Peter Handke und "Gerechtigkeit für Serbien" - Kurt Gritsch - E-Book

Peter Handke und "Gerechtigkeit für Serbien" E-Book

Kurt Gritsch

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Beschreibung

Als Peter Handke 1996 "Gerechtigkeit für Serbien" forderte, hallte ein Aufschrei der Empörung durch die deutschsprachigen Feuilletons. Bereits nach wenigen Wochen war "Gerechtigkeit" nicht nur für Serbien, sondern auch für den österreichischen Dichter in weite Ferne gerückt. Das Buch stellt die Reaktionen der Feuilletons nach Erscheinen von "Gerechtigkeit für Serbien" in den Kontext der deutschsprachigen Balkanberichterstattung der 1990er-Jahre und zeigt auf, dass manche von Handkes Kritikpunkten nicht unbegründet waren. Dass er den Finger in die Wunde gelegt hatte, verdeutlichte die von ihm ausgelöste Kontroverse, die zu einer der größten Literaturdebatten des Jahrzehnts wurde und bis heute anhält. "Gerechtigkeit für Serbien", am 5./6. und 13./14. Januar 1996 vorab in der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht, war auch über die Grenzen des deutschen Sprachraumes hinaus der Literaturskandal des Jahres. Der Kärntner Autor Peter Handke hatte in Prolog und Epilog seines Reiseberichts aus der Republika Srpska die Jugoslawien-Berichterstattung deutscher, französischer und US-amerikanischer Printmedien als antiserbisch bezeichnet und u.a. einige Schriftstellerkollegen und Intellektuelle für ihr Engagement zugunsten von Kroaten und bosnischen Muslimen gerügt. Die Kritik an Zeitungen wie FAZ, Le Monde oder Der Spiegel konnte bei diesen aufgrund ihrer traditionalistischen Balkan-Berichterstattung nur auf Ablehnung stoßen. Dennoch fiel auf, dass sich recht bald eine Phalanx von bürgerlichen über liberalen bis hin zu linken Medien gegen Handkes Thesen stellte. Bereits nach wenigen Wochen war "Gerechtigkeit" nicht nur für Serbien, sondern auch für den österreichischen Dichter in immer weitere Ferne gerückt. Im Zuge einer Übersetzung ins Serbische wurde das Buch 2023 mit einem Vorwort versehen, das auch in der deutschsprachigen Neuauflage ergänzt wurde.

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Kurt Gritsch

Peter Handke und „Gerechtigkeit für Serbien“

Kurt Gritsch

Peter Handke und„Gerechtigkeit für Serbien“

Eine Rezeptionsgeschichte

Inhaltsverzeichnis

1.     Vorwort

2.     Einleitung

3.     Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien

3.1   Erste Reaktionen

3.2   Die Lesereise

3.3   Weitere Reaktionen des Feuilletons

3.4   Politik und Literatur – Die Lesung im Parlament

3.5   Ende der Diskussion?

3.6   »Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise«

3.7   Reaktionen aus den Feuilletons

3.7.1   Vorausgeschickt

3.7.2   »Wahn von Krieg und Blut und Boden«

3.7.3   »Provokationen eines politischen Träumers«

3.7.4   »Gerechtigkeit für Handke«

3.7.5   Einsamer Sucher ging nach Serbien

3.7.6   »Anblickswürdiges Serbien«

3.7.7   Gerechtigkeit und ihr politischer Preis

3.7.8   Das »Neunte Land« – das andere Serbien?

3.7.9   Von der Autorität des Dichtens und des Dichters

3.7.10  Ein Blick in den Spiegel

3.7.11  Poetisches Denken und literarische Wirklichkeit

3.7.12  Reise der Literatur(kritik) ins Abseits

3.7.13  Ein ungeliebter Friedenstext

3.8   Reaktionen Intellektueller

3.8.1   Ophuls und der »Altersirrsinn«

3.8.2   Dissens und Konsens als »Erfahrung schrecklicher Fremdheit«

3.8.3   Alfred Hrdlicka, ein »Resterreicher« (Wort-)Bildhauer

3.8.4   Serbien, ein Wintermärchen?

3.8.5   Krieg in den Köpfen

3.8.6   Anblickswürdiges Selbst

3.8.7   »War wirklich Krieg am Balkan?«

3.8.8   Welches Serbien?

3.8.9   Kitsch oder ethischer Nihilismus?

3.8.10  Spazierfahrt für Serbien?

4.     Geschichte: Der Balkan – das »Pulverfass Europas«?

4.1   Vorausgeschickt

4.2   Serbien vom frühen Mittelalter bis zur Neuzeit

4.3   Der Mythos des Amselfeldes

4.4   Die serbisch-orthodoxe Kirche

4.5   »Massakertraditionen« auf dem Balkan

4.6   Serbien bis zur Gründung des SHS-Staates

4.7   Panslawismus, »Großserbentum« und der Weg zu Jugoslawien I

4.8   Politische Instabilität, Königsdiktatur und Zweiter Weltkrieg

4.9   Die Gründung von Jugoslawien II

4.10 Jugoslawien II bis zur Zerstörung 1991

4.11 Der Kroatische Frühling

4.12 Das Ende Jugoslawiens

5.     Medien und Darstellung — Das westliche Jugoslawien-Bild der 1990er Jahre

5.1   Die »Legende« von den »bösen Serben«

5.2   Fragwürdige Berichterstattung: »Massenvergewaltigungen« und serbische »KZs«

5.3   Grenzen des Journalismus: Der Einfluss von PRAgenturen am Beispiel der Ruder Finn Global Public Affairs

5.4   Medien und Moral – Der Gemeinmachende Journalismus

6.     »Gerechtigkeit für Serbien« im Spiegel gesellschaftspolitischer Entwicklung – Der »totalitäre Populismus«

7.     Zusammenfassung der Ergebnisse

7.1   Allgemeine Auswertung

7.2   Kritikpunkte im Einzelnen

7.2.1   Allgemein

7.2.2   Der Hauptvorwurf

7.2.3   Weitere Kritikpunkte

7.3   Die einzelnen Zeitungen im Überblick

8.     Nachwort

Anhang

Chronik der Ereignisse auf dem Balkan von 1986 bis 1999

Quellen- und Literaturverzeichnis

Sekundärliteratur zur Geschichte Jugoslawiens bzw. Serbiens

Sekundärliteratur zu Medien und Berichterstattung im Jugoslawien-Krieg

Primärwerke

An Stelle eines Interviews ...

Peter Handke und „Gerechtigkeit für Serbien“. Eine Rezeptionsgeschichte

Vorwort für die serbische Übersetzung 2023

Von Fernfuchtlern, Zeitungsratten und Knüppelwörtern

Zur Causa Handke: Wenn Journalisten Geschichte schreiben wollen

1. Vorwort

Als Peter Handke im Januar 1996 seinen Reisebericht aus Serbien in der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte, hallte ein Aufschrei durch den internationalen Blätterwald. Der österreichische Autor wurde als »Serbenfreund« verschrien, als Völkermord-Leugner bezeichnet und zum moralischen Outlaw abgestempelt. Gustav Seibt attestierte Handkes Reisebericht in der FAZ sogar eine »beträchtliche Nähe zu Blut und Boden«.

Was war passiert?

Der österreichische Büchnerpreisträger hatte unter der Headline »Gerechtigkeit für Serbien« von einer mehrtägigen »winterlichen Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina«1 im Spätherbst 1995 berichtet. Darin hielt er seine Beobachtungen in einem ökonomisch wie moralisch mit einem Embargo belegten Land fest. Der Reisebericht als solcher wurde allerdings bereits zu Beginn der Debatte kaum einer literarischen Diskussion für würdig befunden. Was die Gemüter erhitzte, waren Prolog und Epilog der »winterlichen Reise«, in denen Handke die westliche Berichterstattung über den Jugoslawien-Krieg heftig kritisiert, den Vorwurf antiserbischer Ressentiments gegen einzelne Printmedien erhoben und Künstler und Intellektuelle für ihr Engagement zugunsten bosnischer Muslime gescholten hatte.

Ausgerechnet der »Bewohner des Elfenbeinturms« und ein politischer Skandal? Es sei, meinten Kritiker, dem Österreicher wohl darum gegangen, einen solchen zu inszenieren. Seine mangelnde Empathie für bosnisch-muslimische Opfer im Jugoslawien-Krieg jedenfalls bezeichnete der im Reisebericht kritisierte Peter Schneider als »bedrückend«. Die Angriffe häuften sich, bis Handke auf einer Lesung in Wien einem Journalisten wutschnaubend empfahl, er solle sich doch »die Betroffenheit in den Arsch stecken«. Handke, »Mimose und Trampeltier«, Handke, ein »Arschloch«? So meinte jedenfalls Georg Hoffmann-Ostenhof im österreichischen Magazin profil.

