Per Anhalter über den Atlantik - Christoph Vougessis - E-Book

Per Anhalter über den Atlantik E-Book

Christoph Vougessis

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Beschreibung

Was tun nach dem Abi? Eine Atlantiküberquerung im Segelboot Wohin mit sich selbst nach dem Abitur? Viele junge Menschen möchten sich nicht sofort in den "Ernst des Lebens" stürzen. Die Welt entdecken, echte Freiheit erleben und neue Erfahrungen machen, bevor der Alltag mit Studium, Job und Familie einkehrt – ein Traum für viele frisch gebackene Abiturienten. Christoph Vougessis und Anna Haubrich haben diesen Traum gelebt: Nach dem Abi zogen sie los, der eine mit seinem vierzig Jahre alten Segelboot Shalom von Hamburg aus, die andere als Tramperin aus Süddeutschland. Hals über Kopf verliebt – junges Glück unter Segeln Das Schicksal führt sie auf La Gomera zusammen. Sie lernen sich kennen, verlieben sich und segeln gemeinsam über den Atlantik. Zwischen Sonnenuntergangsromantik und stürmischer See wachsen die beiden zusammen und erleben einen unvergesslichen Abenteuerurlaub. Bei Flaute schwimmen sie im Meer und geben den Fischen Namen. Sie stellen fest, dass ein Leben als Vegetarier auf dem Ozean nicht immer einfach ist und schaffen Abhilfe mit Pommes Frites. Und sie treffen auf viele neue Freunde, in fremden Kulturen und unter anderen Reisenden. Doch auch auf hoher See ist nicht alles eitel Sonnenschein. Shalom ist ein treues Boot, aber doppelt so alt wie ihr Skipper. Ein Leck hier, eine Havarie da – Christoph erlebt auf dieser Reise Momente, die ihn an seine physischen und psychischen Grenzen stoßen lassen. Anna dagegen verfolgt ihren ursprünglichen Plan weiter und reist nach vier Monaten gemeinsamer Zeit allein nach Mexiko und Guatemala. Erwachsenwerden am anderen Ende der Welt In Per Anhalter über den Atlantik erzählen Christoph und Anna ihre gemeinsame Geschichte aus zwei Perspektiven. Eine Geschichte über eine Zeit weit weg von Konsumgesellschaft und Zwängen, eine Zeit der Freiheit und des gemeinsamen Glücks, aber auch über eine Zeit, die sie beide hat erwachsener werden lassen. Ehrlich und offen berichten die sympathischen jungen Segler über die Hochs und Tiefs, die Abenteuer und Schieflagen ihrer Weltreise. Eine wunderbare Mischung aus Liebesgeschichte und Abenteuerroman!

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INHALT

Vorwort

Prolog

SHALOM im Februar

Wie alles begann: Trampen über Landesgrenzen bis zum Mittelmeer

Hamburg: Eine neue Fahrtenyacht und ein Kurs entstehen

Das erste Segelabenteuer

Der Startschuss

Marokko: Überfall und neue Freunde

Nordsee: Pleiten, Pech und Tidenstrom

Las Palmas: Und schon wieder auf Bootssuche

Der Ärmelkanal und die Biskaya

Portugal: neu entdeckte Inseln

Paradies voraus – La Gomera

Langzeiturlaub auf La Gomera

Seglerfreundschaft

La Laguna Grande: Im Krater des Vulkans

Grübeleien

Voreilige Entscheidungen

Allein im Paradies

Christophs Rückkehr

Die SHALOM rüstet auf

Neue Aussichten

Christoph, eine Stunde bis zur Abfahrt

Anna, vier Tage bis zur Abfahrt

Atlantik: Sonne satt

Schwimmende Kartoffeln

Planänderungen

São Vicente: Einklarierung und ein Weihnachtsfest der anderen Art

Atlantik Teil II

Martinique in Sicht

Hartes karibisches Leben

Martinique, zu Wasser

Martinique, zu Land

Dominica? Ja, man!

Treffen im Dschungel auf Guadeloupe

Kuba: high and low

Jamaika mit Albi

Kuba, die Zweite

Bahamas rund um unterstützt

Mexiko en famille

Nordatlantikeinsamkeit

Guatemala: Atitlán-See statt Atlantik

Azoren

Zuhause: Kulturschock vorprogrammiert

Wiedersehensfreude in England

Danksagung

 

 

 

 

Für unsere Eltern

VORWORT

Dieses Buch erzählt nicht von großen Heldentaten oder seglerischen Meisterleistungen. Weder wurden Rekorde aufgestellt, noch eine Begeisterungswelle im deutschen Segelsport ausgelöst. Es handelt nicht von mutigen Seglern, die Wind und Wetter trotzen, dem Tod von der Schippe springen und monatelang in absoluter Einsamkeit ausharren.

Die Liste von großen Geschichten ist endlos und mittlerweile auch dem Publikum in der Heimat durch Publikationen zugänglich gemacht. Unzählige Bücher wurden bereits darüber veröffentlicht und unzählige werden folgen. Dieses Buch jedoch nicht.

Dieses Buch erzählt lediglich die Geschichte zweier junger Reisender, die ihre Heimat mit Träumen im Kopf und Abenteuerlust im Herzen verließen. Zwei junge Reisende, die allein und zusammen hinter den Horizont blickten und sich dort gefunden haben.

Von Christoph

PROLOG

»Warum kommst du nicht einfach mit?« Christoph schaut mich mit großen Augen an. Wir stehen mitten im Supermarkt in San Sebastián, umgeben von Lebensmittelregalen. Die Worte waren ihm offenbar einfach so rausgerutscht.

Mein Puls beginnt sich zu beschleunigen.

»Wie bitte?«, frage ich. Vielleicht habe ich mich ja verhört.

»Na, komm doch einfach mit. Du kannst ja dann das Kochen übernehmen oder so.«

»Ja klar, warum nicht!« Ich kann überhaupt nicht kochen. Auf See schon gar nicht, wie mir meine bisherige Reiseerfahrung gezeigt hat. Vor allem wenn das Boot so klein ist, dass man nicht mal aufrecht stehen kann. Denn immerhin reden wir hier von einem nur sieben Meter kurzen Boot, dessen Skipper wie ich gerade erst sein Abitur gemacht hatte, bevor er von Hamburg aus allein auf die Kanaren gesegelt ist. Und nun als Nächstes den Atlantik bezwingen will.

Meine Eltern werden mich umbringen.

Ich glaube, ich war selten in meinem Leben so aufgeregt.

Sollte mein Traum jetzt doch noch wahr werden? Christoph war schon vor einigen Tagen ohne mich losgesegelt und hatte mir damit das Herz gebrochen. Ich selbst wäre beinahe vor seiner unerwarteten Rückkehr nach Teneriffa aufgebrochen, sodass wir uns ohnehin verpasst hätten. Und überhaupt hatte ich auf diese Frage schon seit so vielen Tagen vergebens gewartet … Und jetzt stellt er sie einfach so, hier in diesem Supermarkt, ohne großes Tamtam und ohne romantischen Kniefall. Und plötzlich ist alles anders. Ich würde nicht mehr jeden Tag auf Bootssuche durch die Marina laufen müssen. Kein Hoffen mehr auf nette Segler, die noch einen Platz frei hätten. Keine Sorge mehr, dass etwas mit diesen netten Menschen schieflaufen könnte.

Hier sind wir also.

Von außen nur zwei planlose Jugendliche, die Berge an Proviant kaufen und sich zusammen einen Traum erfüllen. Innerlich sind wir jedoch beide ziemlich aufgeregt. Was müssen wir jetzt noch einkaufen? Wird das alles in die SHALOM passen? Und vor allem: Werden wir uns verstehen?

Fragen, die wir kurze Zeit später in einer Flasche Rotwein ertränken.

»Wir schaffen das schon«, sagt Christoph leise. Ich schaue ihn an. So viel liegt vor uns, und keiner von uns beiden kann sich auch nur ansatzweise ausmalen, was tatsächlich auf uns zukommen wird.

Wir kennen uns gerade mal drei Wochen.

Was machen wir hier eigentlich?

