Petrow hat Fieber - Alexei Salnikow - E-Book

Petrow hat Fieber E-Book

Alexei Salnikow

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Beschreibung

Das postsowjetische Jekaterinburg, kurz vor Silvester: Petrow, Automechaniker und erfolgloser Künstler, fühlt sich grippig. Auf dem Weg zur Arbeit wird er von seinem alten Freund Igor abgefangen und schon sitzen die beiden in einem Leichenwagen um einen Sarg und kippen einen Wodka nach dem nächsten. Währenddessen versucht Petrows Ex-Frau die Mordgedanken zu unterdrücken, die ständig von ihr Besitz ergreifen ...

Nicht nur der Alkohol benebelt hier die Sinne wie seit Wenedikt Jerofejews »Reise nach Petuschki« nicht mehr. Alexei Salnikow fasst den maroden Zustand der postsowjetischen Gesellschaft ins Bild einer ansteckenden Krankheit, die niemanden verschont. Unverdaut stehen in den fiebrigen Gehirnen der Petrows Erinnerungssplitter aus der Breschnew-Ära neben Fetzen westlicher Popkultur, trifft Ideologie auf Reklame, Dostojewski auf die Turtles. Nach moralischem Halt sucht man vergebens, während Ewiggestrige und Marginalisierte durch die verstörte Gegenwart marodieren. Dass die Petrows inmitten des Irrwitzes trotz allem eine zarte Menschlichkeit bewahren, zeichnet Salnikows hochaktuellen Roman aus.

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Seitenzahl: 558

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Cover

Titel

Alexei Salnikow

Petrow hat Fieber

Gripperoman

Aus dem Russischen von Bettina Kaibach

Suhrkamp

Impressum

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Die russische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Petrovy v grippe i vokrug nego bei AST / Redakcija Elena Šubina.Die Übersetzung dieses Buches wurde mit Mitteln des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg gefördert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022.

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022© Alexei Salnikov, 2017

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagabbildung: Filmstill aus Petrov’s Flu, Regie: Kirill Serebrennikow, 2021, © Razor Film/Hype Film

eISBN 978-3-518-77406-9

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Kapitel

1

Artjuchin, Igor Dmitrijewitsch

Kapitel

2

Petrows Träume

Kapitel

3

Das Jolka-Fest

Kapitel

4

Petrowa wird verrückt

Kapitel

5

Petrowa beruhigt sich wieder

Kapitel

6

Petrow ist auch nicht ohne

Kapitel

7

Petrow Junior hat Fieber

Kapitel

8

Theater für den erwachsenen Erwarter

Kapitel

9

Snegurotschka

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Artjuchin, Igor Dmitrijewitsch

Petrow brauchte bloß in den Trolleybus zu steigen, und schon erschienen die Wahnsinnigen, um ihn, Petrow, zu piesacken. Der Einzige, der ihn nicht piesackte, war ein glattrasierter Greis, still und rundlich, der einem gekränkten Kind glich. Doch sobald Petrow diesen Greis sah, kam ihn selbst die Lust an, sich von seinem Platz zu erheben und den Alten noch mehr zu kränken. Ein Gefühl war das, wild und durch nichts zu erklären, und es packte ihn jedes Mal wie ein Sturm, ein geballtes Etwas aus zottigen darwinschen Trieben mit einer Dosis Dostojewski. Der Greis bemerkte Petrows interessierten Blick und drehte sich schüchtern weg.

Nun war selbiger Opa sozusagen der Stammgast unter den Verrückten, ihm begegnete Petrow praktisch seit seiner Kindheit ständig, und zwar nicht nur in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Von den übrigen Verrückten drang hingegen jeder exakt einmal in Petrows Leben, als hätte er sich zum ersten Mal in dreißig Jahren aus der städtischen Anstalt bei Kilometer acht des sibirischen Traktes losgerissen und wäre zum Trolleybus Nummer drei geeilt, um Petrow ein paar Nettigkeiten an den Kopf zu werfen und für immer zu entschwinden.

Da gab es die Alte, die ihm ihren Platz mit der Begründung überließ, Petrow sei ein Invalide und habe Holzbeine und Holzarme und Krebs (ohne Holz, einfach Krebs). Dann war da dieser Typ wie ein Schmied aus den sowjetischen Filmen, so ein Riesenkerl, der mit seiner Stimme das Blech des gesamten Trolleybusses ins Vibrieren zu bringen schien. Wie eine offene, halbleere Flasche vibriert, wenn ein Laster vorbeifährt. Während der Typ mit seiner Flanke Petrow an die Wand drückte, trug er der nicht mehr jungen Schaffnerin Gedichte vor, denn offenbar verbarg sich unter der wattierten Jacke, die nach Eisenspänen, Benzin und Dieselöl roch, ein zartes Poetenherz.

»Und fliegen vorbei, unsre Jahre, sie fliegen wie Vögel vorbei«, deklamierte der Typ mit zärtlicher Intonation der »Jahre« und »Vögel«.

Die Schaffnerin lauschte mit sanftem Lächeln.

Oftmals waren die Leute, die sich zu Petrow setzten, gar nicht so hochbetagt, dass man sie der Reihe nach zumindest der Demenz verdächtigen konnte; sie sprachen ihn an und verzapften irgendwelchen Stuss über das Gold der Partei, den kostenlosen Sanatoriumsgutschein, den es anno dazumal jedes Jahr gegeben hatte, und dass man alle, die jetzt an der Macht waren, an die Wand stellen müsse. Wann immer einer der Wahnsinnigen die berüchtigte Wand erwähnte, sah Petrow aus irgendeinem Grund Putin und Rossel vor sich, wie sie dastanden und auf ihre Erschießung warteten. Seine Fantasie malte sie sich exakt so aus, wie sie auf dem Fernsehbildschirm erschienen: Rossel lächelte fröhlich, Putin war ernst, aber mit dieser gewissen Ironie im Blick.

Einmal kam es vor Petrows Augen zwischen zwei Rentnern fast zu einem Handgemenge. Sie stritten für dieselbe Sache, ihre politischen Positionen waren ebenfalls kaum zu unterscheiden, und dennoch beharkten sie sich, Petrow schwante schon Übles, denn die Pensionäre stimmten auch darin überein, dass es Beresowski gewesen sei, der Jelzin beseitigt habe, und dass es zu viele Tadschiken gab, und früher, da herrschte noch echte Völkerfreundschaft, aber jetzt sind überall Juden, und wenn sie Jewtuschenko für den Nobelpreis nominieren, dann nur, weil er den Holocaust anprangert. Dieser Blick auf das Geschehen brachte Petrows Vorstellung von jedweder Logik ins Wanken, und er spürte, dass er selbst im Begriff war, den Verstand zu verlieren wie die beiden Alten, während er zu ergründen suchte, wieso sie einander anschrien. Das Ganze hätte womöglich böse enden können, aber dann kam auch schon die Endstation, die alten Herren stiegen aus und gingen in verschiedene Richtungen gemächlich ihrer Wege, ruhig und von allem losgelöst, wie vor dem Streit, ohne jemals zu klären, unter wem denn nun alles Zucker war: unter Breschnew oder unter Breschnew.

Und jetzt, wo er die Grippe hatte und selbst eine gewisse Bewusstseinsveränderung verspürte, stand Petrow also schwankend hinten im Trolleybus und hielt sich an der oberen Stange fest. Im Bus waren nicht viele Leute, aber Sitzplätze gab es keine, und der Fahrer riss bei jedem Halt denselben Witz:

»Vorsicht, Türen schließen nicht.«

An der Haltestelle »Architekturakademie« stieg ein adretter Opa im sauberen, grauen Mäntelchen in den Bus, mit akkurat gebügelter Hose und Aktenköfferchen. Der Opa trug ein Lenin-Bärtchen, vielleicht war es auch ein Dzierżyński- oder Limonow-Bärtchen. Seine Brille war weiß bereift, und der Opa machte sich daran, sie mit dem Ende seines schwarz-rot karierten Schals abzuwischen, als ihm ein etwa achtjähriges Mädchen seinen Platz anbot.

Der Alte dankte und setzte sich.

»Wie alt bist denn du?«, erkundigte er sich nach einer Anstandspause bei dem Mädchen.

»Neun«, sagte das Mädchen und klapperte nervös mit dem Schulranzen auf dem Rücken.

»Und weißt du auch, dass in Indien und Afghanistan die Mädchen schon mit sieben Jahren heiraten können?«

Petrow beschloss, dass er delirierte oder sich verhört haben musste – er blickte den Alten an, der weiter die Lippen bewegte und Töne von sich gab.

»Stell dir mal vor, da wärst du jetzt also schon seit zwei Jahren verheiratet«, sagte der Alte mit verschmitztem Zwinkern. »Seit zwei Jahren würdest du mit deinem Mann ficken, was das Zeug hält, und womöglich auch noch fremdgehen. Ihr Schlampen seid doch alle gleich«, und er streichelte dem Mädchen mit gleichbleibend gütigem Lächeln und verschmitztem Zwinkern über den Schulranzen.

»Gorki«, verkündete der Busfahrer und öffnete die Türen. Der Alte wollte fortfahren, doch im selben Moment erwachte sein Sitznachbar, ein blasses, schmächtiges, vielleicht siebzehnjähriges Bürschchen, das bis dahin durch den zerkratzten Raureif auf dem Fenster die Umgebung betrachtet hatte, quasi aus seiner Versenkung, drehte sich zu dem Alten, nahm ihm die Brille ab und knallte ihm eine rein, aus heiterem Himmel, aber irgendwie beiläufig und gar nicht mal heftig. Das künstliche Gebiss des Alten schlitterte Petrow vor die Füße wie ein Puck.

