Payoff - Christina Haubold - E-Book

Payoff E-Book

Christina Haubold

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Beschreibung

Sabine arbeitet beim Radio, genauer gesagt beim Privatradio. Dort moderiert sie mit ihrem Kollegen Klaus die wichtigste Sendung, die ein Radiosender haben kann: die Morningshow. Ihr Leben scheint also perfekt zu sein. Doch seltsamerweise fühlt es sich ganz und gar nicht so an. Bitterböse, komisch und ein wenig sadistisch erzählt Sabine von den Geschehnissen in der verrückten Welt des Radios, in der sie im Laufe der Zeit so manche Erschütterung durch Gewinnspiele, Media-Analysen, Weihnachtsfeiern und Wochenendmeetings erlebt. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, verliebt sie sich auch noch in einen ziemlich merkwürdigen Typen. Das Chaos in Sabines Leben erreicht schließlich seinen Höhepunkt hoch über der Stadt - und Sabine tut etwas, was sie nie für möglich gehalten hätte.

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Christina Haubold

Payoff

Roman

INHALT

»And rather than hide that, I would rather put that out on the radio and let someone see the full range of emotions. If you’re going to be strong on the radio, you got to let it all out, even the ugly stuff. And you can’t apologize for it.« Howard Stern, US-Radiolegende

»Die drahtlose Musikbox hat keinen denkbaren kommerziellen Wert.« David Sarnoff als potenzieller Investor zur Erfindung des Radios in den 1920ern

»Die menschliche Zeit dreht sich nicht im Kreis, sie verläuft auf einer Geraden. Das ist der Grund, warum der Mensch nicht glücklich sein kann, denn Glück ist der Wunsch nach Wiederholung.« Milan Kundera, »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins«

»Ist das geil? Ja, das ist geil!«

Das Frettchen, 2011

Prolog

Es war kalt hier oben. Richtig kalt. Der Wind zog an meiner Jacke und pfiff mir um die Ohren. Wenn ich heruntersah, konnte ich die riesige Menschenmenge beobachten, die sekündlich größer wurde.

Immer mehr Leute blieben stehen, legten ihren Kopf in den Nacken und schauten nach oben. Am Rande der Menge standen zwei große Feuerwehreinsatzfahrzeuge, ein Rettungswagen und gerade fuhr ein Lkw des Technischen Hilfswerks auf den Platz und bahnte sich einen Weg durch die Masse, die aufgeregt auseinanderstob.

Ich machte einen weiteren vorsichtigen Schritt nach vorn. Die Menschen unter mir heulten auf. Der kleine Absatz, auf dem ich stand, war nur knapp 30 Zentimeter breit. Ich spürte den harten Stein unter meinen Sohlen und wagte es nicht, die Augen zu schließen.

»Sabine!«

Pierres Stimme hinter mir.

Ich drehte mich nicht um, sondern warf einen zweiten Blick nach unten. Das Hochhaus, auf dessen Dach ich stand, war an die 100 Meter hoch. 100 Meter.

Wow.

Wenn ich unten bin, bin ich tot, dachte ich.

»Sabine!«, wiederholte Pierre, der jetzt nur noch ein paar Meter von mir entfernt war.

Ich drehte nun doch meinen Kopf und wollte ihm antworten. Doch da erfasste mich seitlich eine Windböe. Ich schwankte gefährlich weit nach vorn, hob meine Arme und versuchte mich auszubalancieren. Für einen kurzen Moment hielt ich den Atem an. Dann war es vorbei und ich stand wieder sicher. Die Menschen dort unten in der Menge atmeten ebenfalls auf.

»Lass das doch, Sabine.« Pierres Stimme klang flehend. »So war das doch nicht geplant.« Er weinte fast.

Von hier oben konnte ich fast die ganze Stadt überblicken. Dort hinten sah ich den alten Bahnhof, das Bankengebäude, rechts den Fernsehturm und die Altstadt links.

Ich schloss die Augen.

»Ich muss es einfach tun. Ich kann nicht anders.«

Und sprang.

1.

Klaus

Das Klingeln des Weckers fühlte sich erbarmungslos an. Noch erbarmungsloser war die Uhrzeit, die ich im Halbdunkeln auf der digitalen Anzeige erspähte. 2:45 blinkte mir in Neonorange entgegen, Zeit zum Aufstehen. Ich strich mir die rosarote Schlafmaske von den Augen, blinzelte zweimal, seufzte, rieb mir die Augen, verteilte damit die gestern aufgetragene Wimperntusche schön gleichmäßig über beide Wangen und setzte mich langsam auf. Dann folgte der tägliche Check: Wie heißt du? Sabine Müller. Wie alt bist du? 28 Jahre. Wie heißt deine Therapeutin? Marlene. Wo arbeitest du? Beim besten Sender der Welt. Ich nickte zufrieden, schwang die Beine über die Bettkante und schlüpfte in meine Hausschuhe.

Ich bin nicht verrückt. Ich bin beim Radio. Mein Arbeitstag beginnt morgens um vier Uhr. Ich bin Moderatorin der wichtigsten Show, die ein Radiosender haben kann, ich moderiere die Morningshow. Das ist vergleichbar mit der Samstagabendshow Wetten, dass..? im ZDF. Und das heißt, ich bin so eine Art weiblicher Thomas Gottschalk. Ich werde nur viel schlechter bezahlt, aber mein Publikum ist auch viel dümmer, da muss man Abstriche machen. Jeden Morgen gehen wir, mein Kollege Klaus und ich, um Punkt fünf Uhr on air, die Show endet um zehn Uhr, und dann gehen wir Latte macchiato trinken und Klaus flirtet ein bisschen mit der Coffeeshop-Bedienung, was er sehr geil findet, das Mädel zum Kotzen und mich dazu bringt, gelangweilt den Milchschaum von meinem Kaffee zu löffeln. Seit vier Jahren moderiere ich mit Klaus. Klaus heißt eigentlich Andreas, aber die Radioberater, die jeden Monat in den Sender kommen, um uns zu sagen, was wir sagen sollen, fanden Andreas zu durchschnittlich.