Von Anna

SHALOM IM FEBRUAR

»Okay, nehm ich.« Mit einem festen Handschlag versuche ich meine Zweifel beiseitezuschieben und mir selbst Mut zu machen. Keine weiteren Grübeleien, kein weiteres Zögern. Nun heißt es handeln, den Sack zumachen, Tatsachen schaffen. Mit Unentschlossenheit werde ich nicht weit kommen, soviel steht schon mal fest. Also warum damit überhaupt erst anfangen?

Klar, es gibt schon ein paar Dinge, die mich stören, und andere, die mir ein wenig suspekt sind. Die Wanten zum Beispiel, an die muss ich auf jeden Fall noch mal ran. Oder sollte man sie besser gleich austauschen? Gleiches gilt auch für das Vorstag und die Püttinge, an denen die Oberwanten befestigt sind. »Damit würde ich vermutlich noch nicht einmal einen Jollenmast absichern«, geht es mir kurzzeitig durch den Kopf. Und erst das Ruderlager … Da kommt noch einiges an Arbeit auf mich zu.

Aber genug davon, ich besinne mich auf das Wesentliche: Hier vor mir, an der kalten zugefrorenen Ostseeküste in Stralsund, steht ein kleines, aber durchaus robustes und seegängiges Boot. Es hat einen langen Kiel, ein angemessenes Ruder und schöne Linien. Das Rigg ist, abgesehen von den dünnen Wanten und den wackelnden Püttingen, in einem sehr guten Zustand, und auch der beinhaltete Segelsatz lässt nichts zu wünschen übrig. Von Großsegel über Genua, bis hin zur kleinen Sturmfock – alles dabei. Sogar der Preis stimmt, ist genau genommen sogar recht günstig: unter zweitausend Euro für eine brauchbare, wenn auch kleine Fahrtenyacht. Selbst wenn noch einiges an Ausrüstungs- und Reparaturkosten anfallen würde, wäre es ein gutes Geschäft.

Ich stelle mich vor das aufgebockte kleine Segelboot und lese den Schriftzug am Bug: »SHALOM«, steht dort in geschwungenen weißen Linien auf einem tiefblauen Hintergrund. Was für ein schöner Name für ein Segelboot, denke ich mir. »Friede sei mit dir«, als Begrüßung. Schon mal eine gute Voraussetzung, um fremden Ländern, Kulturen und Menschen zu begegnen.

Kopfnickend wiederhole ich meine Worte, nun mit voller Überzeugung: »Ja, ich nehme das Boot!«

»Na prima, endlich mal ein Interessent, der weiß, was er will. Es handelt sich übrigens um eine Hurley 22 aus England. Gebaut 1978 in Plymouth. 2,2 Tonnen Leergewicht, davon allein 1,2 Tonnen nur der Kiel. Ein Ballastanteil von 56 Prozent!« Stolz klopft mein Gegenüber gegen den Rumpf des Bootes. »Ich bin das Boot vorher einfach nicht losgeworden. Dabei ist damit alles in Ordnung. Nur die Größe, darauf kommt es heute an. Größe und Komfort. Alles andere scheint keine Rolle mehr zu spielen!«

Ich gucke Rolf, einen jungen Mann mit krausen Haaren und dickem Pulli, an. Ich habe ihn erst heute kennengelernt, aber er macht sofort einen sympathischen Eindruck auf mich. Ein netter Kerl Mitte zwanzig, dem inzwischen ebenfalls die Bequemlichkeit an Bord fehlte.

»Ich habe auf der SHALOM für mehrere Jahre gewohnt, aber nun habe ich ein größeres Boot. Der Wunsch nach mehr Komfort kommt wohl früher oder später bei jedem an.«

Stolz zeigt er auf ein Boot, das fünfzig Meter von der aufgebockten SHALOM entfernt an einem Steg im zugefrorenen Wasser liegt.

»Nun wohne ich auf diesem Boot, auch im Winter. Ich habe einen Ofen und eine Heizung. Was will man mehr?«

Seine Worte faszinieren mich, und nach kurzem Nachdenken muss ich ihm zustimmen. Genau so will ich auch leben. Auf einem eigenen Segelboot. Kocher und Bett immer bei einem, egal wohin man segelt. Man kann ferne Länder bereisen, neue Kulturen kennenlernen und ist trotzdem immer zu Hause – von dieser Art Leben träume ich schon seit geraumer Zeit. Verständlich, wenn man jeden Tag in der Schule sitzt und von großen Abenteuern liest. Segelpioniere, Entdecker und Forscher, Menschen wie Slocum, James Cook oder Darwin. Alle ließen ihr altes Leben an Land zurück und stürzten sich voller Zuversicht in eine neue, unbekannte Welt. Eine Lebensphilosophie, die sich schnell in meinem jugendlichen Kopf festgesetzt und mich von Tag zu Tag mehr in ihren Bann gezogen hat. Mit vierzehn Jahren plante ich bereits meine Reise und fing mit dem Sparen an. Nahm Minijobs an, gab Nachhilfe und bunkerte mein Weihnachtsgeld. Bis zum heutigen Tag. Ein Tag, der mein bisheriges Leben radikal verändern wird. Ich bin meinem Traum nun ein ganzes Stück näher gerückt.

Möchte ein frisch gebackener Bootsbesitzer seinen Liegeplatz von der Ostsee zur Elbe hin verlegen, sollte er einige kleine Details beachten:

Zu allererst sei es nach Möglichkeit zu vermeiden, die Überführung im Februar zu starten, da es durchaus vorkommen kann, dass man sich in den Nachtwachen mit Minusgraden und Eisschollen herumschlagen muss.

Plant man darüber hinaus die Durchquerung des Nord-Ostsee-Kanals, sollte das entsprechende Boot zumindest einen einigermaßen vernünftigen Motor besitzen, damit eventuelle Motorausfälle mitten in der meistbefahrenen Wasserstraße der Welt eher unwahrscheinlich sind und man somit nicht den gesamten Kanalablauf durcheinander bringt.

Mein Freund Timo und ich stellten uns waghalsig all diesen Widrigkeiten – weil wir es uns nur leisten konnten, eben im Februar die Schule zu schwänzen, um genügend Zeit für die Überführung aufzubringen, und weil die SHALOM laut Kaufvertrag bis März das Gelände des Hafens verlassen haben musste. In Ermangelung eines Trailers blieb also keine Alternative zum Sprung über die kalte, teils zugefrorene Ostsee samt anschließender Durchquerung des Kanals – mit einem eher defekten als funktionstüchtigen Außenborder, der im Kaufpreis enthalten war und künftig als Hauptmaschine dienen sollte.

Frierend verlud ich einige Ausrüstungsgegenstände unter Deck, während Timo sich noch mit meinem Vater unterhielt, der uns und zwei Taschen an Ausrüstung und Proviant netterweise von Hamburg nach Stralsund gebracht hatte. Schwimmwesten, dicke Regenklamotten und Gummistiefel, Bücher, ein Fernglas, etliches an Essen und Trinken, ja sogar eine Petroleumheizung wanderten an Bord. Trotz der Minusgrade und meiner Fieberanfälle, welche ich dank einer Stirnhöhlenentzündung zu der Zeit hatte, war ich dennoch optimistisch, die Reise einigermaßen problemlos über die Bühne zu bringen.

»Timo, es ist nun alles verstaut. Wir sollten dann auch mal langsam los, bevor das noch dunkel wird.«

Voller Enthusiasmus machte ich mich, während ich mit meinem Mitsegler redete, an dem alten 6-PS-Außenborder zu schaffen, damit wir bald vom Steg ablegen und den Hafen verlassen konnten.

Seine Antwort ging in einer Wolke aus Lärm, Dreck und Abgasen unter. Ich stand im Cockpit und konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen. Dazu musste ich schwer husten. Ich schaute auf das Wasser und bemerkte, dass die Wasseroberfläche um uns herum mit schillernden Regenbogenfarben überzogen war. Schon wollte ich den Motor wieder ausschalten, da ich Angst hatte, von dem kleinen, runden Hafenmeister angeschnauzt zu werden, der am Steg stand. Der bemerkte meinen Plan und fuhr dazwischen:

»Nee, lass den ma loofen. Dit is normal bei Zweitaktern, wenn die lange nich jeloofen sind. Gib dem Kirschkernspucker ma lieber mehr Gas!«

Etwas überrascht tat ich wie befohlen und voilà! Der Motor beruhigte sich langsam und fing an, konstant zu laufen.