Die vorliegende Arbeit rollt die literarische Debatte des Jahres 1996 nochmals auf, analysiert die Argumente und vergleicht die Kritik mit den einschlägigen Fakten. Dazu findet sich neben einem Abriss über die Geschichte Serbiens von 700 n. Chr. bis 1991 auch ein Kapitel über die Berichterstattung im Jugoslawien-Krieg. Wie konnten »die« Serben zu Nazis mutieren? Die Erforschung der Tätigkeit der PR-Agentur Ruder Finn fördert hierbei Erhellendes zutage. Ob und inwiefern die weitgehende und Ideologie übergreifende Ablehnung Handkes und seiner »Gerechtigkeit« den Spielregeln eines gesamtgesellschaftlichen »totalitären Populismus« folgte, wird am Ende erörtert. Abgerundet wird die Forschungsarbeit durch eine Chronik der Ereignisse auf dem Balkan zwischen 1986 und 1999.

Mein Dank gilt an dieser Stelle den MitarbeiterInnen des Innsbrucker Zeitungsarchivs, durch deren Hilfe mir die Recherche der ausgewählten Printmedien wesentlich erleichtert wurde. Dank gebührt auch dem ehemaligen Leiter des IZA, Dr. Michael Klein, der mir manchen wertvollen Tipp gegeben hat, Prof. Dr. Michael Gehler, der die Arbeit über viele Jahre mit großem Interesse begleitet hat, und insbesondere dem Leiter des Südtiroler Kulturinstituts, Dr. Marjan Cescutti, für sein Interesse und seine Unterstützung.

Innsbruck, im Frühling 2009Der Verfasser

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1 Peter Handke, Gerechtigkeit für Serbien. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina, in: Süddeutsche Zeitung, 5./6. und 13./14. Januar 1996. In der Buchform wurde die Reihenfolge der Titel getauscht, vgl. Peter Handke, Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien, Frankfurt a.M. 1996.

2. Einleitung

Warum konnte ein in den Wochenendbeilagen der Süddeutschen Zeitung vom 5./6. und 13./14. Januar 1996 abgedruckter Reisebericht dermaßen die Gemüter erhitzen? Welches waren die Argumente in der hitzig geführten Debatte? Und welche Kontexte lassen sich daraus erschließen? Diesen und ähnlichen Fragen wird anhand der Rezeptionsanalyse der aufsehenerregendsten Publikation von Peter Handke zu Jugoslawien nachgespürt. Auch wenn sich die Auseinandersetzung des Kärntner Schriftstellers mit Jugoslawien über 20 Jahre hinweg erstreckte, markiert das 1996 veröffentlichte »Gerechtigkeit für Serbien« den Höhepunkt der Rezeption.2

»Keine Lust auf Fakten«, meinte die FAZ in einer ersten Reaktion auf die in »Gerechtigkeit für Serbien« nicht mit Hintergrundinformationen belegten und ihrer Meinung nach auch nicht belegbaren Kritikpunkte des Kärntner Schriftstellers, und die Stuttgarter Zeitung sprach in Anlehnung an Handkes Formulierung vom »Auslandshochsitz« vom »Balkan, gesehen vom Hochsitz der Poesie«. Daran sollten sich die Gemüter in der Folge immer stärker erhitzen, und so folgte ein Schlag auf den anderen. »Provokationen eines politischen Träumers«, titelte der Schweizer Tages Anzeiger, und Luc Rosenzweig, stellvertretender Chefredakteur der von Handke mit besonderer Vehemenz kritisierten französischen Tageszeitung Le Monde, warf dem Kärntner Schriftsteller »das Fehlen jeder politischen Analyse« vor. Handkes Medienkritik sei zwar nicht ganz falsch, aber in ihrem Wesen stalinistisch. Den umgekehrten Weg ging Willi Winkler in der deutschen tageszeitung, indem er der »winterlichen Reise« attestierte, etwas Schreckliches zu beinhalten, nämlich die Wahrheit. Der damalige tageszeitung-Chefredakteur Thomas Schmid hingegen behauptete, Handke würde durch seinen Text weniger von eingefahrenen Denkmustern befreien, wie dies die Süddeutsche Zeitung verkündet hatte, sondern er selbst benutze Denkmuster einer großen Verschwörungstheorie und kultiviere darüber hinaus nur Klischees und Vorurteile. Hannes Krauss forderte schließlich in der deutschen Wochenzeitung Freitag Gerechtigkeit für Handke.

Kritik setzte es aber nicht nur vom Feuilleton, sondern auch von Intellektuellen. Der Schriftsteller Peter Schneider, dem Handke einen „mechanischen, feind- und kriegsbildverknallten, mitläuferischen statt mauerspringerischen Schrieb“3 für das Eingreifen der NATO gegen die bosnischen Serben vorgeworfen hatte, meinte im Spiegel, es sei bedrückend, dass Handke den Bosniern ausgerechnet als Interpret ihrer Belagerer entgegentrete, und bescheinigte der seiner Meinung nach »beweisarmen, dafür um so adjektivseligeren Sprache« des Kärntner Autors die Entfaltung eines »beachtlichen Killerinstinktes«. Keine Lust auf Auseinandersetzung hatte schließlich der Schweizer Schriftsteller Jürg Laederach, er trat im Zuge der Serbien-Debatte kurzerhand aus dem Suhrkampverlag aus. Sein österreichischer Schriftstellerkollege serbischer Herkunft, Milo Dor, fragte am 16. Januar in der Presse, welches Serbien von Handke denn gemeint sei, doch zu einer Einigung darüber sollte es nicht kommen, im Gegenteil. Die Fronten verhärteten sich, und immer mehr Autoren, Künstler, Regisseure oder Philosophen, zum Teil in der »winterlichen Reise« nicht gerade mit Lob überschüttet, bezogen Stellung. Sein Platz, so verkündete Handke schließlich 1999 im Zuge des »Kosovo-Krieges«, sei in Serbien.

Doch nicht nur in literarischen Kreisen sorgte das Werk für Aufsehen. Als Peter Handke im Zuge der Auseinandersetzung Passagen aus der »winterlichen Reise« im österreichischen Nationalrat vortrug, boykottierte die ÖVP mit Ausnahme ihres Klubobmannes Andreas Khol die Dichterlesung, zu der das Nationalratspräsidium unter Präsident Heinz Fischer (SPÖ) geladen hatte. Der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) ließ später verlautbaren, dass er Handke »nicht unbedingt zu seinem Jugoslawien-Berater« machen würde. Die Lesung im Parlament provozierte in Österreich eine Auseinandersetzung, die hohe Wellen schlug.

Die causa »Gerechtigkeit für Serbien« hat das deutschsprachige Feuilleton nachhaltig – bis heute – beschäftigt. Insbesondere im Untersuchungszeitraum von Januar bis Dezember 1996 finden sich immer wieder direkt oder indirekt bezugnehmende Stellungnahmen, Kommentare, Leserbriefe u.a., deren größter Teil wiederum aus den Monaten Januar und Februar stammt.

Eine Bibliographie der ausgewählten Printorgane findet sich im Anhang der Arbeit. Auf die Einarbeitung der literaturwissenschaftlichen Rezeption wurde verzichtet. Allgemein orientiert sich die Recherche am Material des Innsbrucker Zeitungsarchivs (IZA)4, welches insgesamt 43 Zeitungen, davon 27 Tageszeitungen, zwölf Wochenzeitungen und vier Magazine, auswertet. Ziel war es, die wichtigsten überregionalen Tagesund Wochenzeitungen der Schweiz, Deutschlands und Österreichs repräsentativ auszuwerten, um ein möglichst vollständiges Bild der Serbien-Debatte entwerfen zu können. 21 Printmedien, sechs deutsche Tages-, drei Wochenzeitungen und ein Magazin, vier österreichische Tages-, zwei Wochenzeitungen und ein Magazin sowie drei schweizerische Tages- und eine Wochenzeitung bilden die Basis meiner Analyse. Sie wurden durch andere Printmedien punktuell ergänzt, wenn es sich, wie im Falle des Stern mit dem Handke-Interview von Gabriel Grüner oder dem Interview von Milo Dor in der 14-tägig erscheinenden Berner Zeitung Der Bund themenbedingt anbot. Die österreichische Kleine Zeitung wird aus semantischen Gründen einmal erwähnt, während eine Rezension der Stuttgarter Zeitung stellvertretend für die doch recht intensive Beschäftigung der Zeitung mit der Handke-Debatte5 Niederschlag fand, auch wenn diese Zeitung in der Bibliographie nicht aufgelistet und durchgehend analysiert wurde. Die Zeitschrift Theater heute wiederum habe ich ob des Interviews mit dem kroatischen Dramatiker Slobodan Snajder mit einer Ausgabe berücksichtigt. Daneben sollten weitere punktuelle Ergänzungen vorgenommen werden, die sich allerdings abseits der Printmedien im Bereich der Belletristik manifestieren, wie beispielsweise Drago Jancars »Kurzer Bericht über eine lange belagerte Stadt oder Gerechtigkeit für Sarajevo« oder Erich Frieds Gedichtband »und Vietnam und«. Da das Material über die causa Handke und Serbien äußerst umfangreich ist, musste im Rahmen der Analyse eine gezielte Auswahl der zu bearbeitenden Printmedien vorgenommen werden. Diese habe ich auf der Basis des Bekanntheitsgrades sowie des Renommees der einzelnen Zeitungen erstellt, wobei die Boulevardpresse ebenso wie regionale oder auflagenschwächere Blätter nicht berücksichtigt werden konnten.