»Mensch Andreas! Andreas ist scheiße! Klaus ist super! Klaus klingt nach was Bodenständigem, felsig klingt das, das ist geil, das macht dich zum Star, daran erinnern sich die Leute, that makes sense, Klaus! Andreas! Klaus! Aaaandreeeaaaassss! Einfach geil ist das!«, schrie der Berater damals und hüpfte aufgeregt durch das Büro. Ich weiß noch genau, dass ich einen großen Schluck von meinem Energydrink nahm, während ich ihn betrachtete, und unwillkürlich an Frettchen denken musste. Kleine, dünne Frettchen. Kleine, dünne Frettchen, die auf schlimmen Drogen waren. Andreas lehnte sich zurück, legte seine linke Hand lässig zwischen die Beine, nickte dann langsam und grinste das Frettchen an.

»Geht klar, aber das müsst ihr mir ins Skript schreiben, sonst vergess ich das.«

Mit Klaus zu arbeiten ist manchmal schwierig. Er ist bereits Ende fünfzig, eigentlich schon zu alt für unsere Hörer, aber er sieht jünger aus, zumindest von Weitem. Seine Großmutter oder so kam aus China, seine Mutter aus Kiel und sein Vater aus Cham in der Oberpfalz, wo zur Hölle das auch sein mag. Und das bedeutet, Klaus sieht ein wenig aus wie ein Mix aus einem nicht viel jüngeren Fritz Wepper und einem sehr viel dickeren Jacky Chan. Wobei man ganz klar sagen muss, dass Klaus so wenig Chinese ist wie Angela Merkel Topmodel. Außer einer Vorliebe für Glückskekse und den irgendwann mal pechschwarzen Haaren ist Klaus ein richtiger Klaus.

Ende der Achtziger hatte er eine richtig gute Zeit, beruflich gesehen. Bei einem bayrischen Sender eroberte er die Marktführerschaft, ließ sich die Augenlider richten und hielt sie jahrelang dort oben. Die Marktführerschaft – und die Lider. Er war ein Star, die Gesellschafter liebten ihn, weil er ihnen viel Geld brachte, die Hörer liebten ihn, weil er gute Redakteure hatte, die Frauen liebten ihn, weil er so »gagig« war, so »funny« und so »charmant«. Dann aber leistete er sich einen dummen Fehler. Auf einem Betriebsausflug zum Oktoberfest trank er ein bisschen mehr, als er vertragen konnte, was an und für sich nicht weiter aufgefallen wäre, denn auf solchen Veranstaltungen trinken immer alle viel zu viel und Klaus ist ja doch irgendwo so ein bisschen asiatisch, hätte er sich nicht so blöd angestellt. Bierselig und mittlerweile mit einem leichten Silberblick versehen, merkte Klaus irgendwann an diesem Abend ein gewisses Gefühl in seiner Lederhose, ausgelöst durch den prachtvollen Ausblick auf den Ausschnitt der Dame ihm gegenüber am Tisch. Um es in Oktoberfest-Manier auszudrücken, da war eine Menge Holz vor der Hütte, ihm da gegenüber, und Klaus musste sich eingestehen, dass er urplötzlich eine besondere Affinität zu diesem Material verspürte, ein Gefühl, was sich minütlich verstärkte.

Er nahm einen mutigen Schluck aus seiner Maß, wischte sich mit der Hand über den Mund, lächelte das Holz strahlend an und war begeistert, als das Holz zurücklächelte. Die kleine Sekretärin, die in Klaus’ Augen so prachtvoll ausgestattet war, zwirbelte eine Haarsträhne zwischen Daumen und Zeigefinger und legte ihren Kopf auf die Seite. Dabei zwinkerte sie in Klaus’ Richtung und kicherte leise. Klaus konnte sein Glück kaum fassen. Neben ihm saß sein Chef, ein netter Kerl und immer für Klaus da, wenn er ein Problem hatte. Klaus überlegte nicht lange. Einen Moment später hatte er den Arm um die Schultern seines wunderbaren Chefs gelegt und sich freundschaftlich zu ihm herübergebeugt.

»Chef, morgen wird’s später. Ich nehme die kleine Bumsnudel da drüben heute Abend mit nach Hause, okay?«

Klaus kam gar nicht mehr. In den Sender am nächsten Tag nicht und schon gar nicht in dieser Nacht. Was Klaus nämlich nicht ahnen konnte, die kleine »Bumsnudel« hatte bereits einen Holzfäller. Und zwar seinen wunderbaren Chef und der war nach Klaus’ gelallter Ankündigung gar nicht mehr so nett und verständnisvoll. Und weil das in unserer Branche so herrlich schnell und unkompliziert funktioniert, wenn man Chef eines großen Senders ist, der unendlich reich ist, und man solche Ausblicke allein genießen möchte, war Klaus raus. Von einem Tag auf den anderen.

