Peter Gabriel - Die exklusive Biografie - Daryl Easlea - E-Book

Peter Gabriel - Die exklusive Biografie E-Book

Daryl Easlea

4,5

Beschreibung

Der Autor Daryl Easlea hat stundenlange Interviews mit Wegbegleitern, Musikern, Helfern und Vertrauten geführt, um zum Herzen und zur Seele Peter Gabriels, seiner Musik und seines komplexen Lebens vorzudringen. Viele Fotos aus allen Schaffensphasen bereichern dieses Buch. Die Resultat ist die einzigartige Biografie eines außergewöhnlichen Künstlers.

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Aus dem Englischen von

Paul Fleischmann

www.hannibal-verlag.de

Widmung

Für meine Lieben,

Jules und Flora Easlea.

Danke dafür, dass ihr mein Herz zum Lodern bringt.

Impressum

Der Autor: Daryl Easlea

Deutsche Erstausgabe 2014

Titel der Originalausgabe:

„Without Frontiers: The Life & Music of Peter Gabriel“

© 2013 Omnibus Press

ISBN: 978-1-78038-315-6

Umschlagdesign: © Fresh Lemon

Bilderauswahl: Jacqui Black

Foto Buchvorderseite: © Peter Noble/Redferns

Foto Buchrückseite: © Jerome Brunet/ZUMAPRESS.com/Alamy

Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com

Übersetzung: Paul Fleischmann

Lektorat und Korrektorat: Verena Zankl

© 2014 by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN 978-3-85445-460-1

Auch als Hardcover erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-459-5

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Es kann jedoch keinerlei Gewähr dafür übernommen werden, dass die Informationen in diesem Buch vollständig, wirksam und zutreffend sind. Der Verlag und der Autor übernehmen weder die Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für Schäden jeglicher Art, die durch den Gebrauch von in diesem Buch enthaltenen Informationen verursacht werden können. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Es wurde alles versucht, um die Rechteinhaber der Fotos in diesem Buch aufzuspüren, aber ein oder zwei waren unauffindbar. Wir würden uns sehr freuen, wenn sich die jeweiligen Fotografen mit uns in Verbindung setzen würden.

Inhalt

Prolog: Ein Mann, der für seine Kunst keine Kompromisse einging

Einleitung: Ein echt interessantes Leben

Teil I – Von Genesis …: 1950–1975

1: Lebe lieber unauffällig

2: Heulen, masturbieren oder beides: Charterhouse

3: Lauscht und versetzt euren Verstand in das Klangspektrum

4: Grüße aus dem Cottage

5: Charisma Records

6: Wenn Keith Emerson sie gut findet, müssen sie ja gut sein

7: Niemals frei von Sorgen

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8: James Brown trifft Horrorkabinett trifft Rummelplatz-Revue

9: GmbH für Liebe, Frieden und Wahrheit: Selling England By The Pound

10: Eine Irrfahrt ins Ich: The Lamb Lies Down On Broadway

Teil II – Ich werde euch mein anderes Ich zeigen: 1975–1986

11: Ausstieg aus der Maschinerie

12: Wenn man das Unerwartete erwartet

13: Mit Maß und Ziel

14: Glücklich im Dunkeln

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15: Ein neues Zeitalter elektronischer Skifflemusik: Security

16: So begeistert wie wir: WOMAD

17: Ein Abstecher ins Kino

18: Das Beben in den Hüften: So

Teil III – … zur Offenbarung: 1986–2013

19: Das Leben als großes Abenteuer: So und die Folgen

20: Zweifelsohne Rhabarber

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21: Düster und klebrig

22: Projekte diesseits und jenseits der Musik

23: Ein allgemeines Gefühl wunderbaren Grauens: Up

24: Mann des Friedens

25: Diese Art der Leichtfüßigkeit: Scratch My Back

26: Familienfoto

Nachwort: Peter ist nun einmal Peter

UK-Diskografie

Bibliografie

Danksagungen

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„Was mich anturnt, ist das Gefühl, auf jungfräulichem Schnee unterwegs zu sein.“

– Peter Gabriel, 2007

„Manchmal bin ich stolz auf meine Fehler, solange ich sie mit Überzeugung begangen habe.“

– Peter Gabriel, Star Test, 1989

Oktober 1982. Es schüttet wie aus Eimern. Im Herzen Englands spielen sechs Männer Songs, die sie im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts geschrieben haben, um den Traum ihres ehemaligen Sängers, der sich für diesen Abend noch einmal zu ihnen gesellt hat, am Leben zu erhalten. Aus rechtlichen Gründen können sie nicht unter ihrem eigentlichen Namen – Genesis – auftreten, weshalb sie bei diesem einmaligen Anlass als „Six of the Best“ auf der Bühne stehen: eine umgangssprachliche Bezeichnung für die Bestrafung mit dem Rohrstock, die an englischen Privatschulen zum Alltag gehörte, und eine geschickte Anspielung auf Charterhouse, wo sie sich einst kennengelernt hatten und die damals berüchtigt war für die Anwendung körperlicher Züchtigung. Nur die griechisch anmutende Schrift, in der ihr Bandname im Programm geschrieben ist – eine Schrift, die auch für das Logo ihres Albums von 1974, The Lamb Lies Down On Broadway, verwendet wurde –, gibt einen Hinweis auf die Vergangenheit dieser Herren.

Der Sänger, Peter Gabriel, hatte sich sieben Jahre zuvor einigermaßen freundschaftlich – und für die meisten doch sehr überraschend – von der Gruppe verabschiedet. Da er zwischen 1967 und 1975 der Frontmann, Sprecher und einer der Songwriter gewesen war, hatten nur wenige nach seinem Ausstieg der Band gute Überlebenschancen eingeräumt. Aber obwohl sie sich dagegen entschieden hatten, ihn zu ersetzen, waren sie sogar noch erfolgreicher geworden – mehr, als es sich wohl je jemand hätte vorstellen können.

Gabriels Karriere jedoch verlief – nachdem er der Band den Rücken zugekehrt hatte – alles andere als geradlinig. Ihm war sein künstlerischer Ansatz wichtiger als kommerzieller Erfolg, womit er eine ganz neue Schar von Anhängern gewinnen konnte. Damals hatte er bereits ein Mainstream-Rock-Album mit den besten amerikanischen Session-Musikern eingespielt sowie ein weiteres, das teilweise in New York entstanden war und die Stadt in der Ära von New Wave und Disco widerspiegelte, aufgenommen. Außerdem – und das war am entscheidensten – hatte er eine weitere LP veröffentlicht, die die Richtung für seine zukünftige klangliche Orientierung weisen sollte. Diese Schallplatte enthielt mit dem Song „Biko“ auch den Track, der für seine Karriere mehr Bedeutung haben sollte als alles, was er bis dahin aufgenommen hatte bzw. noch aufnehmen würde. Der Song, der von Stephen Bantu Biko, einem südafrikanischen Studentenführer, der im September 1977 in Pretoria in Polizeigewahrsam ums Leben gekommen war, handelte, war unverhohlen politisch und mischte afrikanische Trommeln und das tiefe Dröhnen von Dudelsäcken zu einer hymnischen Nummer, die die bemerkenswerte Eigenschaft besaß, ans politische Gewissen ihrer Hörer zu appellieren – und kam später im Kampf gegen die Apartheid zum Einsatz. Dieser Song war Gabriels Visitenkarte, mit der er signalisierte, dass er sich für die Angelegenheit interessierte und sich engagieren wollte.

Aber Gabriel geriet plötzlich in enorme finanzielle Schwierigkeiten. Er war nie in Geld geschwommen – der Genesis-Drummer und spätere Leadsänger Phil Collins nannte ihn einen großen Grübler und Zögerer, der zuerst seinen Träumen folgte und sich erst später Gedanken über die zugehörige Logistik machte. Gabriel hatte ein neuartiges Musikfestival ins Leben gerufen, das Musik aus der ganzen Welt, für die er sich zu interessieren begonnen hatte, auf die Bühne holen sollte. Um dies zu ermöglichen, hatte er mit der Dachorganisation WOMAD (World of Music, Arts and Dance) eine Vision verwirklicht, die seine Wohltätigkeit und Aufrichtigkeit symbolisierte. Gleichzeitig hatte er sein viertes Album in seinem Heimstudio Ashcombe House in Bath aufgenommen. Hier brachte er zum ersten Mal die Sounds, die er gefunden hatte, zur vollen Geltung. Mit seinem Pioniergeist und seinem Verlangen, abseits der Konventionen tätig zu sein, sowie seinem unglaublichen Eifer und Elan hatte sich Gabriel lieber mit gleichgesinnten Geistern statt erfahrenen Vertretern der Musikbranche in Stellung gebracht, um ein Festival zu veranstalten, das diese Art von Musik zelebrieren sollte. Das hatte zur Folge, dass das Festival massiv in die roten Zahlen rutschte. Der Schuldenstand von 250.000 Pfund, der heute ungefähr 600.000 Pfund entspräche, bedeutete für ihn und seine junge Organisation den baldigen Bankrott. Tatsächlich war die erste Auflage des Festivals im Juli 1982 in Shepton Mallet der Inbegriff einer Veranstaltung gewesen, die sich an einem Traum – und nicht der finanziellen Realität – orientiert hatte. Das Publikum war spärlich gesät und die Reisekosten der internationalen Acts waren enorm gewesen.