»Na hör mal …«, empörte sich der Alte, »und für solche wie dich hab ich fünfzehn Jahre in Angola …«

»Achtung, Türen schließen nicht«, warnte der Busfahrer.

Das Bürschchen packte den Alten beim Schal und zerrte ihn wie einen widerspenstigen Hund eilig nach draußen. Petrow beugte sich vor, nahm das Gebiss vom nassen, gummierten Riffelboden und warf es auf die Straße hinaus, wo die Exekution ihren Lauf nahm. Die Türen gingen zu, und der Trolleybus fuhr weiter. Das Mädchen setzte sich, als wäre nichts gewesen, auf den frei gewordenen Fensterplatz. Petrow scheute irgendwie davor zurück, sich neben sie zu setzen, er ging zur Heckscheibe, die nahezu sauber, fast eisfrei war. Durch die Scheibe sah man eine Reklame der »Rosgosstrach«-Versicherung, die an der Rückseite des Fensters festgeklebt und daher spiegelverkehrt war, so dass man logischerweise »chartssogsoR« las, aus irgendeinem Grund zeigte die Reklame auch noch eine Bulldogge, die von außen deutlich zu sehen war, im Inneren des Busses aber seltsam fahl wirkte, wie ein in Nebel getauchter Hund von Baskerville. Ferner konnte Petrow durch die Heckscheibe sehen, wie die Miliz das Bürschchen und den Opa festnahm, wobei sich der Opa zur Wehr setzte, indem er mit der Aktentasche behende auf die Milizionäre einhieb, während diese ihn mit Fäusten und Schlagstöcken bearbeiteten. »Vielleicht stimmt das ja mit Angola«, dachte Petrow gleichgültig mit dem Teil seines Gehirns, der vom Grippefieber besonders betroffen war.

Während das Schlachtfeld allmählich aus Petrows Perspektive entschwand, betrachtete er erneut die Reklame der »Rosgosstrach« und grübelte darüber nach, ob zum Beispiel die Chinesen ebenfalls Abkürzungen hatten, oder ob ihnen die Schriftzeichen genügten. Bei jedem Ausatmen spürte er, wie es in seinem Rachen heißer, leerer, weiter wurde. Er bekam Lust auf kalten Sprudel und eine rauchen und Aspirin und noch mehr kalten Sprudel und schlafen.

»Früher hat man solche Leute als Heilige angesehen«, sagte belehrend die Stimme einer alten Frau in Petrows Rücken, »geschätzt hat man sie, mit Besuchen beehrt, und jetzt das.«

».........«, schoss es Petrow gleichgültig durch den Kopf.

»Die Rente«, fuhr die Stimme fort, »und im Fernsehen zeigen sie jetzt all so ’n Zeugs, aber man darf ja nichts mehr sagen.«

Petrow dachte mit heimlichem Vergnügen, wie lustig es wäre, wenn er sich jetzt umdrehte und in seinem Rücken einen vollkommen leeren Bus erblickte, während die Stimmen immerzu weitertönten – aber er drehte sich dann doch nicht um. Petrow heftete den Blick auf die Fahrbahn, und davon, wie sie unter dem Heck des Busses hervorglitt, wurde ihm flau. Er hob den Blick zu den Autos, die dem Bus folgten, und sah, dass direkt hinter ihnen ein Leichenwagen fuhr – eine himbeerrote GAZelle mit zwei senkrechten schwarzen Streifen über die gesamte Front. Der Mann auf dem Beifahrersitz der GAZelle winkte freudig mit den Armen. Petrows Augen oder vielmehr sein ganzer heißer Kopf fokussierte langsam auf den winkenden Mann, um schließlich zu begreifen: Das da vor ihm ist sein alter Kumpel, der Kumpel signalisiert ihm – komm rüber. Petrow hätte sich besser neben das Mädchen gesetzt, denn das letzte Mal, als er diesen Kumpel, Igor hieß er, getroffen hatte, wäre das Ganze um ein Haar so ausgegangen, dass sie beide, Igor und Petrow, dass sie beide also im Vollsuff um ein Haar einfach so nach Irbit gefahren wären. Zum Glück begann Igor noch auf dem Weg zum Bahnhof Passanten anzupöbeln, und da die Abreise auf den Tag der Luftlandetruppen fiel, endete der Ausflug, noch ehe er angefangen hatte, mit Prügeln, einem Besäufnis auf der Verkehrsinsel neben der Staatlichen Landwirtschaftsakademie des Urals und Liedern über die Jungs im Blaubarett, in Gesellschaft irgendwelcher braungebrannter, muskelbepackter Typen voller Tattoos, die wirkten, als wären sie im Pulk direkt aus der Blue Oyster Bar auf die Straßen der Stadt getreten.

Petrow begann seinerseits Igor mit Winken zu bedeuten, dass er ihn allein auf Abenteuertour gehen ließ. Dabei gab Petrow mit jeder Faser zu verstehen: Nein und nochmals nein, er hat keine Zeit, ihm geht’s schlecht, umso mehr als es Petrow tatsächlich schlecht ging, und seit er Igor erblickt hatte, ging es ihm gleich noch viel schlechter, doch Igor schien Petrow nicht recht zu verstehen, aber vielleicht deutete er seine verzweifelten Gesten auch nur als eine Art Koketterie, weil er seltsamerweise Petrow für das Herz jeder Party hielt. Petrow winkte im Übrigen ab, wohl wissend, dass es zwecklos war, bislang hatte noch keiner herausgefunden, wie man Igor wegwedeln konnte, wenn es ihn nach Verständnis und Gesellschaft verlangte, das war wie eine Art Zauber. Was sollte man da noch sagen, wenn dieser Magier es fertigbrachte, mit seinem Charme ganz nebenbei eine komplette Kolonne des Streifen- und Postendienstes, die ihn und Petrow angehalten hatte, stockbesoffen zu machen, und auf seinen Toast: »Na dass ihr für alles ’nen Freischein kriegt, wie die Jungs vom FSB«, wollte ein besonders empfindsamer Polizist Igor partout seine Dienstwaffe schenken. Klar, dass schon in der nächsten Minute Petrow mitsamt seinem Bus angehalten und der widerspenstige Petrow unter verlegenem Lächeln und ebenso verlegenem Protestgeblöke in den Leichenwagen verfrachtet war; und nach weiteren sieben Minuten stießen Igor und er bereits mit Plastikbechern über dem Sargdeckel an und verschütteten Wodka auf den Sarg, wenn die GAZelle eine Bremsung hinlegte oder einen Satz nach vorn machte, und der Fahrer fragte jedes Mal besorgt: »Ihr habt doch da hinten nichts verschüttet? Passt mal ein bisschen auf da hinten. Das fehlt grade noch«, dem Fahrer tat es schon sichtlich leid, dass außer Igor nun auch Petrow im Wagen saß, ohne den Igor nicht ganz so hemmungslos soff, und Petrow tat schon gar nichts mehr leid, seine Bedingung: »Einen, und dann ist gut, dann könnt ihr mich absetzen, liegt ja am Weg« war irgendwie gleich überholt. Igor begann den Chauffeur zu überreden, ein halbes Gläschen mit ihnen zu kippen, und der Fahrer sträubte sich weiterhin, gab den Seriösen und Verantwortungsvollen.

»Erst tüten wir den Kadaver ein, und dann – mit Vergnügen.«

Igor wendete ein:

»Weil der sonst stiften geht, oder was? Und wer wird dich schon anhalten mit deinem Leichenkarren?«

Im Endeffekt nahm der Fahrer trotzdem einen zur Brust, weil ihm die Kraft fehlte, gleichzeitig einem Stau und Igors Beschwörungen standzuhalten. Dann genehmigte sich der Fahrer noch einen, diesmal schon auf eigene Initiative, und begann zu erzählen, wie er zur Sowjetzeit die Marineschule besucht und für die Estnische Sowjetrepublik die Silbermedaille im Boxen geholt hatte. Die Schilderung des verschlungenen Wegs vom künftigen Matrosen und künftigen Champion zum heutigen Fahrer eines Leichenwagens traf Petrows trunkenes, schmerzendes Gehirn mit der Wucht eines großen, weichen Vorschlaghammers und ließ seine Gedanken prompt in zwei Richtungen fließen – einerseits war da stille Traurigkeit um den Chauffeur, Entzücken über dessen Bericht, und andererseits Ruhe im Hinblick auf sich selbst, denn Petrow hatte nie besondere Ambitionen gehabt, nicht einmal in der Vergangenheit, und so konnte er im Leben auch keinerlei Enttäuschung erfahren. Natürlich hatte es auch bei ihm kleinere Verwerfungen gegeben, aber das war noch lange kein Grund, einen Schlussstrich unter sein Leben zu ziehen, wie es etwa zu Jugendzeiten seinem Freund Sergei widerfahren war. Man konnte schwere Verluste erleiden, dem Sohn konnte etwas zustoßen: Aus der Parallelklasse des Sohnes war dieser Junge verschwunden, zog mit den Schlittschuhen los – und seither fehlte von ihm jede Spur. Seine Frau konnte sich jemanden zulegen, was nur logisch wäre, weil die Petrows in Scheidung lebten. Was konnte sonst noch passieren? Während Petrow sich sein Lebensumfeld betrachtete, übersah er, was auf der Hand lag: dass er nämlich gerade an der Entführung sterblicher Überreste mitwirkte, vielleicht noch eine Art Leichenschändung begehen würde und man ihn dafür gemeinsam mit Igor und dem Chauffeur als Komplizen zur Rechenschaft ziehen konnte.