Das alles ist mittlerweile viele Jahre und dreizehn Bundesländer her. Jetzt ist Klaus Klaus und wieder on top, aberleider auch viel älter. Bei der letzten Media-Analyse, in der die Hörerzahlen veröffentlicht werden und damit der Marktanteil festgelegt wird, war Radio 66,6 – wir spielen das Beste aus den Fünfzigern, Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern und Neunzigern und für mehr Abwechslung auch die aktuellsten Hits aus den Jahren 2000 bis 2010 – der große Gewinner. Die Media-Analyse ist ohnehin das Wichtigste. Der Tag, an dem die Ergebnisse erscheinen, ist für unsere Branche ungefähr so wichtig wie für die Welt die Wahl des US-Präsidenten. Und das ist keine Übertreibung. Der einzige Unterschied ist, dass die Media-Analyse außer uns niemanden interessiert. Das ist bei den Päpsten-Präsidenten-Kanzlern dieser Welt natürlich anders. Aber jetzt sind wir die Nummer eins in unserem Sendegebiet und liegen damit vor den öffentlich-rechtlichen Sendern. Und das ohne GEZ-Gebühren. Und mit nur einem Zehntel an Mitarbeitern und viel schlechterer Bezahlung.

Ist das geil? Ja, das ist geil.

Bei der Party zur Feier des Tages gab es für jeden Mitarbeiter einen Gutschein über zehn Euro, einzulösen bis zum nächsten Tag bei einer bekannten Fast-Food-Kette. Die waren von einem Gewinnspiel, was dem Sender Millionen eingebracht hatte, übrig geblieben und mussten »weg«. Klaus bekam drei Gutscheine, weil er der Marketing-Chefin ein Kompliment über ihre neue Frisur gemacht hatte, und freute sich den ganzen Abend darüber.

Klaus ist wirklich kein schlechter Kerl. Klaus ist eben Klaus. Er hatte seine beste Zeit Ende der Achtziger, dafür kann er ja nichts. Das Haltbarkeitsdatum für Moderatoren im Privatradio läuft extrem schnell ab. Ich gebe Klaus noch drei oder vier Jahre, aber dann wird es knapp. Fest steht, bis dahin muss er durchhalten, schließlich sitzen wir in einem Boot. Und von Weitem geht er ja wirklich noch. Dass er sich die Haare schwarz nachfärbt, um seine grauen Schläfen zu überdecken, fällt kaum auf. Auch den riesigen Bauch entdeckt man nur, wenn man ganz genau hinschaut. Und die tiefen Furchen um seine Augen und seinen Mund könnte man als Lachfältchen durchgehen lassen.

Es ist aber auch zu dumm: Seit drei Jahren sucht das Frettchen nach einem Nachfolger für Klaus, aber es findet keinen. Klaus hat nämlich den Vorteil, dass er bekannt ist. Die Leute kennen Klaus. Und Bekanntheit geht vor Alter. Es dauert Jahre, bis ein Moderator diese Bekanntheit erreicht hat. Und Bekanntheit wird in der Media-Analyse abgefragt. Und die Menschen, die angerufen werden, haben eben in der letzten Media-Analyse »Klaus« gesagt. Und das waren so viele, dass unser Sender der große Gewinner war. Und deshalb ist Klaus wieder on top. Aber Klaus ist alt. Und geht nur von Weitem.

Ach, das ist schon ein richtiger Teufelskreis.

Klaus ist unverheiratet, hat aber sechs Kinder von fünf verschiedenen Frauen. Aber das weiß auch kaum jemand, seine Kinder inklusive, und schon gar nicht unsere Hörer. Da er seit zwei Jahrzehnten im Geschäft und viel rumgekommen ist, verteilen sich die Kinder und Mütter über mehrere Bundesländer. Unser Sender hätte gern einen verheirateten Klaus, denn unsere Hörer, das hat die Marktforschung ergeben, sind mehrheitlich verheiratet und würden sich mit einem verheirateten Klaus viel besser identifizieren, aber das hat bis jetzt nicht geklappt. In dem geheimen Casting, welches das Frettchen hüpfend und geil schreiend organisierte, fanden die potenziellen Bräute Klaus alle »so ganz anders als im Radio«. Und vor allem »alt«. Für mich war das keine Überraschung. Klaus geht eben nur von Weitem.

Nicht, dass es hier zu Missverständnissen kommt. Ich mag Klaus. Ich mag ihn wirklich. Das liegt sicher auch daran, dass ich als Kind mal ein Meerschweinchen hatte, das Klaus hieß. Ein niedliches Ding, das, egal, was ich mit ihm anstellte, alles über sich ergehen ließ. So ein süßes Ding mit schwarzen Knopfaugen und samtweichen sandfarbenem Fell, das in meinem Zimmer umherlief und sich unter dem Bett versteckte, wenn ich mit ihm spielen wollte. So ein kleines schelmisches Etwas, das ich Klaus taufte, weil Gegensätze eigentlich immer am schönsten sind.

Leider hatte ich nicht lange etwas von Klaus. Als ich eines Tages auf dem Boden meines Kinderzimmers meine Hausaufgaben machte und gerade über eine besonders knifflige Mathematikaufgabe nachdachte, verlor ich das Gleichgewicht und kippte nach hinten. Es quiekte einmal sehr laut und dann war es im wahrsten Sinne des Wortes totenstill.

Seitdem halte ich mich an Katzen, die haben mehr Rückgrat.

2.

