition während des Trienio Liberal (Wiedereinsetzung der Verfassung von Cádiz, 1820–23). Berühmt wurde einer seiner Hirtenbriefe, in dem er die Wiedereinführung einer konstitutionellen Monarchie begrüßte und denjenigen Klerikern Strafen androhte, die dagegen agitierten.11

Unter den Abgeordneten der Cortes von Cádiz lassen sich mehrere hochrangige Kleriker finden, die oftmals ihr Engagement auch nach der ersten Restauration des Absolutismus (1814–20) und im Trienio Liberal weiterführten.12 Die Einstellung dieser Geistlichen entsprach nicht dem Gros des spanischen Klerus, gleichwohl bildeten die politisch engagierten Bischöfe jedoch keinesfalls eine unbedeutende Minderheit. Mit der Desamortisation (Überführung kirchlichen Besitzes in Nationaleigentum) und vermehrten antiklerikalen Ausschreitungen in der zweiten liberalen Periode zwischen 1820–23 spitzte sich dann eine Lagerbildung des Klerus zugunsten antiliberaler Einstellungen zu. Gleichzeitig fanden sich die engagierten Kleriker in der diffizilen Situation wieder, zwar Reformen der Kirchenstruktur befürworten zu wollen, andere Kernthemen des Liberalismus, wie beispielsweise Pressefreiheit, jedoch kategorisch abzulehnen.

Der um Verständigung und Reformen bemühte Teil des Klerus stand über die zwei Restaurationen des Absolutismus (zweite Restauration 1823–33) hinweg zunehmend unter Druck. Gleichzeitig verband sich die Kirche stärker mit restaurativen politischen Kräften und fand eine neue Allianz im Kampf gegen gesellschaftlichen Wandel: den Karlismus. Der Karlismus erhielt seinen Namen durch den Bezug auf Carlos María Isidro de Borbón, Bruder des 1833 verstorbenen Königs Ferdinand VII. und Verkörperung der absolutistischen Hoffnung der spanischen Monarchie nach 1833. Nach dem Tod Ferdinands VII. verweigerte Don Carlos Ferdinands Tochter Isabella II. die Anerkennung als legitimer Thronfolgerin und reklamierte selbst die Thronfolge. Die Mutter Isabellas, María Cristina de Borbón-Dos Sicilias (1806–78), musste infolgedessen die Unterstützung des liberalen Lagers suchen, um die Herrschaft ihrer Tochter zu sichern.13

Damit verband sich im Karlismus der konkrete dynastische Streitfall um die legitime Thronfolge mit einer gesellschaftlichen Spaltung in ein – schematisch simplifizierend – konservativ-klerikales Lager, mit Rückhalt in der ländlichen Bevölkerung vor allem Navarras, Aragoniens und Teilen Kataloniens, und in ein städtisches, liberales Milieu, welches eine konstitutionelle Monarchie favorisierte. Die zugrunde liegende weltanschauliche Spaltung der involvierten gesellschaftlichen Gruppen zeichnete sich jedoch bereits während der zweiten Restauration der absolutistischen Herrschaft in den 1820er Jahren ab. Die sich in dieser Zeit formierenden Realistas verstanden sich als Opposition zur Entwicklung des urbanen Bürgertums und formierten sich vor allem aus Vertretern der Landbevölkerung, Handwerkern der Städte, aus dem höheren Klerus und der alten Hidalguía – gesellschaftlichen Gruppen also, deren Rechte im Ancien Régime gut definiert waren. Schließlich kämpften die Realistas um die Beibehaltung der weltlichen Macht und der bestehenden Besitzverhältnisse der Kirche.14

Der Konflikt beider Lager resultierte rasch im Bürgerkrieg zwischen Anhängern einer konstitutionellen Monarchie unter Isabella II. und den Verbündeten von Don Carlos. Der Erste Karlistenkrieg dauerte von 1833 bis 1840 an und endete schließlich in einer Niederlage der karlistischen Truppen. Der Krieg war vor allem durch bis dahin beispiellose und exzessive antiklerikale Gewalt geprägt: Massaker an Geistlichen und Plünderungen von Klöstern und Kirchen 1834 in Madrid und im darauffolgenden Jahr unter anderem in Katalonien markierten einen Tabubruch im gesellschaftlichen Umgang mit der Institution der katholischen Kirche und symbolisierten für die Zeitgenossen den totalen Verlust von Macht und Prestige des Klerus.15 Nicht nur wurden Ordensleute bei Angriffen auf Klöster ermordet und Gotteshäuser geplündert, die Kirche sah sich zudem mit massiven ökonomischen und rechtlichen Verlusten konfrontiert. Das siegreiche liberale Lager hatte sich zum Ziel gesetzt, die weltliche Vormachtstellung der Kirche in Spanien zu brechen und die Institution in das neue konstitutionelle System einzuordnen.16

Die Mutter Isabellas II. und Witwe Ferdinands VII., María Cristina, regierte ab 1834 mithilfe einer von ihr erlassenen Rumpfverfassung, dem Estatuto Real, welches die Grundlage für eine parlamentarische Regierung schaffen sollte und auf dessen Grundlage die Cortes zum ersten Mal seit dem Trienio Liberal wieder zusammenkamen. Nach mehreren Sitzungsperioden wurden die Cortes nach der Neuwahl 1836 durch ein königliches Dekret aufgelöst. Im August desselben Jahres sah sich María Cristina nach Aufständen gezwungen, die Verfassung von Cádiz wieder einzusetzen. In dieser Zeit sortierte sich auch der Liberalismus neu mit der Gründung der moderaten liberalen Partei El Partido Moderado (kurz Moderados) 1834 und der Formierung der radikal-liberalen Partei El Partido Progresista (kurz Progresistas). Die organisatorische Trennung der beiden Hauptflügel des spanischen Liberalismus ging dabei bereits auf die weltanschauliche Spaltung während des Trienio Liberal zurück, wo erstmals die Spanne liberaler politischer Standpunkte deutlich wurde. So traten die Moderados für eine Reformation der Verfassung von Cádiz ein, die der Krone innerhalb des parlamentarischen Systems größere Rechte einräumen sollte, des Weiteren votierten sie für ein politisches Zwei-Kammer-System und für eine Kontrolle der Presse.17 Die aus den Exaltados hervorgegangenen Progresistas traten wiederum für das Prinzip der Volkssouveränität ein und sprachen sich für eine Beibehaltung der Verfassung von 1812 aus.18

Dies waren Kennzeichen einer gesellschaftlichen Spaltung im Angesicht eines sich formierenden modernen liberalen Staates, wie sie sich auch in gesamteuropäischen Entwicklungen ausmachen lassen. Europaweit erfolgte die Etablierung einer parlamentarischen Ordnung und einer konstitutionellen Monarchie nicht ohne gesellschaftlichen Widerstand bestimmter (privilegierter) Gruppen, und die katholische Kirche rang um eine einflussreiche Stellung innerhalb der neuen politischen Systeme. Phänomene wie die Herausbildung einer katholischen Presse, die Zirkulation antiklerikaler Karikaturen und Pamphlete, Streit um religiöse Inhalte der Schulbildung oder die Zivilehe gab es ebenso unter anderem in Preußen, Italien, Frankreich oder Belgien.19 Spezifisch in Spanien war jedoch die langfristige Verbindung dieser Spaltungen mit politischer Gewalt, die sich von der ersten Hälfte bis ins späte 19. Jahrhundert zog und sich in drei Bürgerkriegen manifestierte: dem Ersten Karlistenkrieg (1833–40), dem Zweiten (1847–49) und schließlich Dritten (1872–76). Dazu kam die lange Dauer der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Frontstellungen, die sich bis ins 20. Jahrhundert fortsetzten, und die als Erklärung für die exzessive Gewalt des Spanischen Bürgerkrieges herangezogen wird.20