Der Chauffeur redete unterdessen ohne Punkt und Komma. Er erzählte, in seinem Begräbnisinstitut gebe es lauter solche wie ihn. Zum Beispiel diesen einstigen Sänger, der Musik machte, seit er sechs war, dann aber kraft seiner Blödheit, wie man so sagt, total auf den Hund gekommen war, und zwar weniger aus Blödheit als durch einen steten Wechsel von Glück und Unglück, kraft der Tatsache, dass ihm offenbar viele seiner Verwandten außer allerlei Hoffnungen auch eine gewisse ungesunde Veranlagung mit auf den Weg gegeben hatten. Der Sänger kam aus einer einfachen Arbeiterfamilie, der Musiklehrer hatte schon im Kindergarten sein Talent entdeckt, in der Pubertät verlor der Sänger nicht die Stimme, in der Schule wurde er von den Lehrern hofiert, aber im Konservatorium hielt es diesen Sänger keine sechs Monate. Im Musikkorps der Armee, in das er hineingerasselt war, machte er es auch nicht lange, er wurde beim Suff erwischt und landete bei einem Bau-Bataillon. Es folgten im fliegenden Wechsel allerhand Arbeiten und Amateurkunstzirkel, abgelegte Ehefrauen, Alimente – und keine zwanzig Jahre später grub sich der Sänger auch schon durch den Lehmboden des Urals.

»Na, das ist ja mal ein Epos«, kommentierte Igor die Erzählung des Chauffeurs in solch gleichgültigem Ton, dass Petrow ihm am liebsten eine reingehauen hätte. »Und wen habt ihr da sonst noch im Aufgebot? Schriftsteller, Künstler vielleicht …«

Petrow zuckte bei der Frage innerlich zusammen und warf einen wachsamen Blick auf Igor, doch der hob nicht mal die Augen vom Grunde seines Bechers. Tatsächlich gab es, wie sich erwies, im Begräbnisinstitut sowohl einen Schriftsteller als auch einen Künstler. Der Schriftsteller, genauer gesagt der Poet, besuchte seit ewigen Zeiten die Schreibwerkstatt »Die Zeile« in der Bibliothek des Uralmasch oder so.

»Das ist bestimmt da, wo meine Frau arbeitet«, sagte Petrow. »Sie sagt immer, dass ihr die Leute alle so leidtun, die treffen sich jede Woche dort, am liebsten würde sie den Konferenzsaal von außen verbarrikadieren und die Bibliothek mitsamt den Leuten abfackeln, damit sie sich nicht so quälen müssen.«

»Und der Künstler, was ist mit dem?«, fragte Igor.

Der Künstler war nach den Worten des Fahrers gar nicht mal schlecht, nur konnte er nichts anderes malen als den Wald des Urals, jeder andere Wald täte es doch genauso gut, aber nein, der Künstler malte immer dieselben herbstlichen Waldszenen des Urals, mit seltenen Seitensprüngen ins Stillleben zum Thema »Gaben der Natur«. Die Gaben der Natur entstammten wenig überraschend ebenfalls dem Ural und seinen Wäldern: Pilze, Vogelbeeren. Der Künstler sagte, das Thema Herbst im Ural sei einfach unerschöpflich. Der Ausbildung nach war der Künstler eigentlich Zimmermann, er hämmerte die Särge zusammen. Als der Fahrer das erwähnte, beschlich Petrow der Verdacht, dieser Zimmermann könnte seinerzeit die Bezirkskantine gestaltet haben, wo Petrow als Schüler mit den Gutscheinen aus der Fabrik seiner Mutter zu Mittag gegessen hatte. Die Wände dieser Kantine waren mit schmalen, im Eichenlook lackierten Latten getäfelt, dort hingen Herbstlandschaften und Darstellungen von Körben voller Pilze mit Vogelbeerzweigen obendrauf. Aus alldem stach nur die neben den Eingang gepinnte, riesenhafte Kopie des Gemäldes »Die drei Recken« ein wenig heraus und ein Transparent, dessen Inhalt Petrow nicht mehr wörtlich zitieren konnte, doch er erinnerte sich, dass es um Nüchternheit ging. In seiner Kindheit waren das Transparent und die drei Recken zu einem einzigen Bild verschmolzen, er glaubte, die drei Recken seien eine Illustration des Transparents, der im Sattel leicht zusammengesackte Aljoscha Popowitsch sei betrunken und die »Drei Recken« eine Art Satire mit dem Appell, es Aljoscha Popowitsch nicht gleichzutun. Ohne sich dessen bewusst zu sein, ähnelte Petrow mit seiner Pose, die nach jedem geleerten Becher zunehmend schlaffer wurde, selbst schon Aljoscha Popowitsch.

Igor bat, kurz anzuhalten, weil ihm der Stoff ausgegangen sei. Der Fahrer, so schien es Petrow, pustete erleichtert durch und machte sich auf die Suche nach einem geeigneten Parkplatz.

»Haben wir denn schon die ganze Flasche gekippt?«, erkundigte sich Petrow mit einer Stimme, laut und staunend vor Trunkenheit.

»Nein«, sagte Igor, »den größten Teil hab ich getrunken, du bist ja erst zum Schluss dazugekommen, aber ich schlag vor, dass wir weitermachen.«

Als Igor die Seitentür der GAZelle aufschlug und Petrow die frische Luft entgegenwehte, spürte er, wie stickig es im Wagen war und wie süßlich es nach Leiche roch; Petrow hatte offenbar unbewusst die gefütterte Jacke aufgeknöpft, weil ihm am ganzen Körper heißer Schweiß herablief, so als wäre es kein Schweiß, als hätte Petrow gerade erst die Dusche abgedreht und nach dem Handtuch gegriffen, und das Wasser liefe noch an ihm herab.

»Ich komme mit«, sagte Petrow zu Igor.

»Klar, Leute, macht euch bisschen Bewegung«, bekräftigte hastig der Fahrer.

»Na denn los«, stimmte Igor eifrig zu.

Petrow wusste, dass Igor nicht gut alleine sein konnte, selbst wenn er alleine loszöge, würde er doch wieder in Gesellschaft oder gar nicht zurückkommen, falls sich woanders eine spannendere Gesellschaft auftäte, und Petrow gab Igors Gesellschaft den Vorzug vor der des Fahrers, auch wenn er diesen nun schon in- und auswendig kannte und über Igor kaum etwas wusste. Außer seinem Namen wusste er im Grunde gar nichts über Igor.

Petrow kletterte aus der GAZelle und holte genussvoll Luft.

Igor bedachte Petrows Äußeres mit anerkennendem Blick.

»Du hast richtig rote Backen wie Väterchen Frost«, sagte er.

»Es ist ja auch bald Neujahr.« Petrow kam es vor, als könnten diese Worte seinen Zustand irgendwie erklären. »Plus ich hab die Grippe. Und am Freitag muss ich mit meinem Sohn zur Jolka-Feier oder ihn mit dem Auto hinbringen, mal schauen, wie ich bis dahin dran bin.«

Sie knirschten einträchtig mit dem Schnee unter ihren Füßen, während sie übers Trottoir zu dem kleinen Laden auf der anderen Straßenseite gingen, Igor trug versonnen die leere Flasche, hielt sie mit zwei Fingern am Hals, so dass sie bedenklich in der Luft baumelte.

»Stell sie doch irgendwo ab«, wollte Petrow schon sagen, aber Igor ging brav zum nächsten Abfalleimer, der komplett leer war, obwohl ringsum so viele Kippen lagen, als hätte der Eimer auf ein Rendezvous gewartet und dabei heftig geraucht. Igor warf die Flasche hinein, und das Poltern im Innern des Eimers hallte lange nach, als fiele die Flasche durch den Müllschacht eines neunstöckigen Hauses.

»Du arbeitest also im Begräbnisinstitut?«, fragte Petrow.

»Woher denn, das ist doch nur so ’n Zufallskumpel von unterwegs«, sagte Igor sorglos und schien sogar Luft zu holen, um zu sagen, wo er tatsächlich arbeitete, behielt es aber für sich.

Da er beim Warten an der Fußgängerampel nichts Besseres zu tun hatte, gab sich Petrow einen Ruck und fragte:

»Habt ihr da wirklich eine Leiche im Wagen oder habt ihr das nur so gesagt, um mir einen Schreck einzujagen?«

»Schau halt nach, wenn du wieder zurück bist«, griente Igor, »klar ist da ’ne Leiche drin, im schicken Anzügchen. Irgend so ein Typ. Mir an seiner Stelle wär’s ja recht, dass man mich noch bisschen dabehält. Würdest du dich etwa weigern?«

»Ich weiß nicht«, sagte Petrow zweifelnd. »Mir wär’s ja dann schon egal, aber die Verwandten, die müssen sich Riesensorgen machen wegen seinem Verschwinden. Denen geht’s bestimmt nicht so gut, ist doch alles genau geplant.«

»Wenn’s nach mir ginge«, gestand Igor, »würde ich seine sterblichen Überreste bis Silvester irgendwo bunkern und zuschauen, wie sie ihn am Einunddreißigsten verscharren, und dann ab zum Feiern.«

Plötzlich bemerkten sie, dass eine Frau mit einem etwa sechsjährigen Jungen an der Hand, die wie sie an der roten Ampel wartete, mit aufgerissenem Mund ihrer Unterhaltung folgte.