Klaus und Sabine

Unsere Show heißt Raus aus dem Bett – rein ins Vergnügen! Klaus und Sabine am Morgen vertreiben Ihnen Kummer und Sorgen. Klaus hat Monate gebraucht, bis er das ohne Zettel sagen konnte. Aber jetzt klingt es fast authentisch. Und zur Sicherheit schreiben unsere Redakteure das auch immer wieder ins Skript. Das Frettchen sagt uns immer, wir sollen lächeln. »Zeigt mir eure Zähne! Ist das geil? Ja, das ist geil! Das ist emotional, pride and passion, Leute! Pride and passion!« Also lächeln Klaus und ich jeden Morgen, fünf Stunden lang. Vergangenes Jahr hat mir mein Zahnarzt so eine Antiknirschleiste verschrieben, weil mein Kiefer permanent verspannt ist.

Unsere Show ist deshalb so erfolgreich, weil sie komplett »durchgestylt« ist. Format! Wir senden mit Format! So steht es auf einem großen blauen Schild in unserem Morningshow-Büro. Das bedeutet, dass nichts dem Zufall überlassen wird. Alles, was wir sagen, steht auf Zetteln, die uns unsere Redakteure ins Studio bringen. Wenn dann das kleine rote Licht angeht und wir on air sind, lesen wir das vor, was uns aufgeschrieben wurde. Deshalb ist der Klaus auch Fan des hiesigen Fußballklubs, den der Sender sponsert, auch wenn das gar nicht stimmt. Klaus versteht ja nicht mal, was Abseits bedeutet.

Komisch eigentlich.

Ich mag unsere drei Redakteure. Pierre ist Ende 20 und schwul und hat Drehbuch studiert, was ihm heute bei uns sehr zugutekommt. Danilo ist Ende 30 und schwul und offiziell heimlich in Klaus verliebt, was inoffiziell alle wissen, nur Klaus nicht. Und Wolfgang ist Anfang 20 und schwul und hat eine Banklehre hinter sich. Dass alle unsere Redakteure auf Jungs stehen, ist eigentlich kein Problem. Unsere Branche ist da ja ganz entspannt. Würde man alle schwulen Radiomacher in ganz Deutschland in einer Stadt versammeln, könnte man wahrscheinlich eine eigene »Christopher Street Day Parade« veranstalten. Das wäre natürlich cool. Aber auch nur, wenn wir ein Jugendformat hätten und Tokio Hotel spielen würden. Bei uns geht so etwas nicht, wir sind ja ein Familiensender. Aber hinter den Kulissen, da sind Pierre, Danilo und Wolfgang ein super Team. Und die eigentlichen Stars unserer Show. Das weiß sogar Klaus.

Die drei Süßen haben einen super Blick für Themen. Sie wissen, was angesagt, was sozusagen gerade »Talk of Town« ist, und haben immer die Familien in unserem Sendegebiet im Blick.

Die Familien sind ganz wichtig, aber auch die Tiere. »Kinder und Tiere gehen immer«, sagt Pierre fast jeden Tag, wenn er uns im Studio besucht, und Danilo, der uns Kaffee bringt, nickt dann heftig und schaut Klaus auf den Hintern. Unsere Redakteure sind meistens sehr zufrieden mit uns. Klaus und ich können sehr gut vorlesen und sind auch meistens brav und halten uns an die Skripte, aber ab und an werden wir mal abgelenkt. Schließlich sind auch wir nur Menschen. Als Klaus und ich noch nicht so richtig eingespielt waren, ist uns mal etwas Dummes passiert, seitdem bekommt Klaus sein Skript in Schriftgröße 26.

»Das war Tina Turner mit Two People … Schicke Nummer aus dem Jahr 1986!«, lächelte Klaus damals ins Mikrofon und zog den Regler und damit Tina langsam herunter.

»7 Uhr 15. 15 Minuten nach sieben. Guten Morgen beim Eiaufschlagen!«, las und lächelte er weiter. Dann baute er ein kurzes zusammenhangloses Lachen ein.

Pierre verzog das Gesicht.

»Sie hören Radio 66,6! Raus aus dem Bett – rein ins Vergnügen! Klaus und Sabine am Morgen vertreiben Ihnen Kummer und Sorgen!«, Klaus’ Stimme rutschte eine Oktave tiefer und schaute mich an. »Sabinchen, mal was ganz anderes, hast du gestern diesen tollen Film im Kino gesehen?«

Das war mein Stichwort. Ich hob das Skript, sodass ich Klaus nicht mehr sehen konnte. Per Knopfdruck knipste ich das Lächeln an.

»Nein, Klaus. Ich war mit einer Freundin auf dieser supermegatollen Sex and the City-Party. Wir hatten eine Menge Spaß. Tolle Leute, tolle Musik, tolle Gratisdrinks und das alles präsentiert von Ihrem Lieblingsradiosender: Radio 66,6 – wir spielen das Beste aus den Fünfzigern, Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern und Neunzigern und für mehr Abwechslung auch die aktuellsten Hits aus den Jahren 2000 bis 2010!« Ich machte eine dramatische Pause, wie Pierre es mit Fettdruck in das Skript geschrieben hatte.

»Seien Sie nächste Woche mit dabei! In den nächsten Stunden schenken wir Ihnen Freikarten! Na, ist das was?«

Klaus, der mich gespielt gespannt angeschaut hatte, während ich vorlas, griff wieder zu seinem Zettel.

»Oh Sabine, na, klar ist das was! Das klingt ja toll! Liebe Hörer von Radio 66,6! Das dürfen Sie nicht verpassen!« Klaus holte tief Luft und senkte wieder seine Stimme. »Aber zurück zum Film: Australia habe ich mir angeguckt. Ein toller Film. Und super Schauspieler! Besonders der Hugh Jackman.«

Ich hob wieder das Skript, wollte gerade einsetzen, aber Klaus sprach ungerührt weiter. Pierre erstarrte neben mir. Ich war sauer. Was nämlich jetzt folgte, war doch mein Text. Mein Text!