Entsetzt darüber, dass ihr alter Freund in einer prekären Zwangslage steckte und sogar Morddrohungen von erzürnten Gläubigern erhielt, schlugen Genesis und ihr Manager Tony Smith ein Projekt vor, das eine ordentliche Summe Geld abwerfen würde – ein Benefizkonzert der Band, wiedervereint mit ihrem ehemaligen Sänger. Gabriel war überwältigt von der Großzügigkeit, war sich aber auch durchaus bewusst, dass dies für jemanden, der gerne nach vorne blickte, einen enormen Schritt zurück darstellen würde. Allerdings gab es kaum Alternativen – er musste das Rettungsangebot seiner alten Gruppe annehmen. Six of the Best boten Gabriel die Finanzspritze, die er benötigte.

In der durchnässten Atmosphäre der großteils seelenlos wirkenden Milton Keynes Bowl wohnten 65.000 Menschen dem großen Klassentreffen der Gruppe bei, auf dem die alten Freunde all ihre Stärken ausspielen konnten. Sie wurden von ihrem Mentor und ehemaligen Mit-Kartäuser Jonathan King angesagt, und für ihre Zugabe schloss sich Steve Hackett, der die Band 1977 verlassen hatte, an. Um all die Ironie des Abends auf die Spitze zu treiben, ließ sich Gabriel in einem Sarg auf die Bühne bringen.

Six of the Best beglichen die Schulden von WOMAD und gaben der Organisation letztlich den Schwung mit auf den Weg, das Festival zu einer der führenden Veranstaltungen in seiner Sparte zu machen.

Das vier Jahre später veröffentlichte Album So stellte sich als weltweiter Erfolg heraus, der es mit sich brachte, dass Gabriel nie wieder auf Rettungsangebote angewiesen sein würde. Am Ende des Jahrzehnts rief er mithilfe der Einnahmen, die So einspielte, sein eigenes Studio und Label – Real World – ins Leben. Mit Unterstützung von Virgin Records bot ihm Real World eine geeignete Plattform, seinen globalen Appetit auf neue Musik zur Schau zu stellen.

Aber die Auswirkungen der frühen Achtziger sollten noch einen viel größeren Effekt auf Peter Gabriels Zukunft haben. Sein Eintreten für die Weltmusik und seine Offenheit gegenüber neuen Ideen bedeutete, dass er sich selbst nicht länger nur als Künstler begriff. Sein Schaffen gewann zunehmend auch politisch an Bedeutung, was schließlich dazu führte, dass er mit The Elders eine Organisation ins Leben rief, die heute einige der angesehensten politischen Köpfe der Welt umfasst und als eine Art Think-Tank fungiert, um zur Lösung der größten Probleme des Planeten beizutragen. Gabriel wurde mit dem Man Of Peace Award, der von der Weltversammlung der Friedensnobelpreisträger in Rom verliehen wird, ausgezeichnet: einem Award, der Persönlichkeiten aus der Welt der Kultur und Unterhaltung ehren soll, die sich stark für Menschenrechte und die Prinzipien von Frieden und Solidarität einsetzen und außerordentliche Beiträge zur sozialen Gerechtigkeit auf internationaler Ebene leisten. Wenigen Popsängern ist dies auf so unscheinbare und unaufdringliche Art und Weise gelungen wie Peter Gabriel.

Gabriel hat sich in seinem Leben und seiner Musik immer wieder in unerschlossenes Terrain vorgewagt, egal ob in Songs, der Kunst oder größeren, weiter gefassten Konzepten. Das schon lange von der Bildfläche verschwundene Magazin Sounds schrieb 1987, dass er ein Mann zu sein scheine, der für nichts in der Welt Kompromisse für seine Kunst eingehen würde. „Er würde wohl eher das Exil auf einer einsamen Insel vorziehen, als sich in eine ihm unliebsame Richtung zu bewegen.“ Als Gabriel 1982 zu Genesis zurückkehrte, war er für seine Kunst einen dieser Kompromisse eingegangen, um sein Überleben zu sichern. Von da an würde er sicherstellen, dass er das nie wieder tun würde müssen. Dies ist die Geschichte einer jener Figuren in der Geschichte der Populärmusik, die auf liebenswürdige Weise am wenigsten zu Kompromissen bereit gewesen sind.

Wie viele Leser vermutlich wissen, tragen die ersten vier Soloalben Peter Gabriels in Großbritannien schlicht den Titel Peter Gabriel. Sein viertes kam in den USA unter dem Titel Security auf den Markt und irgendwann bürgerte es sich ein, die vorangegangenen drei LPs nach Kurzbeschreibungen der jeweiligen Plattencover zu benennen: Car, Scratch und Melt. Bei der Arbeit an diesem Buch musste ich schon bald erkennen, dass ich mich von meinem Wunsch, die ursprünglichen britischen Titel der ersten vier Alben beizubehalten, verabschieden würde müssen. Nachdem ich etwa einen Monat lang mit den Bezeichnungen „PG1“ bis „PG4“ experimentiert hatte, habe ich schließlich beschlossen, die Alben der Einfachheit halber ebenfalls Car, Scratch, Melt und Security zu nennen.

„Die Zeit hinterlässt eine unauslöschliche Spur auf allem. Wenn man sich an seine Vergangenheit zurückerinnert, dann kann man in ihr nicht länger leben, aber man kann in ihr herumspazieren, alte Erinnerungen durchgehen und gelegentlich den Geruch eines Ortes, an dem man gelebt hat, aufschnappen.“

– Peter Gabriel, 2012

„Jemand sieht sich deinen Karriereverlauf an und sagt: ‚Dieser Mann hat beruflichen Selbstmord begangen. Er hatte dieses riesige Album, mit dem er 1986 seinen Durchbruch schaffte, und dann ließ er sich sechs Jahre für den Nachfolger Zeit. Dann wartete er überhaupt zehn Jahre für das nächste Album. Und jetzt sitzen wir hier, wieder zehn Jahre später, und das nächste ist noch lange nicht in Sicht.‘ … Von einem finanziellen Standpunkt aus mag das wohl stimmen. Aber ich hatte ein echt interessantes Leben. Und das scheint mir im Alter von 61 ein viel sinnvolleres Ziel zu sein. Solange ich meine Rechnungen bezahlen kann, was manchmal ein Thema ist, kann ich mich glücklich schätzen.“

– Peter Gabriel, Rolling Stone, 2011

2012 sagte Gabriel: „In unserer Kultur gelten Masken als etwas, hinter dem man sich versteckt, aber in anderen Kulturen sind sie das Vehikel, das einem dabei hilft, aus sich herauszugehen. Ich bin mithilfe von ihnen aus mir herausgekommen.“

Masken werden seit über 9.000 Jahren in Ritualen verwendet. Sie wurden und werden zur Zierde, bei Aufführungen, zum Schutz und zur Tarnung getragen. In afrikanischen Kulturen kommen sie in religiösen Zeremonien, die die Ahnen beschwören sollen, zum Einsatz. Tiermasken werden aufgesetzt, um mit der Welt der Geister zu kommunizieren. Das US-Magazin Circus veröffentlichte im Dezember 1974 eine Ausgabe, die sich mit der Zukunft der Rockmusik auseinandersetzte. Auf die Frage, ob Gabriel zur Maske werden würde, sobald er sie aufsetzte, antwortete er: „Yeah, ich empfinde das so. Wenn ich eine Maske trage, finde ich es leichter, die Maske zu verkörpern. Normalerweise fühle ich mich sehr gehemmt, aber hinter der Maske ist das anders.“

Von der frühen Theatralik seiner Outfits bei Genesis bis hin zur exotisch anmutenden Eleganz seines bemalten Gesichts in den Achtzigern hatte Gabriel die Maske eines Popstars für eine beachtlich lange Zeit getragen. Sein Video zu „I Don’t Remember“ von 1983 beginnt mit einer Szene, die zeigt, wie er sich eine Maske aufsetzt, die er am Boden findet. Es ist schwierig zu sagen, wer hier der wahre Peter Gabriel ist. Da er ein so enorm engagierter und liebevoller Mensch ist, gibt es keinen Zweifel an seiner Aufrichtigkeit, seiner Ehrlichkeit und seiner Standhaftigkeit. Sein Auftreten als Innovator, Geschäftsmann und Aktivist gegen soziale Ungerechtigkeit lässt uns seine Motive nicht in Frage stellen. Gabriel ist eine besondere Mischung, ein gefühlvoller Mann, der tief empfindet, einen starken Arbeitsethos mitbringt und akribische Detailverliebtheit mit der für die britische Mittelklasse so typischen Abscheu gegenüber Konfrontation verbindet. Seine Arbeiten liefern uns die brauchbarsten Hinweise auf seine Persönlichkeit, und in manchen Fällen ist sein Seelen-Strip ganz offensichtlich. Oft sieht man bei ihm vor lauter Bäumen den Wald nicht. Sein Bedürfnis, sich auf seinen Plattenhüllen zu tarnen, lässt uns darüber nachgrübeln, wo er steht. Gabriel ist – so wie sein Name uns nahelegt – eine engelhafte spektrale Präsenz. Maskiert, zurückgezogen, jemand, der hinter einer Fassade für die Öffentlichkeit existiert. Das ist der grundlegende Schlüssel zu allen Arbeiten von Gabriel.