»Frau, was stehen Sie hier rum«, sagte Igor leicht indigniert. »Gehen Sie, halten Sie den Betrieb nicht auf. Sie sehen doch, es ist grün.«

In der Mitte des Zebrastreifens holte Igor mit Petrow im Schlepptau die Frau mit dem Kind ein, die sich hastig von ihnen entfernen wollte. »Nein«, legte Igor quasi mitten im Satz los, so dass der Eindruck entstand, als wäre er mit der Frau in ein Gespräch verwickelt gewesen und sie hätten es kurz unterbrochen und nahmen nun den Faden wieder auf, »wenn Sie keinen haben, der mit Ihnen Silvester feiert, ist das was anderes, ich mach natürlich nur Spaß.«

Die Frau zerrte das Kind in den Laden, suchte unverkennbar die Nähe der Menschenmengen und des Wachpersonals, aber Petrow und Igor strebten ja ebenfalls in diesen Laden, erst beim Gemüse blieben sie hinter der Frau zurück, als sie in die Spirituosenabteilung schlurften, wo unberührte Flaschen einladend funkelten und der Blick des gelangweilten Typen von der privaten Security-Firma besonders argwöhnisch auf ihnen haftete.

»Gibt keinen Grund, mich so anzustarren«, belehrte Igor den Wachmann.

»Jetzt geht’s ab«, dachte Petrow voll unsäglicher Wehmut, schlimmer noch als in dem Moment, wo man ihn aus dem Bus gezerrt und in den Leichenwagen verfrachtet hatte.

»Aha, wieso denn?«, fragte der Wachmann.

»Reine Statistik«, erläuterte Igor, »am meisten klauen in den Läden nämlich die Angestellten, und Sie geben hier den Zerberus, obwohl – vielleicht stehen Sie ja auch den ganzen Tag rum und überlegen, was Sie wieder als Trocken- und Schüttverlust für sich abzweigen können.«

Statt einer Antwort schnaubte der Wachmann heftig, drehte sich aber weg.

Es war ein erstaunlicher Laden, mit Musik – der immerselbe Frank Sinatra sang sein immerselbes »Let it snow«, in jedem Winkel hingen Tannenzweige wie zum Gedenken an eine Horde verblichener Zwerge, allerlei Neujahrsbaumschmuck hing von der Decke, lag zwischen Wodkaflaschen und auf den Regalen mit den sonstigen Spirituosen, in einer großen Kiste waren Flaschen mit »Sowjet-Sekt« für achtzig Rubel das Stück aufgestapelt, Lichtgirlanden blinkten, oder eher huschten an den Girlanden pausenlos Leuchtameisen entlang, und all das hätte eine vollendete Silvesterstimmung erzeugt, wenn es nicht überall, sogar in der Spirituosenabteilung, nach Zwiebel gestunken hätte.

»Bei denen ist wohl Cipollino krepiert«, bekundete Igor seinen Unmut.

Überhaupt hatte sich Igors Heiterkeit im Laden komplett verflüchtigt: Sowohl in der Spirituosenabteilung als auch bei den Fleischwaren inspizierte er die Artikel, ehe er sich für etwas entschied, rührte sie nicht an, lehnte sich sogar leicht zurück und kniff auch noch die Augen zusammen, wie der Trainer eines Produktteams, das jeden Moment auf die Konkurrenz treffen konnte, wobei die Verantwortung für die Motivationsrede ganz allein bei Igor lag, und diese Rede reifte nun in ihm heran, während sie mit dem Einkaufskorb die Regale entlangschlurften, so dass Petrow wieder heiß wurde, und wieder war ihm, als hätte er eben die Dusche abgedreht, nur dass es sich diesmal anfühlte, als hätte er das Wasser nach dem Einseifen abgestellt, ohne die Haut vom Schaum zu befreien. Igors Worte erblickten erst an der Kasse das Licht der Welt, unter den Augen der Kassiererin in ihrer Schürzenuniform von der Farbe geronnenen Bluts.

Tatsächlich verteilte Igor seine Aufmerksamkeit gleichmäßig auf eine Frau mit Kind, es war die von der Fußgängerampel, die sich nur deshalb hinter ihnen eingereiht hatte, weil sonst keine der vier Kassen geöffnet war, und eben die Kassiererin. Er schien die beiden Frauen fusionieren zu wollen.

»Frohes Neujahr«, sagte Igor zur Kassiererin, während der Einkaufskorb mit Alkohol und Würsten über das Laufband glitt.

»Gleichfalls«, gab die Kassiererin förmlich zur Antwort.

»Man könnte meinen, in Ihrem Laden beginnt nicht das Jahr der Gelben Ratte, sondern das Jahr von weiß der Geier was«, sagte Igor. »Kriegen Sie kein Kopfweh von dem Geruch?«

»Kopfweh krieg ich von den Kunden«, sagte die Verkäuferin. »Von solchen wie Ihnen. Lenken Sie mich bitte nicht ab.«

Diese Antwort genügte, um Igor für kurze Zeit von der Angestellten abzulenken, indem er unter den Überraschungseiern im Regal neben der Kasse eines auszusuchen begann. Igor erkundigte sich bei dem Kind, aus welcher Serie das Ei sein sollte, während die Frau, zu der das Kind gehörte, einen schweren Blick auf Igor richtete, von dem freilich nur Petrow noch schwerer zumute wurde.

»Welche sind denn am beliebtesten?«, fragte Igor die Verkäuferin.

»Jetzt sind alle beliebt«, entgegnete sie und piepte mit dem Strichcodescanner.

»Und welches willst du haben?«, fragte Igor das Kind.

»Gar keins«, sagte die Frau und mutmaßliche Mutter (oder Schwester oder Tante – was auch immer).

»Nein, ich will aber dieses Auto haben«, sagte das Kind eifrig, und die Frau zupfte es am Arm.

Das Ganze wiederholte sich mehrmals, ohne dass die Verkäuferin ihren Ton auch nur eine Spur änderte, obwohl nach Petrows Einschätzung jede neue Runde ihre Gereiztheit steigern müsste.

»Er will sich bloß aufspielen, lassen Sie ihn machen, dann hört er von selber wieder auf«, versicherte Petrow seinerseits ein ums andere Mal, ohne echte Überzeugung.

Petrow hatte richtig gelegen: Nachdem sich Igor mit Lebensmitteln eingedeckt hatte, erstand er für das Kind eine Packung Überraschungseier und ein paar Schokoladenmünzen in Goldfolie und tauchte in einen geheimnisvollen Nebel, verlor mit anderen Worten schlagartig jedes Interesse an beiden Frauen, der an der Kasse und der mit Kind; die Frau mit dem Kind packte ihre Waren in die benachbarte Plastiktüte und wollte den Jungen zwingen, »danke« zu sagen, doch der Junge schwieg, sei es aus Trotz oder weil ihm vor Freude die Luft wegblieb. Petrow kehrte ihnen allen den Rücken zu, aus Angst, er könne jemanden anstecken, indem er der Person seinen Grippeatem ins Gesicht blies und ihr damit das Fest total versägte wie eine Neujahrstanne.

Als lieferte er sich mit der Frau einen Wettkampf, warf Igor noch rasanter als sie sämtliche Einkäufe in seine Tüte, die weiß war außer der Aufschrift in der Farbe geronnenen Bluts, und ging schweigend in die Straßendämmerung hinaus, die bereits durch die Glastüren fiel. Petrow holte ihn ein, als er zur Ampel zurückstrebte, und fragte einigermaßen verärgert:

»Was war das denn für eine Nummer?«

Igor schaute von oben herab auf Petrow wie ein Himmelsbewohner, schwer zu sagen, ob er vom Suff benebelt oder völlig nüchtern war (Petrow war selbst schon angetrunken), der rote Schein der Ampel lag auf Igors kurzgeschorenem, dichtem, dunklem Haar und den Schultern seines dunklen Mantels, und seine Miene wirkte, als wollte er fragen: »Wer bist du überhaupt?« Stattdessen sagte Igor:

»Ich denk mir nur grade, während wir im Laden herumgeschlappt sind, ist Wassili vielleicht schon weggefahren.«

»Von wegen vielleicht«, bestärkte ihn Petrow, »ich an seiner Stelle hätte, sobald wir raus waren, Gas gegeben und mich verdrückt.«

Sie überquerten die Straße in umgekehrter Richtung; Igor schien der von Petrow bekundete Gedanke zu beschäftigen, und er konnte ihn nicht gleich verdauen und Gegenargumente finden, umso mehr als die Trauer-GAZelle nicht mehr an dem Fleck war, wo Igor und Petrow sie verlassen hatten.

»So ein Schwachkopf«, sagte Igor niedergeschlagen, »wo will er denn jetzt hin? Der kommt doch ohne mich aus dem Schlamassel nicht wieder raus.«

Mit einem Seitenblick auf Petrow fügte Igor hinzu:

»Knöpf dir mal die Jacke zu, das ist ja abartig. Was schwitzt du denn so?«

»Das ist die Grippe«, erinnerte ihn Petrow, während er die dicken Knöpfe an der Jacke schloss, »vielleicht sollte ich eh mal langsam nach Hause. Wir können zu mir gehen, ist nicht weit von hier.«

Igor verzog das Gesicht. Man hätte meinen können, er sei mindestens einmal bei Petrow gewesen und Petrows Zuhause ein einziges Gruselkabinett.

»Dann halt nicht«, sagte Petrow, »ich geh jetzt jedenfalls.«

»Du lässt mich im Stich«, sagte Igor, und in seiner Stimme schwang die unerträgliche Pein eines Genossen mit gebrochenem Rückgrat in der verschneiten Taiga.

»Was dann?«, fragte Petrow schon weniger überzeugt.

