Perfektionismus: (fast) eine Liebeserklärung - Katherine Morgan Schafler - E-Book
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Perfektionismus: (fast) eine Liebeserklärung E-Book

Katherine Morgan Schafler

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Beschreibung

Ein Lob auf den Perfektionismus!

Perfektionisten haben den Ruf, verspannt und anstrengend zu sein. Dabei ist Perfektionismus per se nicht schlecht – wenn man ihn zulässt und gekonnt für sich nutzt. Katherine Morgan Schafler ist überzeugt, dass es höchst befreiend ist, wenn man ihn als Gabe annimmt und darin eine Superkraft sieht. Sie räumt mit der Überzeugung auf, dass Perfektionist*innen loslassen müssen, um ausgeglichener, gesünder und glücklicher zu sein. Genau das Gegenteil ist der Fall: Es gilt, die richtige Balance zu finden, einerseits die extreme Herausforderung in perfektionistischem Handeln zu suchen und andererseits bewusst Dinge geschehen zu lassen. Denn es wirkt durchaus wohltuend, nicht rund um die Uhr perfekt und effizient zu sein. Dieses positive Spannungsfeld beflügelt zu Höherem, beschert große Erfüllung und seelische Gesundheit. Ein unterhaltsamer, motivierender und durch und durch optimistisch gestimmter Guide zu einem weitverbreiteten Phänomen.

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Seitenzahl: 517

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Buch

Perfektionistinnen haben den Ruf, verspannt und anstrengend zu sein. Dabei ist Perfektionismus per se nicht schlecht – wenn man ihn zulässt und gekonnt für sich nutzt. Katherine Schafler ist überzeugt, dass es höchst befreiend ist, wenn man ihn als Gabe annimmt und darin eine Superkraft sieht. Sie räumt mit der Überzeugung auf, dass Perfektionistinnen loslassen müssen, um ausgeglichener, gesünder und glücklicher zu sein. Genau das Gegenteil ist der Fall: Es gilt, die richtige Balance zu finden, einerseits die extreme Herausforderung in perfektionistischem Handeln zu suchen und andererseits bewusst Dinge geschehen zu lassen. Denn es wirkt durchaus wohltuend, nicht rund um die Uhr perfekt und effizient zu sein. Dieses positive Spannungsfeld beflügelt zu Höherem, beschert große Erfüllung und seelische Gesundheit. Ein unterhaltsamer, motivierender und durch und durch optimistisch gestimmter Guide zu einem weitverbreiteten Phänomen.

Autorin

Katherine Schafler ist eine renommierte Psychotherapeutin mit eigener Praxis in New York City. Darüber hinaus berät sie internationale Firmen wie Airbnb, Hilton oder Sephora. Sie ist Autorin, schreibt für diverse Magazine, hat ihre eigene Kolumne im Time Magazine und ist Editor at Large bei Arianna Huffingtons Magazin Thrive Global.

Mit Ehemann und Tochter lebt sie in New York City.

KATHERINE MORGAN SCHAFLER

PERFEKTIONISMUS: (FAST) EINE LIEBESERKLÄRUNG

Warum er uns zu Großem befähigt und wir ihn trotzdem manchmal loslassen müssen

Aus dem amerikanischen Englisch von Anja Lerz, Franka Reinhart, Sigrid Schmid, Renate Weitbrecht

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The Perfectionist’s Guide to Losing Control.A Path to Peace and Powerbei Portfolio / Penguin, New York City, USA.

Deutsche Erstausgabe

© 2023 Kailash Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

© 2023 by Katherine Morgan Schafler

published by arrangement with Portfolio, an imprint of Penguin Random House LLCLektorat: Antje Steinhäuser

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28473-2V002

www.kailash-verlag.de

Für Michael

Alle in diesem Buch skizzierten Charaktere sind fiktiv. Die Namen von Klientinnen und Klienten, ihre Herkunft und Einzelheiten ihrer Geschichten wurden geändert. Die einzelnen Geschichten wurden zusammengefasst und vermischt. In meinen nachfolgenden Schilderungen von Therapiesitzungen konzentriere ich mich auf bestimmte Gefühle, Gedanken und Verbindungen, auf die ich bei meiner therapeutischen Arbeit immer wieder stieß. Diesen emotionalen Kern der Geschichten wollte ich herausarbeiten, statt sie nachzuerzählen. Allen Menschen, mit denen ich zusammenarbeiten durfte, bin ich außerordentlich dankbar.

An meine früheren und gegenwärtigen Klientinnen und Klienten: Ihre Geschichten gehören Ihnen, und ich werde sie nie weitererzählen.

Sie ist, wer sie ist, und sie ist ganz.

DR. CLARISSA PINKOLA ESTÉS

Inhalt

Vorwort: Perfektionismus ist eine Stärke

Quiz: Welcher Typ von Perfektionistin bist du?

1. Perfektionistische Profile

Die fünf Typen von Perfektionistinnen

2. Den eigenen Perfektionismus feiern

Die Wiederentdeckung der Talente und Vorteile hinter dem unstillbaren Verlangen, sich selbst zu übertreffen

3. Perfektionismus als Krankheit, Ausgeglichenheit als Heilmittel, Frauen als Patientinnen

Ein Modell, um weibliches Streben nach Stärke und Erfolg zu pathologisieren

4. Perfektionismus genauer betrachtet

Für ein besseres Verständnis des Perfektionismus und der Fluidität seelischer Gesundheit

5. Du tüftelst am falschen Problem herum

Das Problem ist nicht, dass du dein Leben aus einer perfektionistischen Perspektive angehst, sondern dich für Fehltritte bestrafst

6. Die Lösung wird dich begeistern wie eine Eins minus

Lass los, lerne aus Misserfolgen und habe Mitgefühl mit dir, was immer geschieht

7. Neue Gedanken, die gegen übermäßiges Grübeln helfen

10 Perspektivenwechsel, durch die du den Erfolg im täglichen Leben findest

8. Was du ab jetzt tun kannst, um es nicht mehr zu übertreiben

Acht Verhaltensstrategien für Perfektionistinnen zum Regenerieren und Weiterentwickeln

9. Da du nun frei bist

Gestatte dir, heute glücklich zu sein

Notiz der Autorin

Anmerkungen

Register

Vorwort Perfektionismus ist eine Stärke

Am Abend vor unserer Hochzeit beschlossen mein Mann und ich, getrennt zu schlafen, damit jeder von uns den Abend vor unserem großen Tag so entspannt wie möglich verbringen konnte. Nach der Dinner-Probe kehrte ich etwa um 22.30 Uhr nach Hause zurück, ging mit meinen Hunden Gassi und beantwortete dabei E-Mails. Dann absolvierte ich mein abendliches Fitness-Programm und gönnte mir eine ausgiebige Dusche.

Danach verpackte ich die Geschenke neu, die ich am nächsten Tag meinen Brautjungfern überreichen wollte (die Verpackung aus dem Geschäft war mit zu viel Klebeband verunstaltet und sowieso zu kitschig). Anschließend heftete ich ein paar klinische Aufzeichnungen ab, übte im Bett etwa zwanzig Minuten lang mein Ehegelübde und checkte nochmal meine E-Mails. Kurz nach 2 Uhr morgens schlief ich schließlich ein. Es war eigentlich ein perfekter Abend.

Perfektionistinnen sind keine ausgeglichenen Menschen, und das ist in Ordnung. Es ist nicht gesund, vorgefertigte Konzepte von Ausgeglichenheit und allgemeinem Wohlbefinden zu übernehmen, wenn sie nicht zur eigenen Persönlichkeit passen. Das ist bloßer Gehorsam. Ich schrieb dieses Buch für Frauen[1], die es leid sind, »gut« zu sein. Ich schrieb dieses Buch für Frauen, die bereit sind, sich zu befreien.

Wenn du in diesem Augenblick mir gegenüber auf meiner Therapiecouch sitzen würdest, könnten wir uns augenrollend daran erinnern, wie dir bis zum Überdruss erzählt wurde, dass Perfektionistinnen sich selbst befreien können, indem sie sich ihren Perfektionismus abgewöhnen. Ich sage dir gleich, dass das nie funktionieren wird.

Tausendmal »Ich werde keine Perfektionistin mehr sein« auf eine imaginäre Schultafel zu schreiben, ist eine totale Zeitverschwendung. Wie kannst du dich also befreien oder auch nur ansatzweise verstehen, wie Freiheit für dich aussieht? Der erste Schritt ist Ehrlichkeit dir selbst gegenüber.

Du gestehst dir ein, dass du mit einem durchschnittlichen Leben nie zufrieden wärst. Du sehnst dich danach zu brillieren, und das weißt du. Du gibst zu, dass du aufblühst, wenn du unter Druck stehst – du brauchst eine Herausforderung, sonst droht deine Langeweile in eine depressive Verstimmung umzuschlagen. Und du hörst auf, dich klein zu machen und deine Talente zu verleugnen – du wurdest geboren, um dein Licht leuchten zu lassen, und das spürst du.

Bis jetzt hast du deine perfektionistischen Tendenzen unterdrückt, weil Perfektionismus in unserer Gesellschaft sehr verzerrt und einseitig dargestellt wird. Das Negative an ihm (das durchaus existiert, aber keineswegs alles ist) wird betont, um aufzuzeigen, dass er schlecht und folglich ungesund ist, also kuriert werden muss.

Interessanterweise (sprich: wie vorauszusehen) richtet sich der Druck, den eigenen Perfektionismus zu zügeln und »vollkommen unvollkommen« zu sein, direkt gegen Frauen. Hast du je gehört, dass ein Mann sich als »genesenden Perfektionisten« bezeichnete? Wenn Steve Jobs oder Gordon Ramsay oder James Cameron Perfektion fordern, werden sie als Genies auf ihrem jeweiligen Gebiet gepriesen. Wo sind die gefeierten Perfektionistinnen?