***

Ihn einfach einen Popstar zu nennen, wäre so, als würde man Salvador Dalí als simplen Maler abtun. Gabriel ist einer der talentiertesten und rätselhaftesten Künstler, die Großbritannien je hervorgebracht hat. Dieser urtypische Engländer verfolgt seit jeher unterschiedliche, aber sich überschneidende Karrieren mit der ihm eigenen unermüdlichen Akribie. Er hatte eine lange und abwechslungsreiche Solokarriere, in der er mit „Sledgehammer“ auch einen Nummer-1-Hit in den USA verbuchen konnte. Seine Stimme, die in NME als „… potentes Instrument, das von rabenhaftem Krächzen bis sehnsüchtigem Sopran alles abdeckt, und sich wie eine fremdartige Sprache aus einer mythischen Geschichte ihren Weg durch die Musik bahnt“, bezeichnet wurde, ist eine der eindringlichsten der Popmusik. Er verbreiterte sein Schaffensspektrum, indem er sich als Autor versuchte und in den Neunzigern und dem neuen Millennium zu einigen kommerziell erfolgreichen Soundtracks beitrug. Seine audiovisuellen Werke waren in der Regel bahnbrechend. Er war einer der ersten, die der Popmusik ein soziales Gewissen verliehen, und setzte sich in Folge auf seine äußerst zurückhaltend britische Weise unablässig für karitative Organisationen wie Amnesty International ein.

Er begründete das WOMAD-Festival und war mitverantwortlich dafür, jenen Sound, der in Westeuropa weithin als „World Music“ bekannt ist, zu etablieren, wozu er nicht nur mit dem Festival, sondern auch seinem Label Real World und dem gleichnamigen Studio in Wiltshire maßgeblich beitrug. Als ob das nicht schon genug wäre, hat Gabriel außerdem noch Pionierarbeit im Bereich von Computersystemen geleistet und sich schon früh seine Gedanken über die Nutzung und Zügelung des Potenzials und der womöglichen Bedrohung von digitalen Downloads gemacht.

Für viele jedoch wird er im Herzen stets dort verbleiben, wo seine Karriere begonnen hat – als Leadsänger von Genesis, dieser sonderlichsten aller Progressive-Rock-Bands, die dereinst an der Charterhouse-Privatschule in Godalming, Surrey, in den späten Sechzigern gegründet worden war. Wie der DJ und Autor Mark Radcliffe notierte: „Genesis waren die einzige Prog-Band, die zu ihrem Sinn für Humor stand und auch nicht vor einem simplen Song zurückscheute.“ Während ihre ursprüngliche, idyllische Vision sich zu etwas Kunstvollerem weiterentwickelte, fügte Gabriel – meist, um seine eigene akute Schüchternheit zu kaschieren – ihren Shows ein theatralisches Element hinzu, das durch eine Vielzahl von Requisiten und exotischen Kostümen zum Ausdruck gebracht wurde und ihn als performenden Innovator etablierte.

Nachdem ihn William Friedkin, der Regisseur von Der Exorzist, umworben hatte, für ihn ein Drehbuch zu verfassen, schrieb er beinahe jede einzelne Zeile für das Konzept-Doppelalbum der Band, The Lamb Lies Down On Broadway, auf dem die Geschichte eines puerto-ricanischen Tunichtguts, der in der Unterwelt New Yorks lebt, erzählt wurde. Das Material entfernte sich von den früheren, eher ätherisch angehauchten Thematiken der Band. Allerdings wurde der Stress-Faktor immer stärker und Gabriel, ein jungverheirateter Mann mitsamt Neugeborenem, der gerade von London nach Bath umgezogen war, hatte die Nase voll.

Als Gabriel 1975 Genesis verließ, zog das einen beträchtlichen Schock nach sich, immerhin hatte sich die Gruppe ja gerade erst breite Anerkennung (und damit verbunden: finanzielle Liquidität) erspielt. Müde vom Monolithen, den er geholfen hatte zu erschaffen, zog er sich in den Westen des Landes zurück, von wo aus er sich aufmachte, eine der erfolgreichsten Solokarrieren überhaupt in Angriff zu nehmen, in deren Verlauf er namenlose Alben veröffentlichen, sich neuen Technologien öffnen und mit Singles wie „Games Without Frontiers“ immer seltsamer werden sollte. Als er 1986 schließlich doch einem Album einen Titel – So – gab, wurde er in den Olymp des Pop katapultiert und lieferte mit „Sledgehammer“ und „Don’t Give Up“ zwei Songs, die seine bisherige Karriere in den Schatten stellte. Als er diesen neuen Erfolg für sich verbuchte, hatten viele keine Ahnung davon, dass er jemals zuvor in einer anderen Gruppe gesungen hatte.

Seine Liebe zu den Kulturen der Welt und sein Enthusiasmus für globale Politik führten zu seiner aufrichtigen und lebenslangen Passion, verschiedene Musikrichtungen und Kulturen einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Neben seinem Einsatz für Amnesty International gründete er auch WITNESS, eine gemeinnützige Organisation, die lokal operierende Einrichtungen auf der ganzen Welt ausrüstet, ausbildet und dabei unterstützt, Video und Internet zur Verteidigung der Menschenrechte einzusetzen. Er beriet Nelson Mandela, traf sich und diskutierte mit anderen Staatsmännern und -frauen und wurde 2006 von den Friedensnobelpreisträgern als „Man Of Peace“ ausgezeichnet. 2007 war er mitbeteiligt an der Gründung von The Elders – gemeinsam mit Desmond Tutu, Jimmy Carter, Kofi Annan sowie Nelson Mandela.

Gabriel ist fähig, Talente aufzubauen, und in der Lage, mit den Besten auf ihren jeweiligen Gebieten zusammenzuarbeiten, was zu ein paar bemerkenswerten Kollaborationen in der Musik, der Kunst, der Politik, der Wohltätigkeit und der Technologie führte. Sein minutiöser Blick auf Details garantiert die höchsten Qualitätsstandards, wann immer ein Projekt mit seinem Namen verbunden ist. Seinen Einfluss hört man bei modernen Gruppen wie Vampire Weekend (die ihn in ihrer Single „Cape Cod Kwassa Kwassa“ erwähnen), Elbow und Hot Chip.

1992 beschrieb der Rolling Stone ihn auf unwiderstehliche Weise: „Keine Frage, Peter Gabriels Metamorphose vom spitzfindigen, theatralischen Kult-Künstler zum pfiffigen, minimalistischen Popstar ist eine der beeindruckendsten Verwandlungen der Pop-Geschichte.“ Seine faszinierende Neuerfindung als Avatar des Post-Punks im Großbritannien der späten Siebziger hatte zur Folge, dass sich Gabriel – als Trouser Press, jenes Rock-Magazin, das sich auf den amerikanischen Underground spezialisiert hat, ein Nachschlagewerk zu Veröffentlichungen abseits des kommerziellen Mainstreams veröffentlichte – darin mit So wiederfand, aber kein einziger Eintrag aus dem Genesis-Katalog aufgenommen wurde.

Gabriel arbeitet mit atemberaubender Würde. Gemeinsames Schaffen bringt ihn zum Erblühen. Er war immer der erste, der das betonte. Angefangen mit der Partnerschaft mit Tony Banks in der Schule über die Unterstützung, die er in Person von Tony Stratton-Smith bei Charisma Records erfuhr, bis hin zur Zusammenarbeit mit Robert Fripp, David Lord, Daniel Lanois und später dem Team von Real World – Gabriel arbeitete mit ein paar der bestechendsten Könner, die wiederum seine eigene akribische Kreativität befeuerten.

Die Plattenfirma Charisma, „ein organischer, vulkanischer Schmelztiegel, der vor irdischer Lust und ätherischen Höhen nur so überschäumt“, und Stratton-Smith waren 1970 der wahre Ausgangspunkt für Gabriels bevorstehende Blüte. In einer Atmosphäre des Ansporns und der Anteilnahme entwickelte sich Gabriel zu einem der ersten großen Frontmänner des Progressive Rock, der sich bei Film, Theater, Slapstick und der bildenden Kunst bediente, um eine Bühnenfigur wie aus einer anderen Welt zu erschaffen. Es gibt Leute, die diese Bilder nie mehr aus ihren Köpfen bekommen werden. Diese Grundausbildung, die er in den britischen Schlafstädten, den Ballsälen Italiens und den amerikanischen Clubs erfahren hatte, hat Gabriel zu einem der spektakulärsten Live-Acts werden lassen – egal ob er auf der Bühne von einer konventionellen Rockband oder aber wie 2010 und 2011 von einem 48-köpfigen Orchester begleitet wird.

Es ist nicht einfach, genau auszumachen, warum Gabriels Musik so emotional ist, da sie sich methodisch auf Sounds und Atmosphäre anstelle von Gefühlen zu konzentrieren scheint. Und doch ist er der Verfasser oder zumindest Co-Schreiber einiger der berührendsten Stücke der Popmusik: „Supper’s Ready“, „The Carpet Crawlers“, „Solsbury Hill“, „Don’t Give Up“, „Washing of the Water“ und „Father, Son“ sind nur ein paar wenige von ihnen.