»Ach, ja. Der ist ja echt niedlich. So ein hübscher Kerl. Einfach schnuckelig! Den würde ich auf keinen Fall von meiner Bettkante schubsen!«

Den letzten Satz gurrte Klaus. Schließlich stand das so im Skript.

Nun ja. So etwas passiert. »Das versendet sich«, sagte Pierre sofort danach, als Klaus sich darüber aufregte, dass er schon tausendmal gesagt hätte, dass beim Gurren seine Stimme immer so ekelhaft kratzte und dass Pierre das nie wieder ins Skript schreiben sollte. Das Frettchen hüpfte eine Zeit lang etwas mehr als sonst und erklärte uns, dass Klaus einfach geil sei, »Ist das geil? Ja, das ist geil!«, das dürften wir nie vergessen, pride and passion und so, und die Weihnachts-Charity drehte sich in diesem Jahr um junge Männer, die erst im Erwachsenenalter erfahren hatten, dass ihre Väter schwul waren und deshalb nun therapiert werden mussten. Danilo hängte im Studio ein neues Schild auf, auf dem in Fettdruck »Familie« stand, Klaus wunderte sich eine Zeit lang darüber, warum er so viele männliche Fanmails erhielt, und nach Weihnachten hatten es alle vergessen.

Wie gesagt, ich mag Klaus.

Katzen sind mir aber trotzdem lieber.

3.

Elefantenweibchen

Ich habe jeden Morgen ein festes Ritual. Nach dem täglichen Check gehe ich in meine Küche, stelle den bereits gefüllten Wasserkessel auf den Herd und drücke dreimal, weil ich meine Kontaktlinsen noch nicht trage, auf den Touchscreen, bis das rote Licht an meinem Induktionsherd aufleuchtet. Dann gehe ich ins Bad, schaue in den Spiegel und mache eine weitere kleine Bestandsaufnahme. Wer nicht schläft, bekommt nämlich ein komisches Gesicht. Oh ja. Nach drei Jahren Morningshow und in etlichen Sitzungen mit meiner Therapeutin habe ich festgestellt, dass diese Bestandsaufnahme sehr wichtig ist. Es gibt auch einen Fachbegriff dafür, aber meine Therapeutin hat ihn mir nicht aufgeschrieben, deshalb habe ich ihn vergessen. Ich persönlich nenne das, der Wahrheit ins Gesicht schauen. Also schaue ich morgens ungefähr fünf Minuten lang angestrengt in meinen Badspiegel und sage dann laut: »Sabine Müller, du wirst nicht jünger. Aber das ist nicht deine Schuld.« Das hilft.

Ich bin eher klein gewachsen und habe schulterlange blonde Haare, gefärbt, aber ich darf das, ich bin eine Frau und nicht alt. Ich habe braune Augen, die im Tageslicht grünlich schimmern, was ich toll finde, und eine ziemlich durchschnittliche Figur, was ich bescheuert finde. Meine Brüste sind zu klein und mein Hintern ist zu breit. Ich bin durchschnittlich unproportioniert, wie die Mehrheit der deutschen Frauen, nein, noch besser, wie die Mehrheit unserer Hörerinnen. Auch das ist ein Grund, warum ich die Morningshow moderiere. Die Frauen hassen mich nicht. Ich bin eine von ihnen. Und wer kackt schon gern ins eigene Nest?

Das Schlimmste an diesem Job sind die Augenringe, die ich seit vier Jahren habe. Ich habe schon alles Mögliche ausprobiert, ich kenne jedes Produkt, das es gegen diese Schatten gibt.

Sogar Hämorrhoidencreme habe ich mir unter die Augen geschmiert, weil das besonders straffend sein soll, und ich dachte, wenn es die Falten unter den Augen glatt bügelte, würden vielleicht auch die Schatten verschwinden, aber nix. Stattdessen gab es einen ekelhaft riechenden Ausschlag und das Fotoshooting für die neuen Autogrammkarten musste wegen mir verschoben werden. Da konnte sogar die Visagistin nichts mehr retten.

Wenn ich im Bad fertig bin, gehe ich zurück in meine Küche und trinke aus meiner Lieblingstasse meinen Lieblingstee. Himbeer-Karamell. Dann springe ich unter die Dusche und dann brauche ich noch zehn Minuten, um meine Kontaktlinsen einzusetzen, damit ich zum ersten Mal an diesem Tag etwas sehen kann. Meine Therapeutin sagt oft, ich solle die Bestandsaufnahme nach den Kontaktlinsen machen, aber ich weigere mich.

Ich bin doch nicht blöd.

Als ich an diesem Morgen aus meiner Wohnung trat, begegnete ich mal wieder Lutz. Auch das gehört zu meinem täglichen Ritual.

»Hey, hey, hey, Sabine! Was geht …?«

Aha. Mein Nachbar war mal wieder betrunken und stand gefährlich schwankend vor mir. Der Treppenabsatz war nicht weit entfernt. Glücklicherweise hielt er sich am Geländer fest. Selbstmörder kommen bei uns nämlich nicht on air. Auch keine unfreiwilligen. Wer will schon sein Frühstücksei aufschlagen und dabei hören, dass sich auf der Zugstrecke zwischen Hamburg und Berlin ein Toter befindet. Keiner. Außer der Selbstmörder war berühmt, hat Fußball gespielt und litt unter Depressionen. Dann ist das natürlich etwas ganz anderes.

»Ach Lutz, du, das ist ja was, dich hier zu treffen …«, sagte ich ironisch, senkte den Kopf und kramte in meiner Tasche nach dem Autoschlüssel.

