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Gut 4000 Jahre in der Zukunft bildet die Erde das Zentrum eines Sternenreiches, das Tausende von Welten umfasst. Überall leben die Menschen in Frieden und Freiheit. Zu den anderen Völkern der Milchstraße und ihren Angehörigen besteht ein freundschaftlicher Austausch. Perry Rhodan hat darüber hinaus eine Vision: Er will die Verbindungen zu anderen Galaxien ausbauen. Mit Raumschiffen des Typs PHOENIX soll ein Kurierschiffsystem zwischen den Sterneninseln entstehen. Der ursprüngliche PHOENIX ist derzeit aber unter dem Kommando von Reginald Bull auf der Suche nach dem Mausbiber Gucky und damit in weiter Ferne unterwegs. Auf der Erde wird durch ein Versehen ein hypermagnetischer Puls ausgelöst, der überall, wo er eintrifft, Reproiden aktiviert – Metallkonstruktionen, die Materie zu Kopien ihrer selbst umwandeln. Nachdem die Gefahr im Solsystem vorläufig eingedämmt worden ist, machen sich Einsatzteams daran, weitere Planeten zu retten. Auf dem Planeten Shoyn gelingt das einem Team um Perry Rhodan. Danach liegen aber mehrere LEBEN IN SCHERBEN ...
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Seitenzahl: 192
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nr. 3354
Leben in Scherben
Eine Frau lüftet zwei Geheimnisse – sie fürchtet nicht nur um ihr eigenes Leben
Marie Erikson
Heinrich Bauer Verlag KG, Hamburg
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
1. Tony: Unter Wasser
2. Zwischenspiel 1
3. Tony: Der bessere Unterschlupf
4. Tony: Der Gleiterfriedhof
5. Tony: Die Kraft des Vertrauens
6. Milk: Sinas Schicksal
7. Zwischenspiel 2
8. Milk: Saurer Milk
9. Tony: Zwei Probleme auf einen Streich
10. Wirna: Kalter Tee und erhitzte Gemüter
11. Tony: Hitze
12. Milk: Zwei Patienten auf einen Streich
13. Tony: Fieber
14. Tony: Zum Wohle des Patienten?
15. Tony: Auf dem Weg der Besserung?
16. Milk: Unstandesgemäße Kundschaft
17. Tony: Familienangelegenheiten
18. Tony: Auf und davon
19. Ausklang
Stellaris 107
Vorwort
»Hochzeitsglocken« von Antares Bottlinger
Leserkontaktseite
Glossar
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Gut 4000 Jahre in der Zukunft bildet die Erde das Zentrum eines Sternenreiches, das Tausende von Welten umfasst. Überall leben die Menschen in Frieden und Freiheit. Zu den anderen Völkern der Milchstraße und ihren Angehörigen besteht ein freundschaftlicher Austausch.
Perry Rhodan hat darüber hinaus eine Vision: Er will die Verbindungen zu anderen Galaxien ausbauen. Mit Raumschiffen des Typs PHOENIX soll ein Kurierschiffsystem zwischen den Sterneninseln entstehen. Der ursprüngliche PHOENIX ist derzeit aber unter dem Kommando von Reginald Bull auf der Suche nach dem Mausbiber Gucky und damit in weiter Ferne unterwegs.
Auf der Erde wird durch ein Versehen ein hypermagnetischer Puls ausgelöst, der überall, wo er eintrifft, Reproiden aktiviert – Metallkonstruktionen, die Materie zu Kopien ihrer selbst umwandeln. Nachdem die Gefahr im Solsystem vorläufig eingedämmt worden ist, machen sich Einsatzteams daran, weitere Planeten zu retten.
Auf dem Planeten Shoyn gelingt das einem Team um Perry Rhodan. Danach liegen aber mehrere LEBEN IN SCHERBEN ...
Antonya Bancroft – Die Tochter des Bürgermeisters verliert ihre Stellung.