Dieses Buch beschäftigt sich mit der Musik, dem Leben und der Kunst des Peter Brian Gabriel. Wie viele Prog-Rock-Frontmänner können schon von sich behaupten, irgendwann eine Vereinigung, die sich mit den Belangen der Welt auseinandersetzt, gegründet zu haben? Seine Freunde, andere Musiker und sonstige Kollegen stehen nicht grundlos felsenfest zu ihm. Viele sehen in ihm einen der gütigsten und verlässlichsten Menschen überhaupt. Nile Rodgers, der einige Male mit ihm zusammengearbeitet hat, spricht nicht nur für sich, wenn er sagt: „Gabriel und ich teilen uns eine etwas ätherischere Welt und für mich als Künstler ist es interessant, einen Freund wie ihn zu haben, der sich wie ein echter Freund anfühlt. Ich sehe ihn zwar nicht so häufig, aber wenn, dann ist es magisch und besonders – und das wird immer so sein. Es ist wie mit den Planeten im Universum. Sie sind da draußen und ziehen ihr Ding durch und immer wieder einmal nähern sie sich einander an. Peter ist der anständigste Gentleman, den ich im Rock’n’Roll je kennengelernt habe. Genau das ist er.“

„Meine Familie kam von Spanien zur Zeit der Armada in dieses Land. Es heißt, sie wären von Bauern aus Cornwall adoptiert worden.“

– Peter Gabriel, 1974

„Mein Dad ist Elektroingenieur. So eine Art Erfinder, sehr reserviert, scheu, analytisch. Meine Mum ist eher instinktiv, sie lässt sich vom Moment leiten. Musik ist genau ihr Ding. Und ich trage beides in mir.“

– Peter Gabriel, 2000

Als Peter Gabriel 1974 in Genesis’ „The Chamber Of 32 Doors“ sang, dass er eher einem Landbewohner als einem Städter vertrauen würde, könnte er eventuell von seinen eigenen Wurzeln gesprochen haben. In seinen 64 Lebensjahren hat Gabriel weniger als ein Jahrzehnt in der Stadt gelebt. Obwohl er ein Haus in West London besitzt, lebt er in rustikaler Pracht in seinem Eigenheim neben seinem Studio in Box in der Nähe von Bath in Wiltshire, nicht unähnlich dem ländlichen Idyll seiner Kindheit in Surrey. Sein Ursprung könnte als Metapher für seine eher distanzierte Beziehung zum Showgeschäft dienen – nahe genug, aber doch weit weg. Surrey ist weniger als eine Stunde von London entfernt. Sein jetziges Haus liegt auch nur etwas weniger als 15 Minuten außerhalb der betriebsamen Innenstadt von Bath. Falls notwendig, kann er sich also sehr schnell ins Geschehen stürzen. Trotzdem befindet er sich etwas abseits. Eben nicht ganz unähnlich seinem Verhältnis gegenüber dem Mainstream der Popmusik.

Jedes Mal, wenn sich Gabriel der großen Show – der Big Time – annäherte (wie etwa mit seinem Hit von 1986 „Big Time“), verblieb er dort gerade lange genug, um Kritikerlob einzuheimsen und mitunter umwerfende kommerzielle Erfolge zu erzielen, nur um sich im Anschluss wieder in die Anonymität zurückzuziehen. In dieser distanzierten Atmosphäre fühlt er sich wohl und schafft Werke von nachhaltiger Wirkung. Er hat sein Leben bestritten, indem er – in den Worten seiner Hit-Single „Steam“ von 1992 – „dem Traum dieses Träumers“ gefolgt ist. Seine Familie, so wie viele aufblühende Familien der britischen Mittelklasse in den Nachkriegsjahren, hat ihn ermutigt, seine Träume zu verfolgen, solange sie tatsächlich in die Realität umsetzbar waren und ein ordentliches Ausmaß an harter Arbeit voraussetzten.

Peter Brian Gabriel kam am 13. Februar 1950 im Krankenhaus von Woking zur Welt. Er wuchs im Haus seiner Familie, Deep Pool Farm, in Coxhill, knapp außerhalb von Chobham in Surrey auf. Seine frühe Kindheit überschnitt sich mit der grauen Tristesse des Wiederaufbaus – erst wenige Jahre waren vergangen, nachdem die Alliierten den Zweiten Weltkrieg für sich entschieden hatten. Sein Vater war zwar bei der Royal Air Force gewesen, trotzdem schien es aber, als hätte der Krieg ganz woanders stattgefunden. Das Surrey, in das Gabriel hineingeboren wurde, war friedlich, grün und wohlhabend. Chobham war der Inbegriff einer Satellitenstadt südwestlich von London, die sich gut vom Krieg erholte. Ursprünglich hieß die Stadt Cebeham und wurde von der nahegelegenen Abtei Chertsey aus regiert. Noch im 20. Jahrhundert war hier alles einigermaßen ländlich und rückständig, ganz anders als die nahe Stadt Woking, die zu florieren begonnen hatte, als sie 1834 an das südwestliche Bahnnetz angeschlossen wurde. Mit den Grünflächen, Pubs und dem Fluss Bourne, der gelegentlich für Überschwemmungsalarm sorgte, ähnelte Chobham einer idealisierten Version eines britischen Dorfes.

Zur Zeit seiner Geburt war Gabriels Mutter, Edith Irene Allen, schon drei Jahre mit Ralph Parton Gabriel verheiratet gewesen. Die Familie würde schließlich mit Peters Schwester Anne im Oktober 1951 vollzählig werden. Ralph entstammte einer Reihe von Holzimporteuren und -händlern, die ab 1925 unter dem Firmennamen Gabriel, Wade & English in Erscheinung traten. Es war Gabriels Urururgroßvater, Christopher Gabriel, der das Familiengeschäft 1770 begründet hatte. Er war ein ausgebildeter Zimmermann, bevor er sich ab 1812 auf den Import von Holz konzentrierte. Das Geschäft hatte während des späten 18. Jahrhunderts stark geboomt.

Der Familienname Gabriel war 1588, dem Jahr der spanischen Armada, nach Großbritannien gelangt, als Schiffbrüchige der besiegten Flotte sich an die englische Küste retten konnten. Anderswo geht der Name noch viel weiter zurück. Er leitet sich vom hebräischen Namen „Gavriel“ ab und bedeutet in etwa „Gott ist mein Held“. „Gabriel“ kommt im neuen Testament vor, als der Erzengel selbigen Namens der heiligen Maria die Nachricht überbringt, dass sie die Mutter des Messias werden würde. Als Familienname wurde er im 12. Jahrhundert gebräuchlich.

Gabriels Vorfahren erfreuten sich im 19. Jahrhundert als Politiker und Geschäftsleute einiger Bekanntheit in Streatham, südlich von London, von wo aus sie auch das Holzgeschäft betrieben. Laut Daily Telegraph hatten Gabriels Vorväter dank des Handels mit Holz Wohlstand erlangt. Sie beschäftigten Dienstboten und schickten ihre Kinder auf die besten Schulen. Gabriels Ururgroßvater, Christopher Trowell Gabriel, wurde 1797 geboren und heiratete 1833 Ruth, die Tochter des Billardtisch-Herstellers John Thurston. Sein Bruder, Sir Thomas Gabriel, war 1866 Oberbürgermeister von London. Als Christopher 1873 verstarb, hinterließ er ein Vermögen im Wert von ungefähr 200.000 Pfund. Sein Bruder und sein Sohn Thomas erhielten das Anwesen in Ely, wohingegen Ruth die Besitztümer in der Familienresidenz Norfolk House erbte. Zur Zeit von Peters Geburt betrieb seine Familie außerdem einen Milchbetrieb.

Obwohl relativ wohlhabend, entsprach Ralph nicht dem Image eines gut situierten Landwirtes. Stattdessen beschäftigte er einen Verwalter und einen Traktorfahrer, die sich für ihn um die täglichen Geschäfte kümmerten. Wie Peter Gabriel schrieb: „Mein Vater war mehr ein Denker als der Rest der Familie.“ Ralph war in der Tat eine Art Visionär. Nachdem er in den Dreißigerjahren die University of London absolviert hatte, wurde er Elektroingenieur. Deep Pool Cottage, wo er sich nach seiner Heirat niederließ, gehörte zur Familienfarm und war die zweite und letzte Wohnstätte seines 100 Jahre andauernden Lebens. Es befand sich ganz in der Nähe von Coxhill, seinem Geburtshaus, und sein Vater hatte es ihm zu seiner Hochzeit geschenkt. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Ralph an Projekten der Royal Air Force. „Die Deutschen entwickelten ein sehr cleveres Lenksystem, das ihre Bomber durch die Dunkelheit über den unbeleuchteten Städten leitete“, erklärte Gabriels Freund und zeitweiliger Genesis-Manager Richard Macphail. „Sie richteten einen Funkleitstrahl ein, der dann etwa auf Birmingham gerichtet wurde. Alles, was sie tun mussten, war, sich an diesem Signal zu orientieren und im richtigen Moment ihre Bomben auszuklinken. Ralph war Mitglied jener Einheit, der es gelang, das Signal umzulenken, damit die Deutschen von ihrem Kurs abkamen und die Bomben über unbewohntem Gebiet abwarfen. Er muss auf diese Weise hunderte, tausende Leben gerettet haben.“

„Mein Vater war ein stiller, nachdenklicher Erfinder“, sagte Gabriel 2007. „1971 erfand er eine Sache namens Dial-A-Programme, das aktiviert wurde, indem man einen Knopf am Telefon drückte. Ich sah seine Leidenschaft und interessierte mich selbst sehr für alle möglichen technischen Dinge. Es war wie Unterhaltung auf Abruf. Mein Vater setzte sich sehr für die Zukunft ein.“

Ralph steckte unzählige Arbeitsstunden in neue Erfindungen, an denen er in seiner Werkstatt hinterm Haus tüftelte. Mitunter war er seiner Zeit sogar ein bisschen zu weit voraus: „Er erfand für die Firma Rediffusion das Prinzip des Kabelfernsehens“, erinnert sich Macphail. „Er fand heraus, wie man ein Fernsehsignal eine Telefonleitung entlang schickte, aber Rediffusion konnte sich nicht vorstellen, dass Leute für Fernsehen bezahlen würden, da die BBC doch kostenlos übertrug.“

Im Gegensatz zum methodischen, exzentrischen und wissenschaftlichen Ansatz seines Vaters, inspirierte seine Mutter Peter vor allem musikalisch. „Meine Mutter interessierte sich für Musik und Performances. Sie war angetrieben vom Adrenalin. Mein Dad war eher meditativ am Weg. Wenn er von der Arbeit in London nachhause kam, stand er im Garten auf dem Kopf und machte Yoga.“

Es ist offensichtlich, dass der ältere Gabriel den lebenslangen Forschungsdrang seines Sohnes in Gang setzte. Gabriel hat nur sehr wenige menschliche Schwächen. Eine davon ist aber sicherlich die Technologie – und das von Kindesbeinen an. Laut seinem Biografen Spencer Bright kaufte er sich in den frühen Tagen von Genesis eine Biofeedback-Maschine und erstand später, in den späten Achtzigern, einen Floating-Tank. Er erlernte anspruchsvolle Yoga-Techniken und hatte schon lange mit Gravity Boots experimentiert, bevor er schließlich bahnbrechende neue Technologien in seiner Musik einzusetzen begann. All das lässt sich bis in die Werkstatt seines Vaters hinter dem Familienhaus zurückverfolgen.

