Pfad der Rache - Joachim Krug - E-Book

Pfad der Rache E-Book

Joachim Krug

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  • Herausgeber: TWENTYSIX
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

In einem Waldstück bei Leipzig werden zwei tote Kinder aufgefunden. Der vermeintliche Täter wird ermittelt, sagt jedoch kein Wort. Hauptkommissar Jan Krüger tappt im Dunkeln. Wer ist dieser Mann und warum hat er diese Kinder getötet? Alle Spuren führen in eine Sackgasse, doch plötzlich tauchen Hinweise auf, die mit der Vergangenheit des Vaters in Zusammenhang stehen. Der Ingenieur Jost Vanderbilt diente einst beim "Dutchbat", den niederländischen Blauhelmen in Bosnien. Wollte der Mann Rache an Vanderbilt nehmen? Aber wofür? Und warum jetzt, gut 25 Jahre später? Jan Krüger kämpft gegen eine Mauer des Schweigens, doch langsam beginnt er zu verstehen...

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Seitenzahl: 756

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Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

»Die Welt mag untergehen, wenn ich mich nur rächen kann.« Cyrano de Bergerac (1619-1655)

Eine nasskalte, mondlose Novembernacht, dichter Nebel waberte tief über den morastigen Waldboden und kroch an den Silhouetten der Nadelbäume empor, bis er sich nach und nach auflöste und im Nichts der undurchdringlichen Finsternis verlor. Wie immer nach der Spätschicht ging Polizeihauptwachtmeister Wil Daubner mit Schäferhund Hector eine halbe Stunde nach Mitternacht den stockdunklen, vom Starkregen aufgeweichten, matschigen Waldweg entlang durch den Tannenwald von Lindenthal. Gewöhnlich trafen die beiden hier zu dieser späten Stunde keine Menschenseele. Der gestresste Beamte genoss die Stille und Einsamkeit der dunklen Nacht. Zeit um runterzukommen, Zeit zu entspannen, Zeit um nachzudenken.

Plötzlich hielt er inne. Einige Meter vor ihm tauchte unvermittelt ein Auto auf, das scheinbar achtlos am Rande des schmalen Waldweges abgestellt worden war. Im ersten Moment glaubte er, dass sich ein Liebespaar irgendwo ein abgelegenes Plätzchen gesucht hatte, doch als er näher kam, stellte er fest, dass sich niemand im Wagen befand.

Irgendjemand schien diesen dunklen VW Golf tief im Wald verborgen abgestellt zu haben, womöglich in der Hoffnung, dass er nicht so schnell entdeckt werden würde. Wil beleuchtete das Nummernschild mit dem Licht seiner Handykamera.

»München?«, stutzte er. Wahrscheinlich geklaut, nicht mehr gebraucht und deshalb an diesem einsamen Ort entsorgt, dachte er. Obwohl Hector aufs Wort gehorchte, leinte er ihn vorsichtshalber an und nahm ihn kurz. Er blieb stehen und lauschte in die Dunkelheit hinein. Nichts.

Dem Schäferhund war die Anspannung seines Herrchens nicht entgangen. Er spitzte aufmerksam die Ohren, die Nackenhaare stellten sich auf. Wil wusste, hielte sich hier jetzt jemand in ihrer unmittelbaren Nähe auf, hätte Hector längst angeschlagen.

Er fotografierte das Nummernschild, als er plötzlich zweimal kurz hintereinander ein dumpfes Ploppgeräusch vernahm, als würde jemand den Bügelverschluss einer Bierflasche aufhebeln. Hector begann bedrohlich zu knurren, bellte aber nicht.

»Verdammt, was war das?«, flüsterte Wil halblaut, blieb regungslos stehen und versuchte, das Geräusch zu lokalisieren, doch er hörte nichts außer das Prasseln des wiedereinsetzenden Regens.

Jemand schien ganz in der Nähe zu sein, allerdings noch weit genug entfernt, um für seinen Hund eine unmittelbare Gefahr darzustellen.

Wil zuckte zusammen, als dieses Geräusch erneut die Stille durchbrach. Diesmal hatte er es ganz deutlich wahrnehmen können. Wenn ihn nicht alles täuschte, schoss dort jemand mit einer schallgedämpften Waffe. Absolvierte da etwa irgend so ein Vollidiot mitten in der Nacht im tiefsten Wald Schießübungen?

Kurzerhand beschloss er, sich mit seinem Hund ein paar Meter vom Auto entfernt im Unterholz zu verstecken und einen Moment abzuwarten, bis der Kerl zurückkam. Plötzlich ging Hectors leises Knurren in ein kehliges Grollen über.

»Ruhig, mein Junge«, beschwichtigte er seinen Schäferhund, der aufs Wort parierte.

Dann hörte er Schritte, das Knacken von trockenem Geäst, das leise Stöhnen von jemanden, der sich in der Dunkelheit einen Weg durch das dichte Gestrüpp des Tannenwaldes bahnte.

Wil stockte der Atem, er hielt Hector mit beiden Händen die Schnauze zu. Eigentlich unnötig, weil der Hund gehorsam war, doch in diesem Moment musste er jedes Risiko, entdeckt zu werden, vermeiden. Schließlich war er unbewaffnet, während der Kerl wahrscheinlich eine Pistole trug.

Unmittelbar vor ihm tauchte der Schatten eines mittelgroßen, kräftigen Mannes auf. Der Kerl öffnete den Kofferraum und warf eine Schaufel oder einen Spaten hinein. Dann stieg er ein und startete den Motor.

Die Scheinwerfer des Wagen erleuchteten den Waldweg taghell. Als Wil erkannte, dass der Mann wenden würde, tauchte er tief ab und drückte Hector zu Boden, um nicht vom grellen Scheinwerferlicht erfasst zu werden. Dann sah er nur noch die Rücklichter, die sich in der Dunkelheit schnell entfernten.

Er sprang auf und kehrte auf den Weg zurück. Er musste die Kollegen anrufen, ihnen von dem Vorfall berichten und das Kennzeichen durchgeben, doch zu seinem Ärger gab es hier mitten im Wald keine Netzverbindung.

»Komm, Hector, beeil dich, wir müssen zurück«, rief er.

Was hatte dieser Kerl hier mitten in der Nacht gemacht? Wil lief es eiskalt den Rücken herunter. Kein Zweifel, er hatte Schüsse gehört und der Mann hatte einen Spaten dabei. Das ließ nichts Gutes erahnen. Hatte der Typ da etwa gerade jemanden erschossen und anschließend die Leiche im Wald verscharrt? Oder kam jetzt mal wieder der Bulle in ihm durch und er machte aus einer Mücke einen Elefanten? Vielleicht war die Sache ja auch vollkommen harmlos.

Nein, der Kerl hat Dreck am Stecken, war er absolut sicher und beschleunigte seinen Schritt ungeachtet der tiefen Pfützen auf dem schwammigen, unebenen Weg Richtung Waldrand, um diesen dubiosen Vorfall umgehend zu melden. Jetzt zählte jede Minute, wusste er.

Dieser Motorroller war eine Zumutung. Dieses sinnlose Aufheulen, wenn man am Gasgriff schraubte, diese strikte Weigerung, ernsthaft zu beschleunigen, dieses arrogante Zögern, wenn man die Bremse zog, all das konnte mitunter lebensgefährlich sein.

Maik Heller wäre beinahe bei Rot über die Kreuzung gefahren, weil der Bremsweg seines maroden Zweirades etwa dem einer Dampflok glich. Das Ausweichmanöver des Sattelschleppers hätte den schweren Lkw beinahe die Balance verlieren lassen.

Das Ungetüm wäre um ein Haar umgekippt und mit voller Wucht über den Asphalt in die Schaufenster des VAG-Centers in der Merseburger Straße gerutscht. Stinksauer veranstaltete der Fahrer ein dröhnendes Hupkonzert, nachdem er seinen Monstertruck wieder unter Kontrolle gebracht hatte.

Erschrocken suchte Maik das Weite. So schnell wie möglich, was allerdings nicht wirklich schnell war, wie auch? Er sprang vom Roller, schob ihn im Laufschritt über den Mittelstreifen auf die Gegenfahrbahn, gab Vollgas oder das, was dieses Zweirad dafür hielt und verschwand mit der Beschleunigung einer Dampfwalze. Bloß weg von diesem Ort der Schande.

»Scheiß Job«, fluchte er, als sein Handy klingelte.

»Hallo, Heller, was macht die Kunst, mein Lieber? Wie ich hörte, sind Sie mal wieder klamm. Ich könnte da vielleicht was für Sie tun.«

»Ach ja, wüsste nicht was die Staatsanwaltschaft einem Strafverteidiger für einen Job anzubieten hätte.«

»Na, nun übertreiben Sie mal nicht, Heller. Strafverteidiger?

Kann mich nicht daran erinnern, dass Sie irgendwann mal bei Gericht einen echten Straftäter vertreten haben. Mal abgesehen von ein paar Ladendieben, Heiratsschwindlern oder Trickbetrügern. Arbeiten Sie eigentlich immer noch für diesen Pizzadienst?

Oder mähen Sie mittlerweile auch Rasen und reinigen den Pool von neureichen Vorstädtern?«

»Ich bin beschäftigt, Oberdieck, was wollen Sie?«

»Na na, ein bisschen mehr Respekt dürfte es schon sein. Ich will Ihnen helfen. Könnte Sie schlagartig ins Rampenlicht befördern.

Eine bessere PR werden Sie niemals wieder erhalten, Heller.«

»Jetzt bin ich aber neugierig. Was soll ich tun? Mir den Oetker-Konzern vorknöpfen, weil Ihre Frau ein paar Millionen zu wenig geerbt hat? Oder den Promi-Golfclub verklagen, weil Sie nach einem Jahr immer noch mit Handicap 54 den Zierrasen quälen?

Ich frage mich sowieso, wie Sie mit Ihrem überschaubaren Talent überhaupt jemals die Platzreife erlangen konnten?«

»Nichts dergleichen, Heller, weitaus spektakulärer. Ein hochbrisanter Fall, an den sich niemand herantraut. Kurzum, wir suchen einen Pflichtverteidiger.«

»Wer ist wir?«

»Das Gericht muss einen Pflichtverteidiger bestellen. Sie werden von der Staatskasse bezahlt und erhalten in diesem speziellen Fall sogar noch eine fette Bonuszahlung.«

»Und was haben Sie damit zu tun?«

»Sagen wir’s mal so. So richtig fündig ist das Gericht noch nicht geworden. Die Kandidaten stehen nicht gerade Schlange. Da hat der zuständige Richter mich gebeten, mich mal umzuhören.«

»Ach ja? Und da sind Sie natürlich prompt auf mich gekommen?«

»Einen geeigneteren Mann kann ich mir für diese Aufgabe kaum vorstellen.«

»Aha, und von welchem Fall reden wir da?«

»Tja, zugegeben, die Sache ist etwas brisant, aber wird hervorragend bezahlt und ist schnell erledigt. Das Gericht würde sogar in Vorleistung gehen, Heller. Das ist doch Musik in Ihren Ohren, oder?«

»Nein, Oberdieck, Sie halten mich anscheinend für einen selten dämlichen Trottel. Suchen Sie sich einen anderen Dummen.«

Maik wollte gerade auflegen, als Oberdieck nochmal nachhakte.

»Wieviel wollen Sie? Ich denke, ich kann da richtig was rausholen.«

»Über welche Größenordnung reden wir?«

»Na ja, zehntausend vorweg und nach Prozessende nochmal zehn.«

»Netto.«

»Jetzt werden sie nicht gierig, Heller, aber gut, das kriege ich hin.

Also sind Sie dabei?«

»Aber immer.«

»Gut, ich spreche mit dem Richter und rufe Sie morgen wieder an.«

Jan war zeitig aufgestanden, um den freien Samstagvormittag zu nutzen und endlich seinen Oldtimer winterfest einzumotten.

Hannah war derweil zu ihren Eltern nach Markranstädt gefahren, um ihnen beim Tapezieren ihres Wohnzimmers zur Hand zu gehen.

Nachdem er seinen Audi Super 90 vollgetankt und Motoröl nachgefüllt hatte, erhöhte er den Reifendruck auf knallharte vier Bar, um während der Standzeit keinen Platten zu riskieren. Dann machte er sich daran, den Wagen gründlich zu waschen und zu polieren. Anschließend würde er den Innenraum auf Hochglanz bringen und alle größeren Dichtungen talkumieren.

Als sein Handy klingelte und auf dem Display der Name seines Chefs aufleuchtete, fluchte er leise vor sich hin.

»Was gibt’s Rico? Bin im Stress.«

»Hast du heute Morgen schon die Blitz gelesen?«

»Nee, wieso?«

»Die machen diesen Anwalt, der den Kindermörder vertritt, komplett fertig. Dabei ist der arme Kerl lediglich der gerichtlich bestellte Pflichtverteidiger.«

»Ist nicht unser Fall.«

»Nein, aber ich habe gerade von Waffel erfahren, dass der Täter jetzt nach Leipzig verlegt werden soll. Die wollen ihm am Landgericht den Prozess machen.«

»Na ja, habe mich ohnehin gewundert, dass wir nicht zuständig sind. Die Leichen der Kinder wurden immerhin im Tannenwald gefunden.«

»Stimmt, aber der Kollege, der in der besagten Nacht auf den Wagen im Wald aufmerksam geworden war, ist ein Hauptwachtmeister aus Halle. Der hat seine Dienststelle informiert und die Autobahnpolizei hat den Kerl wenig später auf einer Raststätte an der A 14 bei Halle festnehmen können.«

»Hm, wie auch immer, Rico, ich bin jedenfalls froh, dass wir mit dem Scheiß nichts zu tun haben. Diese kranke Sau erschießt einfach zwei Kinder und verscharrt sie im Wald wie lästigen Unrat.«

»Warten wir’s ab. Die Kollegen in Halle haben den Fall ans BKA abgegeben, weil ihnen die Sache ’ne Nummer zu groß erschien.«

»Meinetwegen.«

»Waffel meinte, die hätten aus dem Typen noch nicht ein Wort herausbekommen. Die versuchen seit fast einer Woche vergeblich, die Identität des Mannes zu ermitteln.«

»Professioneller Auftragsmörder.«

»Möglich, aber irgendeine Spur muss es doch geben, der die Kollegen nachgehen könnten.«

»Schwierig, wenn weder die Fingerabdrücke noch die DNA im System erfasst sind und der Typ kategorisch schweigt. Klingt nach Mafia. Die haben den Kerl irgendwo aus dem Ausland geholt. Wenn nicht zufällig dieser Polizist vor Ort gewesen wäre und das Kennzeichen des Wagens nicht sofort weitergegeben hätte, wäre der Mann schon längst wieder über die Grenze verschwunden.«

»Mich beschleicht da so ein Gefühl, dass die einen Spezialisten brauchen werden, der den Kerl zum Reden bringt.«

»Schwierig, aber wie gesagt, nicht unser Problem.«

»Die Eltern der beiden Kinder waren bisher nicht zu erreichen.

Der Vater ist Niederländer und arbeitet bei BMW. Offiziell hat er Urlaub genommen, angeblich, um zu seinen Eltern nach Holland zu fahren.«

»Wie gesagt, Rico, ist nicht unser Fall. Ich muss jetzt wirklich weitermachen.«

»Na klar, schönen Samstag noch und grüß Hannah von mir.«

Richter Hans Steringer, Oberstaatsanwalt Ralf Oberdieck und Rechtsanwalt Maik Heller hatten sich im Büro des Richters im Leipziger Landgericht in der Harkortstraße zu einer Vorbesprechung zusammengefunden.

»Hören Sie, Heller, dieser Fall ist eindeutig. Im Sinne aller Beteiligten wollen wir möglichst schnell Anklage erheben und den Fall vor Gericht bringen. Fangen Sie jetzt bloß nicht an und stochern im Nebel herum. Das ist vollkommen unnötig«, forderte Oberdieck.

»Wir kennen ja nicht mal die Identität des vermeintlichen Täters.

Außerdem gibt es da einige Ungereimtheiten…«

»Lassen Sie das, Heller. Darum kümmern wir uns. Sie haben die Akten gelesen. Wir haben die DNA des Mörders an den Kleidern der Kinder gefunden. Spaten und Tatwaffe sind mit den Fingerabdrücken des Mannes sichergestellt worden. Und der Kerl wurde zur Tatzeit am Tatort von einem Zeugen gesehen. Da fallen die Schmauchspuren an den Händen dieses Monsters schon gar nicht mehr ins Gewicht.«

»Der Oberstaatsanwalt hat recht, Herr Anwalt. Sie sollten Ihre unerwünschten Ermittlungen einstellen. Das ist allein Sache des Bundeskriminalamtes. Vielmehr sollten Sie versuchen, Ihren Mandanten zum Reden zu bringen«, betonte Richter Steringer.

»So ist es. Das BKA ermittelt in alle Richtungen. Die biometrischen Daten zur Identifikation des Täters wurden bereits an Interpol übermittelt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Identität des Täters bekannt ist«, ergänzte Oberdieck.

»Hm, bleibt die Frage nach dem Motiv. Hat das BKA auch schon eine Meinung dazu?«

»Wie gesagt, Heller, fragen Sie Ihren Mandanten. Vielleicht haben Sie Erfolg und wir können das Verfahren abkürzen. Sie sehen ja, wie die Presse sich auf den Fall stürzt. » »Allerdings. Ich frage mich natürlich, woher die Blitz meinen Namen hat?«

Der Oberstaatsanwalt zuckte mit den Schultern. »Sie wissen doch, wie das läuft. Die haben ihre Informanten. So was lässt sich nur schwer geheimhalten. Da müssen Sie jetzt durch. Erklären Sie denen, was die Pflicht eines Strafverteidigers ist und dass Sie lediglich die verbrieften Grundrechte Ihres Mandanten wahren.

Emotionen haben da keinen Platz.«

»Hm, schön gesagt, Herr Kollege, Sie müssen sich diesen Typen von der Presse nicht stellen. Aber gut, damit werde ich schon fertig.«

»Nur Mut, Herr Anwalt, das wird Ihnen im Laufe Ihrer Tätigkeit als Strafverteidiger noch öfter passieren«, kommentierte der Richter.

»Also gut, ich werde versuchen, meinen Mandanten zum Reden zu bringen. Ich hoffe, dass sie mich über den Stand der Ermittlungen auf dem Laufenden halten.«

»Selbstverständlich, Herr Kollege. Sobald sich etwas Neues ergibt, werden wir uns austauschen. Wollen wir hoffen, dass das BKA uns schon bald Ergebnisse liefert. Die Beweise gegen den Täter, äh, Verdächtigen liegen vor und sind absolut wasserdicht«, sagte der Oberstaatsanwalt.

Als Maik Heller das Gerichtsgebäude verließ, wartete bereits einen Schar von Journalisten auf ihn.

»Herr Heller, warum vertreten Sie diesen widerlichen Kindermörder? Wollen Sie sich profilieren oder brauchen Sie das Geld?«, überfiel ihn eine Reporterin der Blitz.

»Können Sie uns den Namen des Mörders nennen?«, rief ein Reporter.

»Warum hat dieses Schwein das getan?«, wollte ein anderer wissen.

»Schämen Sie sich eigentlich gar nicht?«, schimpfte eine junge Frau aus der hinteren Reihe.

Maik drängte sich durch den dichten Pulk der Journalisten die Treppe hinunter, ohne auch nur ein Frage zu beantworten.

»Haben Sie ein schlechtes Gewissen, oder warum stehlen Sie sich davon, Heller?«, rief ihm die Blitz-Reporterin hinterher.

»Fick dich«, murmelte er halblaut.

»Das habe ich gehört, Heller«, gab sie ihm mit auf den Weg.

Maik winkte ab, stieg in seinen alten, klapprigen Opel Corsa und gab Vollgas.

Die ersten beiden Begegnungen mit Shrek, wie Maik den kräftigen, glatzköpfigen Mann nannte, waren komplett erfolglos gewesen. Wobei die Bezeichnung Desaster wohl weitaus zutreffender war. Der Mann starrte durch ihn hindurch ins Leere, sprach kein Wort, blieb steif und regungslos am Tisch sitzen, die Hände gefesselt in den Schoß gelegt.

Maik fragte sich, warum er sich eigentlich noch die Mühe machte, den Kerl zum Reden zu bewegen? Würde wahrscheinlich am Ausgang des Prozesses ohnehin nichts ändern. Es war zu erwarten, dass Interpol die Identität des Mannes, den er auf Mitte vierzig schätzte, über kurz oder lang herausfinden würde.

Das Motiv spielte nur noch eine untergeordnete Rolle. Möglicherweise war Shrek psychisch gestört, litt unter Wahnvorstellungen, war als Kind von seinem Vater misshandelt worden und hatte danach seine Jugend in einem Heim verbracht, wo er von den älteren Jungs gemobbt und geschlagen worden war. Oder er tötete einfach nur zum Spaß. Sexuelle Motive konnte man getrost ausschließen. Er hatte die beiden Jungen nicht vergewaltigt, anscheinend nicht mal berührt. Am naheliegendsten schien die Vermutung, dass er einem professionellen Auftragsmörder gegenübersaß, der im Falle, dass er geschnappt werden würde, keine Angaben zur Person machen und die Aussage komplett verweigern würde.

»Hör zu, Shrek, so kommen wir nicht weiter. Wenn ich dir helfen soll, musst du mit mir reden, verdammt. Do you speak English?

Parlez vouz Francais? Hablas Espanol? Parli Italiano? Nichts von alledem? Na gut, du hast es nicht anders gewollt: A ty govorish’ po russki?«

Maik meinte ein kurzes Zucken in seinen Augenwinkeln gesehen zu haben. Offensichtlich konnte er mit Russisch irgendetwas anfangen. Wahrscheinlich kam Shrek aus Osteuropa und sprach irgendeine slawische Sprache. Vielleicht Polnisch? »Mowisz po polsku?«, startete er einen letzten Versuch.

Maik sprach den Vollzugsbeamten an, der im Besucherraum Aufsicht hatte. »Hat der Kerl schon mal irgendwann seinen Mund aufgemacht?«

»Nur beim Essen. Der Typ ist stumm wie ein Fisch«, antwortete der Beamte.

»Aha, aber seine Mahlzeiten nimmt er zu sich, oder?«

»So viel ich weiß, ja.«

»Hat er Kontakt zu anderen Häftlingen?«

»Nein, die lassen ihn in Ruhe. Mit dem will sich keiner anlegen.«

»Verstehe, wer will sich schon mit so einem Brocken einlassen?«

Maik starrte auf Shreks Unterarme, die dick wie Baumstämme waren. Dabei fiel ihm auf, dass dort nicht ein Tattoo zu sehen war.

»Sagen Sie, hat der Kerl irgendwelche auffälligen Tätowierungen?«

Der junge Beamte zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung, habe keine gesehen. Muss ich die Kollegen im Block fragen, die die Aufsicht im Waschraum haben.«

»Hm, na gut, ist nicht so wichtig.«

Maik hatte gelesen, dass die Russenmafia nur Killer anheuert, die weder tätowiert noch gepierct sind, oder sonst irgendwelche auffälligen Merkmale besitzen wie größere Muttermale oder Narben, anhand dessen diese Männer leicht zu identifizieren waren.

Aber warum zum Teufel nochmal sollte die Russenmafia einen Auftragsmörder aus Osteuropa anheuern, um in Deutschland die Kinder eines holländischen Ehepaars umzubringen?

Maik nickte und schürzte nachdenklich die Lippen. Dann nehmen die Dinge eben ihren Lauf, dachte er, als er aufstand. Konnte er jetzt wohl auch nicht mehr ändern. Wahrscheinlich dachte Shrek, er wäre ein Spion der Polizei oder der Staatsanwaltschaft.

In seinen Augen spiegelten sich jedenfalls totale Ablehnung und tiefstes Mißtrauen wider. Dieser Typ traute niemanden, wahrscheinlich nicht mal sich selbst.

Er wollte gerade seinen Mantel anziehen, als er zusammenzuckte. Er drehte sich um und sah in Shreks grinsendes Gesicht.

»Hat der etwa was gesagt?«, fragte er den Beamten.

»Hab nichts gehört«

»Äh, dann hab ich mich wohl getäuscht«, antwortete Maik, dem so war, als hätte er »You are dead« verstanden.

Kopfschüttelnd verließ er den Raum. Er würde es morgen erneut versuchen.

Thomas Ritter war müde. Nach einer anstrengenden acht Stunden Schicht in der eiskalten, regnerischen Novembernacht hatte er nur noch ein Ziel: Ab in die Federn und ein paar Stunden tief und fest schlafen.

Seine Security-Firma war für die Sicherheit auf dem Betriebsgelände der Continental AG in Hannover zuständig, eine Mammutaufgabe, die die dreißig Angestellten tagtäglich rund um die Uhr zu bewältigen hatten.

Der ehemalige Elitesoldat der Bundeswehr öffnete die Hintertür seines Touaregs und warf seinen Rucksack auf die Rückbank, als er plötzlich kalten Stahl in seinem Genick spürte.

»Hände hoch und umdrehen«, befahl eine tiefe Stimme hinter ihm.

»Verdammt, was wollt ihr?«

»Maul halten. Los, geh schon«, schob ihn einer der beiden maskierten Männer vor sich her über den Parkplatz.

Thomas hielt Ausschau nach seinen Kollegen, doch im Zwielicht der Morgendämmerung konnte er nicht viel erkennen. Jetzt um Hilfe zu rufen, wäre mit der Pistole im Rücken keine gute Idee.

»Hey, Leute, langsam. Worum geht’s hier? Was hab ich euch getan?«

Als Antwort stieß ihm der zweite Mann seinen Ellenbogen in die Rippen.

Thomas verspürte einen stechenden Schmerz im Brustkorb und krümmte sich zusammen.

Jetzt reicht’s, dachte er wütend. Er war müde, erschöpft und die eisige Kälte saß ihm in den Gliedern. Er konnte sich im Moment keinen Reim darauf machen, was hier gerade vor sich ging. Klar, er hatte sich im Laufe des Lebens ein paar Feinde gemacht, aber das war lange her.

Als Elitesoldat der Bundeswehr hatte er lange Jahre in allen möglichen Krisengebieten gedient. Er war in Afghanistan, im Irak, im Kosovo, in Serbien und Kroatien im Einsatz.

Überall war er in harte Kämpfe verwickelt gewesen, wurde mehrfach verwundet und war nicht nur einmal knapp dem Tod entronnen. Vor allem in Afghanistan hatte er als Kämpfer der Sondereinheit »Sniper« unzählige Taliban getötet.

Sein damaliger Vorgesetzter und Freund Major Jan Krüger wurde immer noch von den Taliban und der Al Kaida verfolgt, auf deren Todesliste sein Name ganz weit oben stand. Dagegen waren bis heute alle anderen Mitglieder der Spezialeinheit unbehelligt geblieben, zumindest die, die noch lebten. Hatte sich das mit dem heutigen Tage geändert? Waren diese Osteuropäer von der Al Kaida oder den Taliban angeworben worden, um späte Rache an ihm zu nehmen?

»Einsteigen«, blaffte ihn der Typ mit der Waffe an. Der andere hielt die Beifahrertür eines weißen Ford Kuga auf.

Zeit sich zu wehren, dachte Thomas. Zwei gegen einen war durchaus machbar, auch wenn einer der beiden bewaffnet war.

Dann ging alles blitzschnell. Mit dem Hinterkopf versetzte er dem Kerl mit der Pistole, der den Fehler gemacht hatte, sich in seinem Rücken auf Tuchfühlung zu bewegen, eine harte Kopfnuss auf die Nasenwurzel. Der stolperte schwer getroffen ein paar Schritte zurück und ließ dabei die Waffe fallen. Der andere Mann ließ die Autotür los und stürzte sich auf die am Boden liegende Pistole. Ein grober Fehler, wie sich herausstellen sollte.

Thomas trat ihm mit seinem Stiefel unters Kinn und brach ihm krachend den Unterkiefer. Als der sich gerade wieder hochrappeln wollte, traf ihn auf halber Strecke ein klassischer Kinnhaken und warf ihn erneut zu Boden. Thomas schnappte sich die Waffe und sprang in seinen Wagen.

Er wendete den Touareg und wollte verschwinden, als einer der Männer sich mit gezogener Pistole direkt vor seinem Wagen aufgebaut hatte und auf ihn anlegte. Thomas trat aufs Gas und zog den Kopf ein, als eine Sekunde später die Windschutzscheibe zerplatzte und ein Meer von Glassplittern auf ihn herabregnete.

Von der Wucht des zweieinhalb Tonnen schweren Touaregs wurde der Schütze durch die Luft geschleudert. Einige Meter weiter stoppte er den Wagen, um im Rückspiegel einen Blick auf das Nummernschild des Ford Kuga zu werfen. Im Zwielicht der Morgendämmerung erkannte er gerade mal das M für München.

Er hatte genug gesehen und trat den Kickdown, um sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen.

Die obligatorische Dienstbesprechung der Mordkommission am frühen Montagmorgen war schnell erledigt. Rico Steding hatte mangels aktueller Fälle vorgeschlagen, die Akten einiger ungelöster Mordfälle aus den letzten zwanzig Jahren aus dem Archiv zu holen und zu sichten. Die Begeisterung seiner Mitarbeiter hielt sich verständlicherweise in Grenzen. Beschäftigungstherapie nannte man das wohl.

Jan streckte sich auf seinem Stuhl und gähnte. Er hatte das ganze Wochenende damit zugebracht, seinen Oldtimer einzumotten.

»Hm, oder fällt euch vielleicht was Besseres ein?«, fragte der Dezernatsleiter, dem das Murren seiner Kollegen nicht entgangen war.

»Klar, ich fahre zum Bäcker und besorge frische Butterhörnchen und leckere Puddingschnecken«, schlug Hannah vor.

»Okay, dann hole ich Kaffee«, bot Oberkommissar Jungmann an.

»Nee, bloß nicht«, wehrte Rico Steding ab,«wir nehmen den hier«, hielt er eine Thermoskanne in die Höhe.

»Wahnsinn, ist das der göttliche Kaffee deiner Frau?«, schwärmte Jan.

»Ist er. Und die gute Nachricht ist, die Kanne ist noch voll.«

»Habt ihr das gelesen?«, fragte Oberkommissar Krause, der die Blitz vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte.

Allgemeines Kopfschütteln machte die Runde.

»Die haben diesen Anwalt richtig fertig gemacht. Hier, hört mal:

Der im Kindermord vom Tannenwald bestellte Pflichtverteidiger scheint mit seiner Aufgabe vollkommen überfordert zu sein. Sein Mandant weigert sich bisher strikt, mit ihm zu sprechen. Der notorisch erfolglose Rechtsanwalt Maik H., der sein Geld normalerweise als Pizzabote, Poolreiniger oder Fahrradkurier verdient, kennt weder Namen noch Herkunft seines Mandanten.

Kurz gesagt, er tappt vollkommen im Dunkeln. Aus diesem Grund hat er begonnen, auf eigene Faust zu ermitteln, was ihm bereits eine heftige Rüge der Staatsanwaltschaft und des Richters eingebracht hat. Er war nicht bereit, der wartenden Presse ein Statement abzugeben und Fragen zum Stand des Verfahrens zu beantworten. Er stürzte mit finsterer Miene wort- und grußlos an den verdutzten Journalisten vorbei aus dem Gerichtsgebäude und hatte sichtlich Eile, mit seinem kaum noch verkehrstüchtigen Kleinwagen der unangenehmen Situation zu entkommen. Das Büro des vorsitzenden Richters hat mittlerweile verlauten lassen, dass der Termin für den Prozessbeginn zum Ende der Woche bekanntgegeben wird. Bis dahin soll die Identität des Verdächtigen, gegen den handfeste Beweise vorliegen, geklärt sein. Das Bundeskriminalamt ermittelt mit der Unterstützung von Interpol unter Hochdruck, um den bisher unbekannten Mann so schnell wie möglich zu identifizieren.

»Hm, war wohl ein Fehler, nicht mit der Blitz zu reden«, bemerkte Jungmann.

»Besonders clever war das jedenfalls nicht«, stimmte Krause zu.

»Was soll er sagen? Nicht mal das BKA kennt die Identität des Verdächtigen. Außerdem darf er als Anwalt in einem schwebenden Verfahren gar keine Auskunft geben. Allerdings hätte er genau das in einem kurzen Statement mit einem gewinnenden Lächeln auf den Lippen der wartenden Presse mitteilen sollen. So hätte es jedenfalls ein Profi gemacht. Ihn deshalb jetzt öffentlich vorzuführen, ist mal wieder typisch Blitz«, schimpfte Jan.

»Was glaubst du, wer ist dieser Typ und warum hat er diese beiden Jungen erschossen?«, fragte Krause.

»Keine Ahnung. Sieht jedenfalls aus wie ein Auftragsmord. Vielleicht hat der Vater der Jungen irgendwas mit dem organisierten Verbrechen zu tun. Möglicherweise hat er Geld unterschlagen oder Drogen auf eigene Rechnung verkauft. Da kennen die Mafiabosse kein Pardon.«

»Und der Täter?«

»Kommt möglicherweise aus Osteuropa, erledigt den Auftrag und verschwindet sofort wieder außer Landes. Sowas geht blitzschnell, braucht gewöhnlich nicht mal einen Tag. Wäre da nicht zufällig in der Nacht mitten im Wald ein Zeuge aufgetaucht, wäre der Mann schon längst über alle Berge.«

»Bringen die den noch zum Reden?«, fragte Jungmann.

»Diese Killer kommen aus Russland, aus Georgien oder Tschetschenien. Das sind meistens ehemalige Soldaten irgendeiner Spezialeinheit. Knallharte Burschen ohne jegliche Skrupel. Die stehen auf Abruf bereit. Wenn die sich erwischen lassen, sind sie auf sich allein gestellt. Um bei einer Festnahme der Identifizierung zu entgehen, führen die keinerlei Papiere oder Ausweise mit sich. Sie tragen keine Ringe oder Halsketten und, was besonders wichtig ist, sie sind nicht tätowiert. Alles, was Rückschlüsse auf ihre Person geben könnte, wird strikt vermieden. Und wenn sie geschnappt werden, sagen die gewöhnlich kein Wort.«

»Wie würdest du jetzt in dieser Sache vorgehen?«, fragte Krause.

Jan grinste. »Ich würde versuchen, den Typen zum Reden zu bringen, was sonst?«

»Und wie?«, hakte Krause nach.

»Ich würde ihn mit einer Gänsefeder unter der Fußsohle kitzeln.«

Oberkommissar Jungmann lachte. »Dumme Fragen, dumme Antworten, Krause.«

»Nee, mal im Ernst. Der Schlüssel zu diesem Fall liegt doch wohl bei den Eltern der toten Jungen, oder? Die müssten doch den Vater richtig in die Mangel nehmen. Der weiß doch, warum der Typ seine Kinder getötet hat, oder?«

»Klar, das werden sie sicher auch getan haben. Aber warum zerbrechen wir uns darüber den Kopf? Ist nicht unser Fall«, antwortete Jan, als Hannah mit einer großen Tüte mit leckeren Hefeteilchen vom Bäcker zurückkam.

Sie hatte den Polizeidirektor Horst Wawrzyniak im Schlepptau.

»Wow, frisches Gebäck und duftender Kaffee? Ihr lasst es euch an diesem verregneten Montagmorgen so richtig gut gehen. Habt ihr für euren vereinsamten Chef aus dem ersten Stock noch eine Tasse Kaffee übrig? Habe heute noch nicht gefrühstückt. Meine Frau macht jetzt gleich nach dem Aufstehen immer eine halbe Stunde Yoga. Da muss ich mir meine Stullen selber schmieren.

Hatte heute allerdings keine Lust.«

»Klar, doch, Horst, setz dich und greif zu«, lud Rico Steding seinen Chef ein.

»Sag mal, wieso tritt Oberdieck eigentlich in dem Kindermord als Staatsanwalt auf? Das ist doch ein Fall der Kollegen aus Halle und des Bundeskriminalamtes?«, wollte Rico wissen.

»Tja, ich denke, weil die Sache vor dem Landgericht Leipzig verhandelt wird und Oberdieck sich um die Anklagevertretung bemüht hat.«

»Verstehe. Also ein weiterer wichtiger Schritt zur Beförderung zum Generalstaatsanwalt«, mutmaßte der Dezernatsleiter.

»Das hast du gesagt, Rico«, grinste Waffel, wie der Polizeidirektor hinter vorgehaltener Hand genannt wurde.

»Hat der wenigstens was zu tun und geht uns hier nicht auf den Sack«, meinte Rico.

»Na ja, im Moment liegt ja wohl ohnehin nichts an. Könnt euch ja mal wieder die alten Akten vornehmen. Kennt ihr eigentlich das Sonderdezernat Q?«, fragte Waffel.

»Klar Chef«, antwortete Hannah wie aus der Pistole geschossen.

Sie liebte die Bücher von Jussi Adler Olsen. »Carl Morck und seine Kollegen Assad und Rose vom Sonderdezernat Q rollen im Keller der Stockholmer Polizei alte Fälle auf und lösen sie. Also genau wie im richtigen Leben«, grinste sie.

»Na also, daran nehmt euch mal ein Beispiel«, meinte Waffel.

»Ach Rico, reich mir doch bitte nochmal die Thermoskanne rüber«, bat der Polizeidirektor, während er gerade gierig sein zweites Hefestück hinunterschlang.

Maik Heller war fest entschlossen, seine Aufgabe ernst zu nehmen. Natürlich war er nicht begeistert, als er erfuhr, wen er vertreten sollte. Er wusste ganz genau, dass sich Presse und Öffentlichkeit auf ihn stürzen würden wie ein Rudel Wölfe auf ein Rehkitz. Die Menschen konnten nicht verstehen, dass ein seriöser Anwalt ein solches Monster verteidigen würde. Das allerdings ein derart heftiger Shitstorm auf ihn hereinbrechen würde, hatte er nicht erwartet.

Aber gut, das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Außerdem würde ihn die außerordentlich gute Bezahlung vor der vollständigen Pleite bewahren, vielleicht sogar vor der Privatinsolvenz.

Die sechshundert Euro Miete für Wohnung und Büro in der Lessingstraße hatte er bereits seit drei Monaten nicht mehr gezahlt.

Er stand unmittelbar vor der fristlosen Kündigung.

Richter und Staatsanwalt hatten ihn zwar eindringlich davor gewarnt, in dieser Angelegenheit eigene Ermittlungen anzustellen, aber daran würde er sich nicht halten. Als Rechtsbeistand eines Beschuldigten fühlte er sich verpflichtet, das Beste für seinen Mandanten zu tun, egal, was ihm vorgeworfen wurde und unabhängig von der Schwere der möglichen Straftat.

Zudem trieb ihm seine Neugier. Wieso hatte dieser Mann das getan? Wer waren mögliche Hintermänner? Welche Rolle spielten die Eltern der ermordeten Kinder?

Aus der Mordakte hatte er Namen und Adresse der Eltern erfahren. Oberstaatsanwalt Oberdieck hatte ihm zu verstehen gegeben, besser darauf zu verzichten, mit ihnen Kontakt aufzunehmen.

Der war nämlich fest entschlossen, den Mörder so schnell wie möglich lebenslänglich mit anschließender Sicherheitsverwahrung hinter Gitter zu bringen. Sobald das BKA die Identität dieses Mannes ermittelt hätte, würde der Prozess beginnen. Das Urteil würde wohl niemanden überraschen, da spielte es kaum eine Rolle, ob der Angeklagte reden würde oder nicht. Die Beweislage erschien eindeutig.

Am späten Montagmittag fuhr er über Eutritzsch heraus nach Breitenfeld im Norden von Leipzig. Die Scheibenwischer seines sechzehn Jahre alten Opel Corsa hatten Mühe, dem ergiebigen Novemberregen Herr zu werden. Obwohl er die Heizung voll aufgedreht hatte, beschlugen die Scheiben und er musste sie immer wieder mit dem Ärmel seiner dicken Winterjacke freimachen.

Die abgefahrenen Sommerreifen hatte er mangels Geld noch nicht gegen einen neuen Satz Winterreifen tauschen können.

Der Corsa rutschte mehr durch die gewaltigen Wasserlachen über den Asphalt, als dass er fuhr. Die profillosen Reifen vermieden jeglichen Fahrbahnkontakt.

Doch Maik kannte die Probleme seines maroden Kleinwagens, der eigentlich längst auf den Schrottplatz gehörte. Er navigierte sein Gefährt halbwegs sicher durch die Wassermassen auf der löchrigen Fahrbahn.

Die Familie Vanderbilt bewohnte ein schickes Einfamilienhaus am Ende einer Sackgasse abseits des Kutscherwegs in Breitenfeld, nur einen Steinwurf entfernt vom Lindenthaler Tannenwald, in dem die Leichen der ermordeten Kinder aufgefunden worden waren.

Maik hatte sich im Vorfeld seines Besuches bei den Vanderbilts über Jost Vanderbilt im Internet informiert. Der ausgebildete Maschinenbauingenieur war bereits vor mehr als zwanzig Jahren aus Amsterdam nach Leipzig gekommen und arbeitete seitdem bei BMW.

Er war stellvertretender Leiter der Abteilung Forschung und Entwicklung und galt als absoluter Fachmann im Bereich Elektroantrieb. Zudem war er Vorsitzender des Breitenberger Golfclubs und betätigte sich darüber hinaus als Schirmherr einer Organisation, die Obdachlose unterstützt.

Seine in Leipzig geborene Frau Christine arbeitete halbtags in einem Maklerbüro in Eutritzsch.

Die beiden ermordeten Söhne Tino und Frank hatten das Brockhaus-Gymnasium in Mockau besucht.

Alles in allem waren die Vanderbilts eine gutsituierte, unauffällige Familie wie aus dem Bilderbuch, scheinbar ohne jegliche Probleme und jenseits irgendwelcher Skandale. Gehobener Durchschnitt eben.

Maik drückte die Klingel am Eingangstor. Die Freisprechanlage knackte, dann meldete sich eine Männerstimme. »Ja, bitte?«

»Guten Tag, mein Name ist Heller, ich bin der …«

»Ich weiß, wer Sie sind, Heller. Steht ja mittlerweile in allen Zeitungen. Was wollen Sie?«, unterbrach ihn Jost Vanderbilt.

»Mit Ihnen reden, Herr Vanderbilt.«

»Reden Sie lieber mit Ihrem Mandanten.«

»Tja, der ist leider stumm wie ein Fisch. Ich befürchte, aus dem werden wir nichts herausbekommen.«

Das erneute Knacken der Sprechanlage signalisierte ihm, dass der Hausherr das Gespräch beendet hatte.

Maik wartete einen Moment, ob das Tor geöffnet werden würde.

Als er sich gerade leise fluchend auf den Weg zurück zu seinem Wagen machen wollte, sprang das Tor nach einem kurzen Summton doch noch auf.

»Geht doch«, murmelte er und trat ein.

An der Haustür empfing ihn ein großer, schlanker Mann in Anzughose und weißem Hemd, dessen Ärmel hochgekrempelt waren. Jost Vanderbilt hatte sich für einen Mann Mitte fünfzig erstaunlich gut gehalten. Er trug volles dunkles Haar, in dem man vergeblich nach einer grauen Strähne suchte. Seine Gesichtszüge waren markant, ausdrucksstark und strahlten Selbstsicherheit aus.

»Also, Heller, kommen Sie zur Sache«, blieb Vanderbilt im Türrahmen stehen.

»Äh, ja. Zuerst möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen. Ist sicher eine schwere Zeit für Sie und Ihre Frau.«

»Sparen Sie sich Ihr Mitleid. Was wollen Sie?«

»Haben Sie einen Verdacht, wer hinter dieser schrecklichen Tat stecken könnte?«

»Nein, aber das habe ich der Polizei bereits erzählt.«

»Verstehe«, nickte Maik. »Aber es muss doch irgendeinen Grund geben, warum dieser Mann Ihre Kinder getötet hat?«

»Woher soll ich das wissen, verdammt. Finden Sie es heraus. Das ist doch Ihr Job, oder?«

»Nein, das ist die Aufgabe der Polizei. Mein Job ist es, den Verdächtigen vor Gericht zu vertreten. Wenn nicht geklärt werden kann, wer dieser Mann ist und warum er das getan hat, kann sich dieser Prozess unter Umständen sehr lange hinziehen. Außerdem besteht die Gefahr, dass der Mann im Auftrag gehandelt hat und die Hintermänner es auch auf Sie und Ihre Frau abgesehen haben.

Es wundert mich ehrlich gesagt, dass Sie nicht unter Polizeischutz stehen.«

»Das habe ich abgelehnt. Dieser Wahnsinnige ist ein Einzeltäter, ein Psychopath, der Kinder entführt und ermordet. Er hat meine Jungs nach Unterrichtsende an der Schule abgepasst, verschleppt und schließlich kaltblütig hingerichtet. Die Beweise liegen vor.

Er wird lebenslänglich ins Zuchthaus wandern.«

Vanderbilts Sprache war hart und emotionslos. Er blieb äußerlich ungerührt. Sein Auftritt hatte etwas von einem Soldaten, einem Offizier, der ein klares Statement zur militärischen Lage abgibt.

»Ich denke, der Verdächtige stammt aus dem Ausland. Wahrscheinlich aus Osteuropa. Ich halte ihn für einen Auftragskiller, der nur durch einen Zufall gefasst werden konnte. Wäre dieser Polizist aus Halle nicht mitten in der Nacht mit seinem Hund im Wald unterwegs gewesen, wäre dieser Kerl niemals gefasst worden. Er wäre wenige Stunden nach der Tat bereits wieder außer Landes gewesen.«

»Möglich, aber Wenn und Aber sind irrelevant. Der Mann ist gefasst worden. Er wurde der Tat überführt und wird vor Gericht gestellt. Egal, was Ihnen auch an anwaltlichen Tricks und Finessen einfallen wird, es ist zwecklos, Heller. Ihre Karriere als Rechtsanwalt ist ohnehin beendet. Sie werden nie wieder ein Mandat erhalten. Jemand, der sich dafür hergibt, ein solches Schwein zu verteidigen, sollte…«

»Was sollte der? Sie meinen, der sollte an die Wand gestellt werden?«

»Verschwinden Sie, Heller. Ihre Gegenwart bereitet mir Übelkeit. Und kommen Sie ja nicht auf die Idee, hier noch mal aufzukreuzen, verstanden?«, fuhr ihn Vanderbilt an.

»Sie wissen mehr, als Sie sagen, Vanderbilt. Ich denke, Sie wissen sogar sehr genau, was hier gerade vor sich geht.«

»Hauen Sie ab, sonst rufe ich die Polizei, Sie widerlicher Winkeladvokat. Fahren Sie wieder Pizza aus, oder reinigen Sie Pools, das können Sie sicher besser.«

Vanderbilt drehte sich um und knallte die Haustür zu.

»Arschloch«, schimpfte Maik.

Hannah streckte sich auf ihrem Schreibtischstuhl aus und gähnte. Zwischen ihr und Jan stapelte sich ein riesiger Berg Akten.

»Hm, das hier könnte man ja mal überprüfen. Da wurde 2004 ein Mann in einer Plattenbausiedlung in Schönefeld nach einem Nachbarschaftsstreit an der Haustür erschossen. Verdächtigt wurde ein damals zweiundvierzigjähriger Nachbar, der mit dem Opfer immer wieder in Streit geraten war, weil er angeblich seine Musik nicht leiser machen wollte. Dem Mord gingen etliche Anzeigen wegen Ruhestörung voraus, es gab mehrere Polizeieinsätze, um die Streithähne zu trennen.«

»Klapp den Mist zu und nimm dir die nächste Akte vor. Ist doch eh alles nur Beschäftigungstherapie. Glaubst du vielleicht, dass du da noch irgendwas tun kannst, was damals nicht getan worden ist? Der Täter konnte nicht ermittelt werden, basta. Der verdächtige Nachbar war zur Tatzeit im Urlaub und die anderen Hausbewohner hatten weder etwas gehört noch gesehen«, sagte Hannah.

»Na ja, bringt wahrscheinlich nicht viel, da nachzuhaken«, sah Jan ein.

»Na also, weg mit dem Scheiß.«

»Nee, warte doch mal. Es gab da einen Verdächtigen. Ein Kleinkrimineller aus Plagwitz, der mit dem Nachbarn des Opfers befreundet war. Der Typ heißt Robert Marks, Roger genannt. Ist mehrfach aktenkundig. Zuletzt wurde der Kerl vor einem Jahr wegen illegalem Waffenbesitz und Drogenhandel zu zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.«

»Ja und?«

»Na, ist doch klar, dieser Striezel, also der verdächtige Nachbar, hat seinen Kumpel Marks beauftragt, seinem Intimfeind Holubek mal einen Besuch abzustatten. Der hat seinen Job überinterpretiert und Holubek zweimal in die Brust geschossen. Marks ist dafür bekannt, immer mal wieder mit Waffen rumzufuchteln. Illegale Schießübungen im alten Postbahnhof, Schießerei in einem Nachtclub, bewaffneter Tankstellenüberfall. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.«

»Und der war’s jetzt, oder was? Glaubst du die Kollegen hätten das damals nicht alles überprüft?«, antwortete Hannah genervt.

»Hm, wäre doch möglich. Könnte man vielleicht doch mal nachhaken.«

»Ach, du meinst, da muss hier erst so ein Superbulle aus dem Westen aufschlagen, um seinen unterbelichteten Kollegen aus dem Osten zu zeigen, wie man im Handumdrehen Fälle löst?«

»Wieso bist du so angezickt? Wir haben doch momentan eh nicht viel zu tun. Ich muss hier raus und brauche dringend frische Luft.

Komm, hab dich nicht so. Hier steht, dass dieser Striezel immer noch dort wohnt. Habe richtig Bock, den Kerl aufs Glatteis zu führen.«

Hannah rollte mit den Augen. »Du nervst, Wessi. Na gut, meinetwegen, machen wir einen Ausflug ins Ghetto.«

Eine halbe Stunde später stand Jan vor der Wohnungstür eines zehnstöckigen Plattenbaus in der Volksgartenstraße und schellte.

Hannah wartete zunächst unten im Wagen.

»Herr Striezel?«, fragte er, als ein etwa sechzijähriger, ungepflegter Mann in weißem Unterhemd und einer Jogginghose, die von Hosenträgern vor dem Abrutschen in die Kniekehlen bewahrt wurde, im Türrahmen stand.

»Wer will das wissen?«, grummelte er.

»Ihr Kumpel hat mich geschickt. Der hat Probleme. Braucht unbedingt Kohle. Kann leider nicht selbst kommen. Sie wissen schon warum. Er meinte, Sie wären ihm noch was schuldig.

Stichwort: Nachbarschaftshilfe.«

Norbert Striezel zuckte merklich zusammen. Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln.

»Keine Ahnung, was Sie von mir wollen. Muss eine Verwechslung sein. War’s das?«

»Glaub nicht. Roger meinte, wenn Sie sich weigern, käme er demnächst persönlich vorbei und würde die Sache regeln. Er ist nächste Woche wieder draußen und braucht jetzt dringend ein bisschen Startkapital, Ach ja und er meinte, ich sollte ruhig ein wenig nachhelfen, wenn Sie Theater machen würden.«

Striezel wollte die Tür zuschlagen, doch Jan war schneller und schubste ihn zurück in die Wohnung. Angesichts der Tatsache, dass ein kräftiger, einsfünfundneunzig großer Wandschrank ihm gleich die Lichter ausblasen würde, trat er den Rückzug an.

»Ja, ja schon gut. Roger soll sich bei mir melden, wenn er draußen ist.«

»Klingt schon besser. Wir wär’s denn mit einer kleinen Anschubfinanzierung?«

»Habe keine Kohle im Haus. Muss erst zur Bank.«

»Okay, wie du willst«, machte Jan einen Schritt auf Striezel zu.

»Nee, halt, ich glaube, ich hab noch was in der Brieftasche. Moment«, lenkte er augenblicklich ein.

Er ging an die Garderobe im Flur, holte aus der Innentasche seiner Winterjacke eine braune Brieftasche, fingerte umständlich einen Fünfzig-Euro-Schein heraus und reichte ihn Jan.

»Oh, oh, da wird Roger aber enttäuscht sein. Besser du legst noch ein bisschen drauf. Zeig mal her«, sagte Jan und riss dem Mann die Brieftasche aus der Hand.

»Hey, was soll denn das?«, regte der sich auf.

Jan nahm alle Scheine heraus und zählte vierhundert Euro.

»Ist zwar kein Vermögen, aber das wird Roger vorerst weiterhelfen«.

»Das war mein Haushaltsgeld für den ganzen Monat, verdammt«, schimpfte Striezel.

»Du musst eh abspecken, Freundchen, sonst kriegst du bald einen Herzinfarkt. Ich nehme an, ich soll Roger herzliche Grüße ausrichten, oder?«

»Hoffentlich verreckt das Arschloch im Knast«, ätzte Striezel.

»Das ist jetzt aber nicht nett, immerhin hat er dir ja deinen lästigen Nachbarn vom Hals geschafft. So was tun nur echte Freunde«, wollte Jan ihm ein Geständnis entlocken.

»Hat er das gesagt? Der tickt doch nicht richtig, dieser Irre«, rief Striezel.

»Okay, Roger wird sich bei dir melden, wenn er raus ist.«

»Meinetwegen. Seine Kohle muss er sich woanders besorgen.

Mehr habe ich nicht«, sagte Striezel und knallte die Tür zu.

»Bist du jetzt vollkommen durchgeknallt?«, war Hannah außer sich, als Jan ihr erzählte, was er getan hatte. »Wenn der Kerl dich wiedererkennt, bist du deinen Job los, das ist dir hoffentlich klar?«

»Wieso? Ich kenne den Mann überhaupt nicht und bin ihm auch niemals begegnet«, blieb er gelassen.

»Und jetzt? Was willst du mit deinen neuen, bahnbrechenden Erkenntnissen anfangen?«, wollte Hannah wissen.

»Mal sehen. Zunächst mal Marks einen Besuch im Knast abstatten. Bin gespannt, wie der reagiert, wenn ich ihn nach Striezel frage.«

»Ach, komm schon, die Sache ist gut fünfzehn Jahre her. Der wird einen Dreck zugeben. Vergiss es einfach«, war sich Hannah sicher.

»Abwarten.«

»Und jetzt tu mir bloß einen Gefallen und behalt diesen ganzen Scheiß für dich. Kein Bock, mich vor den Kollegen lächerlich zu machen. Du bist nicht Cal Morck vom Sonderdezernat Q.«

»Und du nicht Rose, du bist viel hübscher.«

»Spinner«, schimpfte Hannah und gab Gas.

Als die beiden zurück ins Präsidium kamen, begegnete ihnen Krause auf dem Parkplatz. »Äh, Jan, du hast Besuch, wartet auf dem Flur vor eurem Büro, ist ein Kollege, hat er gesagt«, meinte er und stieg in seinen Wagen.

»Erwartest du jemanden?«, fragte Hannah.

»Nicht, dass ich wüsste«, zuckte Jan mit den Schultern.

Von weitem sah er einen Mann auf der Bank sitzen, der in eine Zeitung vertieft war. Als er näher kam, konnte die Überraschung nicht größer sein. Der Mann erhob sich, grinste freundlich und kam ihm entgegen.

»Tom?«, rief Jan ungläubig.

»Live und in voller Größe«, antwortete er. Die beiden Männer fielen sich in die Arme.

»Du wirst immer attraktiver. Wie machst du das nur?«, wandte er sich Hannah zu, drückte sie fest an sich und küsste sie auf die Wange.

»Mann, gut siehst du aus, rank und schlank wie immer. Nur die Haare sind etwas grauer geworden«, sagte Jan.

»Tja, ist so ähnlich wie bei dir. Die jungen Frauen halten einen auf Trab.«

»Was führt dich nach Leipzig? Soviel ich weiß, hat Hertha das Heimspiel gegen 96 doch schon absolviert.«

»Bin ich auch nicht mehr für zuständig. Darum kümmern sich jetzt die jüngeren Kollegen. Habe mich selbstständig gemacht, beschäftige dreißig Leute. Wir sind quasi ein Subunternehmen der Continental AG und sorgen für die Sicherheit auf und um das Firmengelände.«

»Hey, Glückwunsch, läuft, oder?«

»Ja, läuft. Kann nicht klagen.«

»Also kommst du uns einfach mal so besuchen. Ist schön. Wir freuen uns«, sagte Hannah.

»Na ja, ich wollte dir nochmal persönlich sagen, dass es mir leid tut, dass ich letztes Jahr nicht mit zur Vereidigung von Tom Bauer nach Washington gekommen bin. Hätte ich gewusst, dass du zusammen mit Maynard nach Syrien musstest, um unsere Jungs aus der Scheiße zu holen, wäre ich selbstverständlich dabei gewesen. Das musst du mir glauben, Jan.«

Der nickte. »Kein Ding, Tom. Ich wusste ja selbst nicht, was mich erwarten würde, als ich über den großen Teich geflogen bin.

Ich hatte ganz sicher nicht vor, nochmal für die CIA tätig zum werden. Das hatte ich Hannah bei meiner Abreise hoch und heilig versprochen. Aber dann…«, zuckte Jan die Achseln.

»Ich hab von eurem Einsatz erfahren, als ich vor ein paar Wochen bei Jimmy angerufen habe, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Er hat mir alles haarklein erzählt. Unglaublich, was der Devil und du da geleistet habt. Einfach fantastisch, dass ihr unsere beiden Jungs da rausgeholt habt. Mist, wie gerne wäre ich dabei gewesen!« »Hätten dich da gut brauchen können. Aber es war auch so verdammt knapp. Wir hatten jede Menge Glück«, meinte Jan.

»Nein, das war kein Glück«, sagte Tom. »Das war Können. Ich kenne niemanden, der das hätte schaffen können. Maynard und du, ihr seid einfach die Besten. Das ward ihr auch schon in Afghanistan. Ohne euch wäre da keiner von uns lebend raus gekommen.«

»Nun übertreib mal nicht, Tom. Wir waren insgesamt ein unschlagbares Team. Jeder an seiner Stelle.«

»Nicht, dass ihr gleich noch heiraten wollt, Jungs. Jetzt kommt erstmal rein. Wir haben noch Kaffee und sicher auch noch ein paar leckere Hefeteilchen dazu«, unterbrach Hannah die gegenseitigen Lobeshymnen.

»Wow, Hannah, das nenne ich mal einen Kaffee. Kann ich nach der langen Fahrt gut gebrauchen«, freute sich Tom.

»Ich will mich nicht mit fremden Federn schmücken. Der ist von Ricos Frau, die kocht den besten Kaffee der Welt.«

»Wo ist Rico?«

»Zu Hause. Wir haben momentan nicht ganz so viel zu tun. Er ist bereits heute Mittag heimgefahren, baut ein paar Überstunden ab.«

Tom nickte und zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin auch noch aus einem anderen Grund nach Leipzig gekommen. Habe eine Woche Urlaub genommen, weil ich mal ein paar Tage aus Hannover verschwinden musste.«

»Ist dir mal wieder ein eifersüchtiger Ehemann auf den Fersen, weil du deine Finger nicht von seiner schönen Frau lassen konntest«, grinste Hannah.

»Ach, Hannah, die wilden Zeiten sind vorbei. Ich bin glücklich liiert. Nein, der Grund ist ein anderer.«

»Jetzt mach’s mal nicht so spannend, Tom«, forderte Jan.

»Gestern Abend haben mich auf dem Parkplatz vor der Continental AG zwei üble Typen angegriffen. Sie haben mir eine Knarre in den Rücken gedrückt.«

»Oh, verdammt, hast du ’ne Ahnung, wer die waren?«, fragte Jan.

»Da fällt mir spontan nur eine Möglichkeit ein.«

»Du meinst, die waren von der Al Kaida?«

»Das waren Osteuropäer, möglicherweise aber von der Al Kaida beauftragt. Sie waren maskiert und haben nur ein paar Worte gesprochen. Ich wüsste nicht, wer sonst irgendwas gegen mich haben sollte. Hatte in den letzten Jahren mit keinem Ärger.«

»Hinter euch waren die nie her. Es ging immer nur um den »Black Dragon« oder den »Red Devil«. Zudem hat mir Mohamed Jashari versichert, dass ich auf der Todesliste der Al Kaida weit nach unten gerutscht bin. Er meinte, solange er die Organisation anführt, hätte ich nichts mehr zu befürchten. Ich denke, das gilt auch für alle anderen meiner Männer.«

»Und du glaubst dem Kerl?«

»Ja.«

»Ihr scheint ja mittlerweile ein inniges Verhältnis zu pflegen«, grinste Tom.

»Er hat Maynard und mich in Syrien vor dem sicheren Tod bewahrt.«

»Hm, aus dem Typ soll mal einer schlau werden. Aber gut, nehmen wir mal an, dass es so ist, wie er gesagt hat. Wer verdammt wollte mich dann erledigen?«

Jan zuckte mit den Schultern. »Sag du es mir.«

Tom schüttelte den Kopf. »Ich habe wirklich nicht den Hauch einer Ahnung.«

»Hast du die beiden Kerle platt gemacht?«

»Hm, glaube nicht. Den einen habe ich angefahren, aber ich nehme an, dass er überlebt hat. Die fuhren einen weißen Ford Kuga mit Münchner Nummer. Ein Mietwagen, denke ich. Der eine von beiden sprach ein paar Brocken Deutsch, allerdings mit starkem osteuropäischen Akzent. Russe, Serbe, Kroate, keine Ahnung.«

»Konntest du die Waffe erkennen?«

»Eine P6 oder eine Makarov, wenn du mich fragst. Genau habe ich sie aber nicht gesehen.«

»Ist dir sonst was aufgefallen? Denk nach, jede Kleinigkeit könnte wichtig sein.«

»Die Kerle waren zwei richtige Brocken, aber nur mäßige Kämpfer, eher von der Sorte unkontrollierte Schläger. Sie waren langsam und unvorsichtig. War kein großes Problem, sie zu überwältigen. Wären sie nicht bewaffnet gewesen, hätte ich beide erwischt.«

»Egal, wichtig ist nur, dass sie dich nicht erledigt haben. Ich werde Mohamed anrufen und ihn fragen, ob die Al Kaida Leute geschickt hat.«

»Meinst du, das wird er dir auf die Nase binden, wenn’s so wäre?«

Jan nickte. »Könnte ja sein, dass einer seiner Stammesfürsten einen Alleingang gemacht hat und sich mit der Ermordung ehemaliger Mitglieder der »Sniper« profilieren will. Ich weiß, dass es da einige gibt, denen Mohamed nicht hart genug ist.«

»Aber solange wir nicht wissen, wer diese Typen waren, bleibst du in Leipzig. Du wohnst bei uns«, befahl Hannah »Nee, danke für das Angebot. Habe mir bereits ein Zimmer im Radisson genommen. Ein alter Mann hat so seine Gewohnheiten, damit will ich euch nicht zur Last fallen«, bedankte sich Tom.

»Was meinst du? Exzessives Schnarchen, nächtlicher Harndrang oder gelegentliches Schlafwandeln?«

»Alles und genau in dieser Reihenfolge. Außerdem schlafe ich nackt. Dass wollt ihr nicht sehen«, lachte Tom.

»Ich schon«, schmunzelte Hannah.

»Ach ja, muss ich wieder meinen Pullover ausziehen, wie damals im Café Kranzler?«

»Nicht nur den Pullover, diesmal will ich alles sehen«, lachte Hannah.

Nach dem Gespräch mit Jost Vanderbilt war Maik so richtig angefixt. Was zum Teufel nochmal war hier eigentlich los? Seine beiden Jungs werden erschossen und der weiß nicht aus welchem Grund? Natürlich weiß der das, dieses Arschloch. Und warum wollen Richter und Oberstaatsanwalt mit aller Macht verhindern, dass er Fragen stellte? Das war doch verdammt nochmal sein Job.

Und Shrek, der ist doch sowieso erledigt, wieso versucht der nicht, seine Haut zu retten und kooperiert mit der Polizei? Würde der ein Geständnis ablegen und seine Hintermänner nennen, könnte das für ihn eine erhebliche Minderung des Strafmaßes bedeuten.

Jetzt war ihm auch klar, warum sie ihn für diesen Job als Pflichtverteidiger ausgesucht hatten. Sie dachten, der Typ ist unerfahren und braucht dringend Geld, weil ihm das Wasser bis zum Hals steht. Der wird schon keine Zicken machen. Den Frischling haben wir im Griff. Pustekuchen, ihr Wichser. Da habt ihr euch den Falschen ausgesucht, fluchte Maik innerlich.

»Sie sind bei Vanderbilt aufgekreuzt und haben Fragen gestellt.

Waren wir uns nicht einig darüber, dass Sie die Füße stillhalten und nur das tun, wofür Sie engagiert worden sind?«, meckerte der Oberstaatsanwalt am Handy.

»Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«

»Nichts, verflucht. Sie müssen sich in der Verhandlung nur neben Ihren Mandanten setzen und die Klappe halten. Alles andere läuft von selbst. Hören Sie auf, unnötig Staub aufzuwirbeln. Der Kerl hat zwei Kinder kaltblütig erschossen, daran gibt es keinen Zweifel. Der Fall ist klar. Wir haben einen Augenzeugen und wir haben die Tatwaffe und den Spaten, mit dem er seine Opfer im Wald verscharrt hat. Der Typ hat sich nicht mal die Mühe gemacht, Handschuhe zu tragen.«

»Was werden Sie tun, wenn der Mann nicht identifiziert werden kann und sich weiterhin weigert, Angaben zu seiner Person zu machen?«

»Trotzdem kann der Kerl verurteilt werden. Vor allem bei dieser eindeutigen Beweislage.«

»Ich habe recherchiert, Herr Oberstaatsanwalt, einen solchen Fall hat es in der deutschen Rechtsprechung bisher noch nicht gegeben. Sie wissen rein gar nichts über diesen Mann. Sie kennen weder seinen Namen noch sein Alter oder seinen Beruf. Sie wissen nicht, welche Nationalität er besitzt. Sie wissen nicht, ob er einer Terrororganisation oder einer radikalen Sekte angehört. Sie wissen nichts über das Tatmotiv. Sie wissen nichts über potentielle Hintermänner, oder in welchem Auftrag er die Morde begangen haben könnte. Sie wissen nichts über mögliche Vorstrafen des Angeklagten. Wie zum Teufel wollen Sie ein Phantom verurteilen?«

»Sie sind wohl ein ganz Schlauer, Heller? Sie sollen mit uns zusammenarbeiten und keine Knüppel zwischen die Beine werfen.

Wenn Ihnen das so sehr zusetzt, dass dieser Kerl nicht den Mund aufmacht, dann sorgen Sie doch verdammt nochmal dafür, dass er es tut. Dafür werden Sie schließlich bezahlt. Ich kann natürlich auch mit dem Richter sprechen, dass er Sie von dieser Aufgabe entbindet, wenn Sie dies alles nicht mit Ihrem Gewissen vereinbaren können. Kommen Sie endlich zur Vernunft. Zudem haben wir ja nie behauptet, den Prozess zu beginnen, bevor BKA und Interpol den Mann identifiziert haben.«

»Dauert aber bereits ziemlich lange. Das ist sehr ungewöhnlich, oder? Irgendwie beschleicht mich so ein Gefühl, dass Interpol in dieser Angelegenheit nicht so richtig vorankommt. Ich denke, Vanderbilt weiß mehr, als er sagt. Da stimmt was nicht. Warum nehmen Sie den Kerl nicht in die Mangel?«

»Spinnen Sie, Heller? Der Mann hat gerade seine beiden Söhne verloren und es gibt nicht den Hauch eines Verdachts, dass er mit dem Tod seiner Kinder etwas zu tun haben könnte. Unterstehen Sie sich, Vanderbilt noch einmal zu belästigen, dann wird der Richter Sie achtkantig feuern und Sie zahlen den Vorschuss zurück, klar?«

Maik schluckte. Das wäre natürlich der Supergau. Ohne die Kohle könnte er einpacken. Er wäre am Ende. »Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Oberstaatsanwalt. Ich lasse Vanderbilt in Ruhe und werde nochmal versuchen, Shrek zum Reden zu bringen.«

»Schreck? Was für ein Schreck?«

»Äh, ich nenne ihn Shrek, ohne Doppel-c, den Oger. Der ist riesengroß, ziemlich dumm aber sehr gefährlich. Ebenso wie unser Verdächtiger.«

»Was für ein Oger? Was faseln Sie da, Heller?«

»Egal, also ich fahre nochmal ins Gefängnis und knöpfe mir den Kerl vor.«

»Tun Sie das Heller. Je eher wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, umso schneller können wir diesen verdammten Fall zum Abschluss bringen«, war der Oberstaatsanwalt zufrieden.