Du könntest einwenden, dass Martha Stewart auf ihren Perfektionismus ein Imperium aufbaute und vielleicht die meistgefeierte Perfektionistin unserer Zeit ist, aber bedenke, worauf ihr Unternehmen Martha Stewart Living Omnimedia spezialisiert ist: schnelle Brunch-Rezepte, alles rund um die Freizeitunterhaltung, knallbunte Farbpaletten, Hochzeiten.

Das sind klassische Interessensgebiete von Hausfrauen. Martha Stewart trägt ihren Perfektionismus unter tosendem Beifall zur Schau. Sie bekommt nicht zu hören, sie solle »ausgeglichener« werden (also ihren Ehrgeiz zügeln), denn ihre Interessen bleiben in dem Bereich, in dem Frauen öffentlich Ehrgeiz zeigen dürfen. Nichts davon ist Zufall.

Ein Grund für das Bestreben, Perfektionismus bei Frauen auszubremsen, ist, dass Perfektionismus eine mächtige Energie ist. Wie jede Art von Macht (die Macht des Geldes, der Sprache, der Schönheit, der Liebe etc.) kann Perfektionismus dein Leben zerstören, wenn du ihn nicht richtig einzusetzen verstehst. Perfektionismus ist großartig, wenn er uns dient, und schrecklich, wenn er uns beherrscht. Lass uns auch in diesem Punkt ehrlich sein.

Können wir es einfach aussprechen?

Wir wissen beide, dass dein Perfektionismus dich in der Vergangenheit in allen Lebensbereichen gequält hat: in Liebesdingen, auf künstlerischem Gebiet, körperlich und geistig. Weil du ihn nicht als eine Stärke und eine Gabe verstanden hast. Du hast ihn nicht geschätzt, sondern versucht, ihn zu verleugnen. Und du hast ihn auf ein Streben nach Ordnung, Sauberkeit und Pünktlichkeit reduziert, obwohl echter Perfektionismus wenig mit all dem zu tun hat. Je mehr du deinen Perfektionismus weggeschoben hast, desto stärker drängte er zurück. Du hast versucht, ihn loszuwerden, aber das kannst du gar nicht, weil er Teil deiner Persönlichkeit ist.

Zu deinem Glück lassen die tiefsten und stärksten Teile deiner Persönlichkeit dich nie im Stich. Was du auch getan hast, um die mächtige Energie in dir, mit der du nichts anzufangen wusstest, zu betäuben, herunterzuspielen oder zu unterdrücken, ich tat es auch. Das macht nichts. Nichts davon hat funktioniert. Glücklicherweise ist dein Perfektionismus immer noch da, und nun hast du eine echte Lösung für dein Problem.

Dein Problem ist nicht, dass du eine Perfektionistin bist. Einige der humorvollsten, außergewöhnlichsten, glücklichsten Menschen der Welt sind perfektionistisch. Dein Problem ist, dass du nicht ganz du selbst bist.

Frauen erhalten Tag für Tag Ratschläge, was sie tun sollten, um weniger so zu sein, wie sie sind. Um weniger zu wiegen, weniger zu wollen, weniger emotional zu sein, weniger oft Ja zu sagen und auf jeden Fall weniger perfektionistisch zu sein. In diesem Buch geht es darum, wie du mehr von dem bekommst, was du willst, indem du mehr so bist, wie du bist.

Ich habe in meiner Praxis in New York City jahrelang mit perfektionistischen Menschen gearbeitet. Dieses Buch basiert auf dieser Arbeit sowie auf meiner klinischen Erfahrung in ganz unterschiedlichen Bereichen. Ich arbeitete unter anderem als Therapeutin bei Google, in der stationären Behandlung von psychisch Erkrankten und als Beraterin in einem Rehabilitationszentrum für Suchtkranke.

Schon lange erforsche ich mit brennendem Interesse, womit wir zu kämpfen haben, wie wir wachsen und gedeihen. Ich machte meinen Bachelor in Psychologie an der University of California in Berkeley, bevor ich mein Studium und meine klinische Ausbildung an der Columbia University abschloss. Nach einer postgradualen Weiterbildung an der Association for Spirituality and Psychotherapy in New York City legte ich meine Lizenz-Prüfung ab. Bei meiner Forschungsarbeit am Institute of Human Development und im Hammen Lab der University of California in Los Angeles ergaben sich Fragen, mit denen ich mich in den letzten zwanzig Jahren beschäftigt habe. Weil es mich nach wie vor brennend interessiert, wie Menschen sich miteinander verbinden, werde ich immer mehr Fragen als Antworten haben. Meine Absicht beim Schreiben dieses Buches war, es mit den Antworten zu füllen, die ich bisher gefunden habe.

Eine Frage, die ich mir lange gestellt habe, lautet: Was meinen Menschen damit, wenn sie sagen »Ich bin perfektionistisch«?

Die umgangssprachliche Definition von Perfektionismus lautet: Perfektionistische Menschen wollen, dass immer alles perfekt ist, und regen sich auf, wenn etwas nicht perfekt ist.

So einfach ist es nicht.

Wenn Menschen sagen, dass sie perfektionistisch sind, meinen sie damit nicht, dass sie erwarten, dass sie selbst perfekt sind, dass andere perfekt sind, dass das Wetter perfekt ist und dass alles, was sich im Leben ereignet, perfekt ist.

Perfektionistinnen sind intelligente Menschen, die sehr wohl wissen, dass nicht immer alles perfekt laufen kann. Doch manchmal fällt es ihnen schwer zu verstehen, warum sie trotz dieses Wissens so enttäuscht sind, wenn etwas nicht perfekt ist. Manchmal fragen sie sich, warum sie sich dazu getrieben fühlen, unaufhörlich nach etwas zu streben. Manchmal ist ihnen nicht einmal klar, wonach sie überhaupt streben. Oft fragen sie sich, warum sie es nicht »wie normale Menschen« einfach genießen können, sich zu entspannen. Sie wollen wissen, wer sie eigentlich sind, unabhängig von dem, was sie leisten.

Jeder Mensch wird irgendwann mit solchen existenziellen Fragen konfrontiert. Doch Perfektionistinnen denken ständig über sie nach.

Ich habe fünf Typen von Perfektionistinnen identifiziert. Indem du herausfindest, welcher Typ du bist, entdeckst du deine Talente und kannst sie entfalten. Du wirst dein intensives Streben nach Bestleistungen besser verstehen und aufhören, deine Willenskraft mit krampfhaften Versuchen zu vergeuden, dir deinen Perfektionismus abzugewöhnen. Und dann kannst du all die dadurch freigesetzte Energie in den Dienst deines authentischen Selbst stellen.

In der ersten Hälfte dieses Buches zerlege ich den Perfektionismus in seine Bestandteile, damit du sie besser verstehst. In Kapitel 1 stelle ich dir die fünf Typen von Perfektionistinnen vor. In Kapitel 2 mache ich dich mit dem adaptiven Perfektionismus vertraut, einer vorteilhaften Form des Perfektionismus, die unter Forschenden gut bekannt ist, aber in der Welt der kommerziellen Wellness kaum thematisiert wird. In Kapitel 3 untersuche ich den Perfektionismus aus einer feministischen Perspektive. In Kapitel 4 zeige ich den Unterschied zwischen Kontrolle und Stärke auf und lege die tieferen Ebenen des Perfektionismus frei, um dein Verständnis von ihm zu vertiefen, sodass du auch erkennst, wann er gesund ist und wann nicht.

In der zweiten Hälfte dieses Buches zeige ich dir, wie du deinen Perfektionismus so umstrukturieren kannst, dass er dir nutzt und nicht schadet. In Kapitel 5 erfährst du, was der größte Fehler ist, den Perfektionistinnen machen. Und in Kapitel 6 lernst du, wie du diesen Fehler vermeiden kannst. In Kapitel 7 geht es um zehn wichtige Perspektivenwechsel, die dir zu einer gesunden Lebenseinstellung verhelfen. Kapitel 8 präsentiert dir acht Verhaltensstrategien, die Perfektionistinnen jedes Typs anwenden können, um erzielte Fortschritte zu festigen und ein langfristiges Wachstum einzuleiten. Das letzte Kapitel beantwortet schließlich eine Frage, der sich jeder perfektionistische Mensch stellen muss: Ich weiß, dass ich eigentlich die Freiheit habe, zu tun, was ich will, warum fühle ich mich dann trotzdem gefangen?

Letztendlich erklärt dir dieses Buch, wie du den allerbesten Handel deines Lebens machen kannst, indem du oberflächliche Kontrolle gegen echte Stärke eintauschst.

Wenn du nach einem Buch suchst, das dir hilft, mit den Teilen von dir, die zerbrochen sind, umgehen zu lernen, dann musst du deine Reise woanders fortsetzen. Dieses Buch untersucht die Möglichkeit, dass mit dir alles in Ordnung ist (auch wenn du gewisse selbstzerstörerische Angewohnheiten hast, mit denen wir uns in Kapitel 5 beschäftigen).

Ich weiß aus Erfahrung, dass kaum jemand diesen Satz in der Therapie gerne hört. Abgesehen von narzisstischen Persönlichkeiten macht kein Mensch eine Therapie, um zu hören, dass er in Ordnung, gut, ja sogar außergewöhnlich ist.

Die meisten Leute hegen insgeheim den Verdacht, dass es sogar schlechter um sie steht, als ihnen bewusst ist. Ich habe etwas Schlimmes, befürchten sie und entschließen sich zu einer Therapie, weil sie bereit sind zu hören, wie schlimm es wirklich ist. Im Grunde wollen sie bei einer professionellen Beratung in klinischem Fachjargon erfahren, wie kaputt sie sind. Sie möchten auch, dass jemand ihnen hilft, mit all ihren komplexen psychischen Defekten in der Welt zurechtzukommen.

Nein.

Wer seine Energie in eine pathologisierte Version von sich selbst investiert, verschwendet sie völlig unnötig. Das ist auch eine Ausflucht, um Heilung zu vermeiden. Dafür bin ich nicht da. Ich will den Schwerpunkt des Gesprächs verlagern – von Schwäche auf Stärke, von »Korrekturbedürftigkeit« auf Verbundenheit, von der Pathologie auf die Phänomenologie, von Angst auf Neugierde, vom bloßen Reagieren auf proaktives Handeln, von der Ausmerzung auf die Integration, von der Behandlung auf die Heilung.

Perfektionismus muss kein Kampf sein. Du musst nicht aufhören, perfektionistisch zu sein, um gesund zu sein.

Wenn du an irgendeinem Punkt zu der Vorstellung zurückkehren möchtest, dass du »korrekturbedürftig« bist und nicht das Bedürfnis hast, gesehen zu werden, dann hör auf zu lesen. Wir alle schwanken in unserer Bereitschaft, unsere Stärke zu zeigen – das darfst du auch. Es ist in Ordnung, mehr Zeit zu brauchen oder gar nicht wachsen zu wollen. Aber jedes Wachstum abzulehnen, käme für dich nicht infrage.

Du bist perfektionistisch. Du wirst dein Verlangen, weiterzukommen, niemals abstellen können. Du wirst nicht anders können, als deine Grenzen auszutesten und neue Herausforderungen zu suchen.

Da ist noch eine andere Frage, der ich jahrelang nachging: Was ist, wenn dein Perfektionismus da ist, um dir zu helfen?

Manche Talente fühlen sich an wie eine Last, bis man versteht, wie sie einem dienen können. Ich möchte dir zeigen, dass dein Perfektionismus ein Geschenk an dich ist und dass du ein Geschenk an die Welt bist.

[1] Mit Frauen sind hier und im ganzen Buch Menschen gemeint, die sich manchmal oder immer mit Frauen identifizieren, sowie all jene, die von anderen Menschen als Frauen wahrgenommen werden.

Quiz Welcher Typ von Perfektionistin bist du?

Kreise nach jeder der nachfolgenden Fragen den Buchstaben vor der Antwort ein, die dich am besten beschreibt (also A, B, C, D oder E).

Wenn du alle Fragen beantwortet hast, findest du im Anschluss an das Quiz die Auflösung, die die verschiedenen perfektionistischen Profile beschreibt und dir verrät, welcher Typ von Perfektionistin du bist.

Hattest du je bei der Arbeit einen Wutausbruch – also hast du zum Beispiel herumgebrüllt, auf den Schreibtisch eingeschlagen oder Türen zugeknallt?Ja, wenn ich mit mir oder anderen unzufrieden bin, ist das oft zu erkennen.Noch nie. Ich bin immer beherrscht und hochprofessionell.Nein. Es ist mir wichtig, dass andere mich als einen umgänglichen Menschen wahrnehmen, deshalb bemühe ich mich nach Kräften, Verhaltensweisen zu vermeiden, die auf andere abschreckend wirken können.Nein. Ich will vieles zum Ausdruck bringen, aber ich warte auf den richtigen Augenblick und überlege mir, wie ich es richtig ausdrücken kann.Nein. Ich habe keine Probleme mit der Aggressionsbewältigung, aber manchmal mit der Impulskontrolle. Zum Beispiel kommt es vor, dass ich in einer Besprechung neue Ideen äußere, ohne sie vorher zu durchdenken.Welche der folgenden Situationen würde dich am ehesten irritieren?Wenn du beobachtest, dass die Leute um dich herum nicht das Bestmögliche leisten.Wenn du ohne einen Reiseplan in Urlaub fahren müsstest.Wenn du weißt, dass jemand dich nicht mag.Du hast beschlossen, dein Wohnzimmer zu streichen. Man gibt dir eine Farbwählscheibe mit fünfzig erhältlichen Farben und fordert dich auf, in den nächsten zehn Minuten eine Farbe auszusuchen.Man sagt zu dir, dass du dich im nächsten halben Jahr nur auf ein Ziel konzentrieren sollst. Welche Aussage beschreibt dich am besten?Ich lege an mein Umfeld extrem hohe Maßstäbe an. Es kommt vor, dass ich andere bestrafe, wenn sie meinen Maßstäben nicht gerecht werden.Ich bin zuverlässig, bestens organisiert und liebe es, Dinge zu planen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass andere mich als »angespannt« wahrnehmen.Es frustriert mich, dass ich anderer Leute Meinungen von mir und ihre Gefühle mir gegenüber so wichtig nehme. Ich fühle mich oft unverstanden, weil ich mir möglichst tiefe Verbindungen wünsche.Mich frustriert meine Unentschlossenheit. Ich wünschte, ich könnte es mir gestatten, bei der Verfolgung meiner Ziele etwas impulsiver zu sein.Ich liebe den Motivationsrausch am Beginn eines neuen Projekts – am Anfang fühle ich mich immer unaufhaltbar! Doch es fällt mir schwer, konzentriert zu bleiben, wenn ich von anderen Passionen abgelenkt werde.Wenn jemand dich loben würde, würde er oder sie höchstwahrscheinlich sagen, dass du sehr gut darin bist …… direkt zu sein und das angestrebte Ziel stets im Auge zu behalten.… genau das zu tun, was du angekündigt hast, und zwar genau zum angekündigten Zeitpunkt und genau so, wie man es von dir erwartet.… enge Verbindungen mit anderen Menschen herzustellen.… dich vorzubereiten, kluge Fragen zu stellen und alternative Szenarien zu prüfen.… dir Möglichkeiten vorzustellen, dich inspirieren zu lassen und Ideen zu entwickeln.Welche Aussage beschreibt dich am besten?Mich frustriert die Ineffizienz und mangelnde Zielorientiertheit anderer Leute. Es kümmert mich nicht, ob andere mich mögen, ich will den Job erledigen.Ich finde es etwas ärgerlich, wenn Leute Änderungen am Zeitplan und Ablauf von etwas (einer Besprechung, eines Dinners, eines Urlaubs etc.) vornehmen. Wir sollten fähig sein, einen Plan zu erstellen und uns an ihn zu halten.Ich verwende zu viel Energie darauf, mir Gedanken darüber zu machen, was andere Leute von mir denken.Ich weiß, dass ich viel mehr zu bieten habe (in meinen Beziehungen, bei der Arbeit, in meiner Community etc.), aber bevor ich mein volles Potenzial entfalten kann, muss ich mich erst um ein paar Dinge kümmern.Ich widerstehe immer wieder dem Drang, Dinge zu tun wie Domainnamen für Start-ups zu kaufen, die ich gründen will. Ich habe mehr Ideen, als ich je umsetzen könnte.Ich bekam schon zu hören, dass ich …… gemein, »heftig« oder einschüchternd bin.… nicht spontan genug oder zu unflexibel bin.… zu sehr darauf bedacht bin, anderen zu gefallen.… nicht genug Risiken eingehe und zu unentschlossen bin.… desorganisiert, schusselig oder schlecht darin bin, Verpflichtungen nachzukommen.Es ist für mich von größter Bedeutung …… dass jemand das, was er angekündigt hat, auch wirklich tut, und zwar zur angekündigten Zeit und in der Qualität, die ich erwarte.… dass ich fähig bin, mir und anderen durch Routine, Struktur und Berechenbarkeit Stabilität zu bieten.… wenn ein anderer Mensch sich bemüht zu verstehen, wer ich als Mensch bin und warum mir wichtig ist, was mir wichtig ist.… dass ich möglichst gut vorbereitet und mir meiner Sache wirklich sicher bin, bevor ich neue Gelegenheiten ergreife (ob es um Beziehungen, Jobs oder alltägliche Entscheidungen geht). Ich will mich auf nichts einlassen, solange ich nicht davon überzeugt bin, dass es die richtige Entscheidung ist.… dass ich ein leidenschaftliches Leben führe, in dem ich möglichst viele Gelegenheiten habe, neue Projekte zu realisieren, neue Fähigkeiten zu entwickeln, zu reisen, zu wachsen und Neues zu entdecken.

AUFLÖSUNG (PERFEKTIONISTISCHE PROFILE)

Der Buchstabe, den du am häufigsten eingekreist hast, gibt an, welcher Typ von Perfektionistin du bist.

Extreme Perfektionistinnen sind auf eine selbstverständliche Art direkt und stets darauf fokussiert, ihr Ziel zu erreichen. Ihre Maßstäbe sind sehr hoch und können, wenn sie nicht kritisch überprüft werden, unerfüllbar sein. Unter Umständen bestrafen sie andere und sich selbst dafür, dass sie unerfüllbaren Erwartungen nicht gerecht werden.Klassische Perfektionistinnen sind sehr zuverlässig, konsequent und detailorientiert und bringen Stabilität in ihr Umfeld. Ohne Selbstreflexion fällt es ihnen schwer, mit Spontaneität umzugehen oder sich an eine Änderung der gewohnten Routine anzupassen. Und sie können Schwierigkeiten haben, tiefer gehende Verbindungen mit anderen Menschen einzugehen.Pariserische Perfektionistinnen haben ein intuitives Verständnis für die Macht zwischenmenschlicher Beziehungen und eine ausgeprägte Empathiefähigkeit. Mit »pariserisch« ist eine Mühelosigkeit gemeint. Unreflektiert kann ihr Verlangen, sich mit anderen zu verbinden, in einen toxischen Drang, allen Leuten gefallen zu wollen (People-Pleasing), ausarten.Prokrastinierende Perfektionistinnen sind hervorragend darin, Dinge vorzubereiten, können Möglichkeiten aus einer 360-Grad-Perspektive sehen und haben eine gute Impulskontrolle. Unreflektiert erreichen ihre Vorbereitungsmaßnahmen irgendwann einen Punkt, an dem sie nicht mehr viel bringen. Das führt zu Unentschlossenheit und Untätigkeit.Chaotische Perfektionistinnen überwinden mühelos die mit Neuanfängen verbundenen Ängste. Sie sind fantastische Ideengeberinnen, haben kein Problem mit Spontaneität und sind von Natur aus enthusiastisch. Ohne Selbstreflexion haben sie Mühe, sich auf ihre Ziele zu konzentrieren. Sie verzetteln sich und verausgaben sich dabei so sehr, dass sie schließlich nicht mehr genug Energie haben, um ihren Verpflichtungen nachzukommen.

Anmerkung: Du kannst deine Ergebnisse für die anderen Buchstaben mit einbeziehen, um ein differenzierteres perfektionistisches Profil zu erhalten. Wenn beispielsweise die meisten deiner Antworten dem Typ »pariserische Perfektionistin« entsprachen, aber fast ebenso viele dem Typ »chaotische Perfektionistin«, dann bist du eine pariserische Perfektionistin mit einer starken Neigung zum chaotischen Perfektionismus. Wenn deine Ergebnisse für zwei oder mehr Buchstaben gleich hoch waren, dann hast du jeweils gleich viel von diesen Typen von Perfektionistinnen.

Zusammen mit den ausführlicheren Beschreibungen in diesem Buch – und mit deiner eigenen intuitiven Einschätzung, welcher Typ dich am besten beschreibt – werden deine Antworten dir helfen, dein einzigartiges perfektionistisches Profil zu verstehen und zu schätzen und konstruktiv mit ihm umzugehen.

Von diesem Quiz gibt es auch eine digitale englische Original-Version (siehe unten):

1 Perfektionistische Profile

Die fünf Typen von Perfektionistinnen

Wenn eine innere Situation nicht bewusst gemacht wird, erscheint sie im Außen als Schicksal.

C. G. JUNG

Eine prokrastinierende Perfektionistin hätte große Schwierigkeiten, diesen Satz schreiben, weil er am Anfang eines Buches über den Perfektionismus steht und daher perfekt sein muss (und es gibt keinen besseren ersten Satz als den, den eine prokrastinierende Perfektionistin in ihrem Kopf formuliert, aber nie niederschreibt).

Eine klassische Perfektionistin schreibt den ersten Satz, hasst ihn, versucht zu vergessen, dass er je existierte, wird jedoch unweigerlich noch mindestens acht Jahre lang von ihm verfolgt.

Eine extreme Perfektionistin schreibt den Satz, hasst ihn und lenkt ihre Frustration in Wut über etwas um, das gar nichts mit ihm zu tun hat.

Eine pariserische Perfektionistin tut so, als hätte sie gar nicht gemerkt, dass sie einen ersten Satz geschrieben hat, und sagt mit Unschuldsmiene etwas wie: »Hm, ja, ich habe ihn wohl geschrieben.« Dann hofft sie insgeheim inständig, dass alle den Satz toll finden und deshalb auch sie toll finden.

Eine chaotische Perfektionistin schreibt den ersten Satz und liebt ihn. Dann schreibt sie noch siebzehn weitere, ganz unterschiedliche Versionen des ersten Satzes, die sie auch liebt. Sie könnte unmöglich nur einen auswählen, denn man kann kein Lieblingskind haben, und diese Sätze sind alle ihre Babys.

Eines haben alle gemeinsam: Möglicherweise wissen sie nicht einmal, dass sie Perfektionistinnen sind und auf wie viele Arten ihr Perfektionismus sie ausbremsen oder ihnen zum Aufstieg verhelfen kann, je nachdem, wie sie mit ihm umgehen.

Mit dem eigenen Perfektionismus richtig umzugehen, heißt zunächst einmal, dass man sich den Hauptimpuls, den alle perfektionistischen Menschen reflexartig wahrnehmen, bewusst macht. Wenn man dann erkennt, dass bei etwas noch Luft nach oben ist – hm, das könnte besser sein –, reagiert man bewusst statt unbewusst auf diesen Reflex. Perfektionistische Menschen nehmen den Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit ständig wahr und sind bestrebt, ein hohes Maß an Eigenverantwortung aufrechtzuerhalten. Das führt dazu, dass sie meistens den Drang verspüren, die Kluft zwischen Realität und Ideal selbst zu überbrücken.

Wenn ein perfektionistischer Mensch seine Einstellung nicht hinterfragt, fixiert er sich darauf, Dinge, die verbessert werden könnten, zu perfektionieren (statt sie nur besser zu machen oder zu akzeptieren). Aus diesem Impuls, Dinge zu optimieren, entwickelt sich eine Überzeugung, die sein ganzes Denken beherrscht: »Solange sich daran nichts ändert, kann ich nicht zufrieden sein.«

Perfektionismus ist die unsichtbare Sprache, in der dein Geist denkt. Die von deiner Persönlichkeit abhängige Art von Perfektionismus, die sich in deinem täglichen Leben zeigt, ist nur der Akzent.

In meiner Praxis spezialisierte ich mich auf den Perfektionismus, weil ich die Energie von perfektionistischen Menschen so genieße. Ständig sprengen sie Grenzen und suchen die Herausforderung. Sie scheuen sich nicht, in die Tiefen ihrer Wut oder ihres Verlangens vorzudringen, und sind ewig auf der Suche nach einer Verbindung zu etwas Größerem, nach mehr.

Es ist kühn, zuzugeben, dass man mehr will. Alle perfektionistischen Menschen haben (wenn sie ehrlich sind, und das sind Leute in einer Therapie normalerweise) etwas Verwegenes, das mich magnetisch anzieht.

Meistens arbeite ich mit Frauen, die sich zu präsentieren wissen, die ganz gelassen erscheinen können, wenn sie das wollen, und deren Probleme für andere Menschen nicht sofort erkennbar sind. Das ist eine hochkomplizierte Arbeit, denn wie du vermutlich nur zu gut weißt, kann niemand sein Leid besser verbergen als ein hochfunktionaler Mensch. Ich brauche die ständige Herausforderung, um mich wohlzufühlen, denn wie ich während einer besonders schwierigen Zeit in meinem Leben erkannte, bin ich selbst eine Perfektionistin.

Das Klischeehafte daran stört mich immer noch. Mir war nie klar, wie wichtig mir Kontrolle war, bis ich so viel davon zu verlieren begann. Just in dem Augenblick, in dem es in meinem privaten und beruflichen Leben steil bergauf ging, wurde bei mir Krebs diagnostiziert. Ich verlor ein Kind während der Schwangerschaft und hatte vor der Chemotherapie keine Gelegenheit mehr, meine Eier einfrieren zu lassen. Ich verlor sehr viel Zeit, weil die Krankheit und ihre Behandlung mich völlig in Anspruch nahmen. Ich verlor meine schönen braunen Haare. Ich verlor das Vertrauen in meine gerade erst eingegangene Ehe. Ich verlor berufliche Chancen, auf die ich jahrelang hingearbeitet hatte. Ich verlor die Kontrolle über das Leben, das ich mir mit perfektionistischer Sorgfalt aufgebaut hatte.

Ich war krank, deshalb hätte ich mich natürlich entspannen und nur noch das Nötigste tun sollen. Auf dem Papier machte das alles Sinn. Deshalb versuchte ich es. Ich gab mir wirklich Mühe. Doch es war schrecklich, einfach schrecklich. Ich warf rosarote Badekugeln in meine Wanne, setzte mich hinein und sah zu, wie sie sich sprudelnd auflösten. Ich langweilte mich zu Tode. Ich hätte viel lieber gearbeitet, etwas getan, etwas bewegt. Nicht so viel, dass es meine Genesung gefährdete, nicht um mich abzulenken oder etwas zu kompensieren, sondern weil ich es genieße, mich bei meiner Arbeit und in meinem Privatleben voll einzubringen.

Die Energie, die meine perfektionistischen Klientinnen im Therapieraum versprühten, stand in krassem Gegensatz zu meinem privaten Befinden. Diese Energie war unwiderstehlich und verhieß unbegrenzte Möglichkeiten. Sie war destruktiv und konstruktiv zugleich. Während ich die zunehmenden Unterschiede zwischen mir und meinen Klientinnen wahrnahm, erkannte ich gleichzeitig die Ähnlichkeiten, die die ganze Zeit zwischen uns bestanden hatten.

Ich sah im Perfektionismus die große Kraft und eine Stärke, die ich zurückgewinnen wollte. Jahrelang hatte ich meinen Klientinnen geholfen, diese dynamische Energie zu ihrem Vorteil zu nutzen, ohne genau beschreiben zu können, was ich tat. Jetzt kann ich das. Erst als ich die motivierende Kraft meines eigenen Perfektionismus zu unterdrücken versuchte, wurde mir klar, was ich an ihm hatte.

Ich erkannte noch etwas: Wenn eine Frau wie ich, die ständig ihr Telefon verlegte und Leuten, die im Lebensmittelgeschäft hinter ihr in der Schlange standen, von der großartigen Arbeit der renommierten Sozialwissenschaftlerin Dr. Brené Brown vorschwärmte, eine Perfektionistin sein konnte, dann konnte jeder Mensch perfektionistisch sein, ohne es zu wissen. Was genau bedeutete das?

Ich begann mich intensiv mit dem Perfektionismus zu beschäftigen. Als ich meinen eigenen Perfektionismus untersuchte und mich in die Ergebnisse meiner jahrelangen Arbeit mit perfektionistischen Menschen vertiefte, kristallisierten sich klare Muster heraus – fünf verschiedene Varianten eines Kernkonzepts, die fünf Typen von perfektionistischen Menschen.

Da der Perfektionismus sich auf einem Kontinuum bewegt, können alle perfektionistischen Menschen Aspekte jedes Typs in sich vereinen. Normalerweise ist zwar ein Typ dominant, aber es ist auch möglich, kontextspezifische Erscheinungsformen von Perfektionismus zu erleben. Du kannst zum Beispiel eine chaotische Perfektionistin sein, wenn es um Verabredungen geht, aber eine klassische Perfektionistin in den Ferien. Da ich keine prokrastinierende Perfektionistin bin und mich leicht entscheiden kann, wie ich in das Thema der fünf Typen einsteigen will, beginne ich mit den klassischen Perfektionistinnen.

Die fünf Typen von Perfektionismus

Dienstag, 10.58 Uhr.

Ich öffnete die Tür für meine 11-Uhr-Sitzung. Claire stand im Wartezimmer vor vier leeren Stühlen und beendete eine E-Mail auf ihrem Handy. »Fertig«, sagte sie und sammelte effizient ihre Habseligkeiten ein, um sie in mein Büro mitzunehmen: eine Jacke, zwei Handys, eine Laptop-Tasche, eine unscheinbare Umhängetasche für ihre Stöckelschuhe, eine weniger unscheinbare Prada-Handtasche und zwei große ungesüßte »Iced-Passion«-Tees von Starbucks.

»Wir haben darüber geredet«, sagte ich, als ich das zusätzliche Getränk sah. »Kann ich Ihnen mit Ihren Sachen helfen?«

»Ich hab’s schon«, erwiderte sie und vollführte ein modernes Jonglierkunststück.

Souverän betrat Claire mein Büro. Sie rauschte durch die Tür wie ein aufschwingender roter Samtvorhang bei der Premiere einer Show, pünktlich auf die Minute. Sie hatte etwas Förmliches an sich, was typisch für klassische Perfektionistinnen ist. Mit zweiundzwanzig Jahren hatte sie offiziell ihren Vornamen geändert, weil er ursprünglich kein e am Ende hatte – ein Detail, das sie unerträglich störte. Sie beschrieb es mir folgendermaßen: »Ab der zweiten Klasse starb ich innerlich jedes Mal ein bisschen, wenn ich meinen Namen schrieb. Insgesamt hat mich das sicher zwei Jahre meines Lebens gekostet, aber jetzt ist es erledigt.«

Sie zog ein hochsaugfähiges Erfrischungstuch aus ihrer Handtasche und wischte damit die Wasserperlen seitlich und unten an ihrem durchsichtigen Starbucks-Plastikbecher ab, bevor sie ihn auf den Untersetzer stellte. »Ich finde diese Untersetzer wunderschön. Ich will nicht, dass sie nass werden«, erklärte sie mir (fairerweise sei gesagt, dass die Untersetzer wirklich hübsch waren).

Claire wischte auch den Becher ab, den sie für mich mitgebracht hatte, bevor sie ihn auf meinen Schreibtisch stellte, und sagte: »Ich weiß, dass wir darüber gesprochen haben.« Dann fügte sie im Flüsterton und mit einem kecken Augenzwinkern hinzu: »Aber ich weiß auch, dass Sie den Tee erst trinken werden, wenn ich gegangen bin.« Sie ließ sich auf genau demselben Platz auf der Couch nieder, auf den sie sich jede Woche setzte. Aber das hat nichts mit klassischem Perfektionismus zu tun. Das tun alle.

Doch der Unterschied, ob jemand sein Handy neben sich ablegt oder neben sich hinlegt, hat durchaus etwas mit klassischem Perfektionismus zu tun. Klassische Perfektionistinnen neigen dazu, mit Gegenständen äußerst bedachtsam umzugehen. Wenn sie beispielsweise ihr Handy hinlegen, kann das bedeuten, dass sie dazu beide Hände benutzen und sich dann einen Moment Zeit nehmen, um das Handy noch ein wenig zurechtzurücken. So geben sie ihm einen offiziellen Platz auf der Couch, statt es einfach irgendwo neben sich abzulegen. Dieses Mikroritual, das viele klassische PerfektionistInnen durchführen, sah für mich immer so aus, als würden sie das Handy in ein unsichtbares Bett ohne Decke legen. Es rührte mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich diese Idiosynkrasie beobachtete.

Claire legte ihre beiden Handys neben sich auf die Couch, nur um sie eine halbe Minute später mitten im Satz wieder umzudrehen, weil sie aufleuchteten. Als Claire (»mit einem e«, wie sie zu sagen beliebte) gegangen war, schloss ich die Tür. Mein eisgekühlter Tee war nach der Dreiviertelstunde verwässert, aber noch so erfrischend wie immer.

Klassische Perfektionistinnen

Wie zu erwarten, präsentieren klassische Perfektionistinnen sich mustergültig, und Claire mit einem e war keine Ausnahme. Alles an ihr war so sauber und frisch, als hätte sie all ihre Sachen erst vor wenigen Stunden gekauft und ein brandneues Pop-up-Leben begonnen. Vermutlich machte sie meine Couch sauberer, nur indem sie sich draufsetzte.

Ich hatte auf Pinterest gesehen, dass man eine Handtasche mithilfe einer Fusselrolle mühelos von allen Krümeln, Flusen und dergleichen befreien kann, die sich in ihr angesammelt haben. Ich hatte das nicht ausprobiert, aber ich vermutete, dass es bei Claire keine Krümel und Flusen gab, zumindest nicht in ihrer Handtasche. Aber sie war offen und ehrlich in unseren Gesprächen. Deshalb erfuhr ich von den unsichtbaren Krümeln und Flusen in ihrem Leben, von Problemen, bei denen Pinterest-Tipps leider nicht weiterhelfen.

Nur weil Claire sich mir anvertraute, hatte ich eine Ahnung von dem Aufruhr, der unter der glatten Oberfläche herrschte. Klassische Perfektionistinnen haben viel Selbstdisziplin und sind geschickt darin, sich immer auf die gleiche Weise zu präsentieren. Das macht es schwierig, ihre emotionale Temperatur zu bestimmen. Sind sie begeistert? Wütend? Haben sie den besten Orgasmus ihres Lebens? Wer weiß? Sie sind entweder beherrscht, oder sie lächeln, als würden sie gleich fotografiert. Dieser Engagementstil wird leicht als unauthentisch oder verschlossen interpretiert, aber er ist alles andere als das.

Klassische Perfektionistinnen können von anderen Menschen als unnahbar oder arrogant wahrgenommen werden, aber die Ordnung, die dieser Typ um sich herum schafft, hat etwas mit Respekt zu tun. Er will dadurch keine Mauer aufbauen. Klassischen Perfektionistinnen geht es nicht so sehr darum, andere zu beeindrucken oder sich von ihnen zu distanzieren. Vielmehr versuchen sie, anderen das zu bieten, was sie selbst am meisten schätzen: Struktur, Beständigkeit, Berechenbarkeit, ein Verständnis aller bestehenden Optionen, um eine fundierte Entscheidung treffen zu können, hohe Standards, Objektivität, Klarheit durch Organisation.

Klassische Perfektionistinnen sind das Gegenteil von unauthentisch. Ihr Handeln offenbart mit einer unglaublichen Transparenz ihre besonderen Vorlieben. Sie weisen auch ständig auf ihre perfektionistischen Tendenzen hin (»Hier ist meine vollständige Liste unserer Restaurant-Optionen im Urlaub« oder »Mein Haarschnitt sieht irgendwie immer so aus, als wäre ich gerade beim Friseur gewesen«).

Perfektionistische Menschen dieses Typs sind zuverlässig und berechenbar und machen deutlich, dass sie Unordnung nicht mögen. Zum Beispiel könnte eine klassische Perfektionistin sagen: »Ich trinke nicht gern, weil ich es nicht mag, mich außer Kontrolle zu fühlen.« Sie sind stolz auf ihren Perfektionismus. Er ist ein ich-syntonischer Aspekt des Selbst (den sie mögen), und kein ich-dystonisches Identitätsmerkmal (das ihnen missfällt).

Klassische Perfektionistinnen haben eine solide Arbeitsmoral und eine entsprechende Geduld. Und sie sind ein klein wenig selbstgefällig, was ihren Kontrollstil angeht, aber das kann man ihnen kaum verdenken. (Ich wäre mehr als selbstgefällig, wenn meine Handtasche absolut krümel- und flusenfrei wäre.)

Die Mankos von klassischen Perfektionistinnen bestehen darin, dass sie Schwierigkeiten haben, sich an große oder kleine Planänderungen anzupassen. Und sie neigen dazu, Spontaneität als stressig zu empfinden. Ein durchorganisiertes Leben erlaubt es kaum, neue und unerwartete Freuden zu entdecken. Und stereotype Formen des Umgangs mit der Familie, Freunden, der Arbeit und anderen Dingen – mit wenig Raum für eine organische Weiterentwicklung und wenig Spielraum für Fehler – können diesen Perfektionistinnen jede Chance rauben, auf eine Weise zu wachsen, die nicht geplant oder zielorientiert ist.

Auf der zwischenmenschlichen Ebene kann es anderen Menschen schwerfallen, sich mit klassischen Perfektionistinnen zu verbinden, weil sie diese als unverwundbar wahrnehmen. Wir neigen dazu, äußere Zuverlässigkeit mit innerer Stärke zu assoziieren. Das ist ein Fehler. Klassische Perfektionistinnen sind in ihren dunkelsten Stunden ebenso zuverlässig wie in ihren hellsten. Nur weil sie sich immer zeigen können, heißt das nicht, dass sie unbesiegbar sind oder dass sie sich innerlich stark fühlen.

Auch die systematische Arbeitsweise von klassischen Perfektionistinnen fördert nicht unbedingt Teamgeist, Flexibilität oder Offenheit für äußere Einflüsse – Qualitäten, die uns helfen, Verbindungen aufzubauen. Das Risiko dieses zwischenmenschlichen Stils besteht darin, dass er unbeabsichtigt Beziehungen fördert, die eher oberflächlich und transaktional sind. Was wiederum dazu führen kann, dass klassische Perfektionistinnen sich ausgeschlossen, missverstanden und für alles, was sie tun, zu wenig geschätzt fühlen.

Pariserische Perfektionistinnen

Lauren simste mir zehn Minuten vor unserem vereinbarten Sitzungstermin: »Verspäte mich zehn Minuten, sorry, heute ist ein rabenschwarzer Tag.« Schön, hochgewachsen und klatschnass (weil sie vom Regen überrascht worden war) erschien sie schließlich. Sie sah aus wie eine Barbie-Puppe, die jemand während eines Sturms einfach im Hinterhof hatte liegen lassen. Ich nahm ihr den Mantel ab, und während ich mich umdrehte, um ihn aufzuhängen, begann sie zu weinen und sich gleichzeitig dafür zu entschuldigen.

Wir redeten über eine Besprechung, die sie am Morgen gehabt hatte und die ihrem Empfinden nach katastrophal verlaufen war. Auf meine Nachfrage bestätigte sie mir, dass die Idee, die sie unterbreitet hatte, das Hauptthema der Besprechung gewesen war und dass das Team beschlossen hatte, ihre Arbeit auf einer bevorstehenden Konferenz in den Mittelpunkt zu stellen.

Ich wartete, bis sie ausgeredet hatte, dann sagte ich: »Helfen Sie mir, Ihr Problem zu verstehen.«

Verzweifelt stieß Lauren hervor: »Ich weiß, dass sie mich nicht mag, und das frustriert mich total!«

Ich wusste, dass Lauren ihre direkte Vorgesetzte meinte, die ihre Arbeit zu schätzen schien, nie unhöflich zu ihr war und sogar ihre jüngste Gehaltserhöhung veranlasst hatte – aber die sie anscheinend nicht sonderlich mochte.

Auf einer intellektuellen Ebene verstand Lauren, dass nicht jeder Mensch jeden anderen mag und dass das nichts Persönliches ist. Trotzdem machte es ihr zu schaffen, dass ihre Vorgesetzte kein Interesse daran hatte, außerhalb ihrer transaktionalen beruflichen Beziehung Kontakt mit ihr zu haben. Das ließ Lauren keine Ruhe.

Pariserische Perfektionistinnen wollen vorbehaltlos gemocht werden – ein »Erfolg«, den andere Perfektionistinnen nicht anstreben. Doch der pariserische Typ kann selbst dann, wenn alles andere genau so läuft wie gewünscht, das Gefühl haben, dass alles vergeblich ist, wenn sie sich mit jemandem verbinden will und dabei auf Schwierigkeiten stößt.

Perfektionistinnen dieses Typs geht es unter die Haut, wenn sie von anderen – vermeintlich oder tatsächlich – nicht gemocht werden. Das verdüstert ihre Perspektive und schafft eine verhasste Erfahrung der Selbstinfantilisierung, bei der sie sich fühlen wie ein ungeliebtes Kind, das um Aufmerksamkeit und Anerkennung kämpft.

Wie ich später in diesem Buch noch näher erläutern werde, geht es beim pariserischen Typ von Perfektionismus auf einer oberflächlichen Ebene darum, von anderen gemocht zu werden. Auf einer tieferen Ebene geht es um eine Sehnsucht nach idealen Verbindungen. Der für perfektionistische Menschen typische Drang, etwas zu erreichen und zu glänzen, zeigt sich beim pariserischen Typ im zwischenmenschlichen Bereich. Diese Perfektionistinnen wollen ideale Beziehungen mit ihren Partnern oder Partnerinnen, zu sich selbst, zu ihren Kolleginnen und Kollegen, zu allen Menschen.

Anders als klassische Perfektionistinnen verbergen pariserische Perfektionistinnen ihren Perfektionismus. Sie wollen lässig wirken. Es ist ihnen sehr wichtig, wie gut sie abschneiden und was andere von ihnen denken, doch es ist ihnen peinlich, dass ihnen das so wichtig ist. Das liegt an einer ausgeprägten inneren Unsicherheit, aus der heraus sie sich oft selbst fragen: »Für wen hältst du dich?«

Perfektionistinnen dieses Typs scheuen sich zu offenbaren, wie viel sie investiert haben, denn es beeinflusst sie emotional, wie andere sie wahrnehmen, und sie haben ein starkes Bedürfnis, anderen zu gefallen, ob sie das zugeben oder nicht. Wenn sie zum Beispiel eine Firma gründen wollen, werden sie viele Schritte in diese Richtung unternehmen, ohne irgendwem auch nur andeutungsweise zu verraten, was sie tun. Was ist, wenn sie auf die Nase fallen? Warum das Risiko eingehen, anderen von den eigenen Träumen zu erzählen, solange nicht sicher ist, ob sie wahr werden?

Aus denselben Selbstschutz-Gründen wollen pariserische Perfektionistinnen keinesfalls allzu bemüht wirken. Nach außen hin scheinen sie im Einklang mit ihren eigenen Werten und Zielen zu leben, ohne etwas darauf zu geben, was andere denken. Aber insgeheim warten sie immer und überall auf Beifall – sie wollen Lacher auf der Party, Likes für ihren Feed und Komplimente für ihre Arbeit.

Sie bekennen sich zwar zu ihren Unvollkommenheiten, aber indem sie mit ihnen kokettieren (so fühlen sie sich dabei nicht verletzlich). Dieser Typ von Perfektionismus wird »pariserisch« genannt, weil er an die Art französischer Frauen erinnert, mühelos schön zu wirken (doch hinter den Kulissen tun sie sehr viel mehr für diese Außenwirkung, als sie zugeben würden, denn das soll niemand wissen). Pariserische Perfektionistinnen versuchen ganz bewusst die Botschaft zu vermitteln: »Ich gebe mir keine allzu große Mühe, weil ich eure Anerkennung nicht brauche und weil es mir egal ist, ob ihr mich mögt.« Der Subtext dieser Botschaft lautet: »Ihr könnt mich nicht verletzen.« Doch nichts an dieser externen Botschaft stimmt.

Pariserische Perfektionistinnen investieren viel emotionale Energie in alles, was sie tun. Und sie wollen für diese Investition eine entsprechende emotionale Rendite (d. h. Bestätigung und Verbundenheit). Wenn sie die nicht erhalten, können sie verletzt und wütend zurückbleiben.

Tatsächlich schlägt ihre Strategie meistens fehl. Sie werden oft verletzt, denn wenn sie mit ihrem Perfektionismus noch nicht umzugehen wissen, können sie oft nicht artikulieren, was sie brauchen oder wollen, während sie andere Menschen dazu zu bringen versuchen, sie vorbehaltlos zu mögen, indem sie sich lässig und pflegeleicht geben.

Interessant ist, dass ihre Abwehr von Geringschätzung oft unbewusst ist, sodass es sie völlig überraschen kann, wie sehr es sie ärgert, wenn andere Menschen sie nicht so wahrnehmen, wie sie es sich wünschen. Unter Umständen reagieren sie darauf folgendermaßen: »Warum mache ich mir immer noch Gedanken darüber? Es interessiert mich doch nicht einmal.«

Selbst (vielleicht gerade dann) wenn pariserische Perfektionistinnen es am wenigsten wollen, sind sie von einem Verlangen getrieben, sich auf eine tiefer gehende Weise mit anderen Menschen zu verbinden.

Weil zwischenmenschliche Verbundenheit für Perfektionistinnen dieses Typs von größter Bedeutung ist, sind sie wirklich herzliche Menschen, die möchten, dass jeder Mensch, dem sie begegnen, sich einbezogen und verbunden fühlt. Zum Beispiel geben sie sich auf einer Party besondere Mühe, jemanden, der alleine herumsteht, einzubinden. Anders als klassische Perfektionistinnen, die oft ungewollt etwas Distanziertes und Überhebliches ausstrahlen, signalisieren pariserische Perfektionistinnen durch ihr Verhalten, dass sie eine große Vielfalt von tiefer gehenden Beziehungen in ihrem Leben begrüßen.

Sie sind kontaktfreudig, tolerant und unvoreingenommen. Und sie sind nicht aufzuhalten, wenn sie lernen zu artikulieren, wie viel ihnen an anderen liegt, und Grenzen zu setzen, wenn sie sich den Menschen, Orten und Dingen zuwenden, die ihrem Wunsch nach Verbundenheit entgegenkommen.

Prokrastinierende Perfektionistinnen

Layla war smart, freundlich, begabt, getrieben und selbstbewusst. Sie suchte mich auf, weil sie sich nicht dazu durchringen konnte, einen verhassten Job aufzugeben.

Sie plante ihren Abschied von dieser Arbeit umfassend. Sie sparte Geld. Sie las jedes Buch über berufliche Veränderungen, das sie fand. Sie entdeckte viele andere Berufswege, von denen sie sich vorstellen konnte, sie einzuschlagen. Aus ihr unklaren Gründen nahm sie auch regelmäßig an Networking-Veranstaltungen teil, die ihr nichts brachten.

Ich konnte mir bildlich vorstellen, wie sie lächelnd und wartend in einer schrecklichen Sportbar im Stadtzentrum stand, umgeben von zu vielen Fernsehbildschirmen und mit einem Namensaufkleber auf der Brust, auf dem, mit blauem Filzstift geschrieben, »Layla« stand. Vor sich ein Styropor-Tablett mit warmen Cheddar-Würfeln und eine aufgerissene, halbvolle Tüte Ritz-Cracker. Was für eine Verschwendung der Energie dieser brillanten Frau.

Das Schlimmste daran war, dass sie wusste, dass sie ihre Zeit vergeudete. Ihr war vollauf bewusst, dass sie alles Nötige getan hatte, außer ein Datum für ihren Weggang zu bestimmen. Das konnte sie nicht, weil sie noch nicht den perfekten Start ihrer neuen beruflichen Laufbahn organisieren konnte. Erst musste sie alle offenen Probleme bei ihren laufenden Projekten lösen und ein Angebot für ihren neuen Traumjob annehmen. Und zwischen den Jobs brauchte sie eine Übergangszeit von vier bis sechs Wochen, um auszuspannen. So vergingen zwei Jahre, bis sie mich per E-Mail um einen Termin für ein erstes Gespräch bat.

Prokrastinierende Perfektionistinnen warten auf die perfekten Bedingungen, bevor sie etwas in Angriff nehmen. Durch ihr fortwährendes Zögern leben sie mit der Leere, die in einem entsteht, wenn man das, was man am liebsten tun will, nicht tut.

Selbst wenn prokrastinierende Perfektionistinnen fähig sind, etwas in Gang zu bringen, kann es ihnen schwerfallen, es in Gang zu halten, denn dazu gehört, dass sie immer wieder aufs Neue aktiv werden. Um kurzfristige Ziele zu erreichen, können Perfektionistinnen dieses Typs zwar leicht kleinere Projekte beginnen und durchziehen, doch oft lassen sie Gelegenheiten verstreichen, die ein längeres Engagement erfordern, denn wer sich auf einen längeren Prozess einlässt, muss zwischendurch mehrmals aufhören und wieder anfangen.

Ob es darum geht, eine Beziehung einzugehen oder zu heiraten, einem Sportverein beizutreten, eine neue berufliche Laufbahn einzuschlagen, eine ehrenamtliche Tätigkeit aufzunehmen oder die Reise nach Portland zu machen, die man schon lange machen wollte – der Spaß an der Aufgabe, die vermieden wird, ist unwichtig, was ich hochinteressant finde.

Die Verhaltensblockade ist immer dieselbe, denn das Problem besteht nicht darin, das Ziel zu erreichen, sondern darin, das Vorhaben in Angriff zu nehmen und immer wieder zu ihm zurückzukehren – und dabei zu akzeptieren, dass nicht alles perfekt laufen kann. Für prokrastinierende Perfektionistinnen kann es ebenso lähmend sein, einen Termin für eine Dinnerparty festzulegen wie eine Kündigung einzureichen, um sich beruflich zu verändern.

Das Problem besteht für sie darin, dass das In-Gang-Setzen eines Prozesses ihn quasi verdirbt – denn nun, da er wirklich stattfindet, kann er nicht mehr perfekt sein. Wenn für Perfektionistinnen dieses Typs etwas perfekt ist, dann existiert es nur in der Erinnerung oder in einer Zukunftsvision.

Layla steckte dermaßen in ihrer Unentschlossenheit fest, dass sie sich für gar nichts entschied (was bedeutete, dass sie sich indirekt dafür entschied, weiterhin die nervtötende Arbeit zu verrichten, die sie hasste). Sie lebte ihr Leben passiv statt aktiv. Und am meisten schmerzte Layla daran, dass sie ihre Misere als selbstverursacht empfand. Je größer die Selbstbewusstheit von prokrastinierenden Perfektionistinnen ist, desto enttäuschter sind sie von sich selbst.

Bis man versteht, wie man sich seinen Perfektionismus zunutze machen kann, ist es frustrierend, ein perfektionistischer Mensch dieses Typs zu sein. Anders als pariserische Perfektionistinnen, die eine innere Stimme höhnisch fragen hören »Für wen hältst du dich?« und die es anfangs peinlich finden, diese Frage mit Stolz zu beantworten, haben prokrastinierende Perfektionistinnen kein Problem damit, diese Frage mit einer Aufzählung von positiven (und zutreffenden) Eigenschaften zu beantworten: »Ich bin klug, witzig, talentiert, tüchtig – und sehr kreativ!«

Prokrastinierenden Perfektionistinnen mangelt es nicht an Selbstsicherheit. Sie sind sich ihrer Talente durchaus bewusst – schmerzlich bewusst, denn sie wissen zwar, dass sie etwas haben, das sie teilen wollen (romantische Liebe, ein Talent, eine neue Idee etc.), fühlen sich aber noch nicht bereit, es zu teilen. Sie sehen, wie andere Leute, von denen sie glauben, dass sie nicht so viel zu bieten haben wie sie selbst, berufliche oder private Erfolge erzielen und an ihnen vorbeiziehen. Das versetzt ihnen jedes Mal einen Stich.

Es ist eine Sache, zu sehen, dass ein anderer Mensch etwas erreicht, von dem man glaubt, dass man selbst es nie erreichen könnte. Dann empfindet man Ehrfurcht. Doch was ist, wenn man andere Leute etwas tun sieht, von dem man weiß, dass man es auch kann, und zwar gut? Womöglich tun sie sogar genau das, was man selbst am liebsten tun würde. Dann wird die Ehrfurcht von einer Mischung aus Defätismus und Ressentiments in den Hintergrund gedrängt.

Frustriert von ihrer eigenen Lähmung nehmen prokrastinierende Perfektionistinnen an, dass sie fähig wären, das Vorhaben durchzuziehen, wenn sie mehr Energie oder Disziplin hätten. Aber dem ist nicht so. Sie haben viel Disziplin und sind keineswegs faul. Was ihnen fehlt, ist Akzeptanz. Sie müssen akzeptieren lernen, dass die Gegenwart die einzige Zeit ist, in der man ein Vorhaben in Angriff nimmt, und dass das bedeutet, dass sie etwas, was in ihrem Kopf perfekt ist, in der wirklichen Welt umsetzen, wo es sich zwangsläufig verändert.

Prokrastinierende Perfektionistinnen empfinden ein Gefühl des Verlusts bei der Vorstellung, einen Plan in die Tat umzusetzen. Einen Verlust zu vermeiden, ist vielleicht der natürlichste emotionale Reflex überhaupt, deshalb ist die Gewohnheit, Dinge aufzuschieben, bei diesem Typ so stark ausgeprägt.

Wenn prokrastinierende Perfektionistinnen den drohenden Verlust auf einer unbewussten Ebene empfinden, meinen sie fälschlicherweise, es läge an mangelnder Lust, dass sie es vermeiden, ihr Vorhaben in Angriff zu nehmen: Ich will es wohl nicht wirklich, sonst hätte ich es inzwischen getan.

Je öfter Perfektionistinnen dieses Typs sich sagen, dass sie undiszipliniert, nicht motiviert genug, faul etc. sind, desto mehr glauben sie das. So beginnt ein Teufelskreis falscher Identität, den sie anscheinend nicht durchbrechen können.

Prokrastinierende Perfektionistinnen, die mit ihrem Perfektionismus nicht umzugehen wissen, entwickeln mit der Zeit einen Hass auf sich selbst. Sie werden nicht nur sehr selbstkritisch, sondern auch sehr kritisch gegenüber anderen und ziehen über Leute her, die nicht die gleichen hinderlichen Tendenzen haben wie sie. Prokrastinierende Perfektionistinnen könnten öffentlich oder im privaten Kreis erklären, auf welche Arten sie dies oder das viel besser hätten machen können – die Party schmeißen, das Buch schreiben, das Haus bauen, die Konferenz organisieren, die Mahlzeit kochen etc. Und sie könnten durchaus recht haben. Wahrscheinlich hätten sie es tatsächlich besser machen können, wenn sie es versucht hätten, aber sie gestatteten es sich nicht, einen Versuch zu riskieren. Das quält sie.

Anders als klassische Perfektionistinnen, die ihren Perfektionismus mögen, und pariserische Perfektionistinnen, die bereit sind, Fehlschläge zu riskieren, dabei aber heftige Schwankungen ihres Selbstwertgefühls durchmachen, haben prokrastinierende Perfektionistinnen nichts vorzuweisen, weil sie ihre Vorhaben nicht in die Tat umsetzen. Ist das Salz auf die Wunde? Was Perfektionistinnen dieses Typs am meisten ärgert, sind Anspielungen auf genau die Gelegenheiten, bei denen sie selbst glänzen könnten, wenn sie es nur versuchen würden.

Wenn sie sich den befürchteten Verlust bewusst machen, der sie zögern lässt, Unterstützung annehmen und aufhören, ihre Energie mit Kritik an Menschen zu vergeuden, die ihr Glück versuchen, sind sie absolut stark. Während sie lernen, aktiv zu werden, statt passiv zu bleiben, erlangen sie Zugang zu einer inneren Kraft, an die sie bisher nicht herankamen. Was dann geschieht, ist erstaunlich.

Das Erfreulichste an der Arbeit mit Perfektionistinnen dieses Typs ist für mich, wenn ich miterlebe, wie sie zwei wichtige Lektionen lernen – als hätten sie gleich zwei Rubbellose mit Gewinn gezogen, die darauf warten, von allen prokrastinierenden Perfektionistinnen dieser Welt freigekratzt zu werden:

Man braucht nicht nur Talent, um es weit zu bringen, sondern auch Ausdauer.Veränderung ist immer mit Verlust verbunden, aber sich nicht zu verändern, bedeutet einen viel tieferen Verlust.

Wenn diese beiden Erkenntnisse das Herz und den Geist von prokrastinierenden Perfektionistinnen durchdringen, wird die innere Blockade, die sie aufhielt, gelöst. Nummer eins ist motivierend. Nummer zwei ist befreiend. Es ist eine Freude, einen begabten Menschen, der befreit und motiviert ist, in seinem Umfeld zu haben. Es ist auch eine Freude, selbst dieser Mensch zu sein.

Chaotische Perfektionistinnen

Ich gebe in einer Therapie selten »Hausaufgaben« auf. Das ist nicht mein Stil. Aber Pei-Han war eine Ausnahme. Ich forderte sie auf, drei Monate lang keine Dokumentarfilme mehr zu schauen.

»Was meinen Sie damit, welche Art von Dokus?«, fragte sie.

»Alle Arten, also gar keine Dokus mehr«, flehte ich sie geradezu an.

Pei-Han war eine typische chaotische Perfektionistin. Jedes Mal, wenn sie einen Dokumentarfilm über irgendetwas (das Hotelgewerbe, Sushi, Arbeitsmigranten etc.) sah, stürmte sie volle Kraft voraus auf ein neues Ziel zu, zu dem der Film sie inspiriert hatte. Gleichzeitig versuchte sie, die vielen anderen Ziele, die sie erreichen wollte, weiterzuverfolgen – zum Beispiel wollte sie per Online-Kurs eine zertifizierte Yoga-Lehrerin werden, sich beim Brooklyn Arts Council für ein Residenzprogramm bewerben, ihre Wohnung umgestalten, um ein Airbnb-Superhost zu werden … Die Liste war lang.

Pei-Han konnte nichts dagegen tun, dass ihr Gehirn wie ein Feuerwerk aufleuchtete, wenn sie neue Informationen zu einem Thema erhielt, das sie interessierte und emotional ansprach. Es grenzte an eine Manie, wie ihr Kopf geradezu übersprudelte vor Ideen, wie man etwas verbessern, lösen oder schaffen könnte. Es war wirklich erstaunlich, wie viele Möglichkeiten Pei-Han einfielen, noch dazu ganz mühelos.