Irene Gabriel, die von allen „Ireney“ gerufen wurde, war eine von fünf Schwestern, von denen zwei die Royal Academy Of Music besuchten. Die Allen-Familie war musikalisch und Irenes Mutter hatte bei den Proms gesungen, jenen weltberühmten Konzerten, die Sir Henry Wood und Robert Newman 1895 in London ins Leben gerufen hatten. Sie konnte Klavier spielen und ihre Familie erfreute sich gewisser Privilegien, die den Töchtern eines Direktors des Civil Service Department Stores in der Londoner Strand eben zuteilwurden. Ihr Vater, Colonel Edward Allen, war ein sportlicher Mann, der sich gerne dem Glücksspiel hingab. Er nahm Irene und ihre Schwestern mit an Orte wie Monte Carlo, damit er dort die Spieltische unsicher machen konnte.

„Musik war die Leidenschaft meiner Mutter. Sie spielte Klavier. Zu Weihnachten sang die Familie und alle spielten verschiedene Instrumente. Es ging ziemlich rund“, sagte Gabriel 2012. Die Kombination aus den Persönlichkeiten seiner Eltern und die Liebe zur Musik ziehen sich quer durch Gabriels Schaffen. „Seine Mum war ein sehr starker Charakter und sie bestimmte alles mit ihrem leichtfüßigen Charme“, erinnerte sich Schulfreund und Genesis-Mitbegründer Anthony Phillips. „Peter und Ralph verstummten in ihrer Gegenwart. Seine Eltern waren sehr großzügig. Sie luden uns oft zum Abendessen zu sich ein. Sie vertrauten ihm, weil er so extrem vernünftig war.“

Gabriels späterer bester Freund Tony Banks fügte hinzu: „Ralph war ein etwas distanzierter Typ. Er verständigte sich mittels dieser Phrasen. Es ist interessant zu sehen, wie Peter sich die originelle Denkweise und den Erfindergeist seines Vaters zu eigen machte. Zum Glück hat er den Charme und die Geselligkeit seiner Mutter geerbt. Er ist die ideale Kombination aus den beiden.“

Gabriel genoss eine relativ idyllische Mittelklasse-Kindheit. Neben der Liebe und der Unterstützung, die er erfuhr, war da noch das zurückgezogene, gefasste Auftreten, das auch in vielen anderen Familien ähnlicher gesellschaftlicher Stellung nach dem Krieg vorherrschte. Er konnte sich frei auf der Farm bewegen, die Natur beobachten und in sie eintauchen. Er jagte Libellen, machte Feuer, indem er Stöcke aneinander rieb, und baute Dämme. Er spielte mit seiner Schwester und den Kindern der Farmhelfer. Da seine Schwester jedoch – im Gegensatz zu ihm – die Liebe der Mutter zu Pferden und Ponys teilte, musste er sich auch oft allein beschäftigen. Coxhill, das Haus auf dem Anwesen, in dem sein Vater geboren worden war, war ein großes viktorianisches Herrenhaus mit – wie er sich 1979 gegenüber dem italienischen Journalisten und Fotografen Armando Gallo erinnerte – Holzvertäfelungen, einem Billard-Zimmer und einem Krocket-Rasen. Die heimelige – aber auch ein wenig unheimliche – Abgeschiedenheit sollte später in Gabriels Arbeit einfließen. Als Kind war er davon überzeugt, dass er fliegen könne. Er flatterte mit den Armen und rannte zwischen den vier Birnbäumen hin und her, um endlich vom Boden abzuheben. „Ich las damals viele Superman-Comics, wodurch die Realität ein wenig verzerrt wurde.“ In diesem Wissen ist es unmöglich, sich seine späteren Songs „Willow Farm“ oder „The Nest That Sailed The Sky“ anzuhören, ohne sich dieses Bild vor Augen zu führen.

Obwohl er kein regelmäßiger Kirchgänger war, gehörte Religion zu den Konstanten in Gabriels Erziehung. Die Suche nach Spiritualität, die ihren Ursprung in den Büchern seines Vaters über östliche Religionen hatte, würde Gabriel sein ganzes Leben beschäftigen. Gabriel erinnerte sich 1978 an den Ort, an dem er heranwuchs: „Es ist mehr und mehr von der naheliegenden Stadt Esher vereinnahmt worden. Immer mehr Print Shops für Nachdrucke und Antiquitätenläden, in denen Nachbildungen verkauft werden, verdrängen die alten Geschäfte.“ Andererseits, obwohl verschlafen und exklusiv, beheimatete es eine starke Community, die zusammenarbeitete und das Land bestellte, und war nicht nur ein Vorort für Pendler.

Gabriel besuchte die Grundschule Cable House in Woking. Mit neun – im selben Jahr, in dem er zum ersten Mal in Spanien Urlaub machte – wechselte er an die St. Andrew’s Preparatory School for Boys, die sich in einem sagenhaften alten Gebäude befand – dem Church Hill House in Wilson Way, Horsell. In seinem letzten Jahr in St. Andrew’s fuhr er nur mehr am Wochenende nachhause. Obwohl er kein herausragender Schüler war, arbeitete Gabriel fleißig, um ansprechende Leistungen zu erbringen. Trotz seiner Schüchternheit kam er relativ gut mit den anderen Jungs aus, bevorzugte aber grundsätzlich eher weibliche Gesellschaft, was zweifellos mit dem Einfluss seiner Mutter, seiner Schwester und den Töchtern der Farmarbeiter zu tun hatte. Später sagte er: „Ich war kein sportlicher, machohafter Typ. Ich spielte lieber Doktor und Krankenschwester mit den Mädchen hinter den Blumenbeeten, als Cowboy und Indianer.“ Wenn er und seine Freunde auf ihren Rädern in die Schule fuhren, veralberten die Arbeiterklasse-Kinder aus dem Dorf die „Posh Boys“, was dazu führte, dass sich Gabriel ein dickes Fell wachsen ließ.

„Mit elf hatte ich diesen Traum“, erzählte Gabriel 1988 Spencer Bright. „Ich gelangte zu einer Weggabelung. Ich würde entweder Entertainer – Sänger – oder Farmer werden … aber ich dachte, dass ich nie ein Sänger sein könnte, weil ich nicht fand, dass ich gut singen konnte. Als ich jung war, dachten die Leute, dass ich eine nette Chorknabenstimme hätte, aber als ich versuchte, Rocksongs zu singen, klang das furchtbar.“ Lehrern in St. Andrew’s war zum ersten Mal aufgefallen, dass Gabriel ein vielversprechender Sänger war. Und obwohl er es wieder bleiben lassen würde, folgte er eine Weile den Fußspuren seiner Mutter und nahm Klavierunterricht. Gabriel interessierte sich mehr für das Schlagzeug und kaufte im Alter von zehn dem Bruder eines Freundes seine erste Trommel ab – eine Stand-Tom für zehn Pfund. Sie war der erste Kontakt zu den Rhythmen, die sich später so stark in seiner Musik wiederfinden würden. Obwohl er sich öfter als einmal als „gescheiterten Drummer“ bezeichnete, kehrte Gabriel während seiner Karriere immer wieder zu seiner ersten Liebe, der Percussion, zurück. Sogar, als er Percussion mit seinem Konzept zu Scratch My Back 2010 komplett aus der Instrumentierung strich, ließ er die Streicher wie Schlaginstrumente klingen. Bill Bruford, der in so vielen wichtigen Bands der Siebziger getrommelt hatte, behauptete, dass ein Gig mit Gabriel einer von nur drei Jobs wäre, für den ein Schlagzeuger im ausklingenden 20. Jahrhundert töten würde – die anderen beiden wären mit King Crimson und mit Frank Zappa.

Mit zwölf verfasste Gabriel seinen ersten Song – „Sammy The Slug“ („Sammy, die Nacktschnecke“). Er witzelte später, dass jeder über Mädchen geschrieben habe, „ich aber schrieb über Nacktschnecken, was zeigt, wofür ich mich interessierte“. Dies war nur eines von vielen Beispielen für Gabriels unkonventionelle Herangehensweise an jene Kunstform, mit der er später seinen Lebensunterhalt bestreiten sollte.

