Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Trier, das spätrömische Treveris, 380 n. Chr.: Die bedeutendste Stadt nördlich der Alpen ist die Residenz des jungen Westkaisers Gratian. Hier treffen Macht und Religion, Liebe und Intrigen aufeinander. Nach glanzvollen Jahren fürchtet der Dichter und Politiker Ausonius um Gratians Sicherheit und um das friedliche Leben an der Mosella. Auch der städtische Magistrat Armitari und seine Gemahlin Julia ahnen die bevorstehende Zeitenwende. Kann das Augustusfest die Kaisertreue stärken? Da geschieht etwas Ungeheuerliches. Der Roman taucht tief ein in die großartige römische Historie der Moselstadt Trier und in das Dasein einiger Menschen, die hier um ihre Zukunft und ihr Glück kämpfen.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 441
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Trier, das spätrömische Treveris, 380 n. Chr.:
Die bedeutendste Stadt nördlich der Alpen ist die Residenz des jungen Westkaisers Gratian. Hier treffen Macht und Religion, Liebe und Intrigen aufeinander. Nach glanzvollen Jahren fürchtet der Dichter und Politiker Ausonius um Gratians Sicherheit und um das friedliche Leben an der Mosella. Auch der städtische Magistrat Armitari und seine Gemahlin Julia ahnen die bevorstehende Zeitenwende.
Kann das Augustusfest die Kaisertreue stärken?
Da geschieht etwas Ungeheuerliches.
Der Roman taucht tief ein in die großartige Historie der Moselstadt und in das Dasein einiger Menschen, die hier um ihre Zukunft und ihr Glück kämpfen. Unterdessen verdrängt das Christentum die alten Religionen und die Völkerwanderung kündigt sich an.
Die Autorin Anne Mai lebt im Saarland und beschäftigt sich seit langem mit der römischen Kultur im deutschen Südwesten.
Veröffentlichungen: Orte am Stein, Geistkirch Verlag; wortlose Gedichte, Athena Verlag; weitere Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften.
Der Prinzenerzieher
Bissula und Ada
Die Stadt der Verheißung
Die römische Rose
Ein Schmied aus Belginum
Die Mosaizisten
Damals in Dornberg
Der Mond über Belgica Prima
Die Weissagung
Bissula sucht Klarheit
In der Via Colonia
Die Bibliothek
Besuch in der Heimat
Die kleine Göttin
Justinas Fluch
Trügerische Ruhe
Die Goldene Zahl
Sironas Lächeln
Das Rosenfest
Wünsche und Verwirrung
Nur ein Kuss
Alles ist Glaube
Das Mädchen mit dem Korb
Die stille Königin
Dunkle Tage
Der schöne Cupido
Der fliegende Jüngling
Hoffnungen und Spiele
Die Stunde der Sonne
Pfauenschreie und Vorahnungen
Sieger und Verlierer
Julias Geständnis
Die blaue Taube
Der Rabenhügel
In Pinas Haus
Epilog
GLOSSAR
Ergänzt das Wissen über den historischen Hintergrund und historische Personen. Erste Erwähnung im Romantext kursiv.
AUSONIUS: WICHTIGE WERKE
Im Romantext kursiv.
LITERATUR
Salve, magne parens frugumque virumque, Mosella.
Heil dir, Mosella, mächtige Mutter von Früchten und Menschen.
Decimus Magnus Ausonius (Mosella, Vers 381)
Konsular Decimus Magnus Ausonius, der kaiserliche Präfekt von Gallien, war erleichtert. Gratian weilte in seiner Residenz und würde bis zum Frühling in Treveris bleiben, fern von Mediolanum und Bischof Ambrosius.