Am Hof wiederum spielte Religion ungeachtet der politischen Umbrüche vom Antiguo Régimen bis zur konstitutionellen Monarchie eine wichtige Rolle. So praktizierte die spanische Monarchie der Frühen Neuzeit eine stark christologisch geprägte Frömmigkeit mit einem besonderen Fokus auf die Eucharistie, auch in Abwehr und Abgrenzung zum sich verbreitenden Protestantismus. In derselben Zeit entstand die Idee der katholischen Monarchie, die Rom unterstellt war, sich aber als ebenbürtig zum Heiligen Römischen Reich und damit der österreichischen Linie der Habsburger verstand.21 Auch der Andachtsform der Passion Jesu kam von der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert hinein eine zentrale Bedeutung im liturgischen Kalender der königlichen Familie zu. Daneben wurde im 19. Jahrhundert die Verehrung der Heiligen Jungfrau Maria neben der christuszentrierten Frömmigkeit zunehmend wichtiger für das Selbstverständnis der Monarchie und auch für das sich wandelnde öffentliche Bild der königlichen Familie. Das Bild einer religiösen Königin respektive einer frommen Monarchie spielte während des Liberalismus eine Schlüsselrolle bei der Herausbildung eines neuen Selbstverständnisses der Spanier: Die Untertanen der katholischen Monarchie wurden zur Bürgern der katholischen Nation.22 Zentrales Hilfsmittel stellte dabei die zunehmende Nationalisierung der Mariendevotion und die öffentlich dargestellte Marienverehrung Isabellas II. dar, die sich damit gleichzeitig als fromme Katholikin und Mutter der Nation präsentieren konnte. Die hier zur Schau gestellten Eigenschaften Isabellas II. als einer liebevollen und fürsorglichen Mutter und Ehefrau fügten sich in das liberal-bürgerliche Rollenverständnis einer konstitutionellen Monarchin.23

Keineswegs stießen aber alle höfischen Devotionsformen und Frömmigkeitspraktiken auf Zustimmung oder gar Förderung durch die Politik. Isabellas II. praktizierte Marienfrömmigkeit wurde öffentlichkeitswirksam inszeniert und in den 1850er und 1860er Jahren von Seiten der regierenden Moderados gefördert. Klerikale Einflussmöglichkeiten am Hof und insbesondere das Engagement von Jesuiten wurde jedoch gleichzeitig von Seiten der Politik misstrauisch beargwöhnt. So waren die absolutistisch-klerikalen Netzwerke um Isabellas Ehemann Francisco de Asís und um ihre Mutter María Cristina sowohl den Progresistas als auch Moderados ein Dorn im Auge.24

Fragestellung

Die vorliegende Studie nimmt eine Analyse der Aushandlungsbereiche zwischen Politik und Kirche und der Neuausrichtung des religiösen Feldes während der konstitutionellen Monarchie unter Isabella II. vor. Den Aushandlungsprozess um politische Macht und gesellschaftlichen Einfluss konnten ab den späten 1830er Jahren bis zur Revolution 1868 insbesondere zwei klerikale Akteure gestalten, die damit im Zentrum von liberalem Argwohn standen: Die Nonne Sor Patrocinio (1811–91), eine Vertraute der Königin und vermeintlich Stigmatisierte, und der Volksmissionar, Erzbischof und königliche Beichtvater Antonio María Claret (1807–70). Sie beide verkörpern wie kaum jemand sonst in dieser Zeit in Spanien, wie die Kirche über das Kompetenzfeld der Moral und Lebensführung doch wieder politischen Einfluss gewinnen wollte.

Sor Patrocinio erlangte erstmals während der Hochphase des Ersten Karlistenkrieges öffentliche Aufmerksamkeit, als sie sich geleitet von religiösen Visionen und stigmatischen Blutungen für die Thronrechte Don Carlos’ ausgesprochen haben soll und wegen der Unterstützung eines Staatsstreichs angeklagt wurde. Für ihr weiteres Wirken war dann ihre spätere persönliche Beziehung zum spanischen Königspaar Isabella II. und Francisco de Asís prägend wie auch der Argwohn, der ihr von liberalen Politikern und Presse entgegenschlug. In den Jahren um die Revolution 1868, die Isabella II. schließlich abdanken ließ, wurde Sor Patrocinio zur zentralen Figur einer »klerikalen Kamarilla« stilisiert, die klandestin die Geschicke des Landes lenkte. Antonio María Claret wiederum wurde während des Ersten Karlistenkrieges in Katalonien zum Priester geweiht und wirkte ebendort während der 1840er Jahre als Volksmissionar. 1850 wurde er zum Erzbischof von Santiago de Cuba, Kuba ernannt; 1857 folgte der Ruf zurück nach Spanien als Beichtvater der spanischen Königin. So wie Sor Patrocinio sah sich Claret dort publizistischen Kampagnen ausgesetzt und beide flohen im Zuge der Revolution 1868 aus Spanien.

Dieses Buch fragt daher, inwieweit sich das religiöse Feld in der Zeit der konstitutionellen Monarchie Isabellas II. durch diese beiden Akteure, denen so unterschiedliche Möglichkeiten beschieden waren, neu positionieren konnte. Auf je eigene Weise gelang es Sor Patrocinio und Claret, über Fragen der Lebensführung der Kirche einen gesellschaftlichen Einflussbereich im Liberalismus zu sichern. Dieser umfasste Bildung, Erziehung, Ehe, Intimleben und Geschlechterverhältnisse. Beide Akteure wussten um die Grenzen des religiösen Feldes, wie es der Liberalismus abzustecken versuchte, arrangierten sich innerhalb ihrer Felder und dehnten sie schließlich zugunsten der Religion aus.25 Dabei nutzten beide die argumentative Strategie, sich allein auf Gebiete der Moral, Weltanschauung und Frömmigkeit zu beziehen, und postulierten, unpolitisch zu handeln. Zentrale Frage ist, wie das Wissen um ein richtiges und gutes Leben durch Claret und Sor Patrocinio verbreitet wurde und inwiefern sie erfolgreich ein neues moralisches Regime zu etablieren vermochten.26 Beachtet werden soll hier, welche unterschiedlichen pastoralen Strategien beide Protagonisten in dieser Neuaufstellung anwendeten und wie diese zielgruppenspezifisch eingesetzt wurden. Der Begriff der »Pastoral« wird über die Studie hinweg weit verstanden und umfasst somit verschiedenste Strategien der Seelsorge, welche die christliche Lebenshilfe ausmachten – vom Gespräch über Ratgeberliteratur bis zur Beichte.

Beide Protagonisten eint, dass ihre Zeitgenossen sie als charismatische Einzelpersönlichkeiten wahrnahmen, deren vermeintlicher Einfluss auf Individuen oder gesellschaftliche Gruppen teilweise mit Argwohn betrachtet wurde. Einen zentralen Vergleichsaspekt stellt daher die Frage dar, wie die beiden ihre Wirksamkeit organisierten. In diesem Zusammenhang werden auch die Netzwerke, soweit nachvollziehbar, untersucht, die ihre herausgehobene Stellung im religiösen Feld ermöglicht haben. An diesen Untersuchungsschwerpunkt der Strategien und Mittel der Einflussnahme schließt zweitens die Frage nach den Inhalten der jeweils propagierten Moral an. Ein zentrales Motiv beider Akteure stellte die Verehrung der unbefleckten Jungfrau Maria dar. An dieser Schwerpunktsetzung kann gezeigt werden, inwiefern katholische Frömmigkeit während des spanischen Liberalismus politisch war, da die Marienverehrung eine transzendente Begründung für Handlungsräume religiöser Akteure bot. Die Reinheit Mariens stellte für Claret wie für Sor Patrocinio Ideal und Handlungsorientierung dar. Beide beriefen sich auf die Jungfrau Maria – ihre Strategien, die normativen Vorgaben im Bereich der Lebensführung zu verankern, unterschieden sich jedoch: Claret zog seine Legitimation aus Amt und Selbstbild, Sor Patrocinio hingegen konnte sich zwar auf die Heilige Jungfrau als göttliche Vermittlungsinstanz berufen, ihr Auserwähltsein jedoch nicht explizit auf die beargwöhnte Stigmatisation zurückführen. Den zwei gewählten Protagonisten kommt in dieser Studie insbesondere Relevanz zu, weil sie ihre Einflussbereiche über unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen hinweg etablieren konnten. Welches Gefährdungspotential den beiden zugesprochen wurde, belegt der vehemente antiklerikale »Backlash«, dem Sor Patrocinio und später auch Claret ausgesetzt waren. Daher schließt sich hier auch die Frage nach Widerstand und Formen der Gegenwehr an, der beide auf unterschiedliche Art und Weise ausgesetzt waren.