Noat – Der Kettenschwinger sucht eine neue Position.
Wirna – Die junge Frau gilt als Geheimwaffe eines Verbrecherrings.
Darren – Der junge Mann erkennt etwas in Antonya, das sie selbst nicht begreift.
Perry Rhodan – Der Terraner berät über eine abwesende Person.
1.
Tony
Unter Wasser
Ein Oktopus schwamm vor Antonya Bancroft entlang. Seine Haut changierte zwischen blau und hellrosa. Er blähte den sackartigen Körper auf, presste ihn wieder zusammen und glitt mit seinen langen Tentakeln auf sie zu. Er spreizte die Arme, sodass sie direkt in seinen Mund auf den Hornschnabel blickte, der zum Zerhacken der Beute diente. Kurz darauf flimmerte das Holo, und das Tier war verschwunden.
Obwohl das Gebäude alt und die Ausstellung nicht mehr ganz funktionstüchtig war, handelte es sich bei dem Holoaquarium um einen der wenigen Orte, an denen sich Tony wohlfühlte. Man konnte Tiere wie in der freien Natur beobachten, ohne dass sie dafür leiden mussten. In dieser Umgebung kam Tony zur Ruhe. Normalerweise.
Aber an diesem Tag war sie gekommen, um die Maleates zur Rede zu stellen.
Und sie mussten jeden Moment eintreffen.
*
Das Holo-Gischt war ursprünglich errichtet worden, um den interessierten Bewohnern Shoyns – und den desinteressierten Schülern – Wesen aus fremden Welten zu zeigen. Riesige Ungetüme, die dort lebten, wo es tiefe, planetenumspannende Ozeane gab und nicht nur flache Binnenmeere wie auf Shoyn.
Schon bei seiner Errichtung hatte es für Aufsehen gesorgt: dicke, aufrecht stehende Röhren, unterschiedlich hoch und so eng an eng, als wären sie aneinandergebunden oder miteinander verschmolzen.
Nach der Eröffnung war das Holoaquarium ein Renner gewesen. Vor allem für erste Dates. Zahlreiche Menschen aller Altersstufen klammerten sich nervös an die Arme der Partner, wenn ein Koloss nur knapp über ihren Köpfen hinwegschwamm und dabei sein Maul aufriss und die spitzen Zähne enthüllte – jeder einzelne eine tödliche Waffe.
Nach und nach verlor das Museum aber seinen Reiz, weil sich die Bewohner sattgesehen hatten. Den Tiefpunkt hatte es erreicht, nachdem das Gerücht aufgekommen war und sich seitdem hartnäckig hielt, die meisten dieser Tiere existierten nirgendwo. Nicht auf Shoyn, nicht auf einem anderen Planeten der Milchstraße.
In der Folge verfiel das Holo-Gischt seitdem langsam. Weder in die Ausstellung noch in die Bausubstanz wurde investiert. Es lohnte sich nicht mehr, sagten die Eigentümer. Also erhielt man den Betrieb aufrecht und wartete dabei im Grunde nur, bis das Gebäude von selbst in sich zusammenbrach und Platz für etwas Neues schaffen würde. Nur, dass das Haus nicht nachgab.
Eine schöne Metapher für die Situation, in der sie selbst steckte, fand Tony.
Ich bin das Oberhaupt der Maleates, rief sie sich ins Gedächtnis. Und genau das werde ich bleiben! Sie würde ebenso wenig nachgeben wie dieses Gebäude.
*
Tony umfing ein Glühen in Blau-, Violett- und Türkistönen, das an das Lichterspiel unter der Wasseroberfläche erinnerte. Fischschwärme, Quallen und anderes Kleingetier glitten durch das holografierte Nass.
Sie hatte sich für jenen Saal entschieden, der die Wasserwelt von Terra zeigte. In diesem Teil der Ausstellung war die Vielfalt der Meereswesen am höchsten, weil der Planet über große und vor allem tiefe Ozeane verfügte. Außerdem funktionierte die Technik noch einigermaßen, und die Projektionen waren nicht ganz so lückenhaft und blass wie in den anderen Bereichen.