Ein Klopfen unterbrach seinen Gedankenfluss. Anstelle seines Dieners Hilarius trat Bissula ein und brachte ein Tablett mit Wein und Quellwasser, Fladenbrot und Moretum. Sie sah Ausonius‘ Überraschung und bemerkte mit einem Lächeln:
»Ich brauchte einen Grund, Euch zu sehen, lieber Ausonius. Allerdings hat mir Hilarius seine Aufgabe nur ungern überlassen.«
»Das will ich glauben.«
Der Konsular schmunzelte, als er sich seinen langjährigen Diener vorstellte, wie er das ihm obliegende Zeremoniell vor der eigenwilligen Bissula verteidigte.
Während sie den spritzigen Albus einer Steillage einschenkte, betrachtete er ihren biegsamen Körper und tätschelte danach wohlgefällig ihren Arm.
»Findet Ihr heute Nachmittag ein wenig Zeit für mich?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Leider nein, mein Täubchen. Der Kaiser will viele Dinge erledigt wissen. Du könntest den sonnigen Herbstnachmittag nutzen, um einen Spaziergang mit Ada zu machen.«
Bissula verzog ihren Mund.
»Schade, dass Gratian Euch so wenig Zeit lässt. Ich hoffe, wenigstens Ada wird die Gelegenheit schätzen. Sie könnte Ausschau nach frischen Kräutern halten.«
Nach dieser Bemerkung verließ sie das häusliche Arbeitszimmer. Zurück blieb ein gereizter Ausonius. Bissula hatte ihn zu dieser Ablehnung genötigt und ihm ein schlechtes Gewissen verschafft, obwohl sie um seinen Zeitmangel wusste. Dabei diente er keinem Geringeren als dem Westkaiser des römischen Imperiums. Er kostete den Mosellawein und las auf dem gekühlten Terrakottakrug die Aufschrift AMO TE.
»Deshalb hat mein blondes Täubchen ihn ausgewählt«, dachte er versöhnlich und schob das Tablett zur Seite, denn am Abend würde er mit Magistrat Armitari speisen.
Er erhob sich und trat ans geöffnete Fenster. Draußen spannte sich ein lichter Oktoberhimmel über die Stadt und den Fluss mit seinen steilen Rebenhängen. Seit Gratians Rückkehr erschien Treveris Ausonius noch glanzvoller, aber am heutigen Nachmittag stimmte ihn die herbstliche Landschaft melancholisch. Er schloss das Fenster und näherte sich einer Vase mit späten Rosen aus dem Garten von Julia Armitari, um mit geschlossenen Augen den Duft einzuatmen, der im Raum schwebte wie eine Erinnerung an den Sommer. Danach nahm er erneut Platz, um sich dem Defizit der Staatskasse zu widmen.
Die nächsten Monate würden sich um den einundzwanzigjäh-rigen Kaiser drehen, der trotz seiner Jagdleidenschaft Zeit für die anstehenden Regierungsaufgaben finden sollte. Zudem erwarteten die Bürger sein öffentliches Auftreten. Sie waren beunruhigt, weil Gratian die Rhenusgrenze zugunsten seiner Aufenthalte im Süden vernachlässigte, was Franken und andere Germanenstämme zu Beutezügen in Gallien ermunterte.
Vor allem freute sich Kaiserin Maxima Faustina Constantia über die Anwesenheit ihres Gemahls. Die Enkelin des Großen Konstantin und Tochter des vor ihrer Geburt verstorbenen Ostkaisers Constantius II. war vor sechs Jahren als Dreizehnjährige von Konstantinopolis nach Treveris gereist, um die Ehe mit dem Kaisersohn Flavius Gratianus zu schließen, die machtpolitische Verbindung zweier Dynastien. Das noch kinderlose Kaiserpaar bot einen schönen Anblick, die dunkelhaarige Constantia mit ihrer weißen Haut und den schwarzen Augen und der braunlockige Gratian mit der Aura eines Auserkorenen.
Ausonius rief sich den neunjährigen Kronprinzen ins Gedächtnis, wie er ihn zum ersten Mal gesehen hatte: ein hübscher Junge von gewinnender Art und hellem Verstand. Es war eine Ehre, dem Thronfolger des Westreiches als Erzieher zu dienen.