Auch wenn die vorliegende Arbeit keinen explizit wertenden Teil enthält, wurde dennoch versucht, sich zu positionieren. Für den Verfasser hat sich dabei immer stärker die Position von Peter Handke als provozierendem Intellektuellen herauskristallisiert, der einer unterrepräsentierten, hoffnungslos unterlegenen Anschauung gegenüber der dominanten, nahezu monopolartigen Meinung über die Berichterstattung im Bosnien-Krieg kraft seines literaturpolitischen Einflusses bzw. seiner Tragweite als international anerkannter Künstler stärker Gehör verschaffen wollte. Dazu setzte er der traditionellen Interpretation der jugoslawischen Sezessionskriege eine andere, revisionistische entgegen. Stand dabei zu Beginn der Diskussion noch die mangelnde oder vorhandene Gerechtigkeit gegenüber Serbien bzw. serbischen Bevölkerungsteilen im ehemaligen Jugoslawien im Vordergrund, so entwickelte die Debatte eine immer stärkere Eigendynamik, bis es am Ende fast nur mehr darum ging, sich für oder gegen Handke zu positionieren, ohne dass sein Werk, der Reisebericht, noch als Diskussionsgrundlage gedient hätte. Inwieweit die Kritik am Werk und in der Folge auch an den Äußerungen des Autors berechtigt war und ist, wird dabei ebenfalls untersucht.

Der Forschungsansatz ist interdisziplinär, die Arbeit berührt in ihrem Kern Politik, Geschichte, Literatur und Literaturkritik, wobei den Hauptbereichen in Form einzelner Kapitel Rechnung getragen wird. Die Reaktionen auf »Gerechtigkeit« habe ich zum einen in einem narrativen Überblick dargestellt, der sämtliche Beiträge der untersuchten Printmedien, von Rezensionen über redaktionelle Beiträge bis zu Leserbriefen und Agenturmeldungen, enthält. Zum anderen habe ich ausgewählte Rezensionen in einem eigenen Kapitel analysiert. Für den »sommerlichen Nachtrag« habe ich nur mehr ein allgemeines Kapitel eingefügt, das Überblick und Kritik gleichermaßen in sich vereinigt, da sich viele Positionen aus der Diskussion um die »winterliche Reise« wiederholen.

Der Umgang mit den Quellen entspricht den Standards des IZA und damit der gängigen Zitierweise von Zeitungsartikeln, wobei Verfasser des Beitrags, Namen der Zeitung und das Datum ihres Erscheinens genannt werden. Alle Quellen wurden auch orthographisch originaltreu wiedergegeben. So findet sich in wörtlichen Zitaten mitunter die alte S-Schreibung, während im übrigen Teil der Arbeit die neuen Rechtschreibregeln Anwendung finden. Die doppelte S-Schreibung nach einem Diphtong oder nach langem Vokal in einem Zitat wiederum entspricht den gängigen Rechtschreibregeln der Schweiz.

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2 Peter Handkes Beschäftigung mit Jugoslawien umfasst u.a. die Prosawerke »Die Wiederholung« (1986), »Abschied des Träumers vom Neunten Land« (1991), »Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien« (1996), »Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise« (1996), »Unter Tränen fragend. Nachträgliche Aufzeichnungen von zwei Jugoslawien-Durchquerungen im Krieg, März und April 1999« (2000), »Die Tablas von Daimiel. Ein Umwegzeugenbericht zum Prozeß gegen Slobodan Milosevic« (2006), »Die morawische Nacht. Erzählung« (2008) sowie das am Wiener Burgtheater 1999 unter Regie von Claus Peymann uraufgeführte Theaterstück »Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg«.

3 Handke, Winterliche Reise, S. 132.

4 Das Innsbrucker Zeitungsarchiv (IZA) befindet sich am Institut für Deutsche Philologie der Leopold Franzens Universität Innsbruck.

5 Insgesamt finden sich zur Diskussion um »Gerechtigkeit für Serbien« 15 Einträge, davon allerdings acht Agenturmeldungen und zwei redaktionell gezeichnete Artikel bzw. Leserbriefe. Vier Beiträge wurden namentlich gezeichnet, darunter auch die Rezension von Andreas Braun vom 16. Januar 1996.

3. Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien

3. 1 Erste Reaktionen

Als die Süddeutsche Zeitung den ersten Teil von Peter Handkes winterlichem Reisebericht am ersten Januar-Wochenende des Jahres 1996 veröffentlichte, kam es zu vielfältigen Reaktionen im deutschsprachigen Feuilleton. Den Auftakt machte dabei am 8. Januar die österreichische Tageszeitung Die Presse.6 »Anblickswürdiges Serbien« titelte die deutsche Wochenzeitung Wochenpost in ihrer Ausgabe vom 11. Januar, in der sich Rudolf Balser in einem längeren Artikel mit einzelnen Aussagen und Thesen Handkes auseinandersetzte.7 Bereits hier, noch vor Erscheinen der zweiten Hälfte des Essays, wird die Fokussierung des Politischen vor dem Literarischen sichtbar.

Als der zweite Teil von Handkes Reisebericht veröffentlicht war, meldete die DPA – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Titel »Keine Lust auf Fakten«8 versehen – bereits eine Kontroverse um den Serbien-Bericht, zu welchem sich Schriftstellerkollege Peter Schneider im Spiegel zu Wort gemeldet hatte. Schneider stellte dem Text ein vernichtendes Urteil aus, verteidigte die angegriffenen Journalisten und bezeichnete Handkes Zweifel an gestellten Fotos nichtserbischer Opfer als niederträchtig.9 Auch hier wird wiederum die Verkürzung auf die politische Dimension deutlich – auch wenn Schneider der »winterlichen Reise« einräumt, friedensstiftend zu sein, allerdings nur so lange, bis der Autor Handke sein Projekt durch seine „hasserfüllte, völlig haltlose Rundum-Verdächtigung aller Ankläger der serbischen Raub- und Vernichtungsaktionen“10 wieder selbst zerstörte.

Das österreichische Magazin profil hingegen sah Handkes selbstformulierten Zweck nach Gerechtigkeit auch ohne neue Fakten erfüllt, da die Reiseeindrücke des Autors kleine Fragen klären würden. Darüber hinaus wartete die Zeitung mit einer interessanten Feststellung auf, die sich auf das Literarische und nicht auf das Politische bezieht. Handkes Sprache, so Christian Seiler, setze „einen Kontrapunkt zur gewohnten Geschwindigkeit der Reporter, die vom Balkan berichten und mit Schlüssen und Schuldzuweisungen schnell zur Hand sind“.11 Einen Tag später fragte der serbisch-österreichische Schriftsteller Milo Dor in der Presse,12 welches Serbien Handke eigentlich verteidige. Dor zufolge hätte der Kärntner Dichter das oppositionelle Serbien ausgeklammert, weshalb der Text auch nicht wesentlich zur Aufhellung der Situation beitragen könne. Darüber hinaus sei Handke selbst nicht ausreichend informiert, als dass sein Lokalaugenschein nennenswerte Erkenntnisse bringen könne. In eine ähnliche Kerbe schlug der Chefredakteur der deutschen tageszeitung, Thomas Schmid.13 Abgesehen davon, dass die »winterliche Reise« nur deshalb Diskussionen auslösen werde, weil ihr Verfasser nicht bloß irgendwer sei, glaubte Schmid bei Handke »Denkmuster einer großen Verschwör-ungstheorie« linker Medien wie konkret und junge Welt auszumachen. Andreas Braun schloss sich in der Stuttgarter Zeitung den vernichtenden Urteilen über Handke und seine Reisereportage, „eine wunderschöne im übrigen“,14 an. Wäre das Unterfangen eines anderen Blickwinkels ebenso wie Medienkritik an sich vertretbar, so zerstöre es der Autor der »Niemandsbucht« durch seine Art als „Über- und Scharfrichter“,15 als Moralist und Demagoge durch seine Einseitigkeit und Parteilichkeit vollends selbst.