Und vielleicht hatte ihre Wahl sogar etwas mit Perry Rhodan zu tun. Rhodan, dessen Heimatplanet Terra war. Rhodan, der ihr angeboten hatte, nach der Explosion des Stützpunktes mit ihm zu kommen.
Sie hatte abgelehnt. Weil ihre Heimat Shoyn blieb. Und die Maleates ihre Familie.
Tony legte den Kopf in den Nacken und sah die Röhre empor. Durch die Bauweise entstand der Eindruck, man stünde auf dem sandigen Grund des Meeres. Weit über ihrem Kopf schwamm ein schwarzes Ungetüm und verdunkelte mit seinem ausladenden Körper für ein paar Sekunden den ganzen Raum. Tony kannte dieses Geschöpf von ihren früheren Besuchen. Das Tier hieß Buckelwal, und normalerweise wurden seine lang gezogenen Gesangslaute eingespielt. Aber wahrscheinlich funktionierte der Ton wieder einmal nicht. Das merkte nun wohl auch die Positronik, denn der Wal verschwand von einer Sekunde auf die andere, als hätte er sich in Luft – oder eben Wasser – aufgelöst.
Ein Schwarm kleinerer, gelb-blauer Fische stob auseinander und lenkte Tonys Aufmerksamkeit wieder auf die Tür. Es begann also. Zum gefühlt hundertsten Mal prüfte sie den Sitz des Helms, den sie trug.
Noch bevor er um die Ecke bog, erkannte Tony am Klirren der Ketten, wer sich ihr näherte. Die Ketten aus großen Metallgliedern waren Noats Markenzeichen. Er trug sie wie einen mehrreihigen Gürtel, jederzeit bereit, sie als Waffen einzusetzen. Im nächsten Moment betrat er mit zwei weiteren Personen den Raum: Darren, dem Techniker, und Wirna, einer jungen Frau mit auffällig langem Hals. Bei der Zusammenstellung der Delegation überraschte sie nur Darren. Dass statt seiner nicht einer der höheren Führungsebene mitgekommen war, verhieß nichts Gutes. Und es machte Tony zornig. Eigentlich war damit das Gespräch bereits beendet, bevor es begonnen hatte.
Wirna und Noat sah man beinahe immer zusammen. Auch wenn Wirna nicht biologisch von Noat abstammte, war er für sie doch das, was einem Vater am nächsten kam. Weshalb er sich in diese Rolle gedrängt hatte, war Tony nie klar geworden. Noat gab sich brutal und gefährlich. Aber Tony wusste, dass körperliche Überlegenheit und Strahler nicht unbedingt die größte Gefahr darstellten. Tony durfte auf keinen Fall ein Anzeichen von Unsicherheit zeigen, sonst hätte sie bereits verloren.
»Gut siehst du heute aus«, sagte Wirna. Sie war sonst eher wortkarg.
Aber Tony hatte damit gerechnet, dass sie etwas zu dem Helm sagen würde, den Tony trug. Das Visier reichte über die ganze vordere Hälfte, war aber von außen vollständig verspiegelt. Dadurch sah Wirna nicht Tonys Gesicht, sondern ihr eigenes als Reflexion.
»Da hast du dir ja ein schönes Plätzchen ausgesucht«, höhnte Noat. Er spannte die Arme an, um seine Muskeln zu präsentieren, die aus der ärmellosen Weste hinausquollen. Dabei pochte eine Ader auf dem kahl geschorenen Kopf.
Er war ein Handlanger, und die Wahrscheinlichkeit, dass er in der Hierarchie der Maleates aufsteigen würde, hatte Tony stets als gering eingestuft. Nachdem sie die Organisation neu ausgerichtet hatte, hatten Schlägertypen wie er zwar nicht ausgedient, aber sie wurden nur noch als letztes Mittel eingesetzt. Tony hatte das Emporkommen jener gefördert, die Probleme mit Konversation und Raffinesse lösten. Und Tony war sich ziemlich sicher, dass Noat beides nicht einmal schreiben konnte.