Vor seiner Berufung an den Kaiserhof lehrte der damals siebenundfünfzigjährige Witwer als Rhetorikprofessor an der Hochschule von Burdigala und beabsichtigte, sich zugunsten seiner Dichtkunst ins Privatleben zurückzuziehen. Sein Alterswerk sollte ihm einen Platz unter den bedeutenden Dichtern und Philosophen sichern. Dann erhielt er den unverhofften Ruf Kaiser Valentinians und tauschte das beschauliche Leben gegen die neue Herausforderung in Gallia Belgica. Aufgrund seines Alters entschied sich Ausonius mit zwiespältigen Gefühlen für die späte Möglichkeit, der Provinz zu entkommen, doch das Vertrauen des Kaisers wirkte wie ein verjüngendes Elixier.
Zu Beginn leitete er die Studien des Thronfolgers während dessen Teilnahme am Feldzug seines Vaters Valentinian gegen den aufständischen Germanenstamm der Alamannen. Zwar war der Prinz nicht in die Kampfhandlungen einbezogen, lernte jedoch das Kriegshandwerk aus eigener Anschauung kennen, während sein Erzieher gleichzeitig als kaiserlicher Berichterstatter fungierte. Diese Aufgabe galt als Kriegsdienst, der wiederum Voraussetzung für den Aufstieg in hohe Staatsämter war.
Mit einem väterlichen Lächeln dachte Ausonius an das Alamannenmädchen Bissula zurück, das nach Kaiser Valentinians Sieg zu den Gefangenen gehörte. Der Achtjährigen stand ein Verkauf auf dem Sklavenmarkt zugunsten der Staatskasse bevor. Man hatte die Tochter eines Landadeligen von ihrer Familie getrennt, da aufgrund ihrer Herkunft und Jugend mit einem hohen Erlös zu rechnen war. Aber dann machte der Kaiser das Mädchen Ausonius zum Geschenk, als Dank und Auszeichnung für dessen Dienst im Kriegsgebiet. Ausonius seinerseits gab Bissula die Freiheit zurück und nahm sie als Ziehtochter auf, weil er Mitleid verspürte und sie ihn an seine im Kindesalter verstorbene Tochter Clementia erinnerte. So wuchs Bissula im Haus des Konsulars zur Frau heran, die eine tiefe Zuneigung zu ihrem römischen Wohltäter fasste. Darin lösten sich Ausonius‘ Bedenken gegen die spätere Liebesbeziehung auf. Bissulas Jugend hielt ihm das Alter fern.
Nach dem Ende der Feldzüge reiste er zum Kastell Bingium, einem Militärstützpunkt an der germanischen Grenze. Hier mündete die von den dünn besiedelten Höhen herabfließende Nava in den Rhenus. Ausonius passierte die Navabrücke in einer Kutsche und fuhr auf der Militärstraße über das unwirtliche Bergland hinab zur Mosella, einem linken Nebenfluss des Rhenus. Von der Festung Noviomagus mit ihren dreizehn Rundtürmen brachte ihn ein Schiff flussaufwärts durch das liebliche Tal nach Treveris. Die prächtige Residenzstadt bekräftigte seine Entscheidung. Ausonius betrat das Zentrum der weströmischen Macht.
In den folgenden Jahren gelang ihm neben seiner Aufgabe als Prinzenerzieher eine steile politische Karriere. Er wurde zum Comes und zum Quästor ernannt und stieg zum Prätoriumspräfekt von Gallien, Britannien und Hispanien auf. Schließlich leitete er die Verwaltung des römisch eroberten Gebietes vom westlichen Atlantik bis zur Rhenusgrenze im Osten. Für das Jahr 379 verlieh ihm Kaiser Gratian das Konsulat. Das höchste römische Verwaltungsamt währte stets ein Jahr, welches den Namen des betreffenden Konsuls erhielt. Danach durfte sich dieser bis zum Lebensende als Konsular bezeichnen.