Methodischer Zugang

Um den Aushandlungsbereich zwischen Religion und Politik, der primär über den Diskurs des Moralischen geführt wurde, analytisch fassen zu können, wird im Folgenden mit der religionssoziologischen Theorie Pierre Bourdieus gearbeitet, welche zwischen einer Struktur- und Handlungstheorie changiert. Darauf bezugnehmend wird auch das Konzept des religiösen Feldes übernommen.27 Bourdieu entwirft das religiöse Feld als relativ offenen Raum mit dynamischen Grenzen, die sich eben nicht aus sich selbst heraus, sondern immer in der Auseinandersetzung mit anderen Feldern, seien es Politik, Wissenschaft oder Recht, definieren. Ein spezifisches Feld ist somit immer relational zu begreifen. Für die folgende Studie ist das Verhältnis der beiden Felder Religion und Politik besonders relevant. Das Religiöse ist bei Bourdieu – hier eng an Max Weber angelehnt – eine gesellschaftliche Sphäre, in der von den Akteuren eine eigene Art von Arbeit geleistet wird – »religiöse Arbeit«, die das Bedürfnis der Laien nach Heil befriedigen soll.28

Beim Eintritt in das jeweilige Feld, hier der Politik oder Religion, stehen dem Akteur laut Bourdieu verschiedene Sorten von Kapital zum Einsatz, die sowohl die Waffe im Kampf um Aufmerksamkeit und Einfluss als auch das umkämpfte Gut selbst darstellen. Neben ökonomischem Kapital können dies auch kulturelles Kapital wie Bildung oder soziales Kapital sein, welches sich in zwischenmenschlichen Beziehungen oder Netzwerken darstellt. Ein Feld kann damit auch über den Einsatz einer bestimmten Form von Kapital definiert werden, was Bourdieu mit den immanenten Regeln eines Spiels vergleicht.29 Bewähre man sich dort, erlange man Legitimität, im konkreten Fall religiöse. Bourdieu definiert:

»Religiöse Legitimität zu einem gegebenen Zeitpunkt ist nichts anderes als der Zustand der spezifisch religiösen Kräfteverhältnisse zu eben diesem Zeitpunkt, und damit das Resultat von vorangegangenen Kämpfen um das Monopol der legitimen Ausübung religiöser Gewalt. Der Typ religiöser Legitimität, auf den sich eine religiöse Instanz berufen kann, ist in dem Maße von ihrer je nach Zustand der religiösen Kräfteverhältnisse eingenommene Position abhängig, als diese Position die Art und die Stärke der materiellen und symbolischen Waffen (wie das prophetische Anathema oder die priesterliche Exkommunikation) bestimmt […].«30

Dies heißt nicht nur, dass besonders prominente Positionen auf dem religiösen Feld mit starker Konkurrenz einhergehen und konstant verteidigt werden müssen, sondern zeigt auch, wie fragil das Machtgefüge innerhalb des Feldes sein kann.

Das Feld teilt sich in die beiden Seiten der Produzenten und Konsumenten auf, wobei die Produzenten jeweils untereinander in Konkurrenz stehen und auch in Konkurrenz zu den Angeboten anderer Felder.31 Da die vorliegende Studie von der Produzentenebene ausgeht und von dieser aus das religiöse Feld analysiert, sind auch die – ebenfalls von Weber übernommenen – Idealtypen Bourdieus hier anschlussfähig, auch wenn, wie im Bezug auf die Feldkonzeption, hier immer idealisierende Schemata vorgestellt werden. Bei Bourdieu befinden sich die Heilsanbieter ›Priester‹, ›Prophet‹ und ›Zauberer‹ mit ihren Angeboten an die Laien in einer Konkurrenz zueinander. Der in diesem Zusammenhang relevante Typus des Priesters zieht seine Macht und Legitimität aus der Institution, um eben diese Macht auch disziplinarisch gegenüber den Gläubigen einsetzen zu können. Der Typus des Propheten agiert wiederum unabhängig von Institutionen und bezieht seine Legitimation bei der Werbung von neuartigen Heilsversprechen aus seinem Charisma.32 Dies lässt sich auch für die Protagonisten der Studie anwenden: Claret als Priester im konkreten Sinn wie nach Bourdieu konnte auf die Netzwerke der Kirche zur Sicherung seines Einflusses setzen und vermochte zu definieren, wer innerhalb respektive außerhalb der Institution stand. Der Einfluss Sor Patrocinios hingegen kann mit der Figur des charismatischen Propheten – oder hier genauer der Prophetin – analysiert werden: Das Phänomen der Stigmatisation stellte die Legitimation der Amtskirche infrage und bedeutete eine Gefahr für das Monopol der Heilsversprechen durch Priesterschaft.

Charisma versteht Bourdieu dabei nicht als persönliche, außeralltägliche Gabe: Der Prophet beziehe seine Autorität »aus der Struktur der symbolischen Kräfteverhältnisse im religiösen Feld«, in welchem er in Momenten der Krise zutage trete und seine Macht dadurch erlange, dass er (oder sie) es schaffe, die religiösen Interessen einer bestimmten einflussreichen gesellschaftlichen Gruppe zu symbolisieren.33 Sor Patrocinios Vermögen, die religiösen Interessen der spanischen Königin zu lenken, wird daher weniger einem schwer analysierbaren, individuellen Charisma zugesprochen. Vielmehr soll auf die Umstände und Annahmen eingegangen werden, durch die ihr Charisma zugesprochen wurde.

Im Anschluss an Klaus Große Kracht plädiert diese Studie vor allem auch für den Feld-Begriff anstelle des ›katholischen Milieus‹, um binnenkonfessionelle Konflikte besser methodisch greifen zu können.34 Sor Patrocinio und Claret positionieren sich auf dem katholischen Feld, indem sie sich – explizit und implizit – vom Liberalismus abgrenzen; ihre Position und damit ihr Einfluss resultieren aber vor allem aus Machtansprüchen innerhalb des Feldes, welche sie anschließend auf das Feld der Politik ausdehnen wollten. Bourdieus Religionssoziologie ist damit auch besonders anschlussfähig für religionsgeschichtliche Studien, die die Aushandlungsbereiche des religiösen Feldes gegenüber säkularen Feldern wie der Politik und der Wissenschaft in der Moderne untersuchen. Die vorliegende Untersuchung fragt danach, wie das religiöse Feld auch über religiöse Gefühle und Werte geformt wurde und welche Gefühle evoziert werden sollten, um bestimmte religiöse Werte zu vermitteln. Theoretische Zugänge, wie sie vor allem Monique Scheer oder Pascal Eitler vorgelegt haben, sind bei dieser Fragestellung hilfreich, da sie Emotionen als soziale Praktiken fassen und sich unter anderem auf Bourdieus Habituskonzept berufen.35

Mit der Betrachtung von Gestaltungsmöglichkeiten und Einflüssen einzelner Akteure auf soziale Gemeinschaften rückt der Aspekt normativer Weisungen innerhalb eines Feldes in den Fokus. Zentrale Frage der Studie ist, inwieweit Claret und Sor Patrocinio in einer Zeit der katholischen Neuorientierung normative Vorstellungen eines richtigen und guten Lebens durchzusetzen versuchten. Die zwei Protagonisten der Studie befanden sich durch ihre einflussreichen Positionen oftmals im Zentrum der Konflikte um politische Vorherrschaft, die sich zwischen Karlismus und Liberalismus entfachten. Durch ihren jeweiligen Standpunkt als Hüter oder Hüterin der Moral wirkten die beiden Akteure dabei auch dezidiert auf die Tektonik des religiösen Feldes ein. Ein wichtiger Aspekt ihrer Überzeugungsstrategien lag in dem Vermögen, emotionale Gemeinschaften zu stiften, um so Normen durchsetzen zu können. Um eine katholische, spezifisch in einer Marienfrömmigkeit begründete Gemeinschaft zu untersuchen, rekurriert die Studie auf das Konzept der emotional community, begründet von Barbara Rosenwein.36

Die Konflikte um kirchliche Zuständigkeitsbereiche problematisieren darüber hinaus, inwiefern bestimmte Frömmigkeitspraktiken selbst politisch waren und beleuchten damit, inwiefern gerade religiöse Akteure wie stigmatisierte Frauen die neuen Grenzen der gesellschaftlichen Teilbereiche in der zunehmend säkularen Moderne infrage stellten. Sor Patrocinios körperliche Phänomene und das daraus resultierende Charisma forderten die Grenzziehung zwischen (privatem) Glauben, Recht, Wissenschaft und Politik heraus. Säkular wurde damit eine normative Zuschreibung, die dazu dienen sollte, divergierende Meinungen und Phänomene zu diskreditieren und vor allem der liberalen Selbstverständigung diente. Daher können postkolonial angelegte Studien, wie jene von Saba Mahmood über zeitgenössische weibliche Frömmigkeitsbewegungen im Islam, helfen, sich einen Begriff von agency, oder Handlungsfähigkeit, anzueignen, der jenseits der Dichotomie von liberal/fromm oder rational/religiös operiert. Dabei greift Mahmood auch auf die Praxeologie Bourdieus zurück und zeigt auf, inwiefern eine körperbetonte Frömmigkeit auch politisch gelesen werden kann, nämlich als Verweigerung liberaler Körpervorstellungen und Anspruchshaltungen.37 Sor Patrocinio erlangte gerade dadurch agency, dass sie liberale Konzepte von Handlungsfähigkeit und Freiheit unterlief und sich als ein vermeintlich passives Sprachrohr göttlichen Willens entwarf.

Quellen

Eine Studie, die sich zwei in der Kirchenhierarchie so unterschiedlich situierten Protagonisten annährend gleichgewichtig widmen möchte, muss die divergierende Quellen- und Forschungslage berücksichtigen. Zu Claret als 1950 heiliggesprochenem Ordensgründer gibt es einen überaus reichen, sorgsam zusammengetragenen Quellenkorpus und eine hagiographisch geprägte, oftmals von seinem Orden, den Claretinern, selbst verfasste Literatur. So kann sich die Studie auf die edierte und über 1500 Briefe umfassende Korrespondenz von Claret stützen, die zusätzlich auch ca. 1000 eingegangene Briefe umfasst. Über 100 publizierte Werke Clarets – teils nur noch im Archiv der Clarentiner in Vic, Katalonien, vorhanden, teils auch bis heute aufgelegt und verbreitet – vervollständigen die ausführliche Liste an Egodokumenten. Wichtige Zeugnisse Clarets missionarischer Strategien sind darüber hinaus auch die im dortigen Archiv gesammelten Flugblätter und Illustrationen aus seiner Zeit als Volksmissionar. Ergänzend konnten Bestände der von ihm gegründeten Verlagsbuchhandlung, der Librería Religiosa, im Archiv der Jesuiten in Barcelona und im Archivo Nacional de Catalunya eingesehen werden. Im Archiv des Königspalasts in Madrid, dem Archivo General de Palacio, finden sich zahlreiche Nachweise zumeist administrativen Charakters, die seine Stellung innerhalb der Palasthierarchie und sein Aufgabengebiet als königlicher Beichtvater verdeutlichen. Einen zweiten umfangreichen Bestand zu seiner Tätigkeit als Erzbischof von Santiago de Cuba und seinem Verhältnis zur Kolonialverwaltung bilden die Akten des Ministerio de Ultramar im Nationalarchiv in Madrid. Die Analyse von Clarets Amtsperiode als Erzbischof in Kuba konnte durch Studien im kubanischen Nationalarchiv in Havanna in den Beständen des Gobierno Superior Civil ergänzt werden.

Dagegen sind überlieferte Egodokumente Sor Patrocinios rar und verstreut: In der Real Academia de la Historia befinden sich im Bestand zu Isabella II. 123 Briefe der Nonne an die Königin, die den Zeitraum von 1869 bis 1888 umfassen und die die Königin selbst der Akademie übergab. Im dort ebenfalls archivierten Briefwechsel Isabellas II. mit Papst Pius IX. finden sich Nachweise für das Engagement der Königin für die Nonne gegenüber der Kurie.38 Daneben hat Juan Ortega y Rubio in seiner achtbändigen Historia de España (1908–10) weitere knapp 60 Briefe von Sor Patrocinio an Isabella für den Zeitraum zwischen 1855 bis 1866 publiziert; die Sammlung enthält wiederum nur einen einzigen Brief der Königin an die Nonne.39 Einen wichtigen Nachweis über das Erregungspotenzial, das Sor Patrocinio für die Institution Kirche – und damit nicht nur für das politische, sondern auch das religiöse Feld – bedeutete, liefern die Quellenbestände in den Vatikanischen Archiven, vor allem im Vatikanischen Apostolischem Archiv: Die Madrider Nuntiatur verfasste zahlreiche Berichte über sie; weitere Briefe zur Causa Patrocinio und vereinzelt von ihr selbst befinden sich dort im Archivio Particolare Pio IX. Ferner bilden die von der Römischen Inquisition aufgenommenen Untersuchungen aufgrund des Vorwurfs der »angemaßten Heiligkeit« (»Affettata santità«) und der »falschen Mystik« (»Falsa mistica«) einen großen Bestand im Archiv der Glaubenskongregation in der Abteilung der Stanza Storica und im Bestand der Buchzensur, größtenteils aus den 1870er Jahren. Abgerundet werden die Bestände über die Nonne in kirchlichen Archiven mit dem eingesehen Seligsprechungsverfahren im Archiv des Erzbistums von Toledo.

Die Schlagseite des Quellenkorpusses wird noch einmal deutlicher, wenn man die Bestände in nicht-kirchlichen Archiven heranzieht: Im Archiv des Königspalasts in Madrid finden sich nur äußerst sporadische Nachweise zu Sor Patrocinio, im Archiv der Palastbibliothek zumindest eine von ihr verfasste und durch Isabella II. geförderte Gebetssammlung. Ergänzt werden diese archivalischen Quellen schließlich von der ausgedehnten Berichterstattung in der Presse über Claret wie auch die Nonne, angefangen mit der Dokumentation des gegen Sor Patrocinio angestrengten Gerichtsverfahrens in den 1830er Jahren bis hin zum mutmaßlich schädlichen Einfluss der klerikalen Kamarilla, an der die beiden am Hof bis zur Revolution 1868 maßgeblich beteiligt gewesen sein sollen. Ab ca. 1860 traten zu den Berichten über Sor Patrocinio und Claret in der katholischen und liberalen Presse auch vermehrt bildliche Darstellungen in Form von Karikaturen.

Forschungsstand

»Beide waren Ordensgründer, produktive Autoren und prominente Persönlichkeiten in der katholischen Öffentlichkeit. Die neue Geschichtsschreibung zur Religionsfrage hat sie jedoch praktisch vergessen und es ist schwierig, Gründe dafür zu finden.«40

So resümiert Gregorio Alonso in einem 2017 erschienenen Forschungsüberblick zur spanischen Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts das Desiderat zu Studien über Sor Patrocinio und Antonio María Claret und verdeutlicht gleichzeitig, wie lohnenswert gerade die Kontrastierung beider Biographien für das Verständnis der Formierung des religiösen Feldes unter Isabella II. wäre. Dem hier aufgezeigten Forschungsdesiderat widmet sich dieses Buch.

Klagen über die Marginalisierung des 19. Jahrhunderts in der spanischen Historiographie, die noch vor wenigen Jahren bemängelt wurden, können inzwischen nicht mehr geführt werden. So sind inzwischen zahlreiche (spanischsprachige) Studien und programmatische Artikel entstanden, welche das Panorama spanischer Geschichte des 19. Jahrhunderts neu situieren und dabei sowohl der europäischen Geschichte neue Facetten hinzufügen als auch an historiographische Trends der letzten Jahre anschließen – von der Emotions- bis zur Globalgeschichte.41

Dabei ist es insbesondere die Beschäftigung mit der Religions- beziehungsweise Katholizismusgeschichte, die in jüngster Zeit maßgeblich zu neuen Erkenntnissen über das 19. Jahrhundert in Spanien beigetragen hat. Ausgangspunkt dafür wiederum ist Alonsos eigenes Werk zum katholischen Bürgertum zwischen 1793 und 1874 von 2014.42 Der Autor untersucht mit einem ideen- und diskursgeschichtlichen Schwerpunkt die Entstehung des Konzepts einer katholischen Nation respektive eines katholischen Bürgertums und die konfliktreichen Folgen dieser Konzeption für die Staats-Kirchen-Beziehung. An Alonsos Zugang, klerikale und antiklerikale Diskurse verschränkt zu analysieren, kann diese Studie anschließen. Sein Werk ist darüber hinaus zusammen mit der Arbeit Florian Hubers zum Tiroler Katholizismus von 1830–48 ein Beispiel für neue Forschungen zum europäischen Kulturkampf in monokonfessionellen Räumen, die wichtige Anknüpfungspunkte dieser Arbeit darstellen, gerade im Hinblick auf Fremdzuschreibungen und Binnendifferenzierungen.43 Nach einer ausgedehnten Schwerpunktsetzung der Forschung zum Antiklerikalismus im 19. Jahrhundert ist wiederum in letzter Zeit eine Konjunktur an Studien zur Religion in Spanien zu verzeichnen:44 Neben der Monographie Alonso erschienen vor allem erste Publikationen zum Verhältnis von Religion und Politik respektive dem spanischen Nationalkatholizismus oder dem antiliberal organisierten Klerikalismus, wobei sich diese zumeist auf Aufsätze beschränken.45 Einschlägig für diese Studie sind auch die Arbeiten von Rául Mínguez Blasco zu dem im spanischen Katholizismus ausgeprägten Phänomen der Marienfrömmigkeit und seinen politischen Implikationen im 19. und 20. Jahrhundert.46 Inwieweit die katholische Kirche und das spanische Bürgertum sowohl ergänzend als auch abgrenzend voneinander neue Ausdrucksmöglichkeiten für Frauen schufen, untersuchen neben Mínguez Blasco insbesondere María Cruz Romeo Mateo und Mónica Burguera. Gerade die Vorstellung der Frau als eines »häuslichen Engels« im Bürgertum und das weibliche Ideal der katholischen Kirche ergänzten sich gut.47 Gemeinsam ist diesen Werken, dass sie sich zumeist auf publizierte Quellen entweder der Presse oder katholischer Ratgeberliteratur beziehen. Ihr Fluchtpunkt liegt zumeist auf der Entstehung der spanischen Nation im 19. Jahrhundert sowie der Frage, auf welche Weise diese als eine katholische konturiert wurde. Daneben entwickelte sich in den letzten Jahren ein neues Interesse an dem Verhältnis von Monarchie und Nation in Spanien; auf die entstandenen Studien kann sich diese Arbeit mit Blick auf religiöse Einflussbereiche am Hof unter Isabella II. beziehen.48 Diese trugen auch zu einer Neubewertung von Nation, spanischen Regionalismen und Religion innerhalb der größeren Frage nach Spaniens Weg in der Moderne bei, die eine simplifizierende Sicht einer Rückständigkeit Spaniens im 19. Jahrhundert inklusive eines rückwärtsgewandten Katholizismus widerlegt. In diesem Zusammenhang erlangten auch die Monarchie und ihre Adaptionsmechanismen im Zuge der Moderne neue Aufmerksamkeit.49 Wichtiger Bezugspunkt für das Verhältnis von Liberalismus und Monarchie im Untersuchungszeitraum dieser Studie ist die maßgebende Biographie zu Isabella II. von Isabel Burdiel.50 Zur Frage nach dem Verhältnis von Geschlecht und spanischer Monarchie aus einer emotionshistorischen Perspektive kann auf die Arbeiten von Birgit Aschmann zurückgegriffen werden.51 Neben einer Geschlechtergeschichte des Katholizismus bildete die Frage nach Grenzziehungen der Religion und das Verhältnis von Katholizismus, Laizismus und Säkularisierung in den letzten Jahren einen Schwerpunkt.52 Resümierend lässt sich feststellen, dass das Bild des spanischen Katholizismus zunehmend differenzierter gezeichnet wird und sich die Forschung von der Vorstellung einer grundsätzlichen Frontstellung der Kirche gegenüber der konstitutionellen Monarchie und dem parlamentarischen System immer mehr verabschiedet.

In letzter Zeit rückte auch die globale respektive imperiale Dimension von Religion in den Mittelpunkt, zumeist mit einem Fokus auf der protestantischen Mission, den Machtzentren des British Empire, dem französischen Kolonialimperium oder auch dem russischen Zarenreich. Jürgen Osterhammel bezeichnet die christliche Mission als eine der »wichtigsten Linien einer globalen Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts«.53 Unter dieser Prämisse nimmt sich dieses Buch auch zum Ziel, die Bedeutung der verschränkten inneren und äußeren Mission im spanischen Kolonialreich für das Verhältnis von Religion und Politik auf der Iberischen Halbinsel herauszuarbeiten. Die Studie plädiert darüber hinaus dafür, die Verflechtung von Religion und Politik im spezifischen Zusammenhang von Kolonie und Machtzentrum zu begreifen, da die Untersuchung von Konflikten kolonialer Mission dabei helfen kann, die Ambivalenzen der liberalen spanischen Politik besser zu verstehen.

Gerade der Untersuchungsgegenstand »Katholizismus« bietet sich für eine Neubewertung der spanischen Geschichte im 19. Jahrhundert an, um sie stärker als bisher mit europäischen und globalen Perspektiven zu verbinden. So plädieren Jorge Luengo und Pol Dalmau für eine spanische Verflechtungsgeschichte, welche Themen wie Liberalismus, Republikanismus und Katholizismus auf globaler Ebene analysiert.54 Dieser Zugang erscheint hier gewinnbringend, da somit Kontinuitäten und Schwerpunktsetzungen der Missionierungsstrategien Antonio Clarets in den Blick genommen werden können – von der Postbürgerkriegsgesellschaft in Katalonien bis zur Kolonie Kuba und zurück an den spanischen Königshof. Insbesondere Clarets Umgang mit staatlichen Autoritäten und sein missionarischer Fokus auf die Unterweisung von Frauen kann ohne die Zeit in Kuba nicht richtig eingeordnet werden.

Die Untersuchung greift aber nicht nur auf jüngere Forschungsleistungen zurück, sondern stützt sich auch auf die überaus gründlichen – und in einer sehr viel längeren historiographischen Tradition stehenden – Arbeiten zur spanischen Kirchengeschichte. Die hier relevanten Forschungen stammen vor allem von Vicente Cárcel Ortí, der zahlreiche umfangreiche Standardwerke zum 19. und 20. Jahrhundert verfasst hat und sich dabei insbesondere auf die Staat-Kirche-Beziehungen, das Verhältnis zum Liberalismus sowie die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan konzentrierte.55 Ebenso wichtig sind die Studien des Kirchenhistorikers Manuel Revuelta González, vor allem dessen Überblickswerk zur Exklaustration während des Ersten Karlistenkrieges und seine Beiträge zur Kirche im Umbruch zwischen Ancien Régime und Liberalismus.56

Darüber hinaus kann die vorliegende Studie auch die Gemeinsamkeiten und Differenzen der spanischen Geschichte zu europäischen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts aufzeigen. In jüngerer Zeit wurde wieder für das Jahr 1848 als Epochenschnitt argumentiert.57 1848 als Datum revolutionärer Erhebungen hat jedoch für die folgende Untersuchung wie auch für die spanische Geschichte insgesamt keinen mit anderen europäischen Ländern vergleichbaren Zäsurcharakter. Vielmehr kennzeichneten entsprechende Charakteristika wie vom Bürgertum getragene Revolutionen, die Einforderung liberaler Rechte wie auch ein restaurativer »Backlash« in Spanien die gesamte Jahrhundertmitte. Insbesondere die Perioden von 1833–40, 1854–56, 1868 sowie 1873–74 waren von derartigen Entwicklungen geprägt. Die in Europa größtenteils in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ausgefochtenen Kulturkämpfe lassen sich für Spanien von den 1830er Jahren bis zum Jahrhundertende in Wellen ausmachen.58 Ähnliches gilt für das Phänomen des Ultramontanismus, der in Spanien schon aus geographischer Gründen nicht diesen Namen trug, jedoch in vergleichbarer Ausprägung bereits seit den 1830er Jahren maßgeblich die Ausrichtung des spanischen Klerus definierte und sich später politisch in der Gruppierung der neo-católicos kanalisierte. Die spanische Gesellschaft und das politische System verhandelten damit ähnliche Themen wie andere europäische Gesellschaften im 19. Jahrhundert. Die vorliegende Studie verdeutlicht zudem, dass europaweite Phänomene teils früher und mit stärkerer Vehemenz ausgetragen wurden, insbesondere was die Staat-Kirchen-Beziehung, den Antiklerikalismus und die Ausdrucksformen von Frömmigkeit betraf. Eine Gemeinsamkeit stellt wiederum die große Emotionalität dar, mit welcher die Zeitgenossen diese Debatten führten.59

Der Forschungsstand zu Claret und Sor Patrocinio ist analog zur Quellenlage unausgewogen. Für Claret liegen mehrere ältere umfangreiche Werke zu seinem Wirken als Missionar, Erzbischof und Beichtvater vor, die einen hagiographischen Charakter aufweisen, jedoch äußerst quellengestützt sind und zumeist aus der Feder von Claretinern stammen.60 Jüngst wurden diese älteren Untersuchungen durch eine sehr detailgetreue, mit dem Anspruch auf Vollständigkeit formulierte Dissertation zu Clarets Zeit als Volksmissionar in den 1840er Jahren vom Direktor der Claretiner in Vic, Carlos Sánchez Miranda, ergänzt.61 Diese Monographie wird ergänzt durch einzelne Aufsätze zu eben dieser Zeitspanne, die Clarets Wirken jedoch recht einseitig als Missionar im Sinne der Gegenreformation charakterisieren. Erste Untersuchungen liegen auch für seinen missionarischen Einsatz in Kuba und am Hof vor.62

Zu Sor Patrocinio lagen lange Zeit wenige nicht-wissenschaftliche Biographien vor, die entweder im hagiographischen Stil verfasst waren oder sie als klerikale Verschwörerin charakterisierten.63 Dass nun die Forschung zu Stigmatisierten in den letzten Jahren eine Konjunktur erlebt hat, belegt ein an der Universität Antwerpen angesiedeltes Forschungsprojekt zu Stigmatisierten in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, welches zu Fällen in Belgien, Italien, Frankreich, Großbritannien, Irland, Österreich und mit Sor Patrocinio eben auch Spanien forscht.64 Der Fokus der kürzeren medienhistorisch ausgerichteten Arbeiten zu Sor Patrocinio liegt dabei auf dem öffentlichen Bild der Nonne. Die Quellen dazu lieferten vor allem Presseberichte und Karikaturen.65 Sich Sor Patrocinio als »Celebrity« zu nähern, liefert für den Kontext dieser Arbeit erste Anknüpfungspunkte, um ihr Erregungspotenzial im spanischen Liberalismus im 19. Jahrhundert zu begreifen. Differenziert werden muss dieses Bild durch das Hinzuziehen umfangreicher Studien zur »weiblichen Frömmigkeit« und zur Reaktion der Kirche auf nicht-kirchlich sanktionierte katholische Mysterikerinnen und Charismatikerinnen im 19. Jahrhundert.66

Gliederung

Die Studie folgt einem chronologischen Aufbau anhand biographischer Stationen beider Protagonisten und ihrer unterschiedlichen Wirkungsbereiche. Kapitel I und II sowie III und IV analysieren die Wirkungsbereiche Clarets und Sor Patrocinios jeweils zeitlich parallel, das V. Kapitel führt beide Lebenswege schließlich am Hof Isabellas II. zusammen.

Die ersten beiden Kapitel umfassen den Zeitraum von 1835 bis 1849 und untersuchen die im Kontext des Ersten Karlistenkrieges ausgeprägten Frömmigkeitsformen Sor Patrocinios und Clarets. Der analysierte Zeitraum wird durch den Beginn des juristischen Prozesses gegenüber der Nonne in Madrid und dem Ende der claretinischen Missionen in Katalonien gerahmt. Das erste Kapitel analysiert zum einen das Phänomen einer am Körper ablesbaren und in den Körper eingeschriebenen Frömmigkeit anhand der religiösen Stigmatisation Sor Patrocinios und das gegen sie angestrengte Gerichtsverfahren 1835. Dies geschah vor dem Hintergrund der erneuten Etablierung eines konstitutionellen Systems, im Zuge derer Justiz und Medizin ihre Aufgabenbereiche im Staat mithilfe des Feindbildes Sor Patrocinios neu definieren konnten. Dem gegenüber bildet den Mittelpunkt des II. Kapitels die auf Breitenwirkung ausgerichtete Frömmigkeit Clarets, dessen Volksmissionen in der Postbürgerkriegsgesellschaft Kataloniens die Grenzen politischen und unpolitischen Handelns problematisieren. Der Fokus der Analyse liegt auf der Ausgestaltung der Missionen, dem politischen Argwohn, der ihnen entgegengebracht wurde, und dem sie rahmenden seelsorgerischen Programm aus Laienvereinigungen und Ratgeberliteratur. Sor Patrocinios und Clarets Frömmigkeitspraktiken werden dabei als spezifische Abwehrreaktion auf die antiklerikale Politik und Gewalt im Zuge des Bürgerkrieges hin interpretiert. Gleichzeitig wird deutlich, wie schnell das politische System nach dem Ende des Bürgerkrieges 1840 um eine Wiederannäherung an die katholische Kirche bemüht war.

Kapitel III und IV umfassen den Zeitraum der 1850er Jahre, der durch eine Politik der Entspannung zwischen Madrid und dem Vatikan geprägt war – manifest im Konkordat von 1851 –, und analysieren, wie Claret und Sor Patrocinio ihre pastoralen Strategien vor diesem Hintergrund anpassten und sich so neue territoriale und soziale Handlungsräume erschlossen. Sor Patrocinio gelang dies, indem sie eine intensive Brieffreundschaft zur spanischen Königin etablierte und das Königspaar als Förderer ihrer Konventsgründungen gewinnen konnte. Das Kapitel untersucht damit die politische und kirchliche Sorge vor klerikaler Einwirkung auf die konstitutionelle Monarchie. Mit steigendem Einfluss gelangte Sor Patrocinio zunehmend in das Blickfeld des Vatikans. Die Berichte, die vom spanischen Klerus über Sor Patrocinio zusammengetragen und an Papst Pius IX. (Pontifikat: 1846–78) gesandt wurden, verdeutlichen die Problematik, mit der die katholische Kirche um die Jahrhundertmitte konfrontiert war: Frauen wie Sor Patrocinio, die durch ihre besondere spirituelle Begabung eine Art »religiöse Virtuosinnen« (im Anschluss an Max Weber) der katholischen Kirche darstellten, standen in direkter Konkurrenz zur männlichen, durch das Priesteramt legitimierten Autorität über göttlichen Willen und Wahrheit. Steht Sor Patrocinios Wirken beispielhaft für ein Wiedererlangen karitativen kirchlichen Einflusses nach dem Ende des Bürgerkrieges und einen verstärkten Einfluss am Hof, so betrachtet das IV. Kapitel Clarets missionarische Praktiken im kolonialen Kontext. Claret wurde 1850 zum Erzbischof von Santiago de Cuba ernannt und wirkte daraufhin sieben Jahre in Kuba, bevor er als Beichtvater der Königin wieder aufs spanische Festland zurückberufen wurde. Der Blick in die Kolonie beleuchtet dabei, inwiefern der Kirche eine vom Liberalismus zugedachte – und letztlich gescheiterte – Rolle als Vermittlerin sozialen Friedens zukam; eine Position, die ihr in Spanien selbst zu diesem Zeitpunkt weitgehend abgesprochen wurde. Das kirchliche Engagement für »Mischehen« zwischen Kolonialisten und ehemals versklavten Kubanerinnen verdeutlicht die unterschiedlichen Konzepte von Reinheit, die Staat und Kirche vertraten. Das Kapitel analysiert damit auch den vorherrschenden Rassismus in der Kolonie. Das abschließende Kapitel konzentriert sich auf die Zeit Clarets am Hof als Beichtvater Isabellas II. und seine Konkurrenz zu Sor Patrocinio. Claret wurde 1857 von der Königin zurück nach Spanien gerufen und blieb bis zur Revolution 1868 in Madrid am Hof. Hier steht zum einen das Rollenverständnis des Beichtvaters einer konstitutionellen Monarchin im Mittelpunkt, zum anderen die Strategie, mit deren Hilfe sich Isabella II. in der Öffentlichkeit als gläubige Monarchin und fürsorgliche Mutter inszenierte, um ihrem skandalgeprägten Bild eine positive Wendung zu geben. Somit leistet das Kapitel einen Beitrag zur Frage nach bürgerlichen Moralvorstellungen, die an eine konstitutionelle Monarchie gerichtet wurden – und Isabellas Scheitern daran. Das Kapitel schließt ab mit der Untersuchung des Topos einer »klerikalen Kamarilla«, der sich während der Revolution 1868 in der Presse und in Karikaturen von Claret und Sor Patrocinio verdichtete. Dabei verstärkten sich die Diskreditierung der Kirche, repräsentiert durch Nonne und Beichtvater, und die Diskreditierung der Monarchie wechselseitig.

I.Religiöse Stigmatisation unter Anklage: das Gerichtsverfahren gegenüber Sor Patrocinio, 1835–36

1.Bürgerkrieg und antiklerikale Gewalt

Am 7. November 1835 besetzten 30 Streitkräfte der Guardia Nacional auf Veranlassung des damaligen Gobernador civil und späteren spanischen Ministerpräsidenten Salustiano Olózaga (1805–73) das Kloster Caballero de Gracia im Zentrum Madrids: Sie nahmen den Vikar des Klosters und die Ordensschwester Sor Patrocinio fest, sie und die Nonnen der Gemeinschaft wurden einem Verhör unterzogen. Daraufhin überschlugen sich in der spanischen Presse die Mutmaßungen und Berichte über die vermeintlich wundersamen Vorgänge in jenem Kloster und über das Schicksal der Nonne. Im Januar 1836 wurde Sor Patrocinio wegen des doppelten Vergehens »der gekünstelten und fanatischen Hochstapelei und des Versuchs, den Staat zu unterwandern und die Sache des aufständischen Thronfolgers zu fördern« angeklagt.67 Damit wurden der Nonne zwei Vergehen vorgeworfen: Laut Anklage sollen am Körper der Nonne fünf Wundmale, die den fünf Wunden Christi glichen, erschienen sein. Diese Wunden – die Stigmatisation – soll, so der Vorwurf, die Angeklagte sich selbst zugefügt und einen göttlichen Einfluss somit vorgetäuscht haben. In diesem Zusammenhang soll die Nonne zweitens göttliche Visionen vorgetäuscht haben, um die spanische Thronfolge zu beeinflussen.

Sor Patrocinio wurde ein gutes Jahr nach der als Matanza de Frailes (»das Gemetzel der Mönche«) in die spanische Geschichte eingegangenen Anschlagsserie auf Madrider Klöster festgenommen, die im Juli 1834 den Höhepunkt des antiklerikalen Furors während des Karlistenkrieges bildeten. Damals sah sich Madrid gleichzeitig von zwei Gefahren bedroht: den voranschreitenden karlistischen Truppen, die eine Ausdehnung des seit 1833 anhaltenden Bürgerkrieges auf Madrid bedeuteten, und zweitens der exponentiellen Ausbreitung der Cholera in der Hauptstadt. Am 15. und 16. Juli starben in den ärmsten Vierteln der Stadt 500 Menschen täglich an der Infektionskrankheit, am 17. Juli verdoppelte sich die Zahl. Daraufhin verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, Jesuiten hätten die Brunnen der Stadt vergiftet und so die Seuche verschuldet. Auf dem Höhepunkt der Epidemie kam es am 17. Juli zu einer Anschlagsserie auf Kleriker und Klöster der Stadt, bei der nicht nur Mitglieder der beschuldigten Jesuiten, sondern unter anderem auch Franziskaner, Kapuziner und Dominikaner Opfer von Mord und Plünderungen wurden. Diese Massaker, bei denen in einer Nacht 73 Kleriker getötet und 11 verletzt wurden, fanden auf recht kleinem Raum im Stadtgebiet zwischen der Puerta del Sol, dem Konvent San Francisco el Grande in Nähe der Plaza de la Cebada und zwischen den Hauptstraßen Atocha und Toledo statt. Eines der Hauptanschlagsziele war das jesuitische Colegio Imperial de San Isidro.68 Erst am Morgen wurde die Situation unter Kontrolle gebracht, nachdem Teile des Militärs und der Stadtverwaltung Madrids auffällig lange passiv geblieben waren. In dem öffentlichen Gerichtsverfahren, welches gegen 79 Männer und Frauen angestrengt wurde (54 Zivilisten, 14 Militärs und 11 Garnisonsmitglieder), gab es schließlich allein Urteile wegen Raubes, nicht wegen Mordes.69

Die Historiographie war lange Zeit uneins, ob es sich bei dem Matanza um einen spontanen Ausdruck der Angst vor der sich schnell ausbreitenden Cholera in den Unterschichten und deren Wut auf die vermeintlichen Schuldigen handelte, oder aber ob die Morde das Werk von Geheimgesellschaften waren. Die Historiker Juan Pérez Garzón und Antonio Moliner Prada wiederum betonen, dass der Wunsch der städtischen Unterschichten nach Rache durchaus der antiklerikalen Politik der Regierung unter Martínez de la Rosa in die Hände spielte, die mit Anschlägen auf die Kirche die liberale Revolution beschleunigen wollte.70 Insbesondere die zeitliche Überschneidung der sich exponentiell ausbreitenden Epidemie mit dem Voranschreiten der karlistischen Truppen und der Gefahr, dass diese den anhaltenden Bürgerkrieg gewinnen könnten, brachte die Regierung zur stillschweigenden Unterstützung der antiklerikalen Gewalt. Willkommen war ihr die in der Bevölkerung weit verbreitete Vermutung, der Klerus und insbesondere die Jesuiten wären ein Bollwerk des Karlismus.71

Dieser beispiellose Ausbruch von Gewalt, staatlicherseits zumindest geduldet, wurde in den Monaten um die Verhaftung von Sor Patrocinio wiederum von weitreichenden Desamortisationsmaßnahmen der Regierung gerahmt. So verfügte der von Regentin María Cristina eingesetzte Finanzminister Juan Álvarez Mendizábal im Juli 1835 die Aufhebung aller religiösen Orden, die weniger als 12 Mitglieder hatten, und verbot die Jesuiten. 1836 wurden diese Maßnahmen durch ein weitreichenderes Verbot von Mönchs- und Nonnenorden ausgebaut, Kirchenbesitz verstaatlicht und kirchliche Kunstwerke beschlagnahmt. Auch die rechtliche Stellung des höheren Klerus, insbesondere der Bischöfe, wurde beschnitten, indem ihre Immunität aufgehoben und der Kirchenzehnt gestrichen wurde.72 Insgesamt zielte die antiklerikale Politik zwischen 1834 und 1843 insbesondere auf die radikale Säkularisation von Mönchen und Nonnen ab, die in dieser Zeitspanne insgesamt 30.000 Personen betraf.73 Dies bedeutete eine grundsätzliche Erschütterung der Staat-Kirchen-Beziehung und veränderte die vormals privilegierte Stellung der Kirche nachhaltig.

Der Prozess gegen Sor Patrocinio fand daher in einer Phase maximaler weltanschaulicher Differenz zwischen dem liberalen und klerikalen Lager statt und verfestigte die gesellschaftliche Spaltung, die nach Ende der absolutistischen Herrschaft in Spanien herrschte und sich im Bürgerkrieg manifestierte. Auf das Massaker in Madrid und auf die staatlichen Eingriffe in Belange der Kirche nahmen sowohl die verhörten Nonnen, Sor Patrocinio selbst und auch die Berichte in der Presse wiederholt Bezug. Die am Klerus 1834 verübte Gewalt und die Grenzüberschreitung, die das staatliche Vorgehen darstellte, wurden thematisiert und mit dem Verfahren gegen Sor Patrocinio verknüpft.

2.Zuständigkeitsbereiche reklamieren: Stigmatisation als Testfall für das neue Rechtssystem

Angeklagt wurde eine 24-jährige Frau, die über die nächsten 30 Jahre immer wieder im Zentrum kirchlicher und politischer Skandale stehen sollte: Dolores Quiroga y Capopardo (geboren als: María Josefa de los Dolores Anastasia de Quiroga y Capopardo) kam am 27. April 1811 in San Clemente zur Welt. Aus einer angesehenen Familie stammend, der Vater war hochrangiger Beamter am Königshof, trat sie als junge Frau 1826 in das Convento de las Comendadoras de Santiago in Madrid ein. 1829 legte sie schließlich das Ordensgelübde des Klausurordens der Konzeptionistinnen (Orden von der Unbefleckten Empfängnis Mariens) im Madrider Kloster Caballero der Gracia ab und nahm den Namen Sor María de los Dolores Patrocinio (»Patrocinio« in der Bedeutung »Schutz«, »Schirmherrschaft«) an.74

Im Laufe ihres Lebens konnte Sor Patrocinio das spanische Königspaar als Förderer ihres Ordens gewinnen und erntete dafür zeitlebens Misstrauen von Amtskirche und spanischer Politik. In den 1860er Jahren und insbesondere um die Revolution von 1868 wurde sie in der Presse verdächtigt, eine klerikale Kamarilla am Hof zu formen und klandestin die Geschicke des Landes zu lenken. Im Zuge der Revolution floh sie schließlich mit dem Königspaar aus Spanien nach Frankreich. Nach der Restauration der Monarchie unter Alfonso XII. (Herrschaft: 1874–85) durfte sie nach Spanien zurückkehren und ließ sich schließlich in einem Konvent ihres Ordens in Guadalajara nieder, wo sie 1891 starb. Ein Seligsprechungsverfahren des Erzbistums Toledo, in dem sich Isabella II. noch engagierte, wurde 1904 eröffnet; dies ist bis heute offen.75

Überliefert wurde der Gerichtsprozess gegen Sor Patrocinio durch ein 1837 publiziertes Protokoll, die Causa formada, dessen Titel bereits das Ringen um die Deutung religiöser Stigmatisation bezeichnet: »Um den Ursprung und die Herkunft der Wunden, die besagte Nonne Sor Patrocinio an ihren Händen, Füßen, der linken Seite und am Kopf hatte, welche die Form einer Krone haben, herauszufinden, und denen man den Charakter des Übernatürlichen oder des Wunders geben wollte oder gab«.76 Die Verhöre der Nonnen ihrer Gemeinschaft sollten das vermeintlich Wunderbare als Betrug entlarven: So sagten ihre Mitschwestern aus, sie mehrmals in Ekstase erlebt und die stigmatischen Wunden am Körper der Nonne gesehen zu haben. Außerdem soll der Teufel Sor Patrocinio aus der Klausur entführt haben, um ihr aufzuzeigen, dass die Regentin María Cristina eine »in jedem Sinne schlechte Frau« sei und ihre Tochter Isabella II. nicht Königin von Spanien sein könne und werde.77 Sor Patrocinio wurde somit vorgeworfen, mitten im Bürgerkrieg die Thronansprüche Don Carlos’ legitimieren zu wollen. Ihre pro-karlistischen Visionen und der Umstand, dass sie öfter nicht ansprechbar oder bei klarem Bewusstsein war und sich desorientiert fühlte, wurden als »mystisches Fieber«78 beschrieben und die Anklageschrift vermerkte mit Misstrauen, dass sie »sehr offen als Heilige beworben«79 wurde; der staatliche Handlungsdruck nahm somit zu. Die Ermittlungen im Kloster begann genau zu jenem Zeitpunkt, als die Angst der Madrider Behörden vor einem Pilgerwesen zum Kloster wuchs.

Der Prozess sollte ein Exempel des Fortschritts gegenüber Aberglauben und Rückständigkeit der katholischen Kirche statuieren. Seinen politischen und weltanschaulichen Rahmen gaben die radikal antiklerikalen Maßnahmen der Regierung Juan Álvarez Mendizábals, dessen Amtszeit von September 1835 bis Mai 1836 recht genau die Untersuchungs- und Prozessdauer umfasste.80 Der Prozess gegen Sor Patrocinio fiel exakt in die Phase der »revolución legal«81 des spanischen Justizsystems in der Umbruchsphase zwischen dem Estatuto Real vom April 1834 und der Verkündung der neuen liberalen Verfassung am 18. Juni 1837 durch die Regentin María Cristina. Das Estatuto Real, welches nicht den Umfang und Wirkungsbereich einer Verfassung hatte, sondern allein den Auftrag hatte die rechtlichen Grundlagen für ein Parlament mit zwei Kammern zu schaffen, wurde als königliches Dekret durch María Cristina im Namen ihrer minderjährigen Tochter verabschiedet. Weder wurde im Estatuto die nationale Souveränität festgehalten, noch gab es Regelungen bezüglich der Exekutive oder Judikative, die weiterhin in den Händen des Souveräns respektive der Souveränin lagen.

Unter diesen Umständen kamen die Cortes zwischen 1834 und 1836 für zwei Sitzungsperioden zusammen, die von militärischen Aufständen und Unruhen geprägt waren. Im August 1836, als ein Sieg der karlistischen Truppen absehbar schien, wurde die Regentin durch einen militärischen Putsch in der königlichen Residenz La Granja de San Ildefonso gezwungen, auf die Verfassung von Cádiz zu schwören, die bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung knapp ein Jahr später im Juni 1837 Bestand hatte. Von den Cortes constituyentes, der neuen verfassungsgebenden Versammlung wurde mit der Verfassung von 1837 schließlich ein Gesetzeswerk erarbeitet, das einen Kompromiss zwischen den Forderungen der Moderados und Progresistas, zwischen Estatuto Real und der Verfassung von Cádiz darstellte.82

Der Prozess gegen Sor Patrocinio fiel somit in eine heikle politische Umbruchsphase. Die Publikation zum Gerichtsverfahren beschreibt dabei sowohl die Verhaftung als auch das Verhör der Angeklagten, es gibt die Zeugenaussagen der Nonnen, die Anklage, die Verteidigung, das Urteil und das medizinische Gutachten wider, welches über die Wundmale und ihre Verheilung in Auftrag gegeben wurde. Ungeachtet der inneren Widersprüche des Verfahrens wurde Sor Patrocinio schließlich am 25. November 1836 zum Verlassen Madrids und zur Übersiedelung in ein Kloster ihres Ordens außerhalb der Hauptstadt aufgrund der erwiesenen Täuschung und der Künstlichkeit ihrer Wundmale verurteilt.

Der Zeitpunkt der Anklage und die Zeitspanne des Gerichtsverfahrens verdeutlichen, dass das Gerichtsverfahren um die Visionen und Stigmata der Nonne vor allem als Definitionshilfe für die Zuständigkeitsgebiete des gerade neu zu schaffenden politischen Systems genutzt wurde. Laut Gerichtsverfahren soll Sor Patrocinio bereits seit den 1820er Jahren ein »mystisches Fieber« geplagt haben, ohne dass es ein juristisches Aufheben darum gegeben hatte. Schon bald nach ihrem Eintritt in die Klausur 1829 soll eine Wunde an ihrer linken Körperseite erschienen sein, einige Monate darauf öffneten sich blutende Wunden an ihren Händen und Füßen.83 Erst 1835 aber kam es zur Anklage. Das Verfahren wirkte hier als Demarkationshilfe für die Aufgaben von Medizin und Justiz im gerade wieder etablierten Liberalismus, als die Zuständigkeiten für solche vermeintlich mystischen Phänomene ungeklärt waren: Denn jene Institution, der bisher Fragen der »angemaßten Heiligkeit« angetragen wurden – die Spanische Inquisition – war am 15. Juli 1834 durch ein Dekret der Regentin María Cristinas endgültig aufgelöst worden.84 Im September 1835 waren die juristischen Instrumente geschaffen worden, die helfen konnten, Stigmata und Visionen unter den Vorzeichen des neuen Systems einzuhegen, und zwar die neue (provisorische) Rechtsordnung des spanischen Liberalismus.

Dass die Ermittlungen gegen Sor Patrocinio nur wenige Monate später nach Erlass der Rechtsordnung, nämlich Ende des Jahres 1835 aufgenommen wurden, stellte daher keinen willkürlichen oder zufälligen Beginn der staatlichen Aufmerksamkeit gegenüber den wundersamen Vorgängen im Kloster Caballero de Gracia dar. Im Verfahren gegen Sor Patrocinio – so die These – kamen die just eingeführten juristischen Instrumente zum ersten Mal prominent zur Anwendung und die sich wieder etablierende konstitutionelle Ordnung konnte sich mit, beziehungsweise gegen Sor Patrocinio juristisch neu positionieren.

Vor welchem Gericht Sor Patrocinio angeklagt wurde, wie mit ihr bis zum Prozessbeginn zu verfahren war und auf welcher Grundlage sie verteidigt werden konnte, wurde somit erst kurz zuvor festgelegt. Die eingangs erwähnte »Revolution des Rechts« zeichnete sich durch mehrere neue Reglementierungen im Jahr 1835 aus, die das Ziel hatten, das Rechtssystem zu vereinheitlichen und zu rationalisieren.85 Drei dieser Reglementierungen prägten das Recht im spanischen Liberalismus besonders: das Reglamento provisional para la administracion de la justicia en lo respectivo á la Real jurisdiccion ordinaria, die Satzung zum Obersten Gerichtshof Reglamento del Supremo Tribunal de Justicia und die Verordnung über die königlichen Audencias Ordenanza para todas la Audiencias de la Península e islas adyacentes, verabschiedet durch den Justizminister Álvaro Gómez Becerra.86 Die erste Verordnung war dabei die relevanteste und blieb trotz ihres »provisorischen« Charakters grundlegend für die spanische Justiz bis 1870. In Ausformungen des Rechtsverständnisses, das in der Verfassung von Cádiz angelegt war, regulierten die drei Verordnungen vier große Rechtsbereiche; die rechtliche Stellung der Bürgermeister, Zuständigkeitsbereiche der Bezirksrichter sowie eine Reform der königlichen Audienzen und des Obersten Gerichtshofes. In der Verfassung von 1837 wurden noch Bestimmungen zu Strafverfahren ergänzt.87

Für das Verfahren gegen Sor Patrocinio ist die erste dieser drei genannten neuen Verordnungen von unmittelbarer Relevanz, stellt sie doch die rechtliche Grundlage dar, auf der der Prozess überhaupt angestrengt werden konnte: Der jeweilige Bezirksrichter (Juez de primera instancia) war innerhalb seines geographischen Dienstgebietes zuständig für alle anfallenden zivil- und strafrechtlichen Belange, eine Neuerung die das Reglamento provisional