Am selben Tag bescheinigte Gustav Seibt, damals Leiter des Kulturressorts der FAZ, den Niedergang Handkes, der nun „endgültig die Provinz des weltanschaulichen Schundes erobert“16 habe. In der Zwischenzeit berichtete die österreichische Presse über ihren Pariskorrespondenten Reinhold Smonig erste Reaktionen aus Frankreich.17 Luc Rosenzweig, stellvertretender Chefredakteur der renommierten Tageszeitung Le Monde, im Serbien-Essay scharf kritisiert, bezeichnete Handkes Medienkritik als »nicht ganz falsch«, aber in ihrem Wesen stalinistisch. Die in »Gerechtigkeit« ebenfalls vehement attackierte Zeitung Liberation warf indes dem österreichischen Autor bezüglich seiner Vermutungen der gestellten Bilder von Opfern18 zweifelhaften Geschmack vor. Die nächste ablehnende Stellungnahme aus Frankreich sollte dann am 22. Januar vom Filmregisseur Marcel Ophuls folgen.19 Inzwischen war das deutsche Feuilleton nicht untätig geblieben. Bereits am 17. Januar nahm Wolfram Schütte in der Frankfurter Rundschau Stellung gegen Handke, dessen »literarische Verteidigungsrede« er mit einem „intellektuellen Selbstmord, einem moralischen Desaster und einer Vernichtung des poetischen Anspruchs“20 verglich. In der Wochenpost erneuerte inzwischen tageszeitung-Chefredakteur Thomas Schmid seine Vorwürfe.21 In der Schweizer Weltwoche hieb Andreas Isenschmid in eine ähnliche Kerbe. Er verriss »Gerechtigkeit« und warf Handke die gezielte Verbreitung seiner Thesen vor, da er sich die mehrfache Hunderttausender-Auflage der Wochenendbeilage der Süddeutschen Zeitung zu Eigen gemacht hatte.22 Handkes Behauptung, es gehe nicht um ein »Ich klage an«, sei bloß der rhetorische Trick des »praeteritio«, dass man nämlich etwas dadurch erwähnt, indem man explizit vorgibt, es nicht erwähnen zu wollen.23 »Provokationen eines politischen Träumers«, schrieb der Schweizer Tages Anzeiger, und Christoph Kuhn ergriff als erster so etwas wie leichte Parteinahme für den Serbien-Essay.24 Hannes Krauss forderte schließlich in der deutschen Wochenzeitung Freitag »Gerechtigkeit für Handke«.25

Die ZEIT wartete am 19. Januar mit einer Doppelrezension auf. Michael Thumann warf Handke dabei vor, er würde „Völkermord verniedlichen“,26 indem Massaker auf allen Kriegsseiten gegeneinander aufgerechnet würden.27 Trotzdem gewinnt der Journalist dem Text am Ende Positives ab, wenn er zur Frage der deutschen Position gegenüber Serbien die »winterliche Reise« als zweite Chance zur Diskussion ansieht, deren erste mit dem ersten Einsatz deutscher Soldaten auf dem Balkan seit 1945 im Jahr zuvor vertan worden sei. In der zweiten ZEIT-Reaktion mutmaßte Andreas Kilb, Handke habe in Serbien sein bereits verloren geglaubtes »Neuntes Land« wiedergefunden. Die angebliche Sehnsucht des Dichters nach vorkapitalistischen Verhältnissen, oder präziser ausgedrückt »nach mehr Wirklichkeit«, sollten bald zu den Standardvorwürfen gegen die »winterliche Reise« werden. Kilb gehört in seiner Besprechung zu jenen, die den Serbien-Essay als literarische Wirklichkeit zu verstehen suchen. Dementsprechend positiv bewertet er, dass der „Meinungs-Anarch“28 Handke weder einen Kriegs- noch einen Antikriegsbericht geschrieben habe, sondern schlicht und einfach von Bildern erzähle, die es auch noch gibt – und die für die Zeit nach dem Krieg, so Kilb, unentbehrlich würden.

Die erste Reaktion, die sich voll und ganz auf die Seite Handkes stellte, kam vom Publizisten Willi Winkler. Mit Vorwürfen an Intellektuelle, allen voran die im Serbien-Bericht angeprangerten französischen Philosophen, und mit einem Seitenhieb auf Peter Schneider kritisiert Winkler, dass viele von ihnen sich allzu schnell auf bestimmte Rollen geeinigt hätten – totalitäres Denken mit Freund-Feind- und Aggressor-Opfer-Stereotypen, ohne ihre eigene Position immer wieder zu hinterfragen. Demgegenüber stelle die »winterliche Reise« noch Fragen und bitte „einzig und allein um die Gnade des genauen Hinsehens“.29 Zur FAZ bemerkte Winkler, diese habe schon während des Golfkrieges von jedem Feuilletonredakteur „eine Unterwerfungsgeste“30 abverlangt. Zudem hätten sich die Kritiker des winterlichen Reiseberichts nur auf einige Reizwörter gestürzt und dabei anderes, wichtigeres übersehen.

Der Streit um »Gerechtigkeit für Serbien« allerdings entwickelte sich von einer literarischen Debatte immer stärker zur politischen Auseinandersetzung, zur Frage der political correctness. Seine Medienkritik, die Verurteilung eines bestimmten Typus der Kriegsberichterstatter als „Auslandsreporterhorde“31 und Handkes Skepsis bezüglich des Ablaufes einzelner Ereignisse im Jugoslawien-Krieg wie z.B. die Beschießung Dubrovniks erhitzten die Gemüter. Ebenfalls am 19. Januar nahm dazu der langjährige Balkankorrespondent der ARD, Detlef Kleinert, Stellung. »Billig und infam« seien Handkes Vorwürfe, und im Übrigen entstammten sie zumindest teilweise der serbischen Propaganda. Kleinert verwies u.a. darauf, dass die Stadt Dubrovnik im Frühwinter 1991 keineswegs, wie in »Gerechtigkeit« behauptet, von serbischen Truppen „nur – arg genug – episodisch beschossen“32 worden sei.

„Wir, die Auslandsreporterhorde (jedenfalls die allermeisten der Kollegen und Kolleginnen), wir haben es uns nicht so einfach gemacht, mit wohlfeilen Vorurteilen den komplizierten Konflikt abzufeiern, wir konnten und durften weder poetisch noch nebulös sein. Aber dafür stimmten bei uns – fast immer – die Fakten.“33

Fünf Jahre später sagte Kleinert: „Ich habe doch recht konziliant versucht, die Dinge wieder einigermaßen zurechtzurücken. Wenn ich gewusst hätte, wie Herr Handke reagiert, hätte ich meine Kritik weit schärfer formuliert.“34 Am Wochenende meldete sich schließlich auch die Neue Zürcher Zeitung zu Wort. Dort kritisierte Martin Meyer, es werde prekär, „wenn der Dichter – als Dichter – seine Aufgabe korrumpiert, sich aufschwingt, der Welt die Tatsachen, das So-und-nicht-anders festzuschreiben.“35

Ähnlich geteilt und dennoch meist ablehnend standen erste Leserbriefreaktionen der Veröffentlichung der »winterlichen Reise« gegenüber. Rupert Neudeck, als Journalist und Humanitärer in den Balkan-Krieg involviert, entgegnete auf Handkes Vorwurf, dass fast alle Bilder nur von einer Seite des Krieges kamen, dass dieser Umstand u.a. auch mit fehlenden Visa und ähnlichen Schwierigkeiten im Umgang mit serbischen Behörden zusammenhänge.36 Grund dafür sei wiederum die Recherche serbischer Gewalt gegen Kosovo-Albaner. Handkes Medienkritik, so Neudeck, sei im Großen und Ganzen vertretbar, der Essay selbst ein schöner, aber kein politischer Text. Gudrun Steinacker reihte Handke in die Liste jener „meist linken Intellektuellen ein, die ob der Komplexität des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien selber verwirrt wurden“.37 Weitere Leserbriefmeinungen bezeichneten u.a. Handkes Medienkritik als unglaubwürdig, da sich der Autor derselben Methoden bediene, die er anderen vorwerfe. Zu billig für die Gerechtigkeit, meinte ein anderer Leserbrief, denn der Reisebericht enthalte sehr wenig Substanz, was darauf zurückzuführen sei, dass der Autor mehr an seinen eigenen Empfindungen interessiert sei denn an empirischen Beobachtungen. Aber es gab auch positive Kritik: „Ein Außenseiter musste kommen, die Proportionen in einer monatelang skandalös verzerrten berufspublizistischen »Berichterstattung« und Kommentierung in 95% der deutschen Medien (und nicht nur dieser!) wiederherzustellen.“38

Von dieser Kritik war auch die Süddeutsche Zeitung nicht ausgenommen, der zum Teil ebenfalls antiserbische Haltung vorgeworfen wurde. Ein interessanter Leserbrief stammte vom Zeithistoriker Ludwig Steindorff aus Münster, dessen Forschungsschwerpunkt der Balkan ist. Abgesehen davon, dass auch Autoren von Reiseberichten selbstgesetzten wie fremdbestimmten Wahrnehmungsfiltern unterlägen, wirft Steindorff Handke vor, in seinem Serbien-Traktat die Ebenen von Gesellschaft und Staat vermischt zu haben. Die serbische Gesellschaft sei weder kollektiv unschuldig noch kollektiv schuldig, eines von beiden zu suggerieren entspräche verweigerter Gerechtigkeit. Steindorff lässt aber keinen Zweifel daran, dass der serbische Staat bzw. seine politische Führung am Zerfall Jugoslawiens in seinen Augen am meisten Schuld trägt.39