»Wir können zum Elmasch fahren«, entgegnete Igor, »wir halten zum Beispiel ein Auto an und ab geht’s.«

»Na toll«, sagte Petrow. »Ich bin also ewig lange vom Elmasch hierhergefahren, nur weil ich jetzt wieder zurück will? Und was machen wir dort?«

»Und zu Hause, was machen wir da?«, fragte Igor. »In Einsamkeit sterben?«

»Kann sein, dass mein Sohn kommt oder meine Frau«, sagte Petrow und war plötzlich wieder ganz klar im Kopf. »Ich leg mich jetzt ins Bett, nach den Feiertagen muss ich ackern wie blöd, weißt du.«

»Weißt du, nach den Feiertagen müssen alle ackern wie blöd«, warf Igor ein. »Jedenfalls wohnt dort ein Bekannter von mir, schreibt ’ne Doktorarbeit in Philosophie; wenn du den abfüllst, vorausgesetzt, er ist noch in einem Zustand, dass er sich unterhalten kann, will sagen, er hat sich nicht schon mit den lokalen Typen die Kante gegeben, dann kriegst du vom Gespräch mit ihm ’nen besseren Kick als vom Gras. Und später kannst du dann woanders im Gespräch immer mal wieder auf ihn zurückgreifen. Was gibt’s dort eigentlich zu sehen in deiner Grube, unter all den Autos?«

»Nee, lass mal«, wollte Petrow einwenden, aber Igor stand schon am Straßenrand und streckte die Hand mit der Plastiktüte zum Trampen aus.

»Also, was gibt’s dort Interessantes in deiner Grube?«, fragte Igor schon im Innern des warmen Wolga, wo Petrow vorsorglich gleich die Knöpfe zu öffnen begann, damit ihn nicht eine neue Hitzewelle überkam. Igor hielt die auf seinen Knien thronende Plastiktüte mit beiden Armen umfangen, die Tüte raschelte und zugleich klackten die Flaschen darin wie Holzscheiter im Frost, klirrten zart, als wären es Sektgläser. Im Auto roch es nach der Kälte, die sie von draußen hereingebracht hatten, doch allmählich überwog der Geruch nach Autopolstern, der Dufttanne am Rückspiegel und Zigaretten. Petrow fiel ein, dass er lange nicht geraucht hatte und schon im Bus eine rauchen wollte, sobald er an der Endstation ausstieg.

Der Fahrer, der von der Bewegung des Autos leicht hin- und herschwankte, musterte Petrow aufmerksam im Rückspiegel. Von der Seite konnte Petrow sehen, dass er glattrasiert oder einfach noch sehr jung war, aber die Augen im Spiegelbild waren die eines alten, schnauzbärtigen Lastwagenfahrers. Im Auto war es dunkel, doch im Licht der Straßenlampen und der voranfahrenden Autos war der Unmut des Fahrers deutlich zu sehen. »Schau lieber nach vorne auf die Straße«, dachte Petrow und fragte:

»Kann ich eine rauchen? Darf man das bei Ihnen?«

Der Fahrer würdigte Petrow nicht einmal ansatzweise des Klanges der eigenen Stimme, schüttelte stattdessen verneinend den Kopf und stellte das Radio an, das sogleich, als hätte es nur darauf gewartet, ein Lied von Neujahrsschmuck, Kerzen und Knallfröschen spielte.

»Also, was gibt’s in deiner Grube zu sehen?«, insistierte Igor.

»Wissen die dort überhaupt Bescheid, dass wir kommen?«, fragte Petrow zurück, weil er zu träge war, um von der Werkstatt zu erzählen, und ihm auf Anhieb keine gute Geschichte einfiel, die wirklich interessant wäre. »Oder rennen wir weiter durch die Eiseskälte?«

»Macht dich das nervös?«, fragte Igor, haspelte herum und kramte, während er die Plastiktüte nur mit einer Hand festhielt, in seinem schwarzen Mantel, als wollte er Flöhe fangen, bis er ein seifenrestförmiges Mobiltelefon zutage förderte. »Hast du eigentlich ein Handy?«, erkundigte er sich beiläufig, während er mit dem Daumennagel die Tasten drückte.

»Nö«, log Petrow.

»So, so«, sagte Igor gar nicht beleidigt und stellte fest: »Du willst nur nicht, dass ich dich auch noch auf dem Handy nerve.«

»Ja, irgendwie so«, gestand Petrow. »Sich mal zufällig treffen ist eine Sache, aber permanent im Kontakt mit dir ist was anderes.«

»Dabei bin ich eigentlich gar kein aufdringlicher Typ«, entgegnete Igor abwesend, weil er mit dem Telefon am Ohr schon das Freizeichen hörte. »Hallo, Witja, bist du’s?«, fragte Igor, und kaum hatte er die Stimme des anderen vernommen, als er sich auch schon aus dem Innenraum des Autos entfernte und in jene für Petrow unzugängliche Sphäre begab, wo die Seelen aller Telefonquassler weilen.

»Igor hier«, sagte Igor in einem Ton, als wäre er der einzige Igor im Universum. »Also, ich würde gerne mit ’nem Kumpel bei dir vorbeikommen, wegen deiner Dissertation«, fuhr Igor fort, ließ kurz die Plastiktüte sinken und zeigte Petrow einen Daumen hoch. »Schon die Habilitation?«, fragte Igor hörbar unbeeindruckt. »So wie Rehabilitation? Ein Grund mehr, vorbeizukommen und sie mit frischem Blick zu betrachten. Sozusagen in neuem Licht erscheinen lassen. In himmlischem, genau. – Was treibst du eigentlich grade?«, fragte Igor dreist, nachdem er eine Weile zugehört hatte. »Bei der Arbeit? Also, Witja, das ist jetzt wirklich lächerlich. Was denn für Arbeit? Ein Kranker macht sich auf den Weg, um mit dir zu plaudern, und du bist bei der Arbeit. Ist sie wenigstens hübsch, diese Arbeit? Ich lass aber nicht locker, bis du’s mir sagst. Nee, ich lass nicht locker. Leck dich selber. Nein, du. Nein, du sollst dich selber lecken. Nee, im Ernst, ist sie hübsch? Wirklich? Dann kommen wir also vorbei, sehen selbst und geben unser Urteil ab, ja? Also, gleich sind wir da.«

Von solchen Gesprächen kam Petrow selbst mit aufgeknöpfter Jacke ins Schwitzen, ihm wurde angst und bange, wenn er sich an die Stelle des Menschen versetzte, den Igor da bedrängte, denn eigentlich bedrängte Igor die Leute gar nicht, er stellte sie geruhsam vor die Tatsache seines Erscheinens, und als nächste Tatsache verkündete er die Eröffnung nächtlicher Sitzungen mit Sprit in hohen Dosen, was nicht jeden entzückte.

»Witja, ich glaube, du flunkerst«, sagte Igor mit gnadenloser Zärtlichkeit, »du hast gar niemanden bei dir. Normale Frauen verschreckst du, sobald du den Mund aufmachst, und die Studentinnen schreckt der weite Weg zu dir in den Elmasch. Gebe Gott, dass du über deiner philosophischen Selbstflagellation oder dem Stoizismus oder welche Periode du sonst grade durchläufst, wenn nicht die alkoholische, dass du also nicht in die Tiefen der griechischen Ontologie gesunken bist und jemanden ins Gymnasion gelockt hast. Das örtliche Proletariat wird das nicht hinnehmen.«

Nach den Worten über die Habilitationsschrift und die Studentinnen wurde Petrow schlagartig klar, dass Igor zehn, wenn nicht fünfzehn Jahre älter war als er, und ihn befiel ein Gefühl von Fremdheit. Schon vorher war ihm schleierhaft gewesen, warum Igor sich mit ihm abgab, doch nun war es dreifach schleierhaft. Schleierhaft war ferner, warum Witja nach all den Beleidigungen, den direkten wie den verhüllten, nicht einfach auflegte, sondern das Gespräch fortführte, aber schleierhaft blieb es nur so lange, bis Igor verkündete:

»Ich leg aber nicht auf und basta, du kannst ja eh nicht mit dem Streiten aufhören, solange der Streit dauert, und Geld hab ich ’nen ganzen Arsch voll auf dem Handy, ich kann jetzt auf dem Weg zu dir einmal bis nach Tagil und zurück fahren, und selbst wenn ich dabei die ganze Zeit mit dir rede, wirst du weiter schön brav neben deinem Nachtschränkchen stehen und Speichel versprühen.«

Mit tiefem Kopfnicken, wie ein Zirkuspferd, hörte sich Igor Wiktors Einwände an und seufzte:

»Na gut, dann halt nicht. Wir fahren jetzt zu dir und schauen, ob du’s dir doch noch anders überlegst, und wenn nicht, dann bleiben wir auf der Schwelle stehen wie die Mädchen mit den Schwefelhölzern, pressen uns an deine Fensterscheibe, hauchen ein Guckloch drauf und weiden uns an deinem Glück … Nein, die dritte Etage schreckt mich nicht, du kennst mich doch. Hauptsache, dich schreckt’s.«

Als das Gespräch beendet war, versenkte Igor das Handy wieder in sein tiefstes Inneres, umfasste die Plastiktüte und kehrte Petrow eine zufriedene Miene zu. »Nee, der ist garantiert schon um die vierzig«, dachte Petrow, der selbst achtundzwanzig war.

»Er ist natürlich dagegen, aber wen interessiert schon seine Meinung«, meldete Igor.

»Dann macht er halt nicht auf«, gab Petrow zu bedenken.

»Dann klopfen wir halt so lang, bis er aufmacht«, erwiderte Igor.

»Dann macht er sich halt aus dem Staub, solange wir noch auf dem Weg sind«, sagte Petrow.