Natürlich hatte selbst er gemerkt, dass seine Aufträge zurückgingen. Er hatte deshalb den Aufstand geprobt. Und Tony hatte dagegengehalten. Sie hatte ihm ein Abendessen zur Versöhnung vorgeschlagen. Der Eintopf hatte Noat so gut geschmeckt, dass er zweimal um Nachschlag gebeten hatte. Der Bissen war ihm erst im Hals stecken geblieben, nachdem Tony ihm eröffnet hatte, dass das zarte Fleisch von seiner geliebten Dünenhyäne Sandy stammte. Streng genommen handelte es sich selbstverständlich nicht um eine Hyäne, eine auf Terra heimische Tierart, sondern um eine Gattung, die wegen optischer Ähnlichkeiten so genannt wurde. Jede Welt hatte ihre Hyänen ...
Er würde nie herausfinden, dass sie Sandy in Wirklichkeit einer Gruppe Wüstennomaden übergeben hatten, die es artgerecht halten würde. Aber danach war die Machtverteilung zwischen ihnen geklärt gewesen.
Schon zuvor hatte für sie Noats Loyalität den Maleates gegenüber infrage gestanden. Wer nur dabei war, um seine Gewaltexzesse zu rechtfertigen, suchte sich vielleicht bald etwas Neues, wenn es ihm innerhalb der Strukturen zu friedlich wurde.
»Wir hätten uns ebenso gut gemütlich in einem unserer Stützpunkte treffen können«, gab Tony gelassen zurück. »Nur leider habe ich die Zugangsdaten verschusselt.«
Noat grinste. »Mit deinen Daten ist alles in Ordnung. Bis auf die Tatsache, dass sie gesperrt wurden. Nicht wahr, Darren?«
Darren stand rechts hinter Noat. Die langen Haare mit den blonden Locken trug er unordentlich hochgebunden. Dadurch sah sein ohnehin schmales Gesicht noch dünner, die Wangen beinahe eingefallen aus. Der rötliche Bart hatte die Drei-Tages-Grenze überschritten, und Tony erkannte anhand der gezwirbelten Enden, dass Darren viel nachgedacht hatte. Oft hatte sie ihn mit den Fingern im Bart spielen sehen, während er über der Lösung für ein technisches Problem brütete. Darren senkte den Kopf, um keinen von ihnen direkt ansehen zu müssen. Das holografierte Wasser ließ die hellen Haarstränge blau-grün erscheinen.
»Nun«, sagte er zu dem Boden, über den Krebsgetier huschte. »Die primäre Funktion von Zugangsdaten ist, den autorisierten Zugang zu einem geschützten System zu ermöglichen. Sind diese Daten gesperrt, kann weder aus technischer noch aus funktionaler Sicht davon gesprochen werden, dass mit ihnen alles in Ordnung ist.«
»Dem stimme ich zu«, sagte Tony. »Und deshalb macht ihr das sofort rückgängig!«
Noat lachte heiser auf. »Sehen wir aus, als wären wir deshalb gekommen?«
Tony senkte bedrohlich die Stimme. »Ihr tut, was ich sage!«
»Sonst ... was?« Über Noats Kopf tanzten zwei flackernde Seepferdchen. Er schien es nicht zu bemerken. Tony half der Anblick, vor Angst nicht zu verkrampfen.
»Ich bin Ianus. Ihr beiden habt das immer gewusst – im Gegensatz zu vielen anderen. Und du weißt, wozu ich fähig bin.«
Illustration: Dominic Beyeler
»Deine Zeiten als Ianus sind vorbei«, schleuderte Noat ihr entgegen. Er genoss es sichtlich.