Nachdem eine seiner Tanten, die an der Oper sangen, vom Interesse ihres Neffen für Musik erfahren hatte, beschloss diese, ihm unter die Arme zu greifen. Gabriel erinnerte sich später: „Sie steckte mir fünf Pfund zu. Ich sollte herausfinden, wie professionelle Sänger sangen.“ Gabriel kaufte sich stattdessen das erste Album der Beatles. Er hatte die erste Single der Gruppe aus Liverpool – „Love Me Do“ – im Autoradio seiner Eltern gehört. „Sie war radikaler als Punk, als ich sie zum ersten Mal gehört habe.“

Gabriel war genau zur richtigen Zeit im richtigen Alter, um das neue Phänomen aufzusaugen. Er war zu jung gewesen, um die Ankunft des Rock’n’Roll in den Fünfzigern mitzubekommen, im Anschluss war die Musikszene wieder verflacht. Bald nachdem Gabriel 13 geworden war, im März 1963, veröffentlichten die Beatles ihr erstes Album, Please Please Me. Die Auswirkungen, die es auf Teenager gehabt hatte, die es zum ersten Mal hörten, waren unvorstellbar. In diesem Sommer, als Gabriel sich langsam damit abfinden musste, St. Andrew’s den Rücken zu kehren und den nächsten Schritt in seinem Leben zu machen, schienen die Beatles überall zu sein.

Obwohl die Beatlemania noch nicht ganz ausgebrochen war, boten die ersten drei Beatles-Singles, darunter auch ihre erste Nummer 1, „From Me To You“, ihren unschuldigen Hörerinnen und Hörern einen berauschenden Soundtrack. Und der irgendwie exzentrische Mix aus selbst verfasstem Material und R&B-Nummern schwarzer Künstler (etwa Songs von den Isley Brothers, den Shirelles und Arthur Alexander) zeigten, dass es in Ordnung war, eigene Songs zu schreiben, während man sich auch auf den Pfad, den geheimnisumwitterte, schmachtende Acts offenbarten, begeben durfte, was wiederum wie ein Samen in Gabriels intelligentem und neugierigem Geist aufkeimen sollte. Zu seiner Stand-Tom kauften ihm seine Eltern schließlich noch eine Snare-Drum. Gabriel war dabei, sich sein erstes Schlagzeug zusammenzustellen.

Die Beatles belegten gerade mit „She Loves You“ die Spitzenposition in den UK-Charts, als der 13-jährige Peter Gabriel im September 1963 sein erstes Semester in Charterhouse, einer Privatschule in Godalming, antrat. Und ihr Einfluss – sowie der einiger anderer, die in ihrem Windschatten folgten – sollte weitaus größere Auswirkungen auf ihn haben als der hiesige Lehrplan.

„Es ist eine komplett falsche Vorstellung, dass Genesis als Gruppe an der Charterhouse existierten. Die Band existierte nur als vier einzelne Songwriter.“

– Ant Phillips, 2006

„Wir waren in Bezug auf unseren Privatschul-Hintergrund immer offen und ehrlich. Viele Musiker – vor und nach uns – kamen aus der Mittelschicht und verheimlichten es.“

– Peter Gabriel, 2007

Charterhouse School wurde 1611 von Thomas Sutton am Charterhouse Square in Smithfield, London, gegründet. 1872 übersiedelte die Schule dann an ihren jetzigen Standort in Godalming, Surrey. Mitsamt dem Motto „Deo Dante Dedi“ („Da Gott gab, gebe auch ich“) war die damalige reine Jungenschule das Lehrbuchbeispiel einer englischen Privatschule. Das immense Hauptgebäude, entworfen von Charles Hardwick, der auch für die Great Hall in der Euston Station verantwortlich war, befand sich auf einem Hügel. Seine Ausmaße und seine Lage betonten die dominante und repressive Präsenz der Schule. Es war der absolute Inbegriff viktorianischer Erhabenheit.

Charterhouse war Teil der Familientradition im Hause Gabriel. Schon sein Großvater, Christopher Burton Gabriel, war ab 1891 dort Internatsschüler gewesen. Er befand sich in illustrer Gesellschaft. Auch der Dichter Richard Lovelace, der Begründer des Methodismus John Wesley, der Komponist Ralph Vaughn Williams, der Vater der Pfadfinder-Bewegung Robert Baden-Powell, der Bühnenautor Ben Travers sowie der Poet und Autor Robert Graves gehörten zu den Absolventen des Internats. Und so war schon bei Peters Geburt klar, dass er später dieselbe Privatschule besuchen würde. Charterhouse stand für alles, was dem Establishment heilig war – patriarchale Wertvorstellungen, rigoroses Auswendiglernen sowie ein System durchdrungen von exklusiven Ritualen, die als Vorbereitung auf Oxford oder Cambridge und Positionen in einer Londoner Chefetage dienen sollten. Wie in vielen solcher Einrichtungen brachte man den Jungs, die sich nur halbherzig dem Ethos der Schule verschrieben, wenig Geduld entgegen. Als aber die Sixties voranschritten, sahen sich mehr und mehr Schüler – zum Missfallen der Internatsschule – nach Alternativen zu der für sie vorbestimmten Lebensplanung um.

Nachdem Gabriel den relativen Komfort, den ihm St. Andrew’s geboten hatte, und deren Nähe zu seinem Zuhause hinter sich gelassen hatte, wurde er im September 1963 unter einigem Zwang an die Privatschule Charterhouse geschickt. Da sich sein starker Freigeist bereits bemerkbar machte, konnte er sich nie wirklich ins Charterhouse-System einfügen. Die in Stein gemeißelte Gesinnung der Privatschule war nie die seine geworden. Jedoch wäre es übertrieben zu sagen, dass er ein Rebell gewesen wäre. Seine respektvolle Natur und sein stark ausgeprägter Sinn für Höflichkeit bewahrten ihn davor, Ärger zu verursachen. Viel mehr fand die Revolution in seinem Kopf statt. Und eben dort wurde sie von der Musik angetrieben, die er absorbierte und die er schon bald selbst spielen würde.

Die Wirkung, die ihre Zeit an der Charterhouse-Privatschule auf Gabriel und seine zukünftigen Bandkollegen hatte, ist bereits in anderen Büchern detailliert behandelt worden, aber Gabriels lebensnahe Beschreibung seiner ersten Nacht in Charterhouse in Genesis: Chapter and Verse fasst seinen damaligen Gemütszustand am besten zusammen. Nachdem er an die friedliche Atmosphäre der Farm gewöhnt war, erschienen ihm die Lichter von Autos, die unter den vorhanglosen Fenstern vorbeifuhren, wie Scheinwerfer der Flugabwehr. „Der Raum war gefüllt mit Jungs, die entweder heulten oder masturbierten – oder beides. So wurde ich an der ‚Schule für große Jungs‘ willkommen geheißen.“ Es war wie eine Art Paralleluniversum, das fest mit seiner Tradition, die bis ins Jahr 1611 zurückreichte, verbunden war. Charterhouse hatte seine eigene Sprache. Seine Schüler nannte man „Kartäuser“. Die Lehrer hießen „Beaks“ und eine Unterrichtsstunde „Hash“. Das Abendessen war als „Homebill“ bekannt. Die drei Trimester nannte man im Sprachgebrauch der Schule „Oration“, „Long“ und „Cricket“. Gabriel passte nie in die Elite, als die sich Charterhouse begriff. Er lernte, so wie er sagte, zu überleben, „ohne in irgendetwas gut zu sein“, und verstand sich als eine Art Einzelgänger in einer Atmosphäre, die von Angst und Mobbing unter den Schülern geprägt war. Allerdings treffen in solchen Einrichtungen Außenseiter oft auf andere Außenseiter.

Bereits an seinem allerersten Tag an der neuen Schule begegnete Gabriel Tony Banks, der wie er im Girdlestone House, einem der Häuser, in die das Internat unterteilt war, untergebracht war. Es war nach seinem ersten Hausvorstand, Frederick Girdlestone, benannt. Seine Bewohner wurden umgangssprachlich bereits seit Ewigkeiten „Entlinge“ gerufen, da Girdlestone einen entenhaften Watschelgang gehabt hatte. Die Beziehung zwischen Gabriel und Banks bildete zweifellos das Fundament für Genesis – und sie war auch der Grund für Gabriels Abschied von der Gruppe zehn Jahre nach ihrer Gründung. Banks, der am 27. März 1950 in East Hoathley, Sussex, auf die Welt gekommen war, war im Alter von 13 bereits ein fähiger Klavierspieler. „Ich sagte: ‚Hallo, ich bin Banks.‘ Er darauf: ‚Ich bin Gabriel.‘ Damals stellte man sich nur mit seinem Nachnamen vor“, erinnert sich Tony Banks mit einem Lachen. „Ich hielt ihn für einen eher stillen Typ. Ein wenig dicklich mit einem ernsten Blick. Er sah harmlos aus.“

Gabriel und Banks verband ihre Abneigung gegenüber der Schule. Richard Macphail, der später Genesis-Tour-Manager werden sollte und immer noch gut mit ihnen befreundet ist, hat die beiden in der Schule kennengelernt. Er war im Gegensatz zu manchen Mitschülern eher positiv eingestellt: „Ich bin einfach jemand, der mit einer sehr optimistischen Einstellung auf diese Welt gekommen ist“, erklärt er. „Ich bemerkte, dass es Tony echt mies ging. Es ist vielleicht ein wenig heftig ausgedrückt, aber die Zeit dort hat ihn wahrscheinlich traumatisiert. Es herrschte ein ziemlich raues Klima. Die älteren Jungs durften die jüngeren verdreschen. Nicht die Lehrer, sondern die Jungs. So war das eben. Ziemlich wild, wenn man es sich so überlegt.“

„Meine ersten paar Jahre dort waren sehr schwer für mich, da alles ziemlich repressiv war“, sagt Banks. „Ich kam von einer Schule, wo ich mich sehr gut gemacht hatte. Von da an ging’s mit meinen Noten bergab. Ich verstand mich nicht gut mit den Lehrern. Generell war ich nicht sehr glücklich.“