»Sabine, Saaabine …«, lallte Lutz. Ich unterbrach ihn.

»Ja, richtig, das ist mein Name.«

Ich lächelte freundlich in meine Tasche. Lutz ließ sich aber nicht beirren. »Sag mal, Sabine, kannste mir nicht mal die Lösung verraten, bei eurem verzauberten Buchstaben?« Er räusperte sich. »Ich rufe dauernd bei euch an. Bin schon ganz pleite …«

Als Beweis zog er seine Hosentaschen nach außen, zeigte sie mir und zuckte mit den Schultern.

»Das wäre doch mal eine nette Nachbarschaftshilfe«, setzte er immer noch schwankend nach und lächelte mich gewinnend an. So gewinnend Betrunkene eben lächeln können.

Lutz wohnt in der Etage über mir und ist eigentlich ein ganz netter Kerl. Ich sehe ihn unter der Woche jeden Tag. Um drei Uhr 50, zehn Minuten vor vier, treffen wir uns jeden Morgen im Treppenhaus, ich weiß das, bei Lutz bin ich mir da nicht so sicher. Er feiert eben gern. Und vergisst auch glücklicherweise immer schnell. Aber er fährt einen schwarzen Porsche. Das hat mir Frau Lankwitz aus der vierten Etage erzählt. Angeblich ist Lutz stinkreich. Fettes Erbe und so. Arbeiten muss er also nicht mehr. Das macht es aber auch nicht einfacher.

»Okay, Lutz. Weil du es bist: Die Antwort ist G. Einfach nur G«, sagte ich, ohne zu überlegen, und kramte weiter in meiner Tasche. Lutz beugte sich etwas nach vorn, nicht ohne das Geländer mit der linken Hand fest zu umklammern, und nickte in Zeitlupe.

Natürlich darf ich so etwas nicht machen. Ich darf keine Gewinnspiellösungen verraten. Seit zehn Monaten spielen wir stündlich und das jeden Tag »Die Suche nach dem verzauberten Buchstaben« und unsere Hörer sind ganz verrückt danach. Auf unserer Homepage ist ein riesiges buntes und wirres Bild, in dem ein Buchstabe versteckt ist. Und den müssen die Hörer finden, um den sagenhaften Jackpot von – mittlerweile – 535.500 Euro zu gewinnen. Wir sagen die Telefonnummer zehnmal die Stunde und sie müssen anrufen, ihren Tipp abgeben und wenn der falsch ist, gehen 500 Euro in den Jackpot. Wie gesagt, seit zehn Monaten suchen wir nach dem richtigen Tipp. Das ist aber auch zu verrückt. Dass da niemand drauf kommt!

»Echt?« Lutz grinste. »Mensch, Sabine! Du bist ’ne Granate, weißt du das?«

Meine Antwort war offenbar langsam in Lutz’ alkoholvernebeltes Gehirn vorgedrungen. Er machte drei, vier schwankende Schritte auf mich zu, als stünde er bei stürmischer See auf einem Schiffsdeck, drehte sich dann einmal um seine eigene Achse, verbeugte sich vor mir und stolperte dann weiter die Treppen hoch.

»Ja, Lutz. Dann mal schön weiter anrufen, ja? Vergiss nicht, damit finanzierst du mein Gehalt!«, rief ich ihm fröhlich hinterher, aber er antwortete nicht mehr.

Unsere Hörer haben ja keine Ahnung. Und Lutz erst recht nicht, deshalb verrate ich ihm die Lösung seit zehn Monaten jeden Morgen. Selbst wenn er sich erinnern könnte, er hätte ohnehin keine Chance. Er ist einfach kein Gewinner. Wie würde denn so ein 535.500-Euro-Payoff mit Lutz klingen? Das muss man sich mal vorstellen.

»Guten Morgen! Willkommen bei Radio 66,6! Wen haben wir denn jetzt in der Leitung?«

»Ja, hey, äh … Hallo, hier ist der Lutz.«

»Guten Morgen, Lutz, woher kommst du denn?«

»Äh, was?«

»Lutz, wo wohnst du denn?«

»Äh, jetzt gerade?«

»Okay, Lutz, du machst es spannend … Versuchen wir mal was anderes, was machst du denn gerade so?«

»Oh, äh … Ich weiß nicht. Ich habe ’nen dicken Kater. War gestern lang und so … Und nachher muss ich meinen Porsche in die Werkstatt bringen ...«

»Aha. Und jobmäßig?«

»Äh … nicht so viel … Bin Millionär. Äh, sagt mal, habe ich jetzt gewonnen?«

Noch Fragen? Bei uns gewinnen Mütter, weil die immer so schön und gern heulen. Oder Väter, die kranke Kinder haben, die im Hintergrund heulen und nur noch drei Wochen zu leben haben. Am besten ist natürlich beides in Kombination. Die krebskranke Uschi M., die sieben Tage die Woche im Discounter hinter der Kasse sitzt, weil das Geld, das ihr Ehemann Heinz M. von seinen Lkw-Fahrten mit nach Hause bringt, nicht ausreicht, um den vier teils allergiegeplagten, teils hyperaktiven Kindern zwischen zwei und zwölf Jahren mal etwas Schönes zu kaufen.

Das sind Gewinner.

Das Problem ist nur, sie zu finden.