»Mit meinem Trabi hab ik dit früher och oft jehabt. Janz normal. Mach mal n bisschen Spüli uff die Schlieren im Wasser. Dann sind die och gleich weg.«

Zehn Minuten später hatten wir die Hafenausfahrt hinter uns gebracht und steuerten auf die offene Ostsee zu. Ich war sehr nervös, wollte es mir aber nicht anmerken lassen. Immerhin war dies nun das erste Mal, dass ich mit der SHALOM segelte. Auch wenn ich schon eine gewisse Segelerfahrung besaß – vergangenes Jahr etwa war ich mit der Carina 20 meines Vaters bis Bornholm und Polen gesegelt –, war ich angespannt. Laut Wetterbericht würden wir die nächsten Tage kreuzen müssen und ich rechnete mit circa drei Tagen auf See.

»Das wird sicherlich frisch. Vor allem wenn wir gegen die Wellen ansegeln und die Gischt an Deck kommt.«

»Ja geil«, sagte Timo genervt. »Du meintest zu mir, dass das eine kurze, entspannte Segeltour wird, und jetzt diese Schweinekälte! Ich leg mich erst mal hin.«

Zugegeben: Was ich meinem Schulfreund Timo über die bevorstehende Segeltour erzählt hatte, entsprach der Realität eher wenig. Aber ich wollte unbedingt einen zweiten Mann zur Unterstützung an Bord, und um jemanden zum Quatschen zu haben.

Es wurde sehr, sehr kalt. In den Nächten fiel die Temperatur unter null Grad. Im Morgengrauen sahen wir öfters vereinzelte kleine Eisschollen auf der Ostsee herumtreiben und außer den großen Pötten der Berufsschifffahrt waren wir das einzige Boot auf See.

Gegen Mittag des dritten Tages schälte sich schließlich das Marinedenkmal von Laboe aus einem trüben Dunst hervor.

»Timo, guck mal! Jetzt ist es geschafft. Hier in Kiel fängt der Nord-Ostsee-Kanal an. Der bringt uns in die Elbe und dann nach Hamburg.«

»Wie schön. Und wann können wir in den Kanal einfahren? Wir haben nämlich nur noch für eine Nacht Petroleum für die Heizung, und heute ist Sonntag. Also werden alle Läden zu haben.«

Darüber musste ich auch schon seit geraumer Zeit nachdenken. Die geliehene Petroleumheizung meines Vaters war bisher der einzige Grund, warum mein Mitsegler noch nicht gemeutert hatte. Immerhin wurde die kleine Kajüte der SHALOM so auf eine angenehme Raumtemperatur gebracht, selbst wenn es draußen fror, was eigentlich immer der Fall war. Auch wenn wir das Boot bei den ersten zwei Wenden jedes Mal fast angesteckt hatten, wenn die Heizung plötzlich mit wechselnder Schräglage polternd durch die Kajüte flog, hatten wir sie verständlicherweise doch in unser Herz geschlossen.

»Ein Problem nach dem anderem. Heute werden wir nicht mehr in den Kanal fahren können. Es wird ja bereits dunkel. Für diese Nacht haben wir noch genug Petroleum und für die nächste wird uns noch was einfallen.« Heftig nickend, um meiner eher vagen Zukunftsvision mehr Gewicht zu verleihen, schaute ich meinen Mitsegler optimistisch an. Der hörte mir jedoch gar nicht mehr zu, sondern guckte gebannt Richtung Bug.

»Ey, guck mal. Da schwimmen ja Delfine neben dem Boot her! Das ist ja geil!« Verblüfft schaute ich ebenfalls über die Reling und tatsächlich: In unserem Kielwasser und um die SHALOM herum schwammen in geschickten Bahnen zwei Delfine und sprangen immer wieder hoch aus dem Wasser.

»Ich glaub’s ja nicht! Was machen die denn hier in der Ostsee? Die müssen sich verirrt haben.«

Später lasen wir nach, dass sich genau diese zwei Säugetiere während eines großen Sturms über der Nordsee in die Ostsee geflüchtet hatten und seither munter die dänischen und deutschen Küsten abklapperten. Ich sah diese Begegnung als gutes Zeichen an, dass die SHALOM mich sicher über die kommenden Meere tragen würde.

»Christoph! Der Motor macht schon wieder so merkwürdige Geräusche! Komm schnell hoch und sieh dir das an!«

Hektisch riss ich mir meine gefütterte Pelzfellmütze vom Kopf, um Timo besser gegen den dröhnende Motorlärm verstehen zu können. Plötzlich war jedoch alles friedlich und still. Aus der Kajüte schaute ich hinaus zu ihm.

»Was meintest du?«, fragte ich ihn, obwohl ich mir in diesem Moment nur zu gut denken konnte, was er mir in die Koje runter gerufen hatte.

»Ich sagte, dass der Motor gleich wieder ausgeht und dass du schnell mal nachgucken sollst, aber das hat sich ja wohl gerade erledigt.«

Eher genervt als beunruhigt nahm ich Timo die Pinne aus der Hand, während er zum Bug lief und sich am Ankerkasten zu schaffen machte: Nach dem nunmehr dritten Motorausfall mitten im Nord-Ostsee-Kanal hatten wir uns einen Notfallplan zurechtgelegt, der vorsah, mit der verbliebenen Geschwindigkeit des Bootes an den Rand des Kanals zu fahren und dort dann schnell den Anker zu werfen. Und das taten wir also.

Zehn Minuten später hielt ich alle Einzelteile des Vergasers, der Zündeinheit und der Benzinpumpe in der Hand und versuchte fieberhaft die Teile wieder an ihren richtigen Ort zu platzieren – zu meinem Schreck unterbrochen von dem Kapitän eines sehr dicht vorbeifahrenden Binnenschiffes, der plötzlich quasi hinter mir stand und uns zusammenbrüllte, dass wir schleunigst Land gewinnen sollten, oder er würde uns bei der Wasserschutzpolizei melden. Die Stimmung an Bord stieg.

Nachdem sämtliche Teile nach einer gefühlten Ewigkeit wieder eingebaut und festgeschraubt waren, stellte sich auch die Ursache unseres Problems heraus. Der Benzinschlauch war verstopft und ließ nur noch einige Tropfen hindurch.

»Hätte sich das auch geklärt«, dachte ich mürrisch. »Wenigstens kenne ich nun jede einzelne Schraube an diesem Krachgerät. Das ist bestimmt noch mal von Vorteil.«

Wer schon einmal durch den Nord-Ostsee-Kanal gefahren ist, hat eine gute Vorstellung davon, wie eintönig und langweilig diese Passage werden kann. Über 45 Meilen erstreckt sich der Kanal, von Kiel nach Brunsbüttel, einmal quer durch Schleswig-Holstein.

Es gibt Regionen auf dieser Erde, welche einem vor Schönheit den Atem rauben und durch eine mystische Naturkulisse jeden Menschen daran erinnern, wie einzigartig unser Planet doch ist. Schleswig-Holstein gehört leider nicht dazu. Zumindest nicht auf den beiden Seiten des Kanalufers. Und ganz sicher nicht im Winter. Matschige Felder und Wiesen wechselten sich mit kargen Bäumen und Gestrüpp ab. Die dicke Wolkenbank über uns ließ dazu alles in einem traurigen, alles verschlingenden Grau erscheinen und passte perfekt zu den Temperaturen im Minusbereich. Träge und mühsam hielten wir uns draußen auf den Beinen und versuchten uns die Zeit zu vertreiben. Da wir mittlerweile nun auch keine funktionstüchtige Heizung mehr hatten, spielte es für uns auch keine Rolle mehr, ob wir uns drinnen oder draußen aufhielten.

Wir hatten die Stadt Rendsburg schön längst hinter uns gelassen und befanden uns im letzten Viertel des Kanals, als ich es nicht mehr aushielt.

»Mir ist schweinekalt und ich kann meine Finger nicht mehr spüren. Theoretisch sollte man die Heizung ja auch mit anderen brennbaren Flüssigkeiten betreiben können. Gib mal den Reservekanister rüber.«

Eine Viertelstunde später und eine Erkenntnis schlauer, war der gesamte Innenraum der SHALOM ausgeräuchert und roch wie die Hamburger Innenstadt während des Berufsverkehrs.