Nachdem sie einander kennengelernt hatten, setzten sich Banks und Gabriel zusammen und bastelten gemeinsam an Songs. Gabriel, ein viel schlechterer Pianist als Banks, versuchte bei jeder Gelegenheit, Banks vom Klavier zu verdrängen. „Peter gewann in jedem Fall, da er, wenn ich als erster am Klavier war, gesungen hat“, sagt Banks. „Wir spielten diese Sachen, bei denen uns John Grumbar an der Klarinette begleitete. Etwa ‚Quando, Quando, Quando‘, wodurch ich viel über den Aufbau von Musik lernte. Manchmal spielte ich vom Blatt, dann wieder nach Gehör. Es machte großen Spaß.“

In diesem repressiven Umfeld kamen Gabriel und Banks – inspiriert von Lennon und McCartney – auf die Idee, eines Tages Songwriter zu werden und ihre eigenen Songs zu spielen. „Tony wusste wohl, dass er keine besonders gute Gesangsstimme hatte. Ich vermute, dass das seine Motivation war, um mit mir zusammenzuarbeiten“, sagte Gabriel 2006. „Ich wiederum wusste ganz genau, dass er über Fähigkeiten am Klavier verfügte, die mir fehlten.“

Die beiden wollten keine eigene Band gründen, aber sie interessierten sich sehr für das Songwriting und versuchten, sich originelle Texte und Akkordfolgen einfallen zu lassen. „Peter und Tony kamen beide vom Klavier und diskutierten ständig, wer nun der Pianist sein dürfte. So begann ihre musikalische Beziehung“, erinnert sich Macphail. „Tony hatte eine klassische Ausbildung und Peter experimentierte mit Blues-Akkorden. Sie hatten sehr unterschiedliche Einflüsse, was eine gute Sache war. Banks stand für Hymnen und Bach – Peter dagegen begeisterte sich für Nina Simone und Blues.“

„Peter und ich haben schon immer nach etwas Eigenem gesucht“, sagt Banks. „Er spielte mir ‚I Put A Spell On You‘ von Nina Simone vor, was uns beiden sehr gefiel. Ihre Stimme war so fantastisch. Das Streicher-Arrangement und die Akkorde waren sehr atmosphärisch. Das Stück gehört immer noch zu meinen Favoriten. Wir standen beide auf Soul. Ich liebte Tamla Motown und Otis Redding. Unsere Geschmäcker waren sich zu dieser Zeit recht ähnlich. Ich war damals ziemlich vielseitig am Weg. Im Verlaufe des Jahrzehnts aber engte sich mein Spektrum immer mehr ein, bis ich schließlich gar nichts mehr gut fand.“

Die Zeit, die die Jungs an der Schule verbrachten, überschnitt sich mit dem Anbruch einer neuen, bunten Ära in Großbritannien in den Sechzigern: „Es war ganz klar eine Phase großer Veränderungen“, erinnert sich Macphail. „Da waren die Beatles und die Stones. Wir kamen alle 1962 und ’63 an und alles überschnitt sich. ‚Bang!‘ – Auch an der Schule ging es rund. Die Leute ließen sich ihre Haare wachsen, trugen knallenge Hosen und entdeckten die Musik für sich. Letzten Endes war es die Musik, die uns alle rettete. So schaffte ich meinen Abschluss.“

Eine mehr als willkommene Abwechslung bot sich im Keller der „Entlinge“, wo ihnen ihr Hausvorstand jeden Abend eine Stunde lang erlaubte, den Plattenspieler auf volle Lautstärke zu drehen. Hier hörte Gabriel Blues, R&B, Soul, die Stones, die Yardbirds, die Beatles, was auch immer die Jungs von ihren regelmäßigen Ausflügen nach Godalming ankarrten. Musik wurde für alle zum Zentrum.

***

Anthony ‚Ant‘ Phillips, der am 23. Dezember 1951 geboren war und eine Klasse unter Banks und Gabriel zur Schule ging, stand auf Musik und Bands. Er stammte aus Chiswick und war ein begnadeter Gitarrist. Die meisten Leute vergessen, was für ein gigantischer Typ Ant gewesen ist“, sagt Macphail. „Musikalisch war er allen anderen weit voraus, obwohl er jünger war als wir.“ Phillips war mit Mike Rutherford befreundet, der am 2. Oktober 1950 das Licht der Welt erblickt hatte. Die beiden hatten sich früh an der Schule kennengelernt. Rutherford galt als sehr aufmüpfig. „Ich hatte Peter in unserem ersten Jahr getroffen“, erinnert sich Rutherford. „Wenn man nicht im selben Haus wohnte, hatte man nicht viel miteinander zu tun. Es gab nicht viele, die selbst Musik machten. Wenn man sich also mit Musik beschäftigte, dann fand man sich schnell. Peter war ein sehr stiller Typ.“

Rutherfords Hausvorstand verbat ihm, Gitarre zu spielen. Er nannte sie „ein Symbol der Revolution“. Da Gitarristen auf dem Gelände nur spärlich gesät waren, freundeten sich Rutherford und Phillips rasch an und gründeten eine Gruppe namens The Anon, bei der Phillips’ Freund Rivers Jobe Bass spielte. Ihr guter Kumpel Macphail übernahm den Gesang. „Ich hätte mir nie gedacht, dass ich einen Song schreiben könnte“, sagt Macphail, „aber ich war ein guter Imitator.“ Macphail war ziemlich von Mick Jagger angetan. Während die Beatles als gute Jungs galten, waren Jaggers Jungs, die Rolling Stones, die Bösewichte der Popmusik, die sich auf den Delta-Blues beriefen und ihre eher gehobene Herkunft aus Kent unter den Teppich kehrten. Macphail liebte die Band so sehr, dass Phillips ihm vorschlug, er solle sich für ihre Gruppe doch ‚Mick Phail‘ nennen. „Ich stritt mich deswegen oft mit meinen Eltern“, lacht Macphail. „Sie hielten Mick Jagger tatsächlich für die Inkarnation des Teufels.“

Ab Mitte 1965 gab es auf der Schule mehrere Bands, die sich alle vom Durchbruch der Beatles und der Stones in die weltweiten Hitparaden inspiriert fühlten. The League of Gentlemen galten als die beste unter ihnen. Gabriel hingegen, der mittlerweile ein vollständiges Schlagzeug besaß, trommelte bei den Milords (manchmal auch The M’lords) und im Anschluss daran mit seinem Freund David Thomas bei The Spoken Word. „Peter spielte bei den Milords mit Richard Apsley“, erinnert sich Banks. „Sie spielten in erster Linie traditionellen Jazz. Bei einem Konzert war Peter hinter den Drums und bei ihrer Version von ‚House Of The Rising Sun‘ trommelte er nicht nur, sondern sang auch. Peter hat zwar ein tolles Gespür für Rhythmus, aber er kann ihn nicht halten. Sein Schlagzeugspiel war immer ein wenig wacklig. Es war aber sehr aufregend, wie er auf alle Trommeln gleichzeitig einknüppelte und schrie. Irgendwie funktionierte es.“

Gabriel und Tony Banks bewegten sich noch weiter fort von ihrem ursprünglichen kleinen Songwriting-Workshop, als sie schließlich mit ihrem Freund Chris Stewart an den Drums doch eine eigene Band auf die Beine stellten, um im Juli 1966 ein Aulakonzert zu bestreiten. Stewart spielte außerdem noch bei The Climax, die ihr Gitarrist mit einem Jungen namens Mick Colman gegründet hatte, nachdem Ruther­ford den Probeplan von The Anon für zu drastisch befunden hatte. Allerdings waren The Anon die Anführer der Szene und Rutherford sollte sich ihnen schon bald wieder anschließen. Die Bands rivalisierten untereinander. „Wenn Rivers Jobe und ich im Sommer 1966 Charterhouse nicht wieder verlassen hätten, wäre es fraglich, ob es Genesis je gegeben hätte“, meint Macphail. Obwohl Jobe über seinen Abschied bereits Bescheid wusste, wusste Macphail noch nicht, dass er im nächsten Jahr nicht mehr die Schule besuchen würde. Es war seine Idee, The Anon gemeinsam mit der noch namenlosen Soul-Combo, die Gabriel anführte, auftreten zu lassen. Im Prinzip gab es diese Band auch nur für diesen einen Auftritt. „Das Konzert konnte man als Symbol für den gesellschaftlichen Wandel ansehen. Und es fühlte sich an, als würden wir an seiner Spitze stehen“, lacht Rutherford. „Wir spielten zwei Sets mit Pause. Sie spielten und dann spielten wir. Es war herrlich amateurhaft.“ Jobe und Phillips spielten Bass und Gitarre bei Gabriels Gruppe, die in der Eile auf den Namen The Garden Wall getauft worden war. „Ich hatte keine Ahnung, dass wir so hießen“, lacht Banks. „Erst später sagte mir das jemand. Das Piano war zu schwer, um es auf die Bühne zu wuchten, daher spielte ich einfach davor. Niemand nahm von mir Notiz, bis ich die Einleitung zu ‚When A Man Loves A Woman‘ anstimmte. Plötzlich sahen mich alle an. Wir spielten eine sehr soulige Version davon und auch von ‚I Am A Rock‘. Auch von ein paar anderen Stücken und einer improvisierten Blues-Nummer. Es war witzig, dass ich unserem Drummer, Chris Stewart, nicht signalisieren konnte, dass er zum Ende kommen sollte. Wir hatten schon keine neuen Ideen mehr auf Lager. Das ging fünf Minuten so dahin, bis ich schließlich seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen konnte. Es war alles sehr lustig und ich habe keine Ahnung, ob es gut war.“