Jetzt, ein Jahr später, befand sich der fast siebzigjährige Präfekt noch immer an den Schaltstellen der Macht. Die Gunst der Fortuna hatte ihm das Wohlwollen Altkaiser Valentinians beschert sowie die anhängliche Wertschätzung Gratians, der seit dem Tod seines Vaters vor fünf Jahren das westliche Imperium regierte.
Obgleich das Reich geordnet erschien, verspürte der Konsular eine diffuse Bedrohung. Früher hatte er in solchen Situationen seine Schlüsse aus Pinas Weissagungen gezogen. So prophezeite sie ihm Valentinians zweite Ehe mit Justina und dessen unerwarteten Tod sowie den schnellen Aufstieg des Ostkaisers Theodosius. Zu Ausonius‘ Leidwesen lehnte die alte Seherin seit einiger Zeit den Blick in die Zukunft als Frevel ab.
Zwar hatte Valentinian seinem Sohn ein gesichertes Westreich hinterlassen, doch die Grenzverletzungen germanischer Stämme, ihrerseits bedrängt von östlichen Steppenvölkern, häuften sich. Die römische Eroberung Germaniens war endgültig gescheitert. Man musste die Limesgrenze an Rhenus und Donau zurückverlegen, noch dazu neue Dämme und Kastelle errichten. Hier versahen Ufersoldaten und Kastellani ihren Dienst. Nicht in jedem Fall gelang es ihnen, die einfallenden Horden zu vertreiben. Diese wüteten dann im Land, bis Heeressoldaten oder die Palastarmee eintrafen.
»Es ist, als seien plötzlich alle östlichen Völker auf der Suche nach Beute oder Siedlungsraum«, wunderte sich Ausonius.
Dabei hatte der neunzehnjährige Gratian vor zwei Jahren mit Hilfe seines genialen fränkischen Heerführers Merobaudes die germanischen Lentienser geschlagen. Deren König war mit drei-ßigtausend seiner Soldaten bei Argentovaria gefallen. Um das Ostreich zu sichern, erkannte Gratian auf Ausonius‘ Rat hin widerstrebend den hispanischen Heerführer Theodosius als neuen römischen Ostkaiser an. Während dieser in Konstantinopolis an Bedeutung gewann, vernachlässigte Gratian die Regierungsgeschäfte zugunsten der Jagd. Noch dazu zeigte er sich bei kindischen Militärspielen in der Soldatentracht seiner skythischen Leibwache, was ihm den Spott und die Verachtung seiner römischstämmigen Soldaten eintrug.
Die horrenden Kosten der Grenzsicherung minderten die Gelder für andere Staatsaufgaben. Prosperierende Orte verfielen. Der Unmut über den sinkenden Wohlstand bei steigenden Abgaben wuchs. Sogar die Reichen bangten um ihre Vermögen und das fehlende Vertrauen in den Staat verhinderte Investitionen. Die Schuld gab man den politisch Verantwortlichen. Gratian büßte das Ansehen seiner ersten Regierungszeit ein. Trotz dieser Entwicklung behielt Treveris seine Anziehungskraft, wie gewohnt strömten Händler und Arbeitssuchende in die Stadt. Allerdings mischte sich in die Zuversicht etwas Lähmendes. Geschäftsleute sorgten sich um zahlungsfähige Kundschaft, alteingesessene Läden schlossen, das Warenangebot reduzierte sich und die Menschenschlange vor den Armenspeisungen wuchs. Setzte sich der Niedergang fort, würde die Residenz ihren Glanz als imperialer Stern verlieren. In dieser Abwärtsspirale zog es Gratian verstärkt an den Hof von Mediolanum und in die Nähe des mächtigen christlichen Bischofs Ambrosius. Der in Treveris geborene Kirchenlehrer war ein beeindruckender Denker und Rhetor. Ausonius sah mit Sorge, dass dessen Einfluss auf den Kaiser wuchs.