In den nächsten Stunden fanden wir jedoch heraus, dass sich der zum Glück reichlich an Bord vorhandene Spiritus von unserem Kocher sehr viel besser zum Heizen eignete als das Zweitakt-Benzingemisch. Von nun an war es wieder warm und kuschelig in der kleinen, verqualmten Kajüte.

Beharrlichkeit bringt Heil, das Undenkbare war geschafft. Noch vor Sonnenuntergang knatterten wir mit unserem Kirschkernspucker in den kleinen Schleusenhafen vor Brunsbüttel und machten erleichtert die Leinen fest. Ich hatte schon befürchtet, dass wir es nicht mehr rechtzeitig schaffen würden und irgendwo im Nirgendwo rechts ranfahren müssten, um dort zu ankern. Denn nach Sonnenuntergang ist es für die private Schifffahrt generell verboten, den Nord-Ostsee-Kanal zu befahren.

Froh darüber, dass wir nun gemütlich am Steg lagen und uns jederzeit die Füße vertreten konnten, machten wir uns anlässlich der gelungenen Durchquerung Schleswig-Holsteins zwei Bier auf und stießen kräftig an. Auch der Motor bekam einen Schluck ab, obwohl er während der letzten Meilen nur noch auf einem Zylinder gelaufen war … Ich beschloss, dieses Problem erst mal zu verdrängen und mich ein wenig zu entspannen. Die Kajüte wurde aufgeräumt und durchgelüftet, und unsere allesfressende Heizung sorgte für angenehme Temperaturen.

Das erste Mal während dieser Tour schliefen wir mit ruhigem Gewissen ein, während draußen dicke Flocken vom Himmel fielen und alles mit einer weißen Schicht bedeckten.

Schon am nächsten Morgen aber, kurz nach Einfahrt in die Schleuse, erwartete uns das nächste ungewollte Manöver. Unser Kirschkernspucker gab wieder mal seinen Geist auf und wir trieben ohne Motorkraft mitten im Schleusenbecken umher.

»Jetzt haut schon endlich ab, wir brauchen die Schleuse auch noch für andere Schiffe!«

Der Schleusenarbeiter, der vom Schleusenrand aus böse auf uns herabschaute, erinnerte an ein Warnhütchen, das vom Wind hin und her gewirbelt wird. Dick eingepackt in roter Kleidung, fuchtelte er tobend mit den Armen und besah uns mit einem Blick, der töten sollte. Nach endlosen Minuten, in denen ich nichts anderes gemacht hatte, als wie wild an dem Anlasser zu ziehen, und das rote Männchen nichts anderes gemacht hatte, als wie wild zu brüllen, erwachte der Motor schließlich stotternd zum Leben und tauchte meine SHALOM in eine dicke Abgaswolke. Timo hatte Plan B verfolgt und während meiner Anstrengungen bereits die Segel gesetzt. Mit qualmendem Motor und schlecht stehenden Segeln verließen wir fluchtartig die Schleuse, begleitet von den besten Wünschen des roten Warnhütchens:

»Meine Güte! Und so was wagt sich aufs Wasser. Lasst besser die Finger davon und geht Fahrrad fahren!«

Wir hatten noch keine hundert Meter zurückgelegt, als der Motor sich mit einem Stottern wieder verabschiedete. Das auflaufende Wasser der einsetzenden Flut trieb uns jedoch schnell flussaufwärts, weg von Brunsbüttel und den Schleusenanlagen, in denen die SHALOM vermutlich auf Lebenszeit Hausverbot erhalten hatte.

Erleichtert, dass wir alles gut überstanden hatten, schaute ich ins kalte, braune Wasser der Elbe. Zwar waren wir immer noch nicht im Heimathafen Finkenwerder, aber die Elbe kenne ich wie meine Westentasche. Gegen Nachmittag legte ich die SHALOM mit stotterndem Motor, aber mit einem gutem Gefühl im Bauch an den Steg meines Segelvereins SG-HFB. Vier geschwänzte Schultage, drei Tage eiskaltes Ostseesegeln und eine mehr als abenteuerliche Kanalpassage lagen hinter uns. Diese Tour war geschafft – und meine eigentliche Reise konnte beginnen.

Von Christoph

WIE ALLES BEGANN: TRAMPEN ÜBER LANDESGRENZEN BIS ZUM MITTELMEER

Es ist gerade mal 5.30 Uhr am 4. Oktober 2016, als der Wecker klingelt. Ich bin sofort hellwach. Heute ist der große Tag, heute soll es losgehen.

Unter dem eiskalten Strahl der Dusche dämmert mir langsam, was heute passieren würde. Meine Eltern sitzen bereits am gedeckten Frühstückstisch und warten.

»Und, aufgeregt?«, fragt mein Vater mich.

»Ein wenig«, antworte ich nicht ganz wahrheitsgemäß. Tatsächlich fühle ich mich wie ein kleines Kind an Heiligabend. Mit leicht zitternden Händen gieße ich mir Kaffee ein, als es an der Tür klingelt.

»Das muss Joshi mit seinen Eltern sein!«, rufe ich erfreut.

Joshi ist mein Komplize in der Mission »Hitchhiking Southamerica«: Wir wollen mit so wenig Geld wie möglich bis nach Chile kommen. Wie das geht? Per Anhalter, zu Land und zu Wasser. Wie lange wir unterwegs sein werden, wissen wir nicht, wir haben uns bewusst entschieden, keine zeitliche Begrenzung für die Reise zu setzen. Ich hatte jahrelang jegliches Geld meiner Nebenjobs gespart und alle Möglichkeiten ergriffen, mir etwas dazuzuverdienen und wollte eigentlich nach bestandenem Abitur an einer Tauchschule in Costa Rica arbeiten. Joshi hingegen hat ein Budget, das nicht einmal für ein One-Way-Flugticket reichen würde und hatte mir Anfang des Jahres begeistert davon erzählt, dass man Segelboote trampen kann. Dass wir beide nicht segeln können, minderte Joshis Begeisterung, mit welcher er mich schnell angesteckt hatte, nicht. Und so sitzen wir heute hier und starten unsere Reise in Richtung Atlantikküste.

Von meinem Wohnort in der Nähe von Mainz fährt mein Vater uns nach Grünstadt, zur nächstgelegenen großen Raststätte. Wir hieven unsere Rucksäcke auf den Rücken, bewaffnen uns mit unserem selbst gebastelten SPAIN–CHILE-Schild, machen ein erstes Foto und winken meinem Vater zum Abschied.

»Es geht los!«, sage ich zu Joshi.

»Glaubst du wirklich, dass das klappt?«

»Sicher, wird schon werden!«, ruft Joshi optimistisch wie immer, und spricht unseren ersten Fahrer an.

Es ist direkt ein Erfolg. Auf der Fahrt sitzt Joshi mit seiner Straßenkarte vorn, und es entwickelt sich direkt ein nettes Gespräch mit dem Fahrer.

»Das, was ihr vorhabt, ist ja unglaublich!«

»Naja. Eigentlich war es nur so eine blöde Idee«, antworte ich zögerlich.

»Blöd? Auf keinen Fall. Ich bin früher selbst viel getrampt, aber leider ist das ja aus der Mode gekommen …« Unser Fahrer wird melancholisch. »Ach ja, wie viel man dabei erlebt. Schade, dass die jungen Leute so wenig trampen. Deshalb finde ich eure Reise so super. Habt ihr irgendwas, womit ich mich auf dem Laufenden halten kann?«

Joshi gibt ihm sein Kärtchen mit unserer Blogadresse.

Am Ende der Fahrt bedankt unser Chauffeur sich bei uns – Joshi und ich gucken uns verdutzt an. So ein positives Feedback haben wir nicht erwartet.

An der nächsten Raststätte sprechen uns viele Menschen an. Wir erleben die verschiedensten Reaktionen auf unser Schild. Manche sind begeistert, andere schütteln nur wortlos den Kopf. Bald sitzen wir wieder im Auto, ein nettes Pärchen nimmt sogar einen Umweg auf sich, um unsere Geschichte zu hören. Überglücklich lassen wir Deutschland hinter uns, überqueren die französische Grenze und finden direkt eine neue Mitfahrgelegenheit durch Frankreich. Innerhalb der ersten 24 Stunden unserer Reise knacken wir die 1.300 Kilometer und damit die spanische Grenze. Joshi und ich fallen uns in die Arme.

»Hättest du dir das jemals erträumen können?«, fragt er mich.