Obwohl Macphail mit seinem eigenen Auftritt beschäftigt war, erinnert er sich noch an Gabriels Performance: „Peter trug einen lustigen, hohen Hut, den er selbst entworfen und gebastelt hatte. Er war nicht besonders wild, dafür aber umso schrulliger.“

Der Musiklehrer, der die Veranstaltung genehmigt hatte, hieß Geoffrey Ford und war damals bereits in seinem zehnten Jahr als Director of Music an der Schule. Obwohl er fortschrittlich genug eingestellt war, das Konzert stattfinden zu lassen, verbat er den Gruppen, Ansagen zu machen, was eine Riesenenttäuschung für Gabriel, Banks, Rutherford, Phillips und Macphail darstellte. Letzterer war mittlerweile 16 und bereits auf Konzerten im sagenumwobenen Londoner Marquee Club gewesen, wo er gesehen hatte, dass die richtigen Ansagen zum Ritual einer gelungenen Performance dazugehörten. Da das Konzert aber vor 600 Leuten, also der ganzen Schule, stattfand, befürchtete Ford, dass die Gruppen einen Aufstand entfesseln könnten. Gabriel zeigte jedenfalls bestes Benehmen und The Garden Wall beendeten ohne Zwischenfälle ihr Set, was man von The Anon leider nicht behaupten konnte.

„Ich hielt mich an die Regeln, bis wir schließlich Probleme mit dem Equipment hatten“, erzählt Macphail. „Ich kündigte unseren Song ‚Pennsylvania Flickhouse‘ an, da ich so stolz war, dass wir dank Ant unsere eigenen Nummern hatten. Dann zog Geoffrey Ford den Stecker – und wir kamen nicht mehr dazu, unseren letzten Song zu spielen. Dieses Konzert war mein absoluter Höhepunkt. Ich schäumte geradezu über vor lauter Selbstvertrauen.“

Der launenhafte Rivers Jobe verließ Charterhouse und spielte gegen Ende der Sechziger schließlich Bass bei Savoy Brown. Knapp zehn Jahre später nahm er sich das Leben. Macphail kehrte im Herbst nicht mehr an die Charterhouse zurück und ging stattdessen an die Millfielt School in Street, Somerset. The Anon machten ohne ihn weiter. Inspiriert von Cream, wurden sie zu einem Power-Trio mit Rob Tyrell an den Drums, Rutherford am Bass und Phillips an der Gitarre. Macphail blieb in Kontakt mit seinem Freund Phillips und hielt die Ohren für neue Entwicklungen offen. Macphails Abschied ebnete den Weg für den Zusammenschluss der beiden Gruppen, aus denen schließlich Genesis entstehen sollte. Aber wahrscheinlich bringt es Ant Phillip mit seiner Aussage von 2006 am besten auf den Punkt: „Es ist eine komplett falsche Vorstellung, dass Genesis als Gruppe an der Charterhouse existierten. Die Band existierte nur als vier einzelne Songwriter.“

***

Am 18. September 1966 fuhr Gabriel nach London, um Otis Reddings Auftritt im Ram Jam Club in Brixton zu sehen. Obwohl sich Charterhouse nur knapp 50 Kilometer nördlich von London befand, war es für Gabriel, als würde er einen fremden Planeten bereisen. Wahrscheinlich war es das wichtigste Ereignis in seinem Leben. Der Nachhall dieser Erfahrung zog sich wie ein roter Faden durch die Interviews, die er im Verlauf seiner Karriere geben würde. NPR erzählte er am 17. Oktober 2012: „Otis Reading war der King für mich, ich liebte Stax und den klassischen R&B-Soul … Ich schaffte es, Otis in diesem Keller zu sehen und da waren vielleicht höchstens drei weiße Gesichter im Publikum. Bis heute ist es mein Lieblingskonzert.“ Das Album Otis Blue von 1965 hatte er so oft gehört, dass man die Platte kaum mehr abspielen konnte, aber nichts hätte ihn darauf vorbereiten können, den legendären Performer live zu sehen. Obwohl Redding, der Sohn eines Priesters aus Georgia, erst 26 Jahre alt war, wusste er bereits alles, was er wissen musste, über die Bühne, den Soul und über perfektes Timing. Einem breiteren Publikum sollte er ins Bewusstsein rücken, als er ein Jahr später beim Monterey Pop Festival auftrat.

Reddings Performance hatte eine umfassende Wirkung auf Gabriel: „In seiner Gegenwart fühlte es sich an, als würde sich dein Herz öffnen. Ich empfinde das immer noch so. Sagen wir, jemand wie Springsteen, der eine unglaubliche Kraft als Performer hat – wenn du ihn nimmst und vervielfachst, dann kommt man vielleicht in die Nähe von Otis. Er nahm sich manchmal zurück und war dann sehr still, aber wenn es losging, war er wie eine Fabrik, die Energie, Liebe und Leidenschaft erzeugte.“ Gabriel begann Reddings Performance-Skills in seinen eigenen Act einfließen zu lassen, was auch dazu führte, dass er und Banks mehr Material zusammen schrieben.

***

Man kann es Ant Phillips gutschreiben, das zusammengeführt zu haben, woraus später Genesis entstanden ist. Er und Rutherford arbeiteten an ein paar Demos für The Anon im Studio des gemeinsamen Freundes Brian Roberts und brauchten einen Keyboarder. Phillips erkundigte sich bei Banks, ob er ihm womöglich aushelfen könnte, dieser schlug wiederum vor, dass auch Gabriel vorbeischauen sollte, um zu singen. Zu dieser Zeit nahmen The Anon „Pennsylvania Flickhouse“ auf – das Demo, das 2011 wieder auftauchen sollte. Die erste gemeinsame Studioaufnahme von Phillips und Rutherford bot einen verheißungsvollen, wenn auf etwas generischen, vom Beat getriebenen Sound. Banks dachte, dass diese Session auch die perfekte Gelegenheit bieten würde, den letzten Song, an dem er mit Gabriel gearbeitet hatte, „She Is Beautiful“, aufzunehmen. „Ich hatte eine Akkordfolge und ein Bass-Riff für ‚She Is Beautiful‘“, erinnert er sich, „und dann sang Peter drüber und dachte sich eine Melodie und einen Text aus. Später schrieb auch ich Texte und dachte mir Melodien aus und Peter kümmerte sich um die Akkorde. Wir schrieben damals ziemlich viel gemeinsam.“ Wie Phillips später sagen sollte: „Mike und ich teilten uns den R&B, die raue Seite, und Tony hatte den klassischen Einfluss. Was Peter beisteuerte, was der Rest von uns nicht so intus hatte, war der Soul, diese leicht soulige Stimme.“

Gabriel erzählte Paul Morley vom NME im Juli 1980: „Ich dachte, ich könnte den Mittelschicht-Engländer mit Soul in seine Schranken weisen … Ich wollte stundenlang am Piano sitzen und schreien. Was auch immer. Nur um Emotionen rauszulassen. Das war es, was mich ursprünglich zur Rockmusik gezogen hat. Vielleicht spielte auch die unverfälschte Rasanz eine Rolle.“

Das Gefühl, auf der Bühne zu stehen, die Musik und die Mode öffneten Gabriels Verstand. „Das ist etwas, das viele englische Musiker gemeinsam haben. Sie alle haben umfassendes Wissen, was Musik angeht, viel mehr als in Amerika“, sagt der Fan und zukünftige Kollaborator Nile Rodgers. „In Amerika ist alles viel zielgerichteter, aber da drüben wollen sie einem neben dem Entertainment immer noch was beibringen. Es soll einen zum Denken bewegen und eine Reaktion hervorrufen. Fast alle Acts aus Übersee, mit denen ich zusammengearbeitet habe, haben diese Vorliebe – und nicht nur, weil sie vielleicht gebildeter wären. Ich denke, es hat etwas mit ihrer Kultur zu tun. Ich finde, es gibt da ein Muster. Ich könnte mit Johnny aus Manchester, Duran aus Birmingham oder Sting aus Newcastle abhängen. Viele dieser Jungs haben einen Arbeiterklasse-Background, aber sie sind komplexe Individuen. Sie tun alles, wenn sie noch jung sind. Sie warten nicht, bis sie 30 oder 40 sind, sondern gehen es zwischen 15 oder 17 an.“

Obwohl Gabriel ganz sicher nicht aus der Arbeiterklasse stammte, machte er sich tatsächlich zwischen 15 und 17 auf, es zu tun. Neben seinen Studien und seiner Band betätigte sich Gabriel, der nun als bekennender Motown-Jünger gerne auf Tische stieg, um seine Mitschüler mit Gesangseinlagen zu unterhalten, in der Welt des Modedesigns. Er batikte Shirts und verkaufte sie an die Jungs an der Schule und belieferte Emmerton and Lambert am Chelsea Antiques Market mit Hüten, die er von Dunn & Co. in Piccadilly herrichten hatte lassen. Die Story kam im September 2011 im Daily Mirror ans Licht: „Ich fand die Hüte in einer Kiste mit Verkleidungen, die meinem Großvater gehörten“, gab er zu Protokoll. „Ich überredete einen Herrenausstatter in Piccadilly dazu, sie mit Grün und Pink, Hippie-Farben, aufzupeppen. Und schon fanden sie ihren Weg in die Kreise, in denen die Stones abhingen. Einmal kam ich von der Schule nachhause und sah Marianne Faithfull mit einem meiner Hüte bei Juke Box Jury