»Seltsame Streitkultur«, schrieb die Journalistin Dunja Melcic und spielte damit auf den Umstand an, dass ihrer Meinung nach die Debatte um den Jugoslawien-Konflikt mangels Unterscheidungskriterien den Charakter einer Polemik angenommen hätte, in der es nur mehr um verschiedene Ansichten und Meinungen ginge.40 Zurück zum Feuilleton: Als »Streit um Handke« fasste die tageszeitung am 22. Januar die bisherigen Reaktionen auf die Veröffentlichung in der Süddeutschen Zeitung zusammen.41 Doch die Auseinandersetzung sollte noch für längere Zeit Wellen schlagen. Etwas zögernder als ihre deutschen Kollegen begann nun auch die österreichische Presse auf den Literaturstreit, der immer mehr zu einem Politstreit verkam, zu reagieren. Die gleichnamige konservative Tageszeitung analysierte bei Handke genau jenes Phänomen, das dieser vielen Journalisten vorgeworfen hatte, nämlich die bereits fertigen Vorstellung im Kopf durch eine Reise bloß zu verifizieren, „zum eigenen oder anbefohlenen Vorurteil die Schimmer der augenfälligen Authentizität dazuzuschummeln“.42 Im Übrigen, so Hans Haider, liege es nicht an den Dichtern zu urteilen, sondern an den Richtern und schon bald an den Historikern. Zusätzlich wirft Haider dem in Chaville lebenden Autor eine vertane Chance vor, indem dieser seine Stimme für jene demokratische, antikriegerische Opposition in Serbien erheben hätte können, deren Kriegsverweigerer zu Tausenden auch nach Paris geflohen sind. Der serbisch-österreichische Schriftsteller Milo Dor hatte im Zuge der Debatte wiederholt auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. Verständnis brachte indes der Schriftsteller und Essayist Michael Scharang für die »winterliche Reise« seines Kollegen auf.43 Das Wesen des Erzählens, so Scharang, sei Gleichheit, was zur Erklärung der Empörung über die in der Serbien-Reise geschilderten Eindrücke beitragen würde. Der Wiener Bildhauer und Kommunist Alfred Hrdlicka meldete sich in einem Brief an die Zeitung Neues Deutschland ebenfalls mit einer Handke-Verteidigung zu Wort.44 Einen Tag zuvor hatte die PDS-nahe Tageszeitung auch eine positive Rezension der »winterlichen Reise« veröffentlicht.45

Am 27./28. Januar veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung eine ausführliche Zusammenfassung erster Reaktionen und bescheinigte Peter Handke in einem kurzen Überblick, verhärtete Fronten aufgeweicht und dem Begriff »Gerechtigkeit« seine Vieldeutigkeit zurückgegeben zu haben. Dabei wurden die Reaktionen in- und ausländischer Medien analysiert und teilweise mit einem kurzen Kommentar versehen.46 Als interessant erweist sich dabei die Entgegnung des französischen Philosophen André Glucksmann im italienischen Corriere della Sera bereits einen Tag nach Veröffentlichung des ersten Teiles von Handkes Essay am 6. Januar. Glucksmann bezeichnet den Kärntner Autor in einem Interview als „»monomanen Terroristen«“,47 der das Leiden der Bevölkerung im ehemaligen Jugoslawien auf das eigene psychoanalytische Drama reduziere. Obendrein sei der »gequälte Geist« Handke in seiner Position gleichsam versteinert, was erklären könne, warum er eben auch manchmal »in die falsche Richtung« marschiere. Marcel Ophuls, Dokumentarfilmer und engagierter Diskussionsteilnehmer, hatte der Süddeutschen Zeitung über den Pariser Kulturkorrespondenten Thierry Chervel ein fünfseitiges Anti-Handke-Pamphlet angeboten. Gebeten, es für die Veröffentlichung zu kürzen, schickte der Regisseur Chervel ein Fax, in dem er sich gegen die Veröffentlichung seines Pamphlets in gekürzter Form verwehrt. Ophuls wörtlich (oder genauer gesagt schriftlich):

„Ich pfeiffe auf das Urteil und/oder die Vorsicht dieser Art von deutschen Kulturapparatchiks, und ich scheisse auf die Süddeutsche Zeitung, mit oder ohne schnulziger Handke Prosa. Noch heute Abend werde ich der FAZ und der taz meinen Text faxen, inklusiv dieses Briefes. The hell with those assholes!!“48

Dass Peter Handke dem Regisseur Ophuls in einem Interview „Altersirrsinn“49 unterstellte, erscheint angesichts der oben genannten Äußerungen des Filmemachers nachvollziehbar. Dass der Kärntner Schriftsteller den französischen Regisseur »entmündigen« wollte, wie dies unterstellt wurde,50 verwundert allerdings schon etwas mehr, wenn man sich vor Augen hält, dass es gerade Journalisten waren, welche die angesprochene »Entmündigung« in die Wege leiteten, „indem sie den wirren Text des Regisseurs veröffentlichten“.51

Während Leserbriefe weiterhin mehrheitlich darum bemüht blieben, die »winterliche Reise« mit politisch-moralischen Kriterien zu beurteilen – „Es ist doch etwas passiert. Es gab KZs und stille Freude an Karadzic“52 – und Handke u.a. vorwarfen, „in Völkermordangelegenheiten über den Dingen [zu] schweben“,53 aber auch vereinzelte Kritik an Marcel Ophuls Gegendarstellung laut wurde, meldeten sich im Zuge der Debatte immer mehr Kritiker zu Wort. Der väterlicherseits aus Slowenien stammende Journalist Marcus Pucnik stellte der Serbien-Reise ein vernichtendes Zeugnis aus, bezeichnete Handkes Parteinahme als »puren Hohn« und »Beleidigung der Opfer« und unterstellte, dass Handke entweder „ein ‚Spinner‘ ist, oder [...] wieder einmal durch eine von ihm angetretene (Nonsens-) Diskussion seinen Marktwert steigern will“.54 In einem Leserbrief nahm daraufhin der Essayist Michael Scharang den Diffamierten in Schutz.55

Inzwischen erneuerte Marcel Ophuls in einem Interview mit der FAZ seine Kritik an »Gerechtigkeit für Serbien« und an dessen Verfasser, dem er Zynismus vorwarf.56

Handke liefere den Mitläufern nachträglich ein Alibi und verbreite darüber hinaus in Bezug auf den Anschlag auf eine Bäckerei in Sarajevo am 27. Mai 1992 und die Beschießung des Sarajevoer Marktplatzes am 5. Februar 199457 bereits widerlegte Thesen.58

Die österreichische Wochenzeitung Die Furche widmete in ihrer ersten Februarausgabe der Serbien-Debatte einen längeren Beitrag. Neben unterschiedlichen Kurzstellungnahmen von Künstlern und Literaten, darunter die beiden Kärntner Slowenen Gustav Janus, Dichter und Maler, und der Essayist Janko Ferk sowie Alfred Kolleritsch, Herausgeber der Literaturzeitschrift manuskripte und persönlicher Freund von Peter Handke, erschien auch eine längere Replik des serbischen Schriftstellers Ivan Ivanji. Handkes Reisebericht gehöre „vielleicht zu den besten Seiten, die dieser bedeutende Dichter geschrieben hat“.59 Wo denn die Gerechtigkeit für Bosnien bleibe, fragte hingegen Furche-Autor Smail Balic60 und wies damit in Richtung jener, die Handke vorgeworfen hatten, nach Serbien, nicht aber nach Bosnien gefahren zu sein. Im Freitag rückte Lothar Baier, Autor aus Frankfurt, die Literatur wieder stärker in den Mittelpunkt und verteidigte den Reisebericht.61 Der Schriftsteller Stevan Tontic aus Sarajevo meldete sich ebenfalls im Freitag zu Wort.62 Er bescheinigte seinem österreichischen Kollegen die Wichtigkeit der Friedensmission, welche in der »winterlichen Reise« mit dem Verbindenden, dem „Anstoß zum gemeinsamen Erinnern als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit“63 umschrieben ist.

Inzwischen veröffentlichte die FAZ einen ironischen Bericht von Bora Cosic,64 in welchem dieser dem Verfasser der Serbien-Reise verschiedene Textstellen (um)interpretierte und unterschwellige Vorwürfe erhob. In der Zwischenzeit antwortete Peter Handke in einem ZEIT-Interview mit Willi Winkler seinen Kritikern. Marcel Ophuls leide vermutlich an »Altersirrsinn«, doch was ihn mehr bedrücke, sei der verfälschende Umgang mit seinem Stück – „... dachte ich: wie kann man das nur so lesen?“65 – was rückschließend auf den Journalismus an sich seine Skepsis gegenüber der (Kriegs-)Berichterstattung wohl verifiziere. Deshalb sehe er sich veranlasst, erstmals seit mehr als zwanzig Jahren wieder auf Lesereise zu gehen. Dennoch verspüre er als Konsequenz seines Artikels einen „Schatten von Bedenklichkeit“,66 der in manchen Berichten hinzugetreten sei. Er sei nicht hingegangen um mitzuhassen, so der Schriftsteller, und: Sein Text sei Wort für Wort ein Friedenstext.