»Dann kann er halt nirgends hin«, sagte Igor. »Es ist sein Schicksal, dass er sich heute besäuft, die Parzen haben bereits ihren Faden gesponnen und so.«

»Und wieso rufst du ihn dann überhaupt an?«, fragte Petrow.

»Man muss ihn vorher bisschen aufstacheln«, antwortete Igor, »damit er rasend wird, weißt du, wie der Minotaurus im Labyrinth.«

Igor ließ erneut die Tüte sinken und machte mit einer Hand und wilder Grimasse den rasenden Minotaurus vor.

Über dem fremden Gespräch war es Petrow entgangen, dass der Fahrer sie in irgendwelche Ecken der Stadt gebracht hatte, die man bei Tageslicht erkannt hätte, doch nun entwich ihre Topologie in die anrückende Dunkelheit und verlor sich in dem in die Augen stechenden Licht der Scheinwerfer, wobei auch die Scheinwerfer bald verschwanden – der Wolga rollte auf eine bogenförmige Straße, die nicht enden wollte. Kleine, gestreifte Pfosten ragten am Wegrand auf, und hinter den Pfosten standen Nadelbäume mit schneebeschwerten Zweigen. Dann tauchte ein vertrautes Verkehrsschild auf mit einer Rostbeule in der unteren rechten Ecke. Ein Schild, das eine Tankstelle ankündigte, und hundert Meter weiter eines, das vor Rollsplit warnte, rückten die Verkehrspläne des schweigsamen Fahrers schlagartig zurecht. Tatsächlich tauchte eine Tankstelle auf, in deren Nähe ein mit Luftschlangen und Lichtgirlanden geschmücktes Neujahrsbäumchen in die Erde gerammt war; es war unklar, ob man die Tanne extra hergeschleppt hatte oder ob sie vorsorglich gleich an Ort und Stelle gewachsen war. Ein paar Minuten nach der Tankstelle wich der Wald allmählich zurück, und die Straße war zunehmend umgeben von den Elementen städtischer Peripherie: Eisenbahngleise unter einer Autobrücke, Lagerhallen ohne Fenster und Türen, ferne Hochhäuser, zu Herden geballt und doch einsam anzusehen. Petrow, der sein ganzes Leben in dieser Stadt verbracht hatte, war noch nie hier gewesen und hatte noch nie aus einer solchen Perspektive auf die Stadt geblickt, weshalb er nicht begriff, wo sie sich befanden. Dann verschwand auch diese Umgebung aus dem Blickfeld, weil der Fahrer des Wolga in eine Durchfahrt einbog und das Auto vorsichtig zwischen zwei sich einander schief zuneigenden Betonzäunen hindurchlavierte, auf denen Stacheldraht prangte. Hinter den Zäunen blickten Gebäude aus dunklem Klinker hervor, mit staubigen schmalen Fenstern, doch ließ sich durch den Staub und die schmale Öffnung im Innern ein Raum erahnen und in diesem Raum allerlei Teile und Ecken massiger, schwerer Geräte. Weil sie langsam fuhren, glitt ebenso langsam, wie auf einer Drehbühne, ein Mann vorbei, der mit seinem Schäferhund in einer Schneewehe stand. Der Mann pinkelte in den Schnee und schien das Auto nicht zu bemerken, und der Hund sah dem Mann beim Pinkeln zu. Dann ragte ein Fabrikschlot auf wie ein Fernsehturm, aus dem Schlot quoll weißer Rauch, der selbst im Dunklen zu sehen war auf dunklem Himmelsgrund.

Hinter dem Industriegebiet tauchten erste Häuschen auf, zweistöckige gelbe Häuschen und schwarze aus Holz. Der Fahrer nahm den Weg durch die Hinterhöfe, und der ganze Zauber dieser Höfe mit ihren geheimen, nur den Anwohnern bekannten Läden, einer irgendwo im ersten Stock verborgenen Kinderpoliklinik oder Kinderkrippe (drinnen brannte Licht und ließ die mit lustigen Tieren bemalten Wände sehen), all das erschien in gekipptem Winkel vor Petrows Blick, tanzte auf und nieder von den hinterhöfischen Schlaglöchern. Einen kurzen Moment lang schienen sie auf eine Straße oder eine Kreuzung zu stoßen, aber es war dunkel, und Petrow konnte nicht sicher sein, ob es eine vollwertige Straße oder Kreuzung war oder einfach nur die Laune eines Landschaftsgärtners. Das Auto kroch einen Hang hinauf, präsentierte oben einen Kirowski-Supermarkt, schlug erneut seine Haken zwischen Büschen, nahen Toreinfahrten und Betonblöcken hindurch, die ihm den Weg versperrten. Von all dem Gekreise schien es Petrow, als seien sie schon wieder auf dem Heimweg.

»Ja, genau hier«, sagte Igor, und das Auto hielt.

Anstatt auf seiner Seite auszusteigen, schubste Igor Petrow sanft nach draußen, schubste sich selbst hinterher und geleitete Petrow einen niedrigen Holzzaun entlang, hinter dem ein schneebedeckter Grill stand.

Der von ihnen verlassene Wolga machte allerlei Rückstoßmanöver, um zu wenden und den Rückweg anzutreten; er hatte Mühe damit, weil die Straße nicht geräumt war. Fast schon gewaltsam geleitete Igor Petrow zu einer Tür, die mit braunem Kunstleder dick gepolstert und an den Rändern mit schwarzem Filz beschlagen war, postierte ihn unter der Lampe der Veranda, drückte ihm die Plastiktüte in die Hand und klopfte. Auf sein ebenso lautes wie weiches Klopfen antwortete einzig der Wind mit einem eigentümlich feinen Pfeifen in den Latten des Gartenzauns.

»Na toll«, sagte Petrow und knöpfte die Jacke zu.

Doch da ertönte im Innern des Hauses scheinbar an mehreren Stellen zugleich ein hölzernes Knirschen, die Tür öffnete sich nach innen. Auf der Schwelle stand Wiktor Michajlowitsch, Kunde der Autowerkstatt, wo Petrow arbeitete. Obwohl es drei Jahre her war, dass Wiktor Michajlowitsch das letzte Mal in der Werkstatt erschienen war, erinnerte sich Petrow nur zu gut, wie sie bei seinem UAZ-Geländewagen das Fahrwerk repariert und die Gangschaltung ausgetauscht hatten und wie man Wiktor Michajlowitsch bei jedem Ersatzteil buchstäblich nötigen musste, es zu erwerben, obwohl es sein eigenes Auto war, und dann musste man ihm noch das Geld für die Arbeit aus den Rippen leiern, worauf quasi als Strafe für seinen Geiz nur wenige Stunden, nachdem sie das Auto aus der Werkstatt entlassen hatten, das Getriebe den Geist aufgab. Wiktor Michajlowitsch flehte sie inbrünstig an, das Auto zurückzunehmen, und versprach das Blaue vom Himmel, aber in sämtlichen Werkstätten ringsum kannte man ihn bereits und fiel nicht auf seine Versprechungen herein, so dass Wiktor Michajlowitsch den Rückzug antreten und anderswo nach irgendwelchen Trotteln Ausschau halten musste, denen sein Porträt noch nicht untergekommen war.

Petrow hatte Wiktor Michajlowitsch als korpulenten Mann in Erinnerung, und nun, nachdem er ihn ein paar Jahre lang nicht gesehen hatte, kam er Petrow noch massiger vor. Es war direkt erstaunlich, dass Wiktor Michajlowitsch durch das enge und niedrige Eingangstürchen überhaupt noch in sein Haus gelangen konnte. Außer einer wattierten Hose hatte Wiktor Michajlowitsch einen senffarbenen Pullover an, wie man ihn nur noch bei kaltem Wetter in den Schrebergärten trug, den Bauch des Pullovers zierte die Aufschrift »Team Boys«, von innen fest unterstützt durch die Leibesfülle des Hausherrn. Wiktor Michajlowitsch schniefte seltsam trunken, als wollte er jeden Moment losreihern. Er schwankte leise.

»Dann kommt halt rein, wo ihr schon da seid«, sagte Wiktor Michajlowitsch, machte nicht ohne Mühe in der engen Diele kehrt und kletterte auf der viel zu schmalen Stiege nach oben.

Igor knöpfte Petrow die Tüte ab und schlüpfte ins Haus. Petrow folgte ihm auf dem Fuß, schloss hinter sich die Tür, deren Sicherheitsschloss ein markantes Klicken von sich gab. In der Diele war es kalt, wie in den Dielen auf dem Dorf, neben der Tür standen an die Wand gelehnt ein paar Schaufeln, eine Schneeschippe und ein Besen, daneben lag ein hingeworfener Spaten, an dem vermutlich noch vom letzten Herbst ein Erdklumpen haftete. Dann gab es an der Wand noch einen Stromzähler, der summte wie ein elektrischer Stuhl während der Hinrichtung.

»Macht das Licht aus da unten«, brüllte Wiktor Michajlowitsch von irgendwo weiter oben.

Petrow fand mit Mühe den seltsam erdig wirkenden Lichtschalter an der Wand, einen Schalter, so alt, dass Petrow ein ähnliches Modell zum letzten Mal in der Kommunalka gesehen hatte, wo seine Großmutter mütterlicherseits gelebt hatte, und auch das war schon zwanzig Jahre her. Vom Schalter führte eine Schnur nach oben, die einer gewöhnlichen Wäscheleine glich. Petrow knipste das Hebelchen des Schalters um, und es wurde schlagartig stockfinster, erst nach ein paar Sekunden quietschte oben eine Tür, und von dort erschien an der Wand eine Art gelber Widerschein. Petrow orientierte sich am Rascheln von Igors Tüte und Mantel, er genierte sich, die Hand vor sich hinzustrecken, um nicht unversehens mit dem Kopf gegen ein zufällig aufgegabeltes Antikstück zu prallen, doch weil er partout kein Treppengeländer finden konnte, kletterte er weiter hinter Igor her.