Hannah und Jan hatten beschlossen mit offenen Karten zu spielen. Als sie Rico Steding von ihrem Ausflug in die Plattenbausiedlung nach Schönefeld berichtet hatten, war der erstaunlich schnell im Bilde.

»Ich erinnere mich. Das war damals mein Fall. Wir sind letztendlich daran gescheitert, dass die Verdächtigen zusammengehalten haben wie Pech und Schwefel. Die hatten alle ein Alibi. Zwar nicht unbedingt glaubhaft, aber eben durch Zeugen bestätigt. Ansonsten hatten wir nichts. Keiner wollte was gesehen oder gehört haben. Die Tatwaffe, eine neun Millimeter Makarov, war spurlos verschwunden. Es gab keine DNA, Fingerabdrücke oder Schmauchspuren, die zwar mehrere Tage nachweisbar sind, aber als wir Marks als Hauptverdächtigen ermittelt hatten, war es für den Test bereits zu spät.«

»Wurde dieser Holubek tatsächlich erschossen, weil er ständig die Musik zu laut aufgedreht hatte?«, wollte Hannah wissen, »Na ja, es gab vorher schon einige Beschwerden aus dem Haus und die Nachbarn waren sicher genervt, aber ich denke, Holubeks Tod hatte eher mit einem Streit im Kriminellenmilieu zu tun. Striezel, Holubek, Marks hatten alle Dreck am Stecken. Einbrüche, Raub, Drogenhandel, Prostitution, das ganze Programm eben. Aber immer auf niedrigem Niveau. Holubek war der erste und einzige Tote. Also muss es zu einem heftigen Streit unter den Männern gekommen sein, der schließlich eskaliert ist. Ich glaube nicht mal, dass Marks seinen Kumpel wirklich erschießen wollte.

Sind wahrscheinlich die Gäule mit ihm durchgegangen. Marks gilt als äußerst jähzornig. Klar war, dass Striezel Marks beauftragt hatte, Holubek zu drohen. Striezel galt als clever und verschlagen und hatte ein bisschen mehr im Kopf als seine Genossen. Wie hat der reagiert, als nach fünfzehn Jahren plötzlich wieder die Polizei vor seiner Tür stand?«

Hannah zog die Augenbrauen hoch und starrte Rico mit großen Augen an. Ihr schlechtes Gewissen ließ grüßen.

»Sag jetzt nicht, dass du dich nicht als Polizist ausgewiesen hast?«

Jan schüttelte den Kopf. »Nee, hatte leider keinen Ausweis dabei.«

»Himmel Gütiger, was soll denn der Scheiß? Na gut, wie hat Striezel reagiert?«

»Der hatte Schiss. Er dachte, ich wäre geschickt worden, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen.«

»Klar, wenn da plötzlich so ein Hüne vor der Tür steht und ihn bedroht.«

»Hm, jedenfalls hat er gar nicht erst versucht, irgendwas abzustreiten, sondern hat mir versichert, niemandem irgendetwas erzählt zu haben. Und er war auch relativ schnell bereit, seinen Kumpel Marks finanziell zu unterstützen.«

»Hast du dem etwa Geld abgeknöpft?«

»Nee, hat er mir freiwillig gegeben. Ich habe nur bei der Summe etwas nachgeholfen.«

»Wieviel?«

»Vierhundert Euro.«

»Ist natürlich längst kein Beweis dafür, dass er Marks beauftragt hat, Holubek zu erschießen«, runzelte Rico die Stirn.

»Der wird sagen, dass er dir die Kohle gezahlt hat, weil du ihm gedroht hast. Nachvollziehbar, wenn da plötzlich so ein Kleiderschrank an der Tür auftaucht und den Lauten macht«, kommentierte Hannah.

»Stimmt alles. Aber es ist zumindest ein Indiz dafür, dass Marks der Mörder ist.«

»Und genau soweit waren wir vor fünfzehn Jahren auch«, sagte Rico.

»Mal sehen, wie Marks reagiert, wenn ich ihn im Gefängnis besuche und ihm die Kohle von seinem Kumpel Striezel mitbringe«, grinste Jan.

»Der redet nicht mit der Polizei«, antwortete Rico.

»Nee, aber mit ’nem Kollegen von seinem Kumpel Striezel schon.«

»Bist du verrückt? Wie willst du das anstellen?«

»Privatbesuch. Hab schon einen Termin beantragt.«

»Und wenn der nicht mit dir reden will? Der kennt dich doch gar nicht«, wandte Hannah ein.

»Er wird mit mir reden«, war Jan sicher.

»Hey, die Blitz haut mal wieder einen raus«, kommentierte Krause, der vor der aufgeschlagenen Zeitung am Konferenztisch saß:

Niemand kennt den Kindermörder vom Tannenwald. Polizei und Staatsanwalt tappen weiter im Dunkeln. Alle Versuche, die Identität des Verdächtigen zu ermitteln, sind gescheitert. Selbst das BKA, das in enger Zusammenarbeit mit Interpol fieberhaft an der Identifizierung des bisher unbekannten Mannes arbeitet, ist ratlos. Wer ist dieser Mann? Woher kommt er und warum hat er die beiden Kinder getötet? Ein Rätsel, dessen Lösung unmöglich erscheint.

»Durchaus möglich, dass sie den Kerl nicht identifizieren werden. Wahrscheinlich ist das ein Söldner, der bei einer Festnahme auf sich allein gestellt ist. Seine Auftraggeber verlassen sich darauf, dass der Bursche schweigt. Tut er das nicht, ist er tot«, sagte Jan.

»Und dann? Können sie ihn dann überhaupt verurteilen?«, fragte Hannah.

»Keine Ahnung«, zuckte Jan mit den Schultern. »Ich würde den Typ an deren Stelle dazu bringen, endlich den Mund aufzumachen. Soll da ja ein paar Möglichkeiten geben«, grinste er.

»Hallo, wir sind in Deutschland, nicht in irgendeiner Bananenrepublik«, schüttelte Rico den Kopf.

»Und genau das ist das Problem. Darauf verlassen sich diese Typen. Die wissen ganz genau, dass ihnen hier nichts geschieht. Für einige von denen ist der Knast in Deutschland weitaus komfortabler als irgendeine baufällige, undichte Behausung in den Bergen des Kaukasus. Die haben hier nichts zu befürchten. Bis auf die Rache ihrer Auftraggeber und deshalb schweigen sie wie ein Grab.«

»Bin mal gespannt, wie das weitergeht«, meinte Krause. »Sieht so aus als würde sich Oberdieck an dem Fall die Zähne ausbeißen. Der wird noch bereuen, dass er förmlich darum gebettelt hat, die Sache übernehmen zu dürfen.«

»Tja, was tut man nicht alles, um die Karriere zu beschleunigen«, sagte Rico.

»Ja, aber in diesem Fall hat er wohl das Gaspedal mit der Bremse verwechselt«, grinste Hannah.

Maik hatte lange warten müssen. Um kurz nach ein Uhr mittags verließ ein roter Mini Cooper die Auffahrt des Einfamilienhauses im Kutscherweg in Breitenfeld. Am Steuer saß Christine Vanderbilt. Er musste ihr gar nicht lange folgen. Nach nur wenigen Minuten hielt sie auf dem Parkplatz der Netto-Filiale in Lindenthal und stieg aus.

Maik setzte seinen Corsa direkt neben sie und sprang hinaus.

»Frau Vanderbilt, Entschuldigung, ich würde gern mit Ihnen sprechen«, bat er.

»Bitte lassen Sie mich in Ruhe. Ich habe nichts zu sagen«, antwortete sie nervös und ging weiter.

»Sie wissen, wer Ihnen das angetan hat, oder?«, rief Maik.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verschwand Frau Vanderbilt schnellen Schrittes im Laden.

Maik überlegte kurz, ob er auf sie warten sollte, bis sie wieder herauskam. Aber wahrscheinlich hatte sie längst ihren Mann angerufen, der jede Sekunde hier aufkreuzen und ihn zur Rede stellen würde. Eigentlich hatte er genug gehört und gesehen. Ihre Reaktion hatte ihn in seiner Annahme bestärkt, dass die Vanderbilts ganz genau wussten, was hier gerade vor sich ging.

Der Mord an ihren Kindern war offensichtlich die Vergeltung dafür, dass Vanderbilt sich mit den falschen Leuten angelegt hatte und sie aus irgendeinem Grund dermaßen wütend gemacht haben musste, dass sie seine Kinder ermordet haben. Gewöhnlich war das die Antwort eines Mafiabosses, der sich hintergangen fühlte.

Er ließ nicht den Schuldigen selbst töten, sondern seine Familienmitglieder.

Er war sich jetzt noch sicherer als zuvor, dass der Schlüssel zur Aufklärung der Morde bei den Eltern der getöteten Kinder lag.

Er setzte sich wieder ins Auto und rief im Gefängnis an, um so schnell wie möglich einen Termin mit seinem Mandanten zu machen.

Nachdem ihm mitgeteilt worden war, dass er seinen Klienten um halb vier besuchen dürfte, machte er sich sofort auf den Weg in die Justizvollzugsanstalt Markkleeberg im Süden von Leipzig.

Der klapprige Opel Corsa quälte sich durch den dichten Verkehr der Leipziger Innenstadt. Der Regen hatte immer noch nicht aufgehört. Die Straßen waren nass und rutschig, die Bremsen seiner Schrottlaube längst verschlissen. Die Blechkarawane schob sich im Schneckentempo von einer Ampel zur anderen. Nach gut einer Stunde hatte er schließlich sein Ziel erreicht.

Shrek saß bereits an seinem Platz, als er das Besucherzimmer betrat. Wie immer nahm der keine Notiz von ihm und starrte apathisch ins Leere.

»Dobryy den’«, begrüßte er seinen Mandanten auf Russisch.