Inzwischen hatte der Konsular Maßnahmen für den Wiederaufschwung eingeleitet. Schließlich ging es um die Macht, die Gratian auch durch das Dreikaiser-Edikt Cunctos populos aufs Spiel setzte. Erst im Februar hatte er das Edikt zusammen mit seinem noch unmündigen Halbbruder Valentinian II. sowie Ostkaiser Theodosius erlassen und darin das trinitarische Christentum zur alleinigen Staatsreligion erhoben. Nur noch das Judentum wurde geduldet, die Angehörigen anderer Religionen mussten ihrem Glauben entsagen. Der Wegfall der Religionsfreiheit zugunsten des Christentums spaltete das Volk, dabei hatte Kaiser Konstantin I. die Ausübung dieser Religion erst vor siebenundsechzig Jahren erlaubt.
Der Konsular war beunruhigt, weil das Edikt Gratians Rückhalt im Heer und in der Bevölkerung schmälerte. Ausonius hielt religiöse Toleranz für eine tragende Säule des Reiches. Obwohl seit langem ein Christ, bedeutete ihm der alte Götterglaube etwas. Seine Mutter entstammte dem Adelsgeschlecht der keltischen Häduer. Ihre Vorstellung über die jenseitige Welt lebte in Ausonius fort, überlagert von christlicher Gesinnung und wissenschaftlicher Bildung. So bedauerte er den Wegfall seines Larenaltars, an welchem er, wie in römischen Häusern früher üblich, den Schutzgeistern kleine Opfer dargebracht hatte. Allerdings untersagte Ausonius weder Bissula noch ihrer Gesellschafterin Ada die Verehrung ihrer vertrauten Götter, solange dies nicht öffentlich geschah.
Im Eingangsbereich hörte man Stimmen. Bestimmt war der Seidenhändler und Gestütsbesitzer Proxius Lucullus Armitari eingetroffen. Der Magistrat für die Märkte und Spiele der Stadt unterbreitete Ausonius regelmäßig eine Einschätzung der wirtschaftlichen Lage sowie seine Sicht auf die politische Entwicklung. Gewöhnlich fanden ihre Unterredungen in der Kanzlei auf dem Forum statt, heute jedoch, verbunden mit der Einladung zu einem Mahl, in der Villa Sabina. Ausonius hatte sein Stadthaus in Treveris nach seiner in Burdigala verstorbenen Frau benannt. Der stets gut informierte Magistrat schätzte den Roten von der Garumna, der ihn zur Freude des Konsulars redselig machte. Außerdem liebte er die Poesie, insbesondere Ovids Verse aus den Metamorphosen.
»Du wirkst so verdrießlich, Bissula. Ist etwas mit dir?«
»Ach Ada, ständig störe ich Ausonius. An diesem sonnigen Herbsttag hatte ich auf einen gemeinsamen Besuch der Via Rosa oder einen Ausflug mit der Kutsche gehofft. Stattdessen sollen wir beide wie so oft spazieren gehen. Seit Gratian zurück ist, dreht sich alles um ihn. Für den Konsular ist der Kaiser der wichtigste Mensch auf der Welt.«
Bissula wartete auf Zustimmung, aber die Freundin wich aus.