Manch einer seiner Kritiker mochte ihm das wohl nicht so recht glauben, der Schweizer Schriftsteller Jürg Laederach jedenfalls hatte genug von der Auseinandersetzung und verließ den Suhrkampverlag freiwillig, nachdem dieser die »winterliche Reise« veröffentlicht hatte. Der Text, so der scheidende Autor, erfülle „den Tatbestand der Volksverhetzung zwar nur zu 80%“,67 ebenso könnten „»nationalsozialistische Inhalte« nur durch »böswillige Verknüpfungen festgestellt werden«“68, aber da der Essay ein „unerträglicher Skandal mit sorgsam einstudierter Wirkungsästhetik“69 sei, erscheine es ihm „in allen Lebenslagen gefährlich, Handke zu unterschätzen“.70 Der österreichische Autor sei spätestens seit der Veröffentlichung seines Serbien-Textes nicht mehr bloß Schriftsteller, sondern eine Partei – Guru Handke, ein Scientologe, der über seiner Gemeinde throne.

Nur wenige Tage zuvor war im österreichischen Standard ein Bericht von Peter Vujica erschienen, in dem zur Verteidigung Handkes erstmals Fakten aufgebracht wurden, die zur Erhellung der Debatte hätten beitragen können, wären sie nicht von den nachfolgenden Reaktionen übergangen worden. Seine Gegner betrachteten Handke allerdings als Politakteur und nicht als Künstler, meinte der Feuilletonchef des Standard.71 In einer Reaktion auf Willi Winklers Zeit-Interview mit Handke konstatierte Jörg Lau hinsichtlich des »Altersirrsinns« von Ophuls, dass der Ton der Auseinandersetzung schärfer werde. Der österreichische Autor greife dabei als Medienkritiker zu den „denunziatorischen Mitteln der Boulevardpresse“,72 seine Lesereise sei eine »Alphabetisierungstour« und Sarajevo, wie sich herausgestellt habe, nicht der Fall des Peter Handke. Ebenfalls ablehnend stand der Spiegel »Gerechtigkeit« gegenüber. Er publizierte am 5. Februar einen anonymen Verriss, auf den noch eingegangen werden wird.73 Allen gegensätzlichen Anzeichen zum Trotz verkündete Jürgen Busche am 8. Februar, dass es im Streit um den Reiseessay immer noch um Literatur und nicht um Politik gehe.74 Neben einem Bericht über die im Zuge der Serbien-Debatte wieder entflammte Diskussion über Emir Kusturicas Film »Underground«75 druckte die Wochenpost am 8. Februar auch ein Interview mit der Leiterin der Belgrader Sektion des »Helsinki Komitees« Sonja Biserko.76 Diese, 1991 aus Protest gegen Slobodan Milosevic aus der KP ausgetreten, konstatierte dem Serbien-Text fehlendes Maß für das, was im Krieg passiert sei, wodurch die Gefahr der Vereinnahmung seitens der serbischen Propaganda bestehe. In seinem Bericht habe Peter Handke nichts anderes getan, als seine Vorstellungen von vorkapitalistischer Idylle nach dem »Abschied des Träumers vom Neunten Land« von Slowenien auf das durch den Krieg isolierte Serbien zu übertragen, meinte hingegen der Salzburger Literat Karl-Markus Gauß.77 Und der österreichische Kulturphilosoph und Germanistik-professor an der Universität Wien, Wolfgang Müller-Funk, verkündete, eine Mischung aus Ahnungslosigkeit und Verbohrtheit hätte den Autor der »Publikumsbeschimpfung« dazu gebracht, die Rolle von Täter und Opfer vertauschen zu wollen, weil der Täter nicht ins Bild passe.78 Das Denkmuster von Jugoslawien als die linke Variante der habsburgischen Nostalgie, in der die Serben gegen Hitler waren, während die eigenen Leute das Naziregime favorisiert hätten, weise wiederum darauf hin, dass es in der Debatte letztendlich weniger um Gerechtigkeit für ein Land als vielmehr „um die interne heimische [österreichische] Gemengelage“79 gehe. Als Replik auf diese Stellungnahme schrieb erneut der Schriftsteller Michael Scharang einen Leserbrief, in dem er den »gewieften Militärstrategen« Müller-Funk in die Reihe der »Anti-Handke-Eingreiftruppe« aus »Unterschriftsteller und Aushilfsintellektuellen« einordnete und sich vor die Frage gestellt sah, ob jener für seine Leistung wohl einen Militär- oder einen Faschingsorden verdient habe.80

In einer Kolumne in der Presse mit dem Titel »Anschwellender Autoren-Zank« bescheinigte die Literaturkritikerin Sigrid Löffler der Serbien-Debatte schließlich deren Verselbständigung. Nachdem bereits zu Beginn an Handkes Fragen und Argumente „ohne viel Federlesens, wohl überhaupt ohne viel Lesens“,81 vorbeigeredet und -geschrieben worden sei, um sie dann zu missdeuten oder gar zu diffamieren, gehe es nun immer stärker nur mehr um die mediale Präsenz der Mitdiskutierenden. Milo Dor meinte schließlich in einem Interview in der Zeitung Der Bund, er verstehe die Aufregung um die winterliche Serbien-Reise nicht, und wenn der Anlass nicht ein so tragischer wäre, fände er das Ganze im Grunde genommen lächerlich, verlaufe die Diskussion doch nur auf emotionaler anstatt auf argumentativer Basis.82

Einen gereizten Ton bestätigte auch Stefan Reinecke. Es herrsche unter Intellektuellen ebenso wie bei Handke selbst eine „Ausschluss-Logik“,83 welche nach dem Prinzip verfahre, den jeweiligen Gegner für moralisch inkompetent zu erklären. Allgegenwärtige Nazi-Assoziationen dienten dazu, diesen moralischen Vorsprung zu reklamieren, mit Blick auf die realen Verhältnisse in Jugoslawien würden besagte Vergleiche allerdings wenig zur Erhellung der Situation beitragen.

Notiz am Rande: Erschrocken über die bisherigen Reaktionen sagte Peter Handke seinen im Rahmen einer weitreichenden Lesereise geplanten Auftritt im Deutschen Theater in Berlin am 15. Februar kurzfristig ab.84

Der wichtigste Beitrag zur Unterstützung der in »Gerechtigkeit« angesprochenen Fragen bzw. Thesen kam inzwischen von einem Politiker. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Peter Glotz (SPD) nannte in der deutschen Zeitung Die Woche erstmals mehrere Fakten zum Jugoslawien-Krieg, die im Echo der internationalen Presse bis dahin nahezu untergegangen waren. Es gebe genügend Hinweise, dass Zweifel an der gängigen Darstellung des Jugoslawien-Krieges mehr als berechtigt seien, meinte Glotz. Allein die Tatsache, dass die Agenturmeldungen im Bosnien-Krieg von PR-Agenturen wie Ruder Finn85 erstellt worden waren, rechtfertige eine grundlegende Skepsis auch über die allgemeine Medienkritik hinaus. Zudem würden sowohl Journalisten, als auch »Feldforscher« wie Peter Carrington, Cyrus Vance, Thorwald Stoltenberg, aber auch Generäle wie Michael Rose oder Lewis MacKenzie die Schuldfrage im Jugoslawien-Krieg ähnlich kritisch betrachten wie der Schriftsteller Handke. David Owen, 1992-1995 EU-Sonderbeauftragter für den Balkan, unterstütze die an der »winterlichen Reise« vehement kritisierte Skepsis Handkes bezüglich des Massakers auf dem Marktplatz von Sarajevo am 5. Februar 1994. Der ehemalige britische Außenminister habe nach Aufgabe seines Mandates die bosnischen Muslime als Urheber genannt.86

Unbeeindruckt davon wiederholte Wolfram Schütte in der Frankfurter Rundschau seine Kritik an der »winterlichen Reise« und unterstellte Handke (Nazi-) Revisionismus.87 In eine ähnliche Richtung schrieb auch der bosnische Schriftsteller Dzevad Karahasan, der dem Serbien-Text »logisches Wirrwarr« und die Loslösung des Verbrechens vom Subjekt vorwarf.88 Thomas Assheuer bettete die serbische Reise in den Kontext der »Niemandsbucht«, doch so sehr sich die Vorgangsweisen auch änderten, die Beurteilung blieb am Schluss meist dieselbe. Handkes Versuch einer Ent-Schuldung in der Unschuld, Reinheit und Schönheit der Natur sei eine frivole Epiphanie und korrespondiere mit seiner literarischen Arbeit, in welcher der Leser stets aufs Neue befürchten müsse, „dass der Erzähler genau die Wirklichkeit verfehlt, die er so inständig retten will“.89 Alles in allem sei Handkes Forderung nach Gerechtigkeit eine große Ungerechtigkeit. Oder eine Frage des Sehvermögens, meinte der serbische Autor Bora Cosic in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung,90 worin er sein Unverständnis demgegenüber äußerte, dass einem Besucher des Landes mehr Glauben geschenkt würde als jemandem, der aus diesem Land stamme. Er teile Handkes Einschätzung nicht, derzufolge die Berichterstattung über Bosnien antiserbisch gefärbt sei, und letzten Endes sei es auch nicht notwendig, für ein Land eine Sondergerechtigkeit einzufordern.