Und der Treffer saß.
»Ihr wisst, was passiert ist«, versuchte es Tony mit einer anderen Taktik, »deshalb verstehe ich nicht, warum wir hier stehen und plaudern, wo wir doch ganz andere Probleme haben.«
»Du hast andere Probleme. Die Maleates haben nur eines. Und um das zu beseitigen, sind wir hier.« Noat löste eine der Ketten von seiner Hose. Bedrohlich rasselnd glitt sie zu Boden. Er schlang sich das Ende für einen sicheren Griff einmal um die Faust.
»Ich bin das Oberhaupt der Maleates! Ich sage, wo es langgeht!« Tony war überrascht, wie fest ihre Stimme klang.
»Das warst du.« Wirnas Stimme war so tief und angenehm, dass sie eine gute Vorlage für eine Positronik gewesen wäre. Ihre Augen guckten feindselig unter den Wimpern hervor. »Bis du uns verraten hast.«
Die in Tony aufwallende Wut gab ihr Kraft. »Ich habe die Maleates nicht verraten! Ich habe den Standort eines der Stützpunkte preisgegeben, um ...«
Noat ließ die Kette wie eine Peitsche auf den Boden knallen. »Ganz genau! Du hast den Stützpunkt verraten, und daraufhin wurde er in die Luft gejagt.«
»Polizeispitzel«, zischte Wirna.
»Was? – Nein!« Hilfe suchend wandte sich Tony an Darren.
Von den dreien kannte er sie am besten. Er hatte ihr immer geholfen. Wenigstens er musste doch auf ihrer Seite stehen und wissen, dass sie die Maleates nie verraten hätte. Aber er erwiderte ihren Blick nicht, sondern starrte weiter auf den Boden.
Tonys Kehle zog sich zu. Die Lage war ernster, als sie befürchtet hatte.
»Was ich getan habe, war notwendig, um uns alle zu retten!«
»Es war notwendig, um dich selbst zu retten und mit Mami und Papi wieder heile Familie spielen zu können.« Noat wickelte nun auch die zweite Kette von seiner Hüfte.
»Ihr seid meine Familie!« Es störte sie nicht, dass ihr Tränen in die Augen traten. Die anderen konnten es schließlich nicht sehen. »Ich kenne euch besser als jeden anderen.« Ihr Blick wechselte zwischen Darren und Wirna hin und her. Noat würde sich von ihrer Emotionalität nicht überzeugen lassen. Er war auf das Einzige aus, das ihm Freude bereitete: Gewalt.
Aber über Wirnas Miene huschte etwas. Mitleid? Neugier? Vielleicht sogar Hoffnung? Tony konnte es nicht genau sagen, es war zu schnell vorüber.
Noat ließ die Ketten knapp links und rechts von ihr auf den Boden knallen.
Damit war das Gespräch beendet. Nichts, was sie noch zu sagen hatte, würde gehört werden.
Tony hatte das Gefühl, in Scherben zu zerbrechen. In diesem Moment sackte ihr Fundament, ihre Existenz als Ianus, Oberhaupt der Maleates, unter ihr weg. In ihr wuchs die Erkenntnis einer Endgültigkeit, die ihr eine Zukunft auf Shoyn unmöglich machte. Nur – warum? Warum war nicht wenigstens einer der Stützpunktleiter gekommen um mit ihr zu sprechen? Wie konnte es sein, dass eine einzige Handlung sie zur Persona non grata degradiert hatte?
Sie hatte schon zuvor unangenehme Entscheidungen getroffen und die waren immer akzeptiert worden. Und dieses Mal waren die Gründe für ihr Verhalten offenkundig!
Wäre sie doch mit Perry Rhodan mitgegangen. Das hätte vielleicht ihr Leben gerettet.
*
Tony griff nach ihrem Kombistrahler.