»Niemals!«

Und so legen wir uns glückselig in unsere Urlaubsfeeling versprühenden Reisehängematten, die wir hinter einem Autobahnrasthof gespannt haben.

Wir erwachen früh. Um vier Uhr morgens geht es mit einem Schweizer Pärchen, das uns schon am Abend zuvor eingesammelt hatte, weiter die spanische Küste entlang.

Als wir in Benidorm aussteigen, schlägt uns warme Meeresluft entgegen – vorläufig sind wir am Ziel. Nicht mehr als sechs Autos haben wir gebraucht, um nach Spanien zu kommen. Wir sind südlicher gelandet als unser eigentliches Ziel Calpe, wo es in wenigen Tagen zu Wasser weitergeht. Joshi hat per Internet erste Kontakte zu Bernhard geknüpft, dessen Schiff uns auf die Kanaren bringen soll. Für Hilfe an Bord und Beteiligung an den Lebensmittelkosten können wir die nächsten vier Wochen bei ihm mitsegeln. Ein Deal, der uns sehr entgegenkommt.

In Benidorm hängen wir unsere Hängematten hinter einer großen Raststätte auf und verbringen dort zwei Nächte. Wir versorgen uns selbst mit Müsli, das wir von zu Hause mitgenommen haben, und während Joshi an seiner Webseite bastelt, gehe ich die Stadt erkunden. Benidorm liegt am Mittelmeer und strahlt eher touristisches Flair aus: Viele große Hotels direkt am Strand und Touri-Shops prägen das Stadtbild. Dennoch finde ich einige niedliche versteckte Ecken und kann sogar im Meer baden gehen. Auf dem Rückweg stolpere ich noch über eine Rentner-Tanzgruppe am Strand – ich tanze in der ersten Reihe mit, bis es dunkel wird.

Nach einem gelungenen Tag kehre ich wieder zurück zu unserem gemütlichen Hängemattenlager. Zufrieden rolle ich mich in meinen Schlafsack und betrachte den Sternenhimmel. Es ist wunderschön hier, von dem Betrieb der Raststätte bekommen wir kaum etwas mit.

»Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir vor zwei Tagen noch in Deutschland waren«, sage ich zu Joshi.

»Unglaublich, was? Und jetzt schlafen wir schon unter Palmen!«

Zufrieden dösen wir ein.

Die Sonne geht gerade auf, als ich aufwache. Ich strecke mich und betrachte dieses ganz besondere Naturschauspiel.

Wir frühstücken gemütlich, immer noch Müsli, wie seit drei Tagen. Gegen Mittag machen wir uns auf den Weg nach Calpe, wo wir einige Stunden vor dem geplanten Treffen mit unserem Kapitän ankommen, am Hafen sitzen und warten.

»Komm, wir gehen noch ein bisschen spazieren. Haben ja noch Zeit«, zwinkert Joshi mir zu. Also schultern wir unsere schweren Rucksäcke wieder und spazieren am Wasser entlang.

»Wäre es nicht wundervoll, hier zu schwimmen?«, überlege ich. Joshi stimmt mir nickend zu. Es ist extrem warm, besonders wenn man kurz vorher noch im vier Grad kalten Deutschland war. Wir steigen also ins Wasser und ich setze meine Taucherbrille auf. Auf diesen Moment habe ich lange gewartet: Vor mir sind Tausende bunte Fische zu sehen, ganze Schwärme schwimmen um uns herum und glitzern im hellen Sonnenlicht.

»Wow! Guck mal!«, rufe ich und werfe Joshi meine Taucherbrille zu. Der ist schon dabei, seine Kamera wasserdicht zu verpacken, um tolle Unterwasserfotos zu schießen.

»Wahnsinn!« Joshi ist komplett aus dem Häuschen, so etwas hat er noch nie gesehen.

Wir planschen völlig begeistert weiter, bis plötzlich Joshis Handy klingelt.

»Bernhard ist dran. Das Schiff ist da!«

Wenig später gehen wir an Bord der SAFIRA.

Von Anna

HAMBURG: EINE NEUE FAHRTENYACHT UND EIN KURS ENTSTEHEN

»Christoph. Erde an Christoph, sind Sie da? Schlafen können Sie zu Hause, aber ganz sicher nicht hier in meinem Unterricht!«

Verschreckt fahre ich aus dem Halbschlaf hoch, richte mich im Stuhl wieder gerade auf und schaue in das Gesicht meiner Geschichtslehrerin während der ersten Stunde des Tages. So richtig sympathisch waren wir uns nie. Na toll.

»Wir waren gerade bei der Ideologie des Nationalsozialismus. Schreiben Sie doch mal die Grundpfeiler an die Tafel und erkläre uns diese in knappen Sätzen.«

Ich erhebe mich und mache mich, nun mehr als wach, auf den Weg nach vorn, um der Aufforderung – zur Überraschung der Lehrkraft und zu meiner eigenen Genugtuung – in allen Punkten nachzukommen.

»Wäre das dann alles?«, frage ich artig, bevor ich mich zu meinem Platz zurückbegebe. Sie schaut mich nur mürrisch an, nickt unwirsch und lauert auf ihr nächstes Opfer.

Was ist die Schule doch manchmal für eine Farce. Noch weniger als zwei Monate, dann ist es endlich vorbei, denke ich mir und schaue aus dem Fenster.

Die Überführung liegt nun schon mehr als zwei Monate zurück, und ich befinde mich mitten in den Abiturvorbereitungen. Während dieser Zeit wurde die SHALOM lediglich auf das Gelände meines Segelvereins gestellt und wartet seitdem auf meine Rückkehr.

Im Kopf gehe ich, wie jeden anderen Tag auch, die To-do-Liste durch: Das Ruder muss durch neues Laminat verstärkt und das Ruderlager abgedichtet werden. Die Wanten müssen ersetzt und die Püttinge erneuert werden. Fenster abdichten, Seeventile erneuern, Ankergeschirr ergänzen, den Motor warten, eine Kochecke einbauen, eine Selbststeueranlage auftreiben und und und. Die Liste will kein Ende nehmen, ist aber ein gutes Gedächtnistraining, immerhin.

In ein paar Monaten ist das hier alles passé und ich befinde mich auf großer Reise, im August soll es spätestens losgehen. Egal, was noch kommen mag, ich bin bald weg.

Die Schulglocke kündigt mit einem schrillen Gebimmel das Ende des NS-Regimes an. Zufrieden packe ich meine Schulsachen in meinen Rucksack und stehe auf.

Einen Monat später halte ich mein Abiturzeugnis in der Hand und verlasse ein für alle Mal den Ort, um dem sich acht Jahre lang mein Alltag drehte, und wo ich von blauem Meer und weißen Segeln nur träumen konnte.

Schaue ich doch mal, wie es der SHALOM so geht.

Ich starte mein Mofa und lasse Schule und Vergangenheit hinter mir.

Eine Stunde und 34 Kilometer später erreiche ich das knallrot gestrichene Vereinshaus des SG-HFB. Seit Februar bin ich nicht mehr hier gewesen und nun ist bereits Ende Mai. Ich bin glücklich und von einem ausgelassenen Tatendrang erfüllt, der mir förmlich zuruft:

»Dein eigenes Segelboot! Rigg es auf, mach es fahrbereit und entdecke ferne Länder hinterm Horizont!«

Ich juble in mich hinein und stelle mein Mofa auf den kleinen Sandweg neben der Straße ab, damit das auslaufende Öl nicht so auffällige Schlieren auf dem Asphalt hinterlässt.

Ich betrete das Vereinsgelände und schlendere verträumt in die hinterste Ecke des Hofes, wo die SHALOM auf einem geliehenen Trailer im Windschatten einer großen Bootshalle geduldig auf mich wartet.

Fest entschlossen, an die Arbeit zu gehen, erklimme ich die wackelige Leiter, die an der SHALOM anlehnt.

Zwei Stunden später gleicht die Kajüte einem Schlachtfeld. Die Polster und sämtliche Ausrüstungsgegenstände, die sich noch von der Überführung an Bord befanden, liegen nun alle im Cockpit verteilt, damit ich im Inneren des Bootes genügend Platz für meine handwerklichen Arbeiten habe. Ich blicke um mich herum und weiß nicht, wo ich in diesem Chaos anfangen soll.