Inzwischen hatte auch die von Handke angekündigte Lesereise begonnen. Erste Station war das Hamburger Theater Thalia, wo der österreichische Schriftsteller am 19. Februar erstmals seit mehr als zwanzig Jahren überhaupt eine öffentliche Lesung gab.Wochenpost-Chef Jürgen Busche moderierte, Handke las – und das Publikum honorierte die Veranstaltung fast ausschließlich mit Wohlwollen, die erwarteten Kontroversen blieben aus. Weitere Lesungen hielt der Dichter noch u.a. in Frankfurt (25. 2.), München (4. 3.), Wien (18. 3.), Graz (19. 3.), Klagenfurt (20. 3.), Ljubljana (21. 3.), Salzburg (29. 3.) und Belgrad (17. 5.) sowie Anfang Juni in Heidelberg und Stuttgart.

3.2 Die Lesereise

„Es wurmt mich doch etwas, daß ich nicht den Eindruck habe, daß der Text Satz für Satz, wörtlich – meine Arbeit ist ja das Wörtliche –, daß der Text nicht gelesen wurde. Es wird gelesen, aber es dringt nicht richtig ein.“91

Auf der ersten öffentlichen Lesung nach 24 Jahren im Hamburger Thalia Theater trägt Peter Handke seinen Text ruhig und eindringlich vor, betont Wort für Wort, Komma für Komma und Fragezeichen für Fragezeichen. „Er meint es so, wie er es schreibt“,92 notierte Roland Koberg später in der Wiener Wochenzeitung Falter in Anspielung auf die zu Handkes poetischer Methode gehörenden zahlreichen Fragen im Text. Den vernichtenden Kritiken entgegen, die vor und während der Lesereise gefallen waren oder auch noch zu erwarten seien, meinte Koberg deshalb, wenn dereinst Antworten gefunden werden müssten, die wahr sind, so hätte auch Handke einige dieser zu beantwortenden Fragen gestellt. Dem hielten FAZ und ZEIT entgegen, dass Handkes Triebfeder schlicht und einfach Narzissmus sei.93 Die Moderation der Lesung durch Wochenpost-Chefredakteur Jürgen Busche komme einer „Bankrotterklärung als Journalist und Kritiker“94 gleich, meinte Robin Detje in der ZEIT.

Am 25. Februar stand das Schauspielhaus in Frankfurt auf dem Programm. Während die Gesellschaft für bedrohte Völker draußen gegen die »Leugnung des Völkermordes« demonstrierte, erhob ihr Vorsitzender Tilman Zülch drinnen den Vorwurf, Handkes Text sei „ein Plädoyer für eine Verdrängung des Völkermordes“.95 Darauf beendete der Dichter die Diskussion. Wer ohne Vorurteile hingehört hätte, habe gemerkt, dass Gerechtigkeit für Serbien bei Handke eben nicht heiße: Freispruch für den Völkermord, meinte Jörg Rheinländer dazu in der Frankfurter Rundschau.96 Dem hielt Wilfried F. Schoeller in der Süddeutschen Zeitung entgegen, dass der Verfasser der »winterlichen Reise« in Frankfurt auch nicht mehr als bloß die leere Hülle des Versprechens, sein Text sei ein Friedenstext, geboten hätte, denn „der Friede, den er nennt, müßte befragbar sein“.97 „Muss er wirklich über Bäume reden?“98 fragte sich Elke Schmitter in der Schweizer Weltwoche und konstatierte, die Methoden des Dichters seien dreißig Jahre nach der »Publikumsbeschimpfung« subtiler geworden. Handke, so Schmitter, habe das Prinzip der Diskussion, die keine werden dürfe, glänzend umgesetzt und »aus dem Theater der kritischen Fragen eine Kirche andachtsvollen Zuhörens« gemacht. Immerhin, auf Tilman Zülchs Frage, warum er denn keinen Blick auf das zerstörte Bosnien versucht hätte, wollte der Autor zuerst nicht antworten und tat es dann doch mit dem Hinweis, dass es darüber bereits Tausende von Artikeln gebe und es deshalb ertragbar sein müsse, wenn jemand einmal anderswo hingehe. Als aber auf Zülchs Vorschlag, einen muslimischen Lagerüberlebenden sprechen zu lassen, die Idee einer offenen Diskussion aufkam, stellte Handke fest, er sei nur zum Lesen gekommen und ließ die Vorstellung beenden.

Dass sich Peter Handke in seinem Reisebericht subtiler Methoden bediene, behauptete auch Andreas Breitenstein in der Neuen Zürcher Zeitung. Der österreichische Schriftsteller habe durch eine gezielte »Immunisierungsstrategie« alle gegen seinen Serbien-Text erdenklichen Vorwürfe bereits mitbedacht, was sich in seinen immer wieder dazwischengeflochtenen Selbstzweifeln, die aber nur rhetorischen Zwecken dienten, manifestiere.99 »Handke on tour«, titelte derweil Hannes Krauss in der ostdeutschen Wochenzeitung Freitag und stellte nach der Frankfurter Lesung fest, dass „Gegner, die Handkes Bericht verdient hätte, rar und die meisten seiner Anhänger ihm nicht gewachsen sind“.100 Denn nicht Standpunkte bildeten den Kern Handkescher Darstellung, sondern ein »anachronistisches Nicht-Hinnehmen-Wollen« im Sinne Voltaires, dessen Stärke eben gerade das Naive, das typisch Literarische sei. In diesem Sinne habe auch der Vorsitzende der Gesellschaft für bedrohte Völker, Tilman Zülch, eine „Polemik gegen einen Text [erhoben], den Handke weder geschrieben noch vorgelesen hatte“.101 Der Schriftsteller habe mit seinem Versuch, seine Ratlosigkeit und Verzweiflung, aber auch seine Skepsis zu artikulieren, gegen ein intellektuelles Embargo verstoßen und ernte dafür nun Ausgrenzung und Diffamierung. – Dass dem Verfasser der »Niemandsbucht« die Sache über den persönlichen Erfolg ging, bewies er, indem er das Honorar seiner Lesereise den Jugoslawienaktivitäten des »Komitees für Grundrechte und Demokratie«102 zur Verfügung stellte.

Ähnlich verlief auch Lesung Nummer drei in der Münchner Universität. Im Anschluss daran debattierten der Süddeutsche Zeitung-Redakteur Klaus Podak, der Journalist Peter Hamm und die Autorin Mira Beham kurz über den Text, den alle mehr oder weniger gleich interpretieren. Der Dichter habe sich auf das Minenfeld Balkan-Disput begeben, bemerkte Jens Schneider,103 und obwohl beide Seiten zu wissen glaubten, wem seine Parteiergreifung gelte, tue er selbst noch immer so, als schwebe er über den Dingen. Wolfgang Reiter analysierte im österreichischen profil, dass den Handke-Kritikern genau jene Differenzierung fehle, um welche der Schriftsteller in seinem inkriminierten Text bemüht sei. In der Auseinandersetzung wiederhole sich der Mechanismus, den der Autor hinterfragen wollte, indem nun Handke selbst zum Aggressor verkommen sei, den die immer gleichen und stereotypen Vorwürfe ereilten.104

Nicht wenige Zeitungen nutzten im Zuge der Lesereise die Möglichkeit, ihre Position gegen den Serbien-Essay aufs Neue zu dokumentieren, wenngleich sich manchmal doch eine etwas differenziertere Stellungnahme erkennen lässt als noch wenige Wochen zuvor. In der Presse105 räumte Chefredakteur Andreas Unterberger beispielsweise Kritik an Kroatien hinsichtlich eines fehlenden Minderheitenschutzes für die dort lebenden Serben ebenso ein wie die Billigung des Selbstbestimmungsbzw. Sezessionsrechts der Serben außerhalb Serbiens. Dennoch sprächen die Fakten gegen Handke, sei es die internationale Anerkennung Sloweniens zu einem Zeitpunkt, als der Krieg dort bereits vorbei war, während jene von Kroatien zum Waffenstillstand beitrug,106 als auch die Zerstörung der Machtbalance durch die Aufhebung der Autonomien in der Vojvodina und im Kosovo durch die Regierung Milosevic. Es seien »die Serben«, die, nachdem sie in der Krajina ihre Sezession noch vor der kroatischen Unabhängigkeitserklärung begonnen hatten, auch als erste zu militärischen Mitteln gegriffen und weit mehr Gebiete erobert hätten als nur jene, in denen sie (damals) die regionale Mehrheit darstellten.107 »Handke als Historiker« habe sich mit seinem Serbien-Traktat und seiner »Wahlkampftournee« in eine Welt begeben, in der das Kriterium der Ästhetik durch jenes der Fakten ersetzt werde, trotzdem versuche er sich auf die literarische Ebene zurückzuziehen.

Harsche Kritik setzte es von der südösterreichischen Tageszeitung Kleine Zeitung, in der Frido Hütter die Lesereise als die gelungenste Werbekampagne der letzten Zeit bezeichnete und dem Schriftsteller bescheinigte, nach dem Prinzip des USP, des Unique Selling Point, mehr und mehr zu einem Popstar zu mutieren.108 Drei Jahre später griff Wolfram Knorr in der Weltwoche denselben Vorwurf nochmals auf: „Was kein lebender Schriftsteller mehr geschafft hat, ist Peter Handke gelungen: Ein Popstar zu sein. [...] Er [...] instrumentalisierte mit einer trickreichen Masche den medialen Lunapark für seine Zwecke: indem er die jeweiligen Trends und Moden immer unterlief und das Gegenteil von dem machte, was gerade im Schwange war.“109 Trotzdem, so der Standard, biete seine Lesereise dem Publikum Gelegenheit, sich mit einem Text auseinanderzusetzen, der Anlass zu Irritation gebe, auch wenn aus dem komplexen Ganzen nur eine politische und nicht die mindestens ebenso wichtige poetische Ebene herausgelöst worden sei.110 Alfred Pfoser hielt dem entgegen, dass das Medieninteresse für »Gerechtigkeit für Serbien« letzten Endes in einem auffallenden Missverhältnis zur Qualität des Produkts stehe.111 Handke, viel Lärm um nichts?

Der Spiegel bescheinigte den Lesungen »eine böse Harmonie«, die sich daran zeige, dass als Reaktion auf den Serbien-Text ein öffentliches Streitgespräch durch eine Podiumsdiskussion ersetzt werde, während gleichzeitig das Publikum einer »neuen Kultur aggressiven Ver- und Weg-Schweigens« anhänge. Dieser liege „eine hart am Rande des Kitsches balancierende Existenzmetaphysik, die von der bösen Welt draußen nichts mehr wissen will“,112 zugrunde. Der »Leugner, Phantast und Scharlatan« Handke wende sich gegen die Wirklichkeit insgesamt, indem er die Verbrechen als mediale Inszenierungen kritisiere. In summa betreibe der Schriftsteller »Populismus de Luxe«, in dem es ihm, dem »Guru einer neuen antiintellektuellen Harmonieseligkeit«, letztlich ohnehin nicht um die Sache gehe. Dieses geradezu groteske Phänomen faktenabgewandter politischer Stellungnahme mit poetischen Mitteln markiere deshalb letzten Endes „den Anfang vom Ende des Schriftstellers Peter Handke“.113

Handkes slowenischer Übersetzer Borut Trekman beklagte in einem offenen Brief im Spiegel das Unverständnis des Dichters für die Staatsgründungen auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawien.114 Inzwischen las der Verfasser des »Neunten Landes« am 18. März auch im Akademietheater in Wien. Dabei sollte es zu einem öffentlichen Eklat kommen, welcher die Auseinandersetzung um den Text immer mehr auf die persönliche Ebene abrutschen ließ. Zuerst las der Schriftsteller ca. eine Stunde lang aus seinem Werk, anschließend sollte noch eine Diskussion zusammen mit Peter Turrini und Peter Huemer samt Fragen aus dem Publikum stattfinden. Der erste Teil verlief auch ohne Zwischenfälle, Handkes Stellungnahme erschien als „bedächtiges und differenziertes Herangehen an Ursachen und Wirkungen des Balkankonflikts, ohne Vorverurteilungen und einseitige Parteinahme“.115 In der anschließenden Diskussion mit Huemer und Turrini verwehrte sich Handke gegen Parteinahme der Medien und gestellte Bilder, welche Huemer als »manchmal arrangiert und trotzdem wahr« bezeichnet hatte. Hohn und Spott setzte es für seinen Übersetzer Trekman, den der Schriftsteller als einen von »Tausenden Nichtsnutzen, wenn sie nicht übersetzen« bezeichnete, ebenso wie für Die Presse, welche Trekmans offenen Brief in Österreich veröffentlicht hatte.116 Die Medien, das »Vierte Reich«, manipulierten Meldungen fast nach Belieben. Den Höhepunkt einer lange Zeit nachvollziehbaren Polemik stellte schließlich aber die Antwort auf die Frage des News-Journalisten Karl Wendl nach der Betroffenheit Handkes angesichts der Leiden in Bosnien dar: „Stecken Sie sich von mir aus Ihre Betroffenheit in den Arsch!“117 Es gehe immerhin um 300.000 Tote, erwiderte der Journalist. Darauf Handke:

„Sie sprechen, als ob Sie der Besitzer der 300.000 Toten wären, als ob Sie der Besitzer des Leides wären. Ihr scheinheiligen Gestalten tut so, als gehört euch das Leid. Das ist das Schlimmste. Habt ihr es im Grundbuch eingetragen, das Leid, oder wie? Jammergestalten! [...] Ich rede nicht mit Ihnen, hauen Sie ab.“118

Handkes Eskapaden, für die er sich zwei Tage später bei seinem Auftritt in Klagenfurt zwar nicht entschuldigte, aber wenigstens versicherte, ähnliches nicht zu wiederholen,119 rückten vor allem in den folgenden Tagen in den Mittelpunkt des Interesses. Dass ein großer Dichter nicht unbedingt auch ein ebensolcher Politiker sein muss, könne man akzeptieren. Aber trotzdem sei es nicht zuviel verlangt, wenn Peter Handke „seine verbale Sturm-und-Drang-Periode“120 hinter sich lassen und nicht alles niedermachen würde, was seinem Denkschema widerspreche, meinte Thomas Chorherr, und Hellmut Butterweck drückte das in diesem Zusammenhang Naheliegende aus, dass nämlich nicht seine Meinung über Serbien, sondern sein Verhalten gegenüber Andersdenkenden Peter Handke disqualifiziere.121profil-Journalist Georg Hoffmann-Ostenhof geißelte die angeblich permanent zur Schau gestellte Beleidigtheit des Schriftstellers, der entweder eine Zeitreise in die sechziger Jahre unternommen habe oder nie erwachsen geworden sei. Die antiautoritäre Attitüde von gestern, „die Weigerung der Jungen, mit den etablierten Mächten zu diskutieren“,122 wirke allerdings gegenwärtig geradezu autoritär. Rainer Stephan meinte in der Süddeutschen Zeitung, letzten Endes sei auch Handkes Rückzug auf den Standpunkt des Künstlers der falsche Weg, der Kritik zu begegnen und diskreditiere ohnehin die von ihm vertretene Sache, denn „die Gerechtigkeit, auch die für Serbien, braucht andere Fürsprecher“.123

Für ihn sei das Schreiben die Instanz der Wahrhaftigkeit, meinte hingegen der Autor auf die Kritik an mangelnden Fakten. Dass diese Rechtfertigung zugleich als Einladung für jede Form des Irrationalismus verstanden werden kann, leuchtet ein. Zu guter Letzt nutzte aber auch der profil-Journalist im Bruch zur bisherigen redaktionellen Linie der Zeitung die Akademie-Theater-Eskapaden, um mit dem Schriftsteller auf persönlicher Ebene abzurechnen. Handke sei leider, resümierte Hoffmann-Ostenhof süffisant, „um in seiner Diktion zu bleiben, ein ziemliches Arschloch“.124 Etwas behutsamer verpackte Hannes Hintermaier in der Woche seine Kritik. Endlich gebe es Neues aus Österreich, die Dichter drehten durch. Hintermaiers Empfehlung: „Geben Sie Ruhe, Peter Handke! [...] In der Rolle des Pöbelbruders sind Sie eine Fehlbesetzung.“125 Für Peter M. Lingens wiederum zeigte sich in der Wiener Lesung „ein erschreckender Peter Handke [...]: der ach so sensible Humanist, der Schwächere gnadenlos mit Füßen tritt, wenn er sich stärker glaubt – und schwach ist“.126 Trotzdem gab es auch vereinzelt Verständnis für Handke. Stefanie Holzer meinte im »Linsengericht« der Wiener Zeitung,127 die Frage nach jemandes »Betroffenheit« sei im Grunde obszön.

Einen Tag später, am 19. März, liest Peter Handke in Graz im Next Liberty, anschließend fügt der Dichter seinem Werk den einen oder anderen erklärenden Satz hinzu. Moderator Helmut Konrad, Zeithistoriker und Rektor der Grazer Universität, versucht, den Text aus den Polemiken der letzten Wochen herauszunehmen, um eine vorurteilsfreie und zugleich skeptische Aufnahme zu ermöglichen. Er habe, so Handke in Graz, sich jedesmal nur aus Höflichkeit und Verlegenheit und weil er nicht sofort verschwinden wollte, auf Diskussionen eingelassen. Letztendlich gehe es ihm aber nicht darum, Recht zu haben, sondern allein „um einen andern Blickpunkt, um meinen Blickpunkt, um den Blickpunkt des Schreibers“.128 »Remis nach dem Heimsieg«, monierte das profil in Anspielung auf Handkes Lesungen in Klagenfurt und Ljubljana, wo sein Auftritt mit skeptischen und zum Teil sehr negativen Kommentaren versehen worden war. War es in Klagenfurt möglich gewesen, vor einem aufmerksamen und geduldigen Publikum zu lesen, so trugen, wie Wolfgang Reiter bemerkte, in Slowenien nicht nur die „viel größere emotionale Nähe zum Gegenstand der Lesung“,129 sondern schlicht und einfach gewisse sprachliche Differenzen entscheidend dazu bei, dass der Abend turbulent verlief. Der Dichter debattierte mit einer Zuhörerin – „oder besser: einer bei der Lesung Anwesenden“130