»In gewisser Weise ist Gratian das für uns alle. Über ihm steht nur Gott. Der Kaiser ist so schön, dass er selbst ein Gott sein könnte. Man jubelt ihm gerne zu.«
»Obwohl er sich nur selten zeigt«, meinte Bissula mürrisch. »Ausonius muss ihn viel zu oft vertreten. Dabei hoffte ich, der Konsular würde sich aus der Politik zurückziehen. Er hat doch alles erreicht. Ich muss meine Zeit ohne ihn verbringen, bin weder seine Gemahlin noch hat sich mein Wunsch nach einem Kind erfüllt. Er stellt sich taub, was meine Anliegen betrifft.«
Am liebsten hätte Bissula aus Enttäuschung geweint, aber Ada nahm sie tröstend in den Arm und sagte:
»Uns beiden geht es doch gut. Selbst wenn du dies nicht wahrhaben willst: Du wirst von Konsular Ausonius geliebt. Während viele Menschen Not leiden, müssen wir uns um nichts sorgen. Alles ist reichlich vorhanden, sogar Bücher.«
»Du mit deinen staubigen Büchern. Als wären sie wirklich wichtig. Sie enthalten nur die Gedanken anderer Menschen. Man kann das, was sie beschreiben, nicht sehen, geschweige denn selbst erleben.«
Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Wenigstens befindet sich deine Familie in Sicherheit, während ich seit meiner Gefangennahme im Ungewissen bin. Wenn es um den Konsular geht, gibst du mir nie recht, Ada. Dabei ist er für Gratian gar nicht mehr wichtig. Der Kaiser hört jetzt auf den Bischof und hier jagt er lieber Hirsche oder Bären, statt seine Zeit mit Constantia zu verbringen oder zu regieren. Weil ihm die Steinböcke in einem wilden Tal bei Noviomagus nicht genügen, transportiert man Löwen aus Afrika in das Gehege hinter der Langmauer, damit Gratian sie mit seinem parthischen Bogen erlegen kann. Jedes Tier kostet ein Vermögen, obwohl die Staatskasse leer ist. Ausonius klagt darüber.«
»Das mit den Löwen kann ich nicht glauben, Bissula!«
»Es stimmt aber. Viele Menschen halten unseren Kaiser für einen Verschwender.« Sie stockte und meinte dann mit einem kleinen Lächeln: »Ohne Gratians Jagdleidenschaft wäre diese unglaubliche Geschichte mit dir nicht passiert. Wir beide hätten uns niemals kennengelernt.«
»Das ist wahr«, pflichtete Ada ihr bei und schlug vor: »Lass uns zuerst eine Kleinigkeit essen und anschließend in den kaiserlichen Park gehen. Vielleicht fliegen deine Gedanken von dort zu deinen Lieben und trösten sie.«
Bald darauf servierte eine griechische Dienerin den erbetenen Imbiss in einem mit Wandmalereien ausgestatteten Speisezimmer. Die jungen Frauen ließen die Klinen unberührt und nahmen lieber auf Hockern Platz.
Bissulas honigfarbene Haarpracht war in Zöpfen aufgesteckt. Noch immer spiegelten die blauen Augen ihre niedergeschlagene Stimmung und um den verführerischen Mund zeigte sich ein enttäuschter Zug. Ihre türkisfarbene Tunika betonte die grazile Figur mit einem Taillenband. Die anmutige Germanin zog die Blicke auf sich. Schon deshalb setzten sie die Damen der guten Gesellschaft ungern auf die Gästeliste und nannten sie hinter vorgehaltener Hand »die blonde Barbarin«. In der Hierarchie der Residenzstadt war die ehemalige Kriegsgefangene eine Außenseiterin.
Enttäuscht äußerte Bissula einmal gegenüber Ada: »Ich lache über diese eingebildeten Frauenzimmer. Schließlich gehöre ich zu Konsular Ausonius. Keine dieser Damen wird wie ich von Kaiserin Constantia empfangen.«
Obwohl Bissula im Kindesalter nach Treveris gekommen war, blieb ihr die Stadt fremd. Sie verklärte die Erinnerung an ihre verlorene Familie und fragte sich jeden Tag, ob ihre Eltern und Geschwister als Sklaven leben mussten oder den Tod gefunden hatten. Einerseits liebte sie Konsular Ausonius als ihren Wohltäter, andererseits machte sie ihm den Vorwurf, sein Volk habe ihr alles genommen. Sie gab ihm eine Mitschuld an ihrer Heimatlosigkeit und grollte, weil er ihr die Heirat verweigerte. Dabei kannte sie die Gründe. Es war nicht nur der große Altersunterschied. Altkaiser Valentinian hatte seiner höfischen Elite untersagt, die Frauen eroberter Barbarenstämme zu ehelichen. Unter Gratian wurde das Verbot zwar durchlässiger, aber eine solche Verbindung galt als Tabubruch und zerstörte die Karriere.