Chaotische Perfektionistinnen lieben es, etwas zu beginnen. Ganz im Gegensatz zu prokrastinierenden Perfektionistinnen bereitet ihnen nichts mehr Freude als Anfänge. Sie sind optimistisch und beginnen euphorisch, doch sie haben Mühe, die anfängliche Motivation aufrechtzuerhalten, es sei denn, der Prozess fühlt sich bis zum Schluss so spannend und aufregend (also so perfekt) an wie am Anfang. Da das nie der Fall ist, nehmen chaotische Perfektionistinnen, die noch nicht gelernt haben, ihren Perfektionismus zu ihrem Vorteil zu nutzen, jede Menge Projekte in Angriff, um sie dann alle wieder aufzugeben.

Bei meiner Arbeit mit chaotischen Perfektionistinnen bewege ich mich auf einem schmalen Grat. Als »Henker (bzw. Henkerin) der Liebe«, wie der brillante Therapeut Dr. Irvin D. Yalom diese Rolle beschreibt, habe ich die Aufgabe, meinen Klientinnen bedingungslose emotionale Unterstützung zu signalisieren, aber gleichzeitig auch klarzumachen, dass Enthusiasmus allein nicht genügt, um ein Vorhaben zu Ende zu führen. Wenn chaotische Perfektionistinnen sich mit dieser Tatsache nicht auseinandersetzen wollen, kann ich nur mein Bestes tun, um ihren Absturz abzufedern.

Und der Absturz ist unvermeidlich, weil chaotische Perfektionistinnen, die ihren Perfektionismus noch nicht steuern können, bei der enthusiastischen Verfolgung ihrer Träume ignorieren, dass Ressourcen (wie Zeit, Geld, körperliche Energie etc.) natürlich begrenzt sind.

Im Gegensatz zu pariserischen Perfektionistinnen, die geheim halten, welches Vorhaben sie umzusetzen versuchen, bis es so weit gediehen ist, dass sie sich sicher genug fühlen, um anderen ihr Ziel zu verkünden, haben chaotische Perfektionistinnen keine Angst, laut zu sagen, was sie wollen, oft bereits dann, wenn die Idee gerade erst entsteht. Und anders als klassische Perfektionistinnen sind chaotische Perfektionistinnen nicht besonders diszipliniert, was sie jedoch nicht im Mindesten kümmert. Es ist, als hätten sie sich bei der Montessori-Schule für Erwachsene angemeldet – gut für sie, weil sie den meisten Spaß haben!

Sie haben die Instagram-Profile, bei denen im Lebenslauf ein halbes Dutzend vage und ganz unterschiedliche Berufsbezeichnungen stehen: Innendekorateurin, Küchenmeisterin, Fotografin, Autorin, Unternehmerin, Führerin für historische Touren durch die Innenstadt von Boston.

Wie bitte?

Grenzen oder Beschränkungen werden von Perfektionistinnen dieses Typs einfach ignoriert, und die Vorstellung, dass man zwar alles tun kann, aber nicht alles auf einmal, akzeptieren sie nicht. Doch es braucht Konzentration, um etwas zu Ende zu bringen. Man muss weniger wichtige Chancen sausen lassen, um sich auf die wichtigsten Dinge konzentrieren zu können. Nicht alle Dinge können höchste Priorität haben.

Chaotische Perfektionistinnen lehnen Hierarchien ab. Sie sind hartnäckige Romantikerinnen, die sich einreden können, dass man alles auf einmal schaffen kann, solange man sich das zutraut. Sie haben etwas liebenswert Naives und leben in einer Blase, die man fast nicht platzen lassen möchte.

Die Welt braucht chaotische Perfektionistinnen. Sie sind die Champions der unbegrenzten Möglichkeiten. Sie überwinden mühelos die mit Neuanfängen verbundenen Ängste und inspirieren andere Menschen mit ihrem Enthusiasmus und Optimismus. Ohne sie wäre die Welt ein düsterer Ort. Chaotische Perfektionistinnen besitzen wundervolle Gaben, doch sie können keine davon zur vollen Entfaltung bringen, wenn sie nicht lernen, sich auf ausgewählte Projekte und Themen zu konzentrieren.

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass nicht alle chaotischen Perfektionistinnen zu Ende führen wollen, was sie begonnen haben. Manche Menschen lieben es, immer wieder spontan etwas Neues zu beginnen und es ebenso abrupt wieder aufzugeben. Und es gibt bestimmte Jobs und Lebensstile, die perfekt zu diesem Verlangen nach Abwechslung passen.

Außerdem ist die Bezeichnung »chaotisch« etwas irreführend. Chaotische Perfektionistinnen wirken von ihrem Erscheinungsbild und Auftreten her nicht unbedingt chaotisch, und sie verbreiten auch kein wirkliches Chaos um sich herum. Aber sie versuchen so viele Dinge gleichzeitig zu tun, dass sie sich verzetteln.

Chaotische Perfektionistinnen organisieren ihr Leben durchaus, aber auf eine spezielle Art, die nur sie verstehen. Zum Beispiel kann ihr »System« für ein Projekt eine Serie gespeicherter Word-Dokumente umfassen, die für sie absolut Sinn macht, aber für jeden anderen Menschen undurchschaubar bleibt:

»Hunde ausführen Geschäftsplan«

»Hunde ausführen Geschäftsplan 2«

»Hunde ausführen Geschäftsplan – Nach-Thanksgiving-Fassung«

»Hunde ausführen Geschäftsplan – neu«

»Hunde ausführen Geschäftsplan – realistisch«

»Hunde ausführen Geschäftsplan – Endfassung«

»Hunde ausführen Geschäftsplan – diesen öffnen«

Wenn man sich vorstellt, dass chaotische Perfektionistinnen alle Vorhaben, die sie umsetzen wollen, so angehen, erkennt man das Problem.

Ich las irgendwo, dass Leute, die mehr als dreimal heiraten, bei jeder Hochzeit das beruhigende Gefühl haben »Diesmal klappt es, diesmal klappt es wirklich!«. Ich überlegte mir damals, wie schwierig es sein muss, wenn man anfangs voller Optimismus und am Ende total enttäuscht ist. Und das nicht nur einmal, sondern immer wieder. So geht es chaotischen Perfektionistinnen, die nicht mit ihrem Perfektionismus umgehen lernen. Sie werden süchtig nach dem Begeisterungsrausch eines neuen Anfangs, doch schon bald ernüchtert und desillusioniert es sie, wie mühsam und langweilig es sein kann, etwas zu Ende zu bringen.

Chaotische Perfektionistinnen glauben, dass sie alles tun können, ohne je etwas aufgeben zu müssen, dass sie die Menschen sein können, die einen Weg finden, ohne Grenzen zu leben. Wenn ihnen klar wird, dass sie das nicht können, sind sie am Boden zerstört. Wie prokrastinierende Perfektionistinnen erfahren auch chaotische Perfektionistinnen eine Art von Verlust, der mit ihrem Perfektionismus zusammenhängt, nur in einem späteren Stadium des Prozesses. Zudem sind sie nicht fähig, auch nur ein einziges Vorhaben zu Ende zu bringen, weil sie ihre Energie in so viele verschiedene Richtungen verschleudern.

Alle chaotischen Perfektionistinnen kennen nur zu gut das aufreibende Wechselbad der Gefühle, wenn ein Vorhaben enthusiastisch begonnen und dann frustriert aufgegeben wird. Wenn sie nicht lernen, sich ihren Perfektionismus zunutze zu machen, werden sie wie viele prokrastinierende Perfektionistinnen eine falsche negative Identität entwickeln.

Der Absturz aus dem Begeisterungsrausch, den chaotische Perfektionistinnen erleben, wenn sie etwas beginnen, folgt schnell und ist schrecklich. Wir alle haben blinde Flecken, und es schmerzt, mit ihnen konfrontiert zu werden. Doch wenn das einer chaotischen Perfektionistin passiert, dann beweist das für sie, wie »schlecht« sie in vielerlei Hinsicht ist: Sie ist nicht beharrlich genug. Ihre Ideen sind nicht gut genug. Niemand nimmt sie ernst … und so weiter.

In einigen Fällen kann der Absturz zu einer unerwarteten klinischen Depression führen, die in krassem Gegensatz zur sonst so optimistischen und dynamischen Art von chaotischen Perfektionistinnen steht – was für sie selbst und die Menschen, die ihnen am nächsten stehen, sehr beängstigend ist.

Perfektionistinnen dieses Typs erobern die Welt, wenn sie lernen, ihren Enthusiasmus bewusst auf einzelne Vorhaben zu konzentrieren, die sie auf dynamische Art durchführen können. Die Ausnahmeunternehmerin Marie Forleo ist ein gutes Beispiel für eine chaotische Perfektionistin, der das gelingt.

Forleo ist stets mit ganzem Herzen bei der Sache und voller Tatendrang, eine echte Romantikerin, die glaubt, dass sie die Welt verändern kann. Und ihr fallen mehr unglaubliche Möglichkeiten ein, das zu tun, als sie jemals in die Tat umsetzen könnte. Aber sie weiß mit dieser Fülle von Ideen umzugehen. Das offene Geheimnis von Forleos Erfolg ist, dass sie sich selbst beigebracht hat, sich jeweils nur auf eine Sache zu konzentrieren. Und sie hat sich eine professionelle Vorgehensweise angewöhnt, das heißt, sie setzt eine begonnene Arbeit auch dann fort, wenn sie keine Lust dazu hat – und ohne dabei jemals ihre hohen Maßstäbe aufzugeben. Das sind Fähigkeiten, die man erlernen kann.

Extreme Perfektionistinnen

An der Ecke Broadway und Liberty Street in Manhattans Finanzdistrikt steht ein typisches Hochhaus aus den Sechzigerjahren, in dem ich früher ein Büro hatte. Wie in mehreren anderen Gebäuden in der City von New York muss man sich auch in diesem am Empfang in der Lobby ausweisen, um einen Zugangsbadge für die elektronisch überwachten Aufzüge zu erhalten.