Auf dem Treppenabsatz zwischen Erdgeschoss und erstem Stock hing eine Schüssel, die jedoch im Licht, das durch den Spalt einer angelehnten Tür fiel, schon gut zu sehen war. Hinter der Tür folgte eine weitere Diele, hier war es zur Abwechslung warm. Petrow hatte erwartet, eine schaurige Junggesellenhöhle zu sehen, und war leicht erstaunt, als er an der Wand links von der Tür einen verspiegelten Einbauschrank entdeckte, dann Laminatboden, himbeerfarbene, mit Bommeln geschmückte Vorhänge vor den beiden für Petrow sichtbaren Türen, von denen eine offenbar in die Küche, die andere ins Wohnzimmer führte. Während Wiktor Michajlowitsch die Gäste mit einem bösen Blick seiner riesigen (von Geburt an) und hellen (vom Alkoholismus) Augen durchbohrte, nahm er ihnen Oberbekleidung und Mützen ab, hängte alles auf Bügel, entriss Igor die Tüte und entschwand hinter einem der himbeerfarbenen Vorhänge, dem gegenüber vom Eingang. Unter Igors Mantel kam ein Anzug zum Vorschein, der einem Traueranzug ähnelte, als hätte Igor ihn noch rasch dem Verstorbenen in der GAZelle gemopst, dagegen hatte Petrow in seinen mickrigen Jeans und dem mickrigen Pullover voller Benzingestank das Gefühl, er ähnle Wiktor Michajlowitsch, und das behagte ihm gar nicht, er wollte nicht mit den Jahren immer korpulenter werden, und schon gar nicht in diesem Ausmaß.

»Hausschlappen hast du immer noch keine?«, fragte Igor, während er die Schuhe auszog und aufs Schuhregal stellte.

»Sekunde, ich rufe meinen dressierten Dackel, dass er sie apportiert«, erwiderte Wiktor Michajlowitsch mit einem Sarkasmus, der Igor begreifen ließ, dass er die Pantoffeln vergessen konnte.

»Manometer«, sagte Igor, »du bist immer noch sauer wegen der Sache vom letzten Mal, was?«

»Und wegen der vom vorletzten Mal«, sagte Wiktor Michajlowitsch, dabei hörte man, wie er den Schraubverschluss einer Flasche öffnete und Wodka in Schnapsgläser goss.

Igor wartete, bis Petrow die Schuhe ausgezogen hatte, und ließ sich Zeit, in die Küche zu kommen, obwohl er ungeduldig auf Petrows vergripptes Genestel mit den Schnürsenkeln schielte.

»Meinen Neffen habe ich übrigens auch ohne deine Hilfe untergebracht«, sagte Igor. »Bei den Medis.«

»Wie, bei den Medis?«, wunderte sich Wiktor Michajlowitsch. »Der ist doch debil, ich erinnere mich genau.«

»Debil oder nicht«, sagte Igor, »er ist jedenfalls schon im dritten Studienjahr.«

»Und das da ist auch ein Neffe von dir?«, fragte Wiktor Michajlowitsch argwöhnisch und steckte sein Gesicht halb hinter dem Vorhang hervor.

»Fast«, sagte Igor. »Ein guter Bekannter und Nachbar auf der Datscha. Uns haben mal beim ›Theater für den jungen Zuschauer‹ die Luftlandetypen abwichsen wollen.«

»Wollen ist gut«, brachte Petrow seine bescheidene Meinung zum Ausdruck, nachdem er endlich mit den Schuhen fertig war und sich aufgerichtet hatte, wovon er fast eine Hustenattacke bekam, »wollen ist gut, die haben uns schon bisschen abgewichst.«

Igor kehrte Petrow sein Gesicht zu, auf dem sich leichter Zweifel malte.

»Ist ja gut«, sagte Igor. »Klar, wir haben uns kurz gekloppt, zusammen einen gehoben. Solange keiner zu Boden ging, war’s auch keine Schlägerei. So seh ich’s jedenfalls.«

Petrow, den sie trotz allem vermöbelt hatten, gab unwillkürlich einen Laut der Missbilligung von sich.

»Was denn, Igorchen?«, fragte Wiktor Michajlowitsch. »Du hast dich nicht rausreden können?«

»Na so halt«, zuckte Igor mit den Schultern. »Zu meiner Rechtfertigung sei gesagt, dass die uns trotz allem nicht richtig verprügelt haben. Die Einzigen, denen ich das erlauben würde, sind diese Grubenarbeiter oder Bergleute. Und das auch nur, wenn ich im Unrecht wäre. Aber ich bin ja immer im Recht.«

Nachdem sich Igor und Petrow nacheinander im Bad die Hände gewaschen hatten, begaben sie sich in die Küche, setzten sich an den kleinen, quadratischen Tisch, der mit einem derart starren Plastiktischtuch bedeckt war, dass Petrow, als er den Rand des Tuchs betastete, plötzlich einen Anginakloß im Hals spürte, in seiner Starrheit erinnerte ihn das Tischtuch an die dunkelblauen Schallplatten, die zwischen den Seiten der Kinderzeitschrift »Kolobok« eingeheftet waren. Petrow blickte auf die blaue Flamme unter dem altersgilben, halbkugelförmigen Teekessel und spürte, dass er in der häuslichen Wärme selbst aufzuheizen begann wie ein Teekessel, obwohl – nein, die Hitze im Innern Petrows war nicht feucht wie die im Kessel, sondern eher wie die Hitze von Ofenkacheln – trocken, schwer, anhaltend. Petrow blieb nichts übrig, als zu leiden und sich zu betrinken, denn kaum saßen Igor und Wiktor Michajlowitsch am Tisch, waren sie wie schon zuvor sofort miteinander zugange, verströmten ihr beiderseitiges Gift. Und während die beiden ihre Sticheleien tauschten, appellierten sie seltsamerweise an Petrow als Richter, aber er konnte sich nur räuspern, weil sich ihm der wahre Boden dieser Spitzen in den meisten Fällen nur teilweise erschloss. So wusste Petrow zwar schon, dass Wiktor Michajlowitsch Philosophie lehrte, aber wo, das wusste er nicht, und er konnte zwar halbwegs verstehen, wieso Igor fragte, wie das zusammenpasste, das Bildungssystem und damit Teile des Staatswesens zerschlagen zu wollen und zugleich ein Bodentümler zu sein. Doch war ihm völlig schleierhaft, weshalb Wiktor Michajlowitsch im Gegenzug behauptete, wer wenn nicht Igor müsse doch Bescheid wissen über Zerfall, Grundlagen, Staatswesen und Boden, wobei Igor, als er diese Worte vernahm, dreckig grinste und von Olescha und Neid zu sprechen begann. Wiktor Michajlowitsch sagte, nein, kein Neid, sondern ganz gesetzmäßige Verwunderung über Igors Benehmen.

Nach etwa zwanzig Minuten war Wiktor Michajlowitsch so weit, dass er mit vor Anspannung rotem Gesicht Igor regelrecht anbrüllte und zum Nachdruck mechanisch den Zeigefinger zwischen die Schnapsgläser bohrte.

»Die Zivilisation wurde im Nahen Osten geboren, und dort ist sie auch geblieben! Man hätte diese Barbaren aus dem Norden nicht mal auf Schussweite rankommen lassen dürfen. Dort ist auch ohne die Europäer ein Hexenkessel, wozu da noch Öl ins Feuer gießen! Alles, was nördlicher liegt, ist Müll, Müll, sag ich dir! Im Nahen Osten ist alles entstanden, was die Barbaren dann an ihre eigenen Bedürfnisse angepasst und versaubeutelt haben! Jede noch so rudimentäre Äußerung von Kultur! Aber ihr seid auch gut! Was habt ihr um euren Monotheismus für einen Heidenzirkus gemacht! Und vor wem habt ihr sie ausgebreitet, wem habt ihr sie auf dem Silbertablett serviert – die Frucht von ein paar Jahrtausenden religiösen Denkens? Und schau, selbst die Araber, die jetzt weltweit gehetzt werden – selbst die haben das mit dem einen Gott auf die Reihe gekriegt! Die Araber! Vielleicht weil in dem ganzen Sand dort wirklich was Heiliges ist! Sobald sich das Denken Richtung Norden bewegt hat, war Sense. Woran glauben wir denn jetzt? Richtig! An den Vater, den Sohn, den Heiligen Geist, das heißt so viel wie Jupiter, Herkules und Merkur in einer Gestalt! Und wenn man noch tiefer gräbt, Zeus, Herakles und Hermes! Klar wird man mir entgegenhalten: Nein, nein, das theologische Denken ist längst über diese Konvention hinweg. Von wegen! Für Otto Normalverbraucher sind das realiter Zeus, Herakles, Hermes. Du hast doch mitgekriegt, wie die sich dort nach ihrem Ebenbild ’nen schwarzen Jesus zurechtbasteln? Genauso ist es hier, haben einfach alles adaptiert, wie’s grade passt, einen Teil der Mythen über Bord geworfen, und schon waren sie quasi keine Heiden mehr, auch wenn sie faktisch immer noch welche sind. Das theologische Denken windet sich auf allerlei Weise um diese Analogie herum, aber so ist es nun mal, all die heiligen Schutzpatrone für dies und das sind ganz klar ein Sprung ins Heidentum. Das Brimborium hätte man sich sparen können. Sollen sie doch beten zu ihrem griechisch-römischen Pantheon. Mit den Arabern muss man Frieden machen und leben nach seiner Façon!«

»Du stehst nicht etwa kurz vor ’nem Schlaganfall von wegen religiöser Ekstase?«, fragte Igor halb spöttisch, halb beunruhigt.