Als das zwölfjährige Keltenmädchen Ada vor sechs Jahren auf Gratians Wunsch von Konsular Ausonius aufgenommen wurde, reagierte die um ein Jahr ältere Bissula abweisend. Zunächst war Ada auf Gesten angewiesen, denn niemand verstand ihren rauen Dialekt, und sie wurde zum Gespött der Dienstboten, bis der Konsular einschritt. Allerdings wusste dieser zuerst selbst nicht, wie Adas Stellung in seinem Hause aussehen sollte. Zwischen ihrer Heimat Dornberg und der Kaiserstadt lagen zwar nur fünfzehn Leugen, jedoch eine große kulturelle Distanz. Das Dorf, in dem Adas Familie ansässig war, befand sich rechts der Mosella auf einem Hügelplateau im kaiserlichen Jagdrevier und war geschützt von einem Gebück aus Dornenhecken. Das keltische Mädchen lernte schnell und warb um Bissulas Wohlwollen, bis diese ihren Widerstand aufgab. Trotz ihrer räumlichen Trennung von Dornberg fühlte sich Ada wohl und glaubte, dass eine glückliche Fügung ihr diese neue Welt eröffnet hatte. Der Konsular seinerseits wies den Hauslehrer an, das wissbegierige Keltenmädchen ebenfalls zu unterrichten, und war erleichtert, als Bissula in ihr eine Gesellschafterin fand, die bescheiden blieb und gerne kleine Aufgaben übernahm.
Inzwischen im heiratsfähigen Alter, sorgte sich Ada um die Zukunft. Wie sollte diese aussehen? Eine Rückkehr in das einfache Leben ihres Heimatdorfes, in dem niemand lesen oder schreiben konnte, wollte sie sich nicht vorstellen. Manchmal dachte sie an Edwin, den älteren Bruder ihrer Freundin Fabala. Dieser lebte seit Jahren in Treveris und war, glaubte man Fabala, auf einem erfolgreichen Weg.
Als sie ihre Mahlzeit einnahmen, meinte Ada mit nachdenklichem Gesicht: »Ach Bissula, meine Zukunft ist noch viel ungewisser als deine.«
Diese betrachtete die Gefährtin. Ada war größer als sie und ihre seelenvollen Augen verrieten Klugheit. Ihre Haut neigte zu Sommersprossen, das kupferfarbene Haar war zu einem Zopf geflochten.
»Was wünschst du dir denn, Ada?«
Die Freundin errötete. »Einen fürsorglichen Mann mit einem auskömmlichen Beruf, gesunde Kinder und ein Leben in der Kaiserstadt. Ich weiß, dass ich nicht für alle Zeiten in der Villa Sabina bleiben kann. Eines Tages wird der Konsular mit dir nach Burdigala zurückkehren.«
»Zuvor sollte er mir einen Heiratsantrag machen«, schmollte Bissula, »er darf nicht glauben, dass ich mich so einfach abweisen lasse.«
Ada zeigte auf einen Zinnteller mit Walnüssen: »Lassen wir die Zukunft kommen. Noch steckt sie in der Schale wie diese Nüsse.«
Zu guter Letzt lachte Bissula doch noch und Ada stimmte ein.
Die einzigen weiblichen Wesen, die Proxius Lucullus Armitari streichelte, waren seine weißen Zwerghündinnen Clio und Erato. Gerne bezeichnete er sie mit einem Augenzwinkern als seine Gesellschaftsdamen. Einst hatte ihn Erato mit ihren dunklen Knopfaugen aus dem Welpenkorb eines Züchters angeschaut. Als sie ihr Flaumköpfchen vertrