Patientenedukation revisited - Markus Wenner - E-Book

Patientenedukation revisited E-Book

Markus Wenner

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Beschreibung

Pflegerische Patientenedukation ist eine kommunikative Strategie zur Stärkung von Alltagskompetenz chronisch Kranker. Doch unter optimierten Bedingungen und angesichts der Not der durch Krankheit zermürbten Identitäten könnte sie wesentlich mehr leisten. Hierfür ist ein pädagogisches Framing der pflegerischen Patientenedukation erforderlich. Der Band stellt einen Vorschlag zur Diskussion, wie pflegerische Patientenedukation pädagogisch fundiert und als Ermöglichungsraum die Entwicklung von Selbstlern- und Selbstermächtigungskompetenzen unterstützen kann. Hierzu greift der Autor auf Engeströms Theorie expansiven Lernens als heuristische Schablone für die Analyse und Gestaltung einer Patient-Pflege-Begegnung zurück.

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Seitenzahl: 125

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Hinweise

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Erkenntnisinteresse und Ziel

1.2 Aufbau der Untersuchung

2 Chronische Krankheit und pflegerische Patientenedukation: Eine synchrone Entwicklung

2.1 Chronisch krank: Kennzeichen und gesellschaftliche Implikationen

2.2 Strukturelle Versorgungslücken

2.3 Implikationen für Pflegende und für die pflegerische Patientenedukation

3 Terminologische, erkenntnistheoretische und erwachsenenpädagogische Vorklärungen

3.1 Identität als Selbstkonzept

3.2 Identitätsarbeit: Absicherung subjektiver Wirklichkeit

3.2.1 Kohärenztheorie der Wahrheit: Erkennen und Begründen im Netzwerk

3.2.2 Kohärentistischer Konstruktivismus: Konstruktion und Kohärenz als korrespondierende Prozesse des Erkennens und Begründens

4 Chronische Krankheit als Identität perturbierende Biografie-Zäsur

4.1 Beschädigte Identität aufgrund perturbierter Lebenswelt

4.1.1 Objektive Realitätskonstruktion: Lebenslage

4.1.2 Subjektive Wirklichkeitskonstruktion: Lebenswelt

4.1.3 Lebenswelt und Biografie

4.2 Lernportfolio: Lernanlässe angesichts beschädigter Identität

4.2.1 Lernanlässe im Schnittfeld von prozessualer und struktureller Lerndimension identifizieren .

4.2.2 Lernanlässe im Verlauf einer chronischen Krankheit

5 Pflegeberatung als pädagogische Tätigkeit

5.1 Normative Ableitungen zur Unterstützung eines Identität stützenden Alltags

5.1.1 Resonanzlogik statt medizinischer Optimierungslogik

5.1.2 Selbstermächtigung statt

gesollte

Bewältigung

5.1.3 Anerkennende Beratungspraktiken statt oktroyiertes Wissen

5.1.4 Lebensweltliche statt enger Definition von Alltagskompetenz

5.2 Theoretische Bezüge pflegerischer Patientenedukation – Unterbestimmung pädagogischer Interventionsimplikationen

6 Pflegerische Beratungspraxis als Tätigkeitssystem

6.1 Rekonstruktion einer Theorie expansiven Lernens

6.1.1 Hypothesen

6.1.2 Annahmen

6.2 Engeströms Lernbegriff: Lernen als Transformation

6.2.1 Der Zyklus expansiven Lernens

6.2.2 Zusammenfassung

6.3 Tätigkeitstheoretische Analyse pflegerischer Beratungspraxis

6.3.1 Strukturmodell: Alltagskompetenz des chronisch kranken Menschen

6.3.2 Vielstimmigkeit: Auslöser für Konflikte und Veränderungen

6.3.3 Widerstände: Auslöser expansiven Lernens

6.3.4 Zyklus expansiven Lernens: Lernbewegung als Diskurs

6.3.5 Historizität: Die

Biografie

pflegerischer Edukationspraxis

7 Schlussbetrachtungen

7.1 Lösung des praktischen Problems

7.2 Lösung des theoretischen Problems

7.3 Perspektiven

8 Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 2: Theoretische Einordnung der Tätigkeitstheorie Engeströms; eigene, adaptierte Darstellung in Anlehnung an Illeris 2006

Abbildung 3: Allgemeines Strukturmodell menschlicher Tätigkeit nach Engeström; eigene Abb. in Anlehnung an Engeström 1987, S. 78

Abbildung 4: Modellierung pflegerischer Patientenedukation als Tätigkeitssystem; eigene Darstellung in Anlehnung an Engeström 1987, S. 78

Abbildung 5: Modellierung konkurrierender Objekte und mit diesen korrespondierende Normen. Die Tätigkeitssysteme interagieren nicht miteinander; es gibt keinen gemeinsamen Nenner i.S. eines potentiell geteilten Objekts („potentially shared object“); eigene Darstellung in Anlehnung an Engeström 2018, S. 35 ff. u. S. 15

Abbildung 6: Modellierung pflegerischer Beratungspraxis als Tätigkeitssystem: Zone der nächsten Entwicklung; eigene Darstellung in Anlehnung an Engeström 1987, S. 78

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Lernanlässe in der Schnittmenge aus prozessualer und struktureller Lerndimension

Tabelle 2: Zwei Bezugstheorien pflegerischer Patientenedukation im Vergleich

Tabelle 7: Aspekte einer tätigkeitstheoretischen Analyse; in Anlehnung an Hackel et al. 2011, S. 18

Hinweise

Personen, Rollen, Professionen etc. werden – sofern es hierfür keine inhaltlich notwendigen Gründe gibt – geschlechtsneutral aufgefasst. Die männliche Form oder auch geschlechtsneutrale Formulierungen (z.B. Studierende statt Studenten) beziehen sich zugleich auf weibliche bzw. diverse Personen. Auf eine Mehrfachbezeichnung wird zugunsten einer flüssigeren Lesbarkeit verzichtet.

Begriffe in kursivem Schriftschnitt machen eine umgangssprachliche oder ironisierende Ausdrucksabsicht kenntlich, darüber hinaus hebt ein kursiver Schriftschnitt Eigennamen, theorietypische/ -immanente Termini oder aus einem Erläuterungskontext abgeleitete, nicht etablierte Neologismen des Autors hervor.

Abkürzungsverzeichnis

bzw.

beziehungsweise

ca.

cirka/ zirka

CHAT

Cultural Historical Activity Theory

d.h.

das heißt

GKK

Gesundheit-Krankheit-Kontinuum

Herv. i. Org.

Hervorhebung im Original

i.d.R.

in der Regel

nachf.

nachfolgend[...]

o.g.

oben genannt[...]

p.a.

per annum

sog.

sogenannt[...]

SOC

Sense of Coherence

TWM

Trajectory Work Model

u.a.

unter anderem

usw.

und so weiter

u.U.

unter Umständen

v.a.

vor allem

z.B.

zum Beispiel

1 Einleitung

Menschen sehen die Welt nur so, wie sie diese sehen können (vgl. Metzinger 2011, S. 31 ff.). Gelangen sie mit ihren biografisch eingespurten, routinierten Deutungsmustern an eine Grenze, z.B. im Rahmen einer bedrohlichen Diagnosestellung, benötigen sie neue Strategien, um lebensfähig zu bleiben oder wieder handlungsfähig zu werden. Eine existentielle Krise durch akute und chronische Krankheit erhöht den Anpassungs- und Lerndruck. Doch auch, wenn sich Lernen nach Auffassung der konstruktivistischen Lern- und Erkenntnistheorie als autopoietischer Prozess vollzieht, – ob Lernende notwendige Lerninhalte aufgreifen, verarbeiten oder anwenden, ist von der Logik des bereits Verfügbaren abhängig (vgl. Roth 2011, S. 92 ff.) – ist anpassendes Handeln im Sinne einer Problemlösung stets „an soziale Zusammenhänge gebunden“ (Esser 1999, S. 183).

Im Rahmen chronischer Krankheit nimmt die Berufsgruppe der beruflich Pflegenden einen wesentlichen Teil innerhalb dieser sozialen Zusammenhänge ein. Dabei sehen sich beruflich Pflegende in ihrer eigenen Rollenkonstruktion weniger als pädagogische Fachkraft oder Geburtshelfer neuer Deutungsmuster. Mehr als den meisten beruflich Pflegenden bewusst ist, nehmen kommunikative und beratende Aspekte viel Raum in der Pflege von chronisch Kranken ein und haben therapeutischen Mehrwert: „Therapeutic nursing is [...] a major force for achieving health for the patient“ (McMahon/Pearson 2002, S. 3). Diese Haltung unterstreicht auch die S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung. Sie bewertet patientenzentrierte Kommunikation als unverzichtbar für eine umfassende Behandlung (vgl. Leitlinienprogramm Onkologie 2020, S. 43 f.).

Subjekt- bzw. Patientenzentrierung konstituiert einen roten Faden für das professionelle Selbstverständnis von Medizinern und Pflegenden und ist hervorgehobener Handlungsauftrag ihrer jeweiligen berufsethischen Kodizes (vgl. exemplarisch Berufsordnung der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz 2020, § 2, Abs. 4; vgl. auch Deutscher Ethikrat 2016, S. 7 ff.). Der Patient soll als Subjekt im Fokus stehen. Das Gebot der individuellen Betreuung hat hohen Stellenwert, jeder Verdacht der vermeintlichen Entindividualisierung durch institutionell-strukturelle Normierung, Kontrolle oder Unterwerfung wird ausgeräumt. Diese Tendenz zeigt sich u.a. im pflegewissenschaftlichen Diskurs, in der Foucaults fast schon dystopische Analyse der modernen Kontrollgesellschaft, die um die „Produktion des zuverlässigen Menschen“ (Schroeter 2005b, S. 391) bemüht ist, eine breite Rezeption gefunden hat (vgl. hierzu exemplarisch Friesacher 2004). In diesem durchaus nachvoll-ziehbaren Eifer wird jedoch ignoriert, dass Medizin und Pflege jenseits aller „Demaskierungssoziologie“ (Soeffner 2000, S. 42), deren kritischer Impetus vor dem Hintergrund des Zeitgeistes der sechziger und siebziger Jahre zu interpretieren ist, ohnehin evidente strukturelle Wissens-, Normen- und Machtkomplexe sind, in denen sich Institutionen, Regeln und Diskurse etabliert und differenziert haben. Schroeter relativiert daher die überkommene binäre Vereinfachung in böse Strukturen und guter Patient; in seinem Verständnis sind Pflege- und Medizin-Institutionen „Organisationen mit Sozialisationsauftrag“ (Schroeter 2005b, S. 393).

„Hilfe und Kontrolle gehören also zu den eingebauten Zielen der Sozialisationsorganisationen, so auch im Krankenhaus und Pflegeheim. Doch soziale Kontrolle heißt nicht nur Repression, sondern auch Integration [...].“ (ebd.)

Im heiklen Spagat zwischen intersubjektiver Partnerschaftlichkeit und struktureller Autorität befinden sich Pflegende vor allem im Kontext der Betreuung chronisch kranker Menschen. In diesem Tätigkeitsfeld hat sich eine Form der „sprechenden Pflege“ etabliert (Zegelin 2015, S. 13), die einen pädagogischen Auftrag zur Anpassungsunterstützung verfolgt: die pflegerische Patientenedukation. Leider geschehen Maßnahmen der pflegerischen Patientenedukation eher zufällig und unstrukturiert, nicht zuletzt aus leistungsrechtlichen Gründen (vgl. Gröning/ Gerhold 2016, S. 48; vgl. auch S. 8). Darüber hinaus erfolgt sie stark unter medizinischen, am Körper bzw. an Pathologie orientierten Vorzeichen (vgl. Schroeter 2005b, S. 394 f.). Häufig ist pflegerische Patientenedukation mit einer instruktionistisch gefärbten Wissensvermittlung assoziiert, verknüpft mit der (implizit) behavioristischen Annahme, mehr Wissen aufseiten des Patienten führe eo ipso zu erwünschten Verhaltensanpassungen im Sinne einer erhöhten Compliance (vgl. Hurrelmann 2001a, S. 102). Die vorliegende theoretische Abhandlung stellt jedoch die These auf, dass eine ernst gemeinte Stärkung der Alltagskompetenz – wie diese nun einmal erklärtes Ziel der pflegerischen Patientenedukation ist (vgl. Zegelin 2015, S. 24) – ohne synchrone Betonung der Partnerschaftlichkeit nur eingeschränkt realisiert werden kann. Dieses Defizit wird als das praktische Defizit bezeichnet. Mit der Belebung von Partnerschaftlichkeit in der Patient-Pflege-Interaktion korrespondiert die pädagogische Unterstützung zur Veränderung von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern bei Patienten in der Krise. Diese Lernaufgabe erhöht die Wahrscheinlichkeit für einen produktiven Bewältigungsprozess und das Gelingen eines Identität stützenden Alltags (vgl. Kap. 3 und 4)1.

Neben dem praktischen Defizit existiert im Rahmen der pflegerischen Patientenedukation ein theoretisches Defizit: Dem Tätigkeitsfeld fehlt eine (lern-)theoretische Fundierung. Zwar werden in der wissenschaftlichen und praktischen Literatur theoretische Referenzen aus unterschiedlichen Disziplinen genannt, so u.a. Aaron Antonovskys bekanntes Salutogenese-Modell (vgl. Antonovsky 1997), jedoch stehen diese isoliert und ohne Bezug zur praktischen und ambivalenten Edukationstätigkeit nebeneinander (vgl. Kapitel 5). Auch wenn diese Theorien und Konzepte für sich betrachtet Aussagekraft für unterschiedliche Ausgangsfragestellungen haben, fehlt die kohärente Verbindung zu einer (lern-)theoretischen Handlungsfundierung für eine im Spannungsfeld zwischen „Hilfe und Kontrolle“ agierende Patientenedukation (Schroeter 2005b, S. 392 f.). Diese ist jedoch notwendig, um die eigene fachlich-pädagogische Tätigkeit in diesem pflegerischen Tätigkeitssystem zu verstehen, zu reflektieren und um Hypothesen zu Inhalten, Modi und Methoden der zielführenden Beratung zu formulieren und zu erproben – sowohl in der Pflegeforschung als auch im Praxisfeld.

1.1 Erkenntnisinteresse und Ziel

Vor dem oben skizzierten Hintergrund versucht die vorliegende Analyse Antworten auf folgende Fragen zu entwickeln:

Welche Herausforderungen und Chancen lassen sich für eine pflegerische Patientenedukation im Spannungsfeld intersubjektiver Partnerschaftlichkeit und struktureller Autorität bei chronisch kranken Menschen identifizieren?

Wie gelingt es im Rahmen der pflegerischen Patientenedukation, die Selbstlern- und Steuerungskompetenz von chronisch kranken Menschen zu stärken? Wie kann pflegerische Patientenedukation zum Ermöglichungsraum für Selbstlernstrategien werden – gerade vor dem Spannungsfeld strukturell unterstützter „Selbstthematisierung“ (Meueler 2017, S. 145)?

Ziel der Synthese aus den analytischen Vorüberlegungen ist es, einen Vorschlag zu unterbreiten, wie pflegerische Patientenedukation theoretisch fundiert als Struktur und erwachsenenbildnerischer Ermöglichungsraum für Lernprozesse modelliert werden kann. Dem Autor erscheint hierzu die kulturhistorische Tätigkeitstheorie – insbesondere deren moderne Weiterentwicklung des Tätigkeitssystems als System expansiven Lernens nach Yriö Engeström – als heuristische Schablone für die Analyse und Gestaltung einer erwachsenenbildnerisch geprägten Patient-Pflege-Beziehung vorläufig fruchtbar (vgl. Engeström 2011). Insofern lautet eine weitere zu untersuchende Frage: Welche Strukturmomente und Gestaltungsansätze für eine pflegerische Patientenedukation als Ermöglichungsraum für Selbstlernstrategien können vor dem Spannungsfeld strukturell unterstützter Selbstthematisierung mit Hilfe des Modells der Tätigkeitstheorie nach Engeström thematisiert werden? Die konsequente Übersetzung der Patient-Pflege-Beziehung in Engeströms Activity Theory und die Anwendung seiner lerntheoretischen Annahmen, haben u.U. das Potential, o.g. Defizite und Widersprüche zu überwinden und für die Patient-Pflege-Interaktion ein tragfähiges Rechtfertigungs- und Erklärungsfundament zu gießen. Als vermeintlich „moderat konstruktivistischer Ansatz“ verfügt die Tätigkeitstheorie:

„[...] als einziger Ansatz über die theoretischen Mittel, die Einheit von Instruktion und Konstruktion konkret herzustellen, indem Lernen und Lehren als wechselwirkende Tätigkeiten ihrer Subjekte verstanden und gestaltet werden.“ (Giest/ Lompscher 2005, S. 124)

Einerseits fokussiert die Tätigkeitstheorie den soziokulturellen Kontext als Quelle und Bedingung des Lernens, andererseits wird Lernen im Sinne eines Aneignungsprozesses als „Erweiterung individueller und kollektiver Handlungsmöglichkeiten“ verstanden (Grunert/ Ludwig 2018, S. 64). Damit lässt sich nicht nur die Ambivalenz aus intersubjektiver Partnerschaftlichkeit und struktureller Autorität versöhnen, sondern auch die Realität von impliziten (informellen) und expliziten Lernanlässen und -vorgängen in einer analytischen (und ggf. später auch empirischen) Übertragung von Engeströms Tätigkeitstheorie abbilden. Das Ergebnis eines Tätigkeitssystems Pflegerische Patientenedukation bzw. Pflegerische Beratungspraxis ist das Gewahrsein und Erleben eines Identität stützenden Alltags. Dieser Lernprozess verläuft nicht zwingend geradlinig oder ausschließlich konstruktiv „und ist niemals nur ein gutartiger Prozess“ (Engeström 2011, S. 425).

1.2 Aufbau der Untersuchung

Zunächst wird definitorisch geklärt, was unter den Begriffen

Chronische Krankheit

und

Pflegerische Patientenedukation

verstanden wird. Bezugnehmend auf Erkenntnisse der Gesundheitswissenschaften, werden vor allem die gesamtgesellschaftlichen Implikationen für die deutsche Gesellschaft umrissen. Die Entwicklung der pflegerischen Patientenedukation wird vor dem Hintergrund des Phänomens

Chronische Krankheit

vorgestellt.

Die

Kapitel 3

und

4

analysieren die besondere Situation von Menschen mit chronischer Krankheit eingedenk des besonderen Spannungsverhältnisses zwischen struktureller (medizinisch-pflegerischer) Abhängigkeit und einem wahrgenommenen Appell zur subjektiven Genesungsanstrengung zum Zweck der schnellstmöglichen Wiederherstellung von Leistungsfähigkeit. Um diese zermürbende Ambivalenz zu verstehen, wird der Begriff der (beschädigten) Identität als Resultat aus perturbierter Lebenslage und Lebenswelt eingeführt und definiert. Der Identitätsbegriff wird anschließend unter Herleitung eines

kohärentistischen Konstruktivismus

erkenntnistheoretisch verortet und begründet. Am Ende steht ein belastbarer Schlüsselbegriff der Identität, verstanden als kohärentes Ich-Überzeugungsnetzwerk inklusive aller geronnen Deutungsmuster, Kernannahmen über Leben und Welt sowie vermeintlich erfolgreichen Verhaltensstrategien.

Die Darstellung der bisherigen Praxis weist jedoch darauf hin, dass pflegerische Patientenedukation aus dem Blickwinkel einer instruktionistisch agierenden Organisation handelt, der pädagogische Anspruch zu kurz greift und letztlich den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit chronischer Krankheit bzw. der (sich selbst attestierten) Subjektorientierung nur bedingt gerecht wird. Im Zuge dessen wird gewahr, dass pflegerische Patientenedukation weitaus stärker als bisher als eine pädagogische Tätigkeit gestaltet und theoretisch fundiert werden muss (vgl. a.a.O., S. 27). Grundlage hierfür ist ein weites bzw. Lebenswelt orientiertes Verständnis von Alltagskompetenz und der professionelle Anspruch, geschwächte Ich-Kräfte von Patienten zu stärken und damit Selbstlernfähigkeiten bzw. Selbstermächtigung zu ermöglichen (vgl.

Kap. 5.1.2

). Im Zuge dessen stellt

Kapitel 5

wesentliche Anforderungen an eine neue Pflege-Perspektive vor, darunter die wesentlichste Anforderung an beruflich Pflegende, die Patient-Pflege-Interaktion als eigenen kontinuierlichen Lernanlass zu interpretieren, weil „selbstgesteuerte[s] Lernen mit der Selbstbildung derer [beginnt], die glauben, steuern zu sollen und dies auch zu können“ (Arnold 2014, S. 52).

Als Lösungsvorschlag wird in

Kapitel 6

Yrjö Engeströms

Activity Theory

bzw.

Theorie des expansiven Lernens

als pädagogisch geprägte Heuristik der pflegerischen Patientenedukation eingeführt. Einleitend wird begründet, warum diese als hilfreich zur Lösung o.g. Probleme und Fragen erscheint. Widersprüche und Perturbationen charakterisiert Engeström als Auslöser von Lernprozessen. Ein weiteres Argument für eine Anwendung stellt Engeströms Lernbegriff dar, der einerseits die strukturellen Bezüge im Zuge von Lernprozessen betont, andererseits mit systemisch-konstruktivistischen Annahmen über das Lernen anschlussfähig ist, indem wiederum die Subjektorientierung von (autopoietischen) Lernprozessen ihren Stellenwert erhält (vgl. Engeström 2011, S. 415). Kern von

Kapitel 6

bildet ein Teilkapitel, das Engeströms Strukturmodell auf die Patient-Pflege-Interaktion

übersetzt

bzw. anwendet und Zusammenhänge zwischen Strukturelementen innerhalb des Tätigkeitssystems

Pflegerische Patientenedukation

expliziert. Darüber hinaus wird der expansive Lern- und Transformationszyklus erläutert.

Nach Beurteilung des Ergebnisses aus

Kapitel 6

, zieht

Kapitel 7

eine Bilanz bzw. prüft, ob die einleitend aufgeworfenen Fragen beantwortet werden bzw. Engeströms Tätigkeitstheorie das praktische und theoretische Defizit pflegerischer Patientenedukation kompensieren kann. Zuletzt werden Chancen und Grenzen eines Tätigkeitssystems

Pflegerische Beratungspraxis

als Ermöglichungsraum für Lernprozesse bei Menschen mit chronischer Krankheit diskutiert und offene Forschungsfragen zur Disposition gestellt.

1 Zur kritischen Verwendung des Bewältigungsbegriffs siehe Kap. 5.

2 Chronische Krankheit und pflegerische Patientenedukation: Eine synchrone Entwicklung

Chronische Krankheiten beschäftigen das deutsche Gesundheitssystem in besonderer Weise seit mindestens sechs Jahrzehnten (vgl. Schaeffer 2006, S. 192). In Abgrenzung zu akuten Erkrankungen ist das Phänomen chronische Krankheit selbstverständlich wesentlich älter, doch mit zunehmender Industrialisierung ab den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts:

entwickelten sich neben den genetisch determinierten chronischen Krankheiten zunehmend erworbene, auf Wohlstand rekurrierende organische und psychische Störungen,

sank durch die Optimierung medizinischer Standards und die durch die Entwicklung medizinischer Innovationen (z.B. Antibiotika) die Geburtensterblichkeit bzw. konnte das durchschnittliche Lebensalter der Menschen signifikant erhöht werden; höheres Lebensalter wiederum begünstigt die Entstehung degenerativer und maligner Erkrankungen, die i.d.R. in einen chronischen, prolongierten Verlauf münden (vgl. Saß/Wurm/ Ziese 2009, S. 31 ff.).

2.1 Chronisch krank: Kennzeichen und gesellschaftliche Implikationen

Aus o.g. Gründen nimmt es daher nicht Wunder, dass epidemiologische Daten darauf hinweisen, dass der Anteil der chronisch kranken Menschen bzw. die mit chronischen Krankheiten korrespondierenden Gesundheitsausgaben der gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen stagnieren oder weiter steigen (vgl. Böhm 2018)2