Noat schwang seine Kette. Die schweren Metallglieder trafen Tonys Unterarm mit einer solchen Wucht, dass sie fürchtete, die Knochen würden brechen. Die Kette wickelte sich um ihren Arm bis zum Ellenbogen hinauf. Ein kräftiger Ruck von Noat genügte, dass ihr die Waffe aus der Hand glitt.
Sie packte die Kette und versuchte, sich gegen ihn zu stemmen. Ein ungleiches Tauziehen. Noat war ihr um Längen überlegen. Stück für Stück riss er sie näher an sich heran.
Vor Angst wurden ihre Hände schwitzig. Die Glieder rutschten durch ihre Handflächen. Noat zog unerbittlich. Die Kette straffte sich immer mehr um Tonys Arm und schnitt ihr in die Haut.
Wirna betrachtete das Treiben ungerührt. Als wäre Tony Teil der Ausstellung, ähnlich wie der Rochen, der gerade flügelschlagend über ihnen dahinschwebte. Der rechte Flügel fehlte zur Hälfte. Von Wirna konnte Tony also keine Hilfe erwarten.
Und Darren? Er zog seinen Strahler und richtete ihn auf Tony.
Also war nicht einmal er auf ihrer Seite? Oder wollte er ihr wenigstens ein schnelles, schmerzloses Ende verschaffen, bevor Noat sie in die Finger bekam?
Sie sah noch einmal zu Wirna. Wenn der Ausdruck in ihrem Gesicht vorhin Neugier oder Hoffnung gewesen war, hatte Tony vielleicht doch eine letzte Chance.
»Das Wissen um deine Vergangenheit wird mit mir sterben«, keuchte sie.
Wirnas Augen weiteten sich, aber ihr Blick blieb auf den Rochen gerichtet. Sie machte keine Anstalten, sich zu rühren.
Dann war es also vorbei.
Noat spannte seine Muskeln an. Ein letzter Ruck, bevor er Tony auf Armeslänge an sich herangebracht hätte. Und dann würde er nur noch seine Fäuste sprechen lassen.
In diesem Moment stürzte ein Hai auf ihn zu und riss sein Maul auf.
*
Der Holohai sah so echt aus, dass sogar Tony erschrak.
Auf der glatten, dunklen Haut zeichneten sich Narben ab, und die Projektion war so farbintensiv, im Gegensatz zu jener der anderen Wesen, dass der Meeresräuber plastisch wirkte.
Auch Noat war überrascht und lockerte für einen Moment den Griff. Das genügte Tony, um den Arm endlich aus der Kette zu befreien und sich mit einer Rolle zur Seite zu werfen.
Rasselnd schleiften die Metallglieder über den Boden, als Noat die Kette wieder zu sich zog, sozusagen um seine Waffe neu zu laden. Doch bevor er wieder zuschlagen konnte, schob sich ein Blauwal vor Tony und versperrte ihrem Angreifer die Sicht.
Das verschaffte ihr Zeit. Der kürzeste Weg zum Ausgang führte durch die Tür, die die Maleates versperrten. Aber darauf hatte sie es gar nicht abgesehen. Sie rannte im Sichtschutz des Wals auf die Tür zu, die zu der Wasserwelt von Zarvek führte.
Aufgrund des hohen Eisengehalts in den Meeren reichte das Licht in dieser Röhre von warmen Goldtönen bis zu düsteren Rostfarben. Der Meeresgrund war größtenteils vulkanisch geprägt, was zerklüftete Erhebungen des Bodens deutlich zeigten. Das eisenreiche Magma hingegen, das durch Spalten und Kamine ins Wasser strömte, wurde holografisch dargestellt – und kaschierte damit die Sicherheitsvorkehrungen, die Tony getroffen hatte.
Sie stürzte in den Raum, woraufhin sich die spiralig gewundenen Triebe der auf dem Boden wachsenden Eisenranken zusammenzogen. Ein Schwarm Rostquallen mit rötlich-metallisch schimmernden Glocken verharrte über ihrem Kopf. Weil sie schon so oft in diesem Raum gewesen war, kannte sie beinahe jede Unebenheit des Bodens, sodass sie mit langen Schritten vorankam.