Hauptsächlich ist das der Job von Frau Weber. Frau Weber ist unsere Redaktionsassistentin und die Einzige in unserer Redaktion, die mit Frau und Sie angesprochen wird. Frau Weber sitzt an der Hörerhotline und koordiniert alle eingehenden Anrufe. Sie nimmt die Verkehrsmelder entgegen, wimmelt die Arbeitslosen, Ausländer, Behinderten und Millionäre ab und castet solche perfekten Gewinner wie Uschi M. Ihr Arbeitsplatz sieht sehr imposant aus. Sie hat drei große Bildschirme vor sich, auf den ersten beiden ist die Telefonanlage installiert, dort blinken 24 Stunden am Tag die zwölf Leitungen, auf denen die Anrufe eingehen, und auf dem dritten Bildschirm hat sie ihre gefürchtete schwarze Liste. Auf der schwarzen Liste stehen die Dauergewinner. Und die mag Frau Weber gar nicht.

»Klaus, Sabine!«, tönt es fast jeden Morgen streng aus der Sprechanlage, die unser Studio mit Frau Webers Kommandozentrale verbindet.

»Ja, Frau Weber?«

»Marco aus Memmelsdorf. Sagt der euch was?«

»Ist das der Hartz-IV-Empfänger, der mit seinem behinderten Hund zusammenlebt?«

»Nee. Das ist Silvio aus Weckstein!«, tönte es noch strenger aus der Anlage. »Marco aus Memmelsdorf hat bei uns in zwei Monaten acht ›Klaus-und-Sabine-Toaster‹, fünf ›Klaus-und-Sabine-Eierwärmer‹, dreizehn ›Klaus-und-Sabine-Fußmatten‹ und ein ›Klaus-und-Sabine-Fahrrad‹ gewonnen!« Frau Webers Stimme überschlug sich fast.

»Krasse Sache.« Klaus und ich nickten betroffen.

»Ich frage euch: Wie konnte das passieren?«

Klaus und ich sahen beschämt zu Boden.

»Der ist ab sofort tot.«

Klaus hob den Kopf und schaute zur Decke.

»Habt ihr mich verstanden?« Die Sprechanlage knackte bedrohlich. »Tot ist der! Tot! Für alle Zeiten!«

Frau Weber ist eine echte Respektsperson. Neben der Jagd nach Dauergewinnern gehört zu ihrem Job das Casting. Casting ist alles. Ein gutes Casting ist der halbe Payoff, sagt Danilo immer und schaut dabei Klaus auf den Hintern. Wenn die Hörer bei uns anrufen und ihren Tipp für den verzauberten Buchstaben abgeben wollen, dann landen sie bei Frau Weber. Da muss man schon harte Nerven haben. Aber Frau Weber managt das immer super.

»Radio 66,6, Weber hier, einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich Ihnen! Was ist Ihr Tipp?«, flötet sie dann ins Telefon, nachdem sie per Mausklick auf Leitung eins gedrückt hat.

»Äh … also … ich sag G. Oh Mann, ich bin tatsächlich durchgekommen … Ist ja Wahnsinn!«

»Fein, dann bleiben Sie dran, vielleicht schaffen Sie es ja ins Studio, viel Glück«, wird weitergeflötet und Leitung zwei angeklickt.

»Radio 66,6, Weber hier, einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich Ihnen! Was ist Ihr Tipp?«

»Also ist doch ganz klar. Das ist G! G wie Gustav … Äh. Hab ich jetzt gewonnen?«

»Noch nicht, Sie müssen erst im Studio landen. Bleiben Sie dran!«

Leitung drei. »Radio 66,6, Weber hier, einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich Ihnen! Was ist Ihr Tipp?«

»Hallo Frau Weber! Renate Fellbach hier … Grüß Sie lieb … Sie wissen ja, ich sag G!«

»Frau Fellbach … Sie sind es wieder. Das ist ja nett … Was machen die Kinder? Ach, ich verquatsche mich. Sie wissen ja, jetzt kommt es auf den Zufallsautomaten an … Wir hören uns morgen wieder, viel Glück!«

Leitung vier. »Radio 66,6, Weber hier, einen wunderschönen guten Morgen wünsche ich Ihnen! Was ist Ihr Tipp?«

»Was?« – »Sie sind bei Radio 66,6, was ist Ihr Tipp für den verzauberten Buchstaben?«

»T.« – »T? Das ist ja super! Bleiben Sie unbedingt dran! Nicht auflegen … Ich habe ein gutes Gefühl, ich sag Ihnen, nicht auflegen! Das ist ganz wichtig!«

Seit zehn Monaten macht Frau Weber das jetzt. Die Frau hat wirklich Nerven aus Stahl.

So ein Hauptgewinn muss ohnehin gut geplant sein. Der kann nicht mal eben nebenbei passieren. Dann könnte man ja gleich das Geld an irgendeine Hilfsaktion spenden. Der Anruf kostet 50 Cent. Das ist ja praktisch ein Klacks. Das ist wie in der Autobahnraststätte aufs Klo gehen, dort, wo es diese Drehkreuze gibt und man dann einen 50-Cent-Gutschein bekommt, den man im Shop einlösen kann. Wir befriedigen eine Art dringendes Bedürfnis, das unsere Hörer verspüren, das darf man doch niemandem verwehren. Und so ein Payoff ist verflixt kompliziert. Nicht nur der perfekte Gewinner ist ein Muss, sondern auch der Tag (Donnerstag ist super, dann kann man die glückliche Uschi M. samt Ehemann und der vier Kinder am Freitag einladen und sofort am Montag mit dem nächsten Spiel beginnen), die Uhrzeit (zwischen sieben und acht Uhr gibt es die besten Einschaltquoten) und die Jackpotsumme. Die muss möglichst hoch sein. Und das wird sie nur, wenn viele Hörer anrufen.

Und überhaupt, zehn Monate sind gar nicht so lang. Elefantenweibchen brauchen 22 Monate, um zu werfen.

Kann die mal einer fragen?

4.

Viola

Als ich an diesem Morgen in den Sender kam, saß Pierre bereits an seinem Schreibtisch im Morningshow-Büro und hämmerte wild vor sich hin murmelnd in die Tastatur.

»Sabine«, sagte er freundlich, aber ohne aufzublicken. »Hab schon alles ausgedruckt, liegt an deinem Platz.«

»Danke, du bist ein Schatz.« Ich warf meine Tasche auf den Boden und ließ mich auf meinen Stuhl fallen. »Wo ist Klaus?«, fragte ich ihn, nachdem ich die Skripte beiseitegeschoben hatte, um auf der Tastatur Benutzernamen und Kennwort einzugeben.

»Aufm Klo. Wo sonst?«

Das ist auch so eine Sache, die dieser Job mit sich bringt. Man bekommt viel zu viel von seinen Kollegen mit. Das hat mehrere Gründe: Erstens natürlich die Uhrzeit. Menschen sehen um vier Uhr morgens nicht schön aus. Das liegt einfach nicht in unserer Natur. Und zum Zweiten liegt es an der Show an sich. Wenn man morgens um diese Uhrzeit fünf Stunden mit einem anderen Menschen in einem kleinen Studio zusammengepfercht wird, dann ist es fast, als wäre man mit dieser Person zwangsverheiratet worden. Man kann nicht weglaufen, muss miteinander reden und hat aber noch nicht einmal Sex miteinander. Zumindest nicht freiwillig. Das alles führt leider dazu, dass man mehr von seinen Kollegen erfährt, als man will. Um es auf den Punkt zu bringen, eine Zumutung ist das. Darum sollten sich Organisationen wie Amnesty International mal kümmern.

Das Problem ist nämlich, Klaus hat einen Reizdarm, wie er selbst sagt. Mit der Folge, dass er in den unmöglichsten Situationen verschwinden muss, und das ganz schnell. Die kleinste Nervosität macht Klaus zu einem Sklaven seines Hinterteils. Vielleicht ist auch das der Grund, warum Danilo ihm dauernd auf den Hintern starrt. Ich hab keine Ahnung. Eigentlich will ich das auch gar nicht wissen.

»Hast du schon Zeitungen gelesen?« Ich wechselte schnell das Thema. Zu viel Information tut nicht gut.

»Klaro«, Pierre blickte mich das erste Mal an diesem Morgen an. »Ist alles in den Skripten, wie immer«, sagte er etwas missbilligend, als hätte ihn meine Frage beleidigt, dann verengten sich seine Augen zu kleinen Schlitzen.

»Schätzchen, deine Augenringe sind grässlich. Da müssen wir echt was gegen unternehmen.«

Danke, Pierre. Das hilft, dachte ich. Doch bevor ich etwas sagen konnte, kam Klaus herein.

»Hallo Sabinchen«, rief er mir zu und ging zur Kaffeemaschine.

Dann schaute er Pierre an. »Ey Pierre, sag mal der Putzfrau Bescheid. Wir brauchen aufm Klo mehr Raumspray.«

Was habe ich gesagt?

Eine Zumutung ist das. Punkt.

Pierre, Klaus und ich sind um diese Uhrzeit immer die Ersten im Sender. Es sei denn, irgendwo liegt ein betrunkener Praktikant in der Gegend herum, was nach Weihnachtsfeiern oder Senderpartys oder aus reiner Desillusionierung gegenüber der Radiowelt durchaus oft passiert. Gisbert, unser Nachrichtenkollege, kommt gegen halb fünf und Frau Weber besetzt ihre Kommandozentrale dann eine halbe Stunde später, pünktlich zum Showbeginn. In dieser Stunde vor der Sendung ist Pierre richtig im Stress. Er liest die Zeitungen durch, alle, die es in unserem Sendegebiet gibt, und schreibt alle wichtigen Meldungen, die Klaus und ich wissen müssen, in die Skripte. Für Zeitunglesen haben Klaus und ich nämlich morgens keine Zeit. Da ist es viel zu stressig. Und außerdem wüssten wir auch gar nicht, was wichtig ist. Pierre checkt den Nachrichtenticker von der dpa und schneidet Interviews und Hörertalks. Für jeden Sendeplatz gibt es einen Zettel. Wir haben viele Sendeplätze in unserer Show. Sehr viele. Allerdings wiederholen wir auch alle 90 Minuten die Moderationen. Das kriegt aber niemand mit, denn laut Statistik hören die Leute morgens nur durchschnittlich 17 Minuten am Stück Radio. Warum wir also nicht alle 17 Minuten dasselbe erzählen, weiß ich auch nicht. Aber darüber muss ich auch nicht nachdenken, das ist ähnlich wie mit den Zeitungen.

Klaus und ich haben viel zu tun morgens vor der Sendung. Ich kümmere mich hauptsächlich um das Wesentliche. Als Allererstes öffne ich den Internet Explorer und gehe auf die Homepage der Zeitschrift Brigitte. Dort mache ich den aktuellen Psychotest. Wie egoistisch sind Sie? Was sind Ihre Schwächen? Wie intelligent sind Sie? Das dauert oft etwas länger, weil ich nie auf Anhieb mit dem Ergebnis zufrieden bin. Dann surfe ich kurz bei lovelove.de, sexysingles.de, Traumpaar, Feels-Like-Heaven und verzweifelt-gesucht.de vorbei und dann ist es schon fünf Uhr und Klaus und ich müssen ins Studio.