Die nächsten Tage und Wochen sind von intensivem Arbeiten, frühem Aufstehen, wenig Schlaf auf einer unkomfortablen Isomatte und schlechtem Essen geprägt. Ich erneuere die Püttinge, lasse mir von meinem ersparten Geld neue Wanten anfertigen und baue, während meine Klassenkameraden auf unserem Abiball tanzen, eine Toilette in das Vorschiff ein. Auf der Backbordseite entsteht eine kleine Kochecke mit einem zweiflammigen Spirituskocher und direkt daneben ein Kartentisch für die Navigation. Die Elektrik wird neu verkabelt und durch eine 20-Watt-Solarplatte ergänzt, die meine kleine Autobatterie künftig mit Strom versorgen soll.

Die Zeit vergeht wie im Fluge. Der Frühling geht in den Sommer über, und die SHALOM verwandelt sich langsam, aber sicher in eine kleine Fahrtenyacht. Anfang Juli steht der Krantermin kurz bevor, während ich fieberhaft an dem Herzstück einer jeden Fahrtenyacht arbeite: der Selbststeueranlage. Im Internet habe ich eine günstige gefunden und nach nur vier Tagen halte ich sie bereits in den Händen. Es handelt sich um eine große, etwas klobige, mechanische Windsteueranlage aus Edelstahl, die vom Vorbesitzer selbst zusammengeschweißt wurde. Mechanisch musste sie sein, da die Stromversorgung der SHALOM eher mau und nur für die Versorgung der Positionslampen konzipiert ist, und diese Variante gegenüber der elektrischen in meinen Augen eh die zuverlässigere und wartungsärmere ist. Auf die richtige Länge für mein kleines Boot kürzen kann ich Gestell und Windfahne selbst. Wie beides später funktioniert, ist recht simpel: Die Windfahne, von der Form ähnlich wie ein Ofenblech, steuert das Boot in einer einstellbaren Gradzahl zum Wind und hält so den Kurs. Wenn das Boot nun aus dem Kurs laufen sollte, übt der Wind Kraft auf die Windfahne aus, welche wiederum mit einem Ruder verbunden ist. Dieses Ruder bringt das Boot wieder zur eingestellten Windrichtung und damit auf den gewünschten Kurs.

Beim Anschweißen der Verstrebungen, welche die schwere Anlage am Rumpf fixieren sollen, hilft mir kurzerhand ein guter Freund, und so kann ich auch das Problem der Selbststeuerung innerhalb weniger Tage ad acta legen. Meine kleine, feine Fahrtenyacht erstrahlt in tiefstem Blau – und ist nun bereit für eine große Reise.

Die Frage ist nur, wo soll es hingehen?

»Zu den Kanaren? Was soll das denn? Wieso fährst du nicht erst einmal ein bisschen in der Nordsee umher? Da könnten wir dich auch jederzeit besuchen, falls mal was sein sollte!«

Meine Mutter schaut mich über den Esstisch hinweg entgeistert an – wie es wohl jede Mutter tun würde, wenn sie erfährt, dass ihr achtzehnjähriger Sohn allein tausende Meilen auf den offenen Atlantik segeln will. Ich sehe ihr an, dass wir das Thema noch lange nicht hinter uns haben.

»Kanaren, was hat dich denn da schon wieder geritten? Wieso willst du nicht, wenn du schon unbedingt segeln gehen musst, ins Mittelmeer? Das macht doch auch viel mehr Sinn! Dann könnten wir zusammen mit deinem Bruder die Sommerferien in Opas Haus in Griechenland verbringen. Wieso willst du nicht dorthin?«

Was wie eine Frage klingt, war nicht als solche gemeint – es geht ohne Pause weiter.

»Außerdem wäre das nicht so weit weg! Das Mittelmeer, das ist doch auch hübsch!«

Das ist typisch meine Mutter. Meinem Vater ist das egal, zumindest tut er so. Oder er will sich nicht mit meiner Mutter anlegen. Immer schön den Kopf unten halten, während ich hier mitten im Krieg stehe. Ich halte kurz inne, um mir eine erste Verteidigungslinie zurechtzulegen – hier muss man sinnvoll argumentieren, sonst ist es gleich zappenduster. Ich hole Luft und gehe zum Gegenangriff über.

»Ich weiß, dass das nicht so weit weg ist. Aber darum geht es doch gar nicht. Der Vorteil bei den Kanaren liegt nun mal darin, dass man von dort aus überall …«

»Thomas, wieso sitzt du da eigentlich wie ein Sack Mehl?! Kriegst du nicht mit, worum es hier geht? Oder ist es dir egal? Dein Sohn will zu den Kanaren segeln. Das ist doch mitten im Atlantik! Jetzt sag doch auch mal was!«

Ich schaue meinen Vater an. Dieser erwacht nun aus seiner zwar taktisch klugen, aber langfristig nicht haltbaren Lethargie und richtet sich auf.

»Naja nun, der Junge ist erwachsen, und Geld hat er auch. Was sollen wir machen? Außerdem wussten wir doch schon, dass er eine Segelreise plant, die über die Grenzen der Nordsee klar hinausgehen würde.«

Meine Mutter schaut meinen Vater entgeistert an. Damit hat sie nicht gerechnet. Das kam jetzt unerwartet und erwischt sie eiskalt. Zufrieden schaue ich meinen Vater an. Der alte Fuchs. Aber sie lässt nicht locker.

»Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein! Ich glaube, hier sind alle verrückt geworden! Mensch Junge, in deinem Alter habe ich eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, und nicht ganze Ozeane in einem schrottreifen Boot überquert!«

Ich nehme erst einmal einen kräftigen Schluck von meiner inzwischen kalt gewordenen Suppe und versuche dann, die Gemüter zu beruhigen.

»Ich kann euch ja verstehen. Das klingt für euch natürlich alles mehr als erschreckend, und wäre ich selbst Vater, wüsste ich auch nicht, wie ich reagieren würde. Aber das ist mein Traum, seit ich vierzehn Jahre alt war. Und das wisst ihr auch. Seit vier Jahren habe ich buchstäblich über nichts anderes geredet. Und nun seid ihr erstaunt, dass ich das wirklich durchziehen will?«

Ich schaue in die Runde. Meinem Vater sind keine Reaktionen im Gesicht abzulesen, während meine Mutter schon wieder Luft holt. Gleich wird’s richtig ungemütlich … Ich gehe mental schon mal in Deckung.

»… Okay«, sagt meine Mutter schließlich, mit einem tiefen Seufzer.

Ich traue meinen Ohren nicht.

»Okay?«, frage ich vorsichtig.

»Ich gebe es auf, dagegen anzureden. Du lässt dir ja eh nichts sagen und warum soll ich weitere Energie in einen verlorenen Kampf stecken. Dein Vater hat Recht, so ungern ich das auch zugebe. Du bist erwachsen und hast die letzten vier Jahre sicherlich einiges verdient und zusammengespart. Aber denk bloß nicht, dass ich deshalb damit meinen Frieden habe. Ich finde es furchtbar, was du vorhast.«

Damit erhebt sie sich vom Tisch und verlässt die Küche, sichtlich angeschlagen.

Traurig rühre ich mit meinem Löffel in der kalten Suppe herum. Warum muss das so schwierig sein? Ich weiß ja auch, dass ich ihnen viel zumute … Aber ich muss das einfach tun. Für mich. Damit ich glücklich sein kann. Damit ich mir meinen Traum von Freiheit erfüllen kann. Jetzt, wo sich die Chance dazu bietet. So leid es mir tut, für meine Eltern. Mein Vater reißt mich aus meinen trüben Gedanken.

»Du meinst das wirklich ernst, was? Das mit den Kanaren und deiner Reise?«

»Ja, das tue ich. Und ich werde auch in den nächsten Wochen aufbrechen.«

Müde, aber gefasst schaut er mich an. »Ja, ich weiß. Eigentlich wissen wir es ja schon seit Langem. Versteh mich nicht falsch, mir wäre es auch lieber, wenn du in der Nähe bleiben würdest. Aber …« Mein Vater räuspert sich. »Aber wir werden dich auch nicht aufhalten, wenn dies dein Traum ist.«

Was habe ich nur für tolle Eltern. Was ich ihnen nicht alles zumute, und trotzdem stehen sie hinter mir. Ich bin zutiefst gerührt.

»Danke, das bedeutet mir viel. Ich werde vorsichtig sein, und mir wird nichts passieren. Ich bin mir sicher, dass alles gut gehen wird und …«

»Daran zweifel ich nicht«, werde ich unterbrochen. »Deshalb sind hier auch zwei Bedingungen.«

Ich schaue ihn überrascht an.

»Du wirst eine Rettungsinsel und einen Satelliten-Tracker mitnehmen, damit wir deinen Kurs rund um die Uhr verfolgen können. Und falls du doch einmal Probleme bekommen solltest, kontaktierst du uns sofort.«

Mein Vater schaut mich streng an, aber ich weiß, dass diese Strenge eine große Besorgnis kaschiert.

»Einverstanden«, sage ich nach einer Weile des Schweigens.

Mein Vater nickt zufrieden. »In Ordnung. Und wieso willst du nun zu den Kanaren?«

Von Christoph

DAS ERSTE SEGELABENTEUER

»Hey, willkommen an Bord!«, begrüßt unser neuer Kapitän uns und drückt uns ein Bier in die Hand. »Alles klar bei euch? Ich zeig euch erst mal das Boot, dann könnt ihr euch ein bisschen einrichten, und dann legen wir auch schon ab!«

Wir sind vollkommen begeistert. Joshi und ich teilen uns die Vorschiffskoje und sind froh, unser Gepäck für längere Zeit in richtigen Schränken verstauen zu können. Bernhard zeigt uns das Schiff, dann kommt auch schon Stefan an Bord, unser viertes Crewmitglied. Der junge Österreicher ist von seiner Heimat aus zu Fuß aufgebrochen und verschnauft eine Weile auf dem Boot.

»Ich hoffe, ihr seid seefest!«, begrüßt er uns lachend. Wir verstehen uns sofort blendend.

Kurze Zeit später heißt es dann »Leinen los!«, und wir motoren zu einem Ankerplatz etwas abseits des Hafens. Dort verbleiben wir vorerst, gehen baden und kochen unser Mittagessen.

In den nächsten Stunden muss einiges erledigt werden. Wäscheberge warten, und die Einkäufe machen sich auch nicht von allein. Also paddeln wir noch mal an Land. Heimlich schleichen Stefan und ich uns in die Marina und stopfen schnell unsere ganze Wäsche in die Waschmaschine. Gerade als wir die Tür mit Gewalt zudrücken, kommt ein wütender Marinero auf uns zugelaufen.

»Waschen nur für die Gäste der Marina!«, brüllt er uns auf Spanisch zu.

»Hablas tú français?«, probiere ich es mit meinem grottigen Spanisch.

»Only for members!«, poltert der Marinero ungerührt.

Wir stellen uns weiterhin dumm, bis der äußerst unfreundliche Mann versucht, die Tür der Waschmaschine aufzuzerren. Leider ist diese fest verschlossen, die Maschine rumpelt glückselig vor sich hin. Das macht den Mann noch wütender. Er verscheucht uns mit wilden Gesten, und wir machen uns aus dem Staub.

Wir brechen in schallendes Gelächter aus. »Gerade noch mal gut gegangen!« Wir geben uns einen High Five und widmen uns der Einkaufsliste. Bei vier Leuten an Bord kommt so einiges zusammen, und voll beladen kehren wir zurück an Bord der SAFIRA.

»Gut gemacht, dem habt ihr es aber gezeigt!«, lacht Bernhard, als wir ihm von unserem abenteuerlichen Marinaaufenthalt erzählen.

Am nächsten Morgen segeln wir weiter, immer die Spanische Küste entlang. Wir spielen Backgammon, drehen Videologs, kochen und genießen das Wetter. Außerdem beschließen wir, für die Zeit an Bord komplett vegan zu leben – eine Idee von Joshi, der sich schon seit Längerem mit Veganismus befasst. Unser sehr toleranter Kapitän ist einverstanden, obwohl er selbst gern Fleisch isst. Aber auch für mich ist die vegane Küche neu. Vegetarierin bin ich schon seit Jahren, aber vegan? Das war für mich bisher mehr ein Trend als eine Lebensform. Doch Joshi überrascht uns mit seinen Leckereien, und so werden er und Bernhard zu den Köchen erklärt. Stefan und ich kümmern uns dafür hinterher um den Abwasch.

Unterwegs haben wir meist achterlichen Wind, sodass wir fast durchgängig mit Spinnaker segeln können. Die SAFIRA schiebt sich im Wasser vorwärts wie ein träger Wal. Wir liegen in Badeklamotten an Deck, lernen Spanisch und genießen das tolle Wetter.

Die Zeit vergeht schnell, und zwei Tage später sind wir schon im nächsten Hafen. Wir legen in der »Spaghettisaucenstadt« Carboneras an – allerdings in einem Fischerhafen, wo wir eigentlich als Segelboot gar nicht liegen dürften.

»Bringt das mal den Aufpassern hier vorbei. Dann sollte das schon klargehen.« Mit diesen Worten drückt uns Bernhard eine große Flasche Schnaps in die Hand. Und tatsächlich – kaum ist das Präsent abgegeben, legt sich auch der Aufruhr im Hafen.

Wieder an Land, heißt es erst mal einkaufen. Joshi und ich schleppen mithilfe unserer Backpacks gefühlt 20 Kilo Lebensmittel plus Wasser an Bord. Danach brauchen wir erst mal eine Siesta.

Abends packe ich endlich wieder meine Laufschuhe aus – nach zwei Tagen auf See freue ich mich über jeden Meter, den ich zu Fuß zurücklegen kann. Es ist schon dunkel, als ich meine Runde beende und ins Meer springe, um mich abzukühlen. Anschließend dusche ich am Strand und gehe zurück aufs Boot. Herrlich.

Obwohl wir zu dritt weitersegeln, da Stefan uns wieder verlassen hat, ist die Stimmung dank dem tollen Wetter und stetigen Wind großartig. An Bord der SAFIRA wird musiziert, gekocht und gespielt, während sie Kurs auf Malaga setzt.

Nach 36 Stunden auf See wollen wir in Malaga anlegen. Leichter gesagt als getan. Unser Kapitän verirrt sich erst mal in den Marine- und Touristenhafen, wo wir eigentlich gar nicht sein dürfen. Bis wir herausgefunden haben, dass man eine Genehmigung braucht, wenn man hier liegen will, vergehen weitere zwei Stunden. Keiner von uns spricht Spanisch, und von der Gegenseite will unser Englisch nicht verstanden werden. So verläuft alles schwieriger als gedacht. Endlich finden wir die Marina und können uns dort beruhigt vertäuen. Rainer, unser neues Besatzungsmitglied, wartet schon.

Malaga haut mich erst mal um. Nachdem ich seit Reiseantritt nur kleine Hafenstädte gewöhnt bin, ist diese Großstadt wie das Paradies. Überall kann man an kleinen Ständen Schmuck oder Essen kaufen, es gibt einen riesigen, wunderschönen Park und Läden, Sehenswürdigkeiten und so weiter. Drei Tage verbringen wir in dieser großartigen Stadt. Da die Marina zu teuer ist, ankern wir nun direkt vor dem Strand. Wir flanieren viel durch die Gassen, ackern aber auch viel auf dem Schiff: Seit eine Hand an Bord fehlt, haben Joshi und ich ganz schön zu tun. Womit wir allerdings schon von Beginn an gerechnet hatten – dafür sind wir ja als nicht-zahlende Gäste an Bord.

So vergeht unsere kurze Zeit in Malaga. Unser nächstes Ziel heißt Marokko.

Von Anna

DER STARTSCHUSS

Meine maritime Karriere fing im Grunde genommen recht früh an. Mit sechs Jahren saß ich das erste Mal an der Pinne eines Segelbootes. Zwar war dies nur eine einfache Optimistenjolle auf der Außenalster, aber es war der Beginn von etwas Großem.

Als meine Eltern nach einem ersten absolvierten Optimisten-Segelkurs bemerkten, dass mir das Segeln Freude bereitete, kauften sie mir mit acht Jahren eine gebrauchte Optimistenjolle, mit der ich die nächsten Jahre Hunderte von Meilen loggte. Egal, wohin wir in den Urlaub fuhren, der hölzerne Opti SCHLAPS & SCHLUMBO war immer mit von der Partie. Ich segelte mit ihm auf der Ostsee, der Schlei, der Elbe und sogar in griechischen Gewässern auf dem Mittelmeer.

Die Jahre vergingen, und in mir reifte mehr und mehr der Wunsch, mit einem Segelboot auf Reisen zu gehen. Jedoch mit einem richtigem Boot. Eines mit einer Kajüte, einem Kocher an Bord und einer Navigationsecke. Ein Boot, das man auch als sein Zuhause bezeichnen könnte. Der Opti, so schön und treu er auch war, wurde für mich immer kleiner, während meine Ansprüche stets größer wurden. Ich hatte genug von der Küstensegelei. Ich wollte hinter den Horizont blicken, neue Länder entdecken und das Gefühl eines richtigen Segelabenteuers in mir spüren.

Ich war sechzehn Jahre alt, als mein Vater sich ein kleines, zwanzig Fuß langes Segelboot kaufte, mit dem ich in den Schulferien fortan ausgedehnte Touren auf der Nord- und Ostsee unternahm. Alles, was mir zunächst an theoretischem Wissen und praktischer Segelerfahrung fehlte, sammelte ich während dieser zwei Jahre durch Learning by Doing. Ich segelte, so viel ich konnte.

Schließlich kam das Ereignis, das alles veränderte. An einem kalten Februartag nahmen meine Sehnsüchte plötzlich Gestalt an, und zwar in Form eines kleinen, tiefblau lackierten Bootes.

»Weiter! Weiter! Gib mehr Leine. Ja, genau so und langsam weiter.«

Träge pendelt die SHALOM in der Hamburger Julisonne mal nach rechts und mal nach links, während sie im kräftigen Tragegeschirr des Bootskrans hängt. Der Kranführer ist ein sehr aktiver Zeitgenosse und brüllt die ganze Zeit fröhlich irgendwelche Befehle vor sich her. Zwei Werftarbeiter halten währenddessen jeder eine Leine in der Hand, damit sie die Position des Bootes im schwebenden Zustand korrigieren können. Als die SHALOM richtig »sitzt«, belegen sie die Leinen an den Klampen des Kranstegs. Einer der Arbeiter ruft mir zu:

»Schau am besten gleich mal, ob der Motor läuft, bevor wir die Tragegurte entfernen. Und vergiss nicht, in die Bilge zu gucken. Solange es am Kran hängt, kann’s nicht absaufen!«

Aufgeregt springe ich an Bord. Hoffentlich sind die neuen Bootsventile dicht. Habe ich auch alles richtig eingebaut? Und das Ruderlager … Bitte, bitte, bloß kein Wasser im Boot. Ich verschwinde in Windeseile unter Deck und lege die Bodenbretter beiseite. Im nächsten Augenblick hänge ich, mit einer Taschenlampe bewaffnet, schon kopfüber in der tiefen Bilge des Langkielers. Nichts zu sehen, scheint alles dicht zu sein – erleichtert hangel ich mich wieder nach oben.

»Alles gut, kein Wasser in der Bilge!«, rufe ich dem Werftarbeiter zu.

Der nickt zufrieden und deutet auf die Heckpartie der SHALOM. »Dann schau jetzt nach, ob der Motor läuft. In zwanzig Minuten haben wir den nächsten Kunden am Kran.«

Ich habe so manche schlaflose Stunde wegen meines lieben Motors gehabt. Während der Vorbereitungszeit nahm ich ihn dutzende Male auseinander, reinigte und ölte die einzelnen Teile, oder ersetzte sie gleich ganz. Zwischenzeitlich spielte ich sogar mit der Idee, gleich in einen neuen Motor zu investieren. Nach einigen Internetrecherchen stellte ich jedoch fest, dass dies die Bordkasse sprengen würde. Daher hängt im Motorkasten der SHALOM auch weiterhin der gute alte Kirschkernspucker, mit dem wir im Nord-Ostsee-Kanal schon so viel Spaß hatten.

»Komm schon, komm schon. Das muss jetzt klappen! Wehe du läufst jetzt nicht«, murmel ich beschwörend vor mich hin. Ich öffne die Klappe des Motorschachtes, unter der sich der leistungsschwache Außenborder befindet. Ich nehme die Startleine in die Hand und ziehe kräftig daran. Zu meiner großen Überraschung springt der Motor sofort an und läuft auch sehr ruhig und konstant. Ich kann es kaum glauben und gebe zögerlich etwas Gas. Sofort reagiert er darauf.

»Na, das klappt ja!« ruft mir der Kranführer zu. »So wie der aussieht, hätte ich nicht gedacht, dass der anspringt!«

Zehn Minuten später ist alles geschafft. Die SHALOM liegt sicher und friedlich am Schwimmsteg meines Segelvereines. Ich bin vollauf zufrieden, und als eine Stunde später auch noch das Rigg steht, muss ich meiner Freude Luft machen: Ich reiße mir die Klamotten vom Leib und hüpfe in das warme Hafenwasser der Elbe. Glücklich drehe ich einige Kreise um mein kleines Segelboot und betrachte es von allen Seiten aus der Froschperspektive. Das ist also das Ergebnis meiner Mühen. Dafür habe ich jahrelang gespart, geschwitzt und gearbeitet.

Vor mir schwimmt nun ein völlig anderes Boot, als noch vor einigen Monaten. Am Heck befindet sich eine Windsteueranlage, und eine Solarplatte lädt meine Bordbatterie. Das Rigg verfügt über vier Millimeter dicke Wanten, und unter Deck finden sich Kochecke und Kartentisch. Im Vorschiff ist eine Pumptoilette eingebaut, und sämtliche Bootsventile sind überholt. Kurzum: Die SHALOM hat sich buchstäblich von einem hässlichen Entlein in einen wunderschönen Schwan verwandelt, und ist bereit, die Flügel auszubreiten.

Das Boot ist so weit. Ich bin so weit. Nächste Woche geht es los. Auf zu den Kanarischen Inseln!

Ja, wieso eigentlich zu den Kanaren? Zunächst war mir das Ziel gar nicht so wichtig, Priorität hatten Kauf und Ausrüstung eines seegängigen Bootes. Als meine SHALOM sich jedoch von Tag zu Tag mehr in eine richtige Fahrtenyacht verwandelte, kam ich ins Grübeln. Auch meine lieben Vereinskameraden fragten mich immer wieder neugierig nach dem eigentlichem Ziel der Reise, und konnten meine Gelassenheit schwer fassen.

Eines Abends, einige Tage vor bereits geschildertem Abendessen zu Hause, machte ich es mir mit meinem alten Schulatlas in der Vorschiffskoje bequem. Ich blätterte durch die vielen bunten Landkarten und überlegte. In die Wärme sollte es schon mal gehen, womit sich die Nordsee ausschloss. Vielleicht Spanien, oder gleich ins Mittelmeer?

Mit einem Mal begann die europäische Karte in meinem Atlas zu schrumpfen. Alles lag so dicht beieinander, und einige der kartografierten Länder hatte ich schon besucht. Ich erinnerte mich an mein letztes Schuljahr, in dem ein Klassenkamerad von mir mit seinem Schulkurs eine Exkursion nach Gran Canaria gemacht hatte. Die Kanaren klangen fremd und andersartig für mich. Sie liegen vor der Küste Afrikas und gehören trotzdem noch zur europäischen Union. Ich blätterte einige Karten weiter, bis ich alle sieben Inseln kartografiert vor mir hatte: Sie liegen sehr günstig, man hat noch sämtliche Optionen offen. Ich könnte von dort ins Mittelmeer segeln, zu den Kapverden, oder gar über den Atlantik. Oder wieder zurück nach Europa.

Mein Ziel entstand also aus Neugierde und Pragmatismus: Ich wollte etwas Neues, Aufregendes zu Gesicht bekommen, die warme Luft der Subtropen schnuppern, und mich zugleich auf keine bestimmte Richtung festlegen. Also, erst einmal zu den Kanaren. Danach schaue ich weiter! Zufrieden legte ich den Atlas beiseite und kuschelte mich in meinen Schlafsack.

Am Morgen des 17. Juli 2016 wache ich früh und noch vor dem Weckerklingeln auf. Genauer gesagt habe ich die Nacht über kaum ein Auge zugetan. Bis vier Uhr morgens lief ich auf dem Schwimmsteg meines Segelvereines hin und her, räumte Proviant in die SHALOM