Sie fühlte ihren Herzschlag bis in den Hals hinein. Jeder Muskel war angespannt und auf Flucht eingestellt. Gleichzeitig drohten Trauer und Zorn Tony zu überwältigen. Die Maleates wollten sie nicht nur als Oberhaupt absetzen, sie wollten sie töten!
Doch darüber durfte sie erst später nachdenken – falls sie das dann überhaupt noch konnte.
Fast hatte sie die Mitte des Raumes erreicht, als sie ein harter Schlag in die Kniekehle traf. Tony schrie vor Schmerz auf. Von der Wucht des Aufpralls knickten die Knie unter ihr weg. Sie prallte hart mit den Schienbeinen auf eine Lavazinne und konnte sich gerade noch mit den Händen abfangen. So hockte sie da, würdelos auf allen vieren. Wenn noch ein Rest Ianus in ihr gewesen war, verglomm er in diesem Moment.
»Wie unhöflich von dir«, tadelte Noat, »einfach ohne Verabschiedung gehen zu wollen.« Er ging langsam um sie herum. Die Ketten schleifte er hinter sich her. Die Glieder rasselten über den unebenen Boden und hörten sich an wie zischelnde Schlangen.
Tony wusste, wie Noat in solchen Momenten für gewöhnlich vorging: Er würde sich zentral vor sie stellen und die Ketten von links und rechts auf sie zuschnellen lassen. Mit etwas Glück bräche Tonys Genick.
Aber Noat war dafür bekannt, dass er es lieber mochte, wenn seine Opfer erstickten. Wegen des anhaltenden Blickkontaktes, wie er sich ausdrückte. Und da er und Tony nie gut miteinander ausgekommen waren, war sich Tony sicher, dass er die zweite Variante bevorzugen würde, um sich zu rächen.
Sie versuchte, sich aufzurappeln. Zum einen wollte sie Würde beweisen und nicht vor ihm herumkriechen. Zum anderen musste das Betäubungsgas schließlich langsam wirken. Sie hatte das Aquarium schließlich nicht nur ausgewählt, weil sie sich an diesem Ort ruhiger fühlte. Weil sie fast immer nur allein durch die Räumlichkeiten wanderte, hatte sie auch entsprechend vorsorgen können. Und so hatte sie in die Magmaspalten Giftkapseln geschoben. Die Flüssigkeit im Inneren trat nach dem Druckverlust durch das Öffnen der Kapseln als Gas aus, das durch die Holoanimation verdeckt wurde. Ein weiterer Grund, weshalb sie den Helm trug.
Doch Noat grinste sie nur an.
Während sie sich aufrichtete, sah sie zu den Magmaspalten. Entweder funktionierte die Verschleierungstaktik besser als gedacht – oder es trat gar kein Gift aus.
»Glaubst du im Ernst, wir hätten das Gelände nicht gründlich abgesucht?« Noat hatte ihren Blick verfolgt und schüttelte tadelnd den Kopf. »Natürlich haben wir dieses Drecksloch erst betreten, nachdem Darrens kleine Helfer alles überprüft hatten. Wirna hat dann den Rest erledigt und deine kleinen Kapseln neutralisiert. Dumm von dir, hitzeunbeständige Flüssigkeiten zu verwenden.«
Das hatte Darren getan? Sie verraten, bevor er sie angehört hatte?
Noat erneuerte den Griff um die dicken Metallglieder. Ihm war anzumerken, dass er die Situation genoss und nirgendwo lieber wäre.
Im Gegensatz zu Tony. Ihre Sicht verdunkelte sich. Schwanden ihr die Sinne?