»Wenigstens untereinander hätte man sich nicht bekriegen dürfen!«, legte Wiktor Michajlowitsch nach, ohne auf ihn zu hören, und warf sich mit dem Bauch über den Tischrand. »Wenigstens das hätte man bleibenlassen sollen! Kapierst du?! Kapierst du das? Ojojoj, wir haben einen Tempel und ihr habt keinen! Ojojoj, ihr habt einen Tempel, dafür sind wir kein Gesockse! Ist das normal, oder was? Zack rotten sich die Nachbarn zusammen und jagen die ganze Mischpoche für zweitausend Jahre in alle Winde!«

Igor lachte auf.

»Schade, dass du jetzt nicht mit meinem Onkel am Tisch sitzt!«, sagte Igor immer noch kichernd. »Der würde dir das Dumpfmaul stopfen mit deinem eigenen Großmachtchauvinismus, wenn ihn nicht vorher der Schlag träfe von dieser Instant-Version der biblischen Geschichte.«

»Dann hättest du mal besser deinen Onkel angeschleppt statt diesem«, Wiktor Michajlowitsch warf einen Blick auf Petrow und runzelte beim Versuch, dessen Wesen auf den Punkt zu bringen, die Stirn, als hätte er Verstopfung, »statt diesem Schweiger da. Was macht der überhaupt? Ist das dein Sekretär, oder was?«

»Ich hab doch gesagt – ein Bekannter«, sagte Igor, »ich weiß nicht, wo er arbeitet.«

Petrow sagte geistesgegenwärtig, er sei Installateur, aber Wiktor Michajlowitsch taxierte ihn trotzdem, schwankend und mit zusammengekniffenen Augen.

»Und in einer Autowerkstatt hast du nie gearbeitet?«, fragte Wiktor Michajlowitsch.

»Nö«, erwiderte Petrow.

»Pass bloß auf, du«, sagte Wiktor Michajlowitsch und drohte ihm mit dem Finger.

Tatsächlich war die Chance minimal, dass Wiktor Michajlowitsch in ihm den Automechaniker wiedererkannte, hier sprach alles für Petrow: die andere Kleidung, die erkältungsbedingt veränderte Stimme und die Zeit, die verstrichen war, seit Petrow in dem leidgeprüften UAZ herumgestochert hatte. Petrow erinnerte sich noch heute, wie der UAZ vorne links abgesackt war, als Wiktor Michajlowitsch sich hineinsetzte. Für alle Fälle senkte Petrow den Blick unter den wachsamen Glubschern von Wiktor Michajlowitsch, in dessen Seele die Automechaniker offenbar eine besonders tiefe Wunde hinterlassen hatten, womöglich wirbelten ihm die Bilder seiner Peiniger immer noch durchs Gedächtnis, aber um sich mit einem solchen Fettkloß anzulegen, fehlte Petrow die Lust, die Gesundheit, der Raum.

»Meine Nachbarn sind Arschlöcher«, fuhr Wiktor Michajlowitsch mit einem Gedankensprung fort, nachdem er sich an Petrows unglücklicher Visage geweidet hatte. »Weißt du, es wäre ja o.k., wenn man ihnen beim Rausgehen immer mal begegnen würde, aber so läuft das hier nicht. Der dritte Stock ist meiner und der Zugang zur Haustür auch, und auf der anderen Seite wohnen die Leute im zweiten Stock und haben da ihren eigenen Ausgang. Ich seh nicht ein, wieso ich nur auf einen Schwatz mit denen einmal rund ums Haus laufen soll. Na, und der Nachbar links von mir ist auch nicht ohne, schippt seinen Schnee einfach zu mir rüber – und ab mit dem Auto, bin ja selbst gerade nicht motorisiert, da werd ich doch mal über Schneewehen klettern können. Und der Hund von denen – total beknackt, wuff-wuff-wuff, wuff-wuff-wuff. Und gegen wen das ganze ›Wuff-wuff-wuff‹? Gegen Menschen, Hunde, Katzen, und scheint der Mond, heult der Köter. Scheint er nicht, läuft er hin und her und rasselt mit der Kette. Wachhund nennt sich das. Und die Kette, keine Ahnung, ob die da ’ne Spezialanfertigung geordert haben oder was, dass sie so rasselt. Weiß der Henker.«

Nach dem Kettenhund machten Wiktors Gedanken einen deutlichen assoziativen Sprung. Wobei auch der vorige Sprung, als Wiktor Michajlowitsch sich nach einem Blick auf Petrow darüber verbreitet hatte, was für Hurensöhne seine Nachbarn waren, assoziativ gewesen war, doch das wollte sich Petrow nicht eingestehen.

»Leute«, legte Wiktor Michajlowitsch los, »wir sind an die Materie gekettet. Man kann sagen, was man will, aber selbst die Information ist komplett materiell und eben nicht frei von den Fesseln der Materie. Zum Beispiel dieses Buch hier. Von seinen Seiten prallen Photonen ab und beeinflussen auf spezifische Weise die Neuronen des Gehirns. Ein Lehrer versetzt seine Umgebung mittels der Stimmbänder in Schwingung und wirkt über das Trommelfell auf die Neuronen seiner Schüler ein. Andererseits enthält dasselbe Buch ganz ohne Benzin und Strom, indem es einfach nur auf dem Tisch liegt, nahezu unerschöpfliche Ressourcen an Information. Generation um Generation schöpft Wissen daraus, bis das Buch auseinanderfällt. Das gesprochene Wort kann sich in der menschlichen Sphäre vermehren, als wäre es lebendig, im Grunde ist das Wort wie ein Lichtquant, hat mehrere Naturen auf einmal, nur kann das Licht gleichzeitig eine korpuskulare und eine Wellennatur besitzen, dagegen ist der Gedanke – die konkrete Molekülverbindung in den Neuronen genauso wie wenn du deinen Gedanken laut aussprichst – eine völlig konkrete, messbare Schwingung der Luft, und der zu Papier gebrachte Gedanke ist generell eine unvorstellbare Verbindung aus dem Mechanismus der Mustererkennung, den Mustern selbst und dem ewigen Pingpong der Photonen zwischen dem Mechanismus der Mustererkennung und den Mustern selbst. Überhaupt ist es interessant, dass sich auf der Ebene der Quanten, grob gesagt, der Kopf nicht vom Arsch unterscheidet, die Umgebung, in der wir existieren, unterscheidet sich nicht von uns selbst, die Luft, die wir atmen, das Essen, das wir verzehren, verwandelt sich alles in uns selbst, wo ist denn da die Grenze zwischen uns und unserer Umgebung? Wieso können wir, im Grunde eine Wolke von Elementarteilchen, diese Elementarteilchenwolke fortbewegen, aber Berge können wir nicht auf dieselbe Weise versetzen? Klar versetzen wir mit Hilfe von Instrumenten auch Berge, aber wieso können wir nicht unseren Willen auf den Berg übertragen und ihn dergestalt versetzen? Wo doch keine Grenze existiert.«

»Hör mal, darf man bei dir rauchen oder ist es immer noch verboten?«, unterbrach ihn Igor und sprach damit aus, was Petrow schon länger umtrieb.

»Ausgeschlossen«, verkündete Wiktor Michajlowitsch kategorisch, »ihr pestet hier alles voll.«

»Na komm schon«, sagte Igor, »bis morgen hat sich das wieder verzogen.«

»Geht raus«, befahl Wiktor Michajlowitsch, »aber werft die Kippen nicht in den Garten. Werft sie zu den Nachbarn rüber, zum Hund.«

Igor und Petrow wiederholten den Prozess des Auskleidens in umgekehrter Richtung und gingen auf die Straße hinunter. Mit dem Lärm, den der Nachbarshund produzierte, hatte Wiktor Michajlowitsch offenkundig übertrieben, denn wieder war außer dem Wind in den Zaunlatten nichts zu hören. Bald kam Wiktor Michajlowitsch selbst auf die Veranda hinaus, trotz seiner demonstrativen Abneigung gegen das Rauchen, und beobachtete mit leiser Verachtung die rauchenden Gäste. Er selbst hielt eine Flasche in der Hand und nahm hin und wieder kleine Schlucke daraus, als wollte er nur mal probieren.

Nachdem sie eine geraucht hatten, beschlossen sie, noch ein paar zu rauchen – auf Vorrat. Petrow hatte sich im Haus und in seinem eigenen Innern spürbar aufgeheizt, während sie dort in der Küche saßen und Wiktor Michajlowitsch permanent die Flamme unter dem Teekessel auf- und abdrehte (übrigens völlig unmotiviert, weil ihnen weder Tee noch Kaffee angeboten wurde), und er sog mit Genuss aus vollen Zügen die Luft ein, die ihm kühl erschien, nur manchmal bekam er sie in den falschen Hals, und dann hustete sich Petrow die Seele aus dem Leib.

»Hör mit dem Rauchen auf«, sagte Wiktor Michajlowitsch während eines solchen Hustenanfalls.

»Irgendwie lässt sich dein berühmter Hund so gar nicht hören«, sprach Igor aus, was Petrow sofort aufgefallen war.

Anstatt von dem Hund zu erzählen, stürzte sich Wiktor Michajlowitsch, gleichsam erleuchtet vom Anblick Igors mit dem über die Schulter geworfenen Mantel und seinem schwarzen Anzug, in die Abgründe der Innenpolitik.