Nein. Ein Rostwal senkte sich aus der Röhre nieder. Normalerweise waren diese Kreaturen äußerst langsam. Aber dieser fiel wie ein Stein herab. Nicht einmal der Quallenschwarm stob auseinander. Auch die Haut des Wals sah anders aus als sonst. Dass sie metallisch glänzte, war Tony schon immer aufgefallen. Aber diesmal wirkten die Eisenoxid-Panzerplatten wie bewegliche rostrote Keramik.
Nicht der letzte Anblick, den ich mir für mein Leben erhofft habe, dachte sie, aber wirklich wunderschön.
Mit Mühe wandte sie den Blick ab. Noat sollte nicht die Chance haben, sie unvorbereitet zu erwischen. Doch der war von dem Rostriesen noch abgelenkter als sie. Wahrscheinlich, weil er, wie die meisten Bewohner Shoyns, noch nie in diesem Museum gewesen war.
Sollte sie die Chance, die keine war, nutzen und noch einen Fluchtversuch unternehmen?
Sie sah hinter sich. In der Tür stand Darren, den Strahler auf sie gerichtet. Sein Gesichtsausdruck verriet Entschlossenheit.
War das ihre Alternative? Erschießen statt Erwürgen? Ein Austausch, der sich für sie lohnen würde.
Für sie. Aber was war mit Darren? Als Techniker war er nicht unbedingt der Mann fürs Grobe. Anders als Noat.
Würde Darren damit leben können, sie getötet zu haben?
Andererseits: Wenn er nach all der Zeit, nach dem Vertrauen, das sie ihm entgegengebracht hatte, trotzdem mit auf diesen Einsatz gekommen war und ihre Falle verraten hatte, war er sich über die Konsequenzen wohl im Klaren.
Darren fixierte ihren Blick und neigte kaum merklich den Kopf nach rechts.
Tony überlegte nicht lange, sondern verließ sich auf ihre Intuition. Sie warf sich zur Seite, kam hart auf dem Boden auf, konnte sich aber so abrollen, dass sie schlimmere Verletzungen vermied.
Darren hielt den Strahler weiterhin ausgestreckt, nur dass die Mündung nun auf Noat wies. Der hatte den Blick nach vorn gerichtet. Er verlor keine Zeit, holte mit dem Arm aus und schwang die Metallpeitsche. Zum Glück war sie nicht lang genug, um Darrens Oberkörper zu umschlingen, wie Noat es vermutlich geplant hatte. Stattdessen schnalzten die letzten Glieder nur dumpf auf Darrens Rücken.
Darren zögerte keine Sekunde und betätigte den Strahler, bevor Noat erneut ausholen konnte.
Der Hüne brach zusammen und seine Ketten rasselten zu kleinen Häufchen zusammen.
»Er ist nur paralysiert.« Mit einem Satz war Darren bei Tony.
Tony sah ihn nur an. »Bist du verrückt?«
»Nicht, dass ich wüsste. Aber ein Verrückter weiß das selbst vermutlich nie. Warum?« Er reichte ihr die Hand und zog sie auf die Beine.
»Weil ich nicht tot bin!« Ihre Knie waren so weich, dass sie ihr Gewicht noch nicht vollständig trugen. Sie schwankte ein wenig.
Darren hielt die Arme ausgestreckt, bereit, sie aufzufangen, falls nötig. »Das Wort, das du suchst, lautet: danke. Und nun lass uns sehen, dass wir hier wegkommen.«
»Was ist mit Wirna?« In Tonys Kopf wirbelten die Gedanken.
»Paralysiert. Hast du sonst noch Fragen, die keinen Aufschub dulden?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Kannst du gehen?«
Sie nickte.
»Dann los.« Er zog sie hinter sich her und nahm den schnellsten Weg Richtung Ausgang: zurück durch den terranischen Ozean.
Erst als sie auch Wirnas reglosen Körper auf dem Boden liegen sah, zog Tony in Betracht, dass Darren sie nicht von einer Falle in die nächste lockte, sondern sie tatsächlich in Sicherheit bringen wollte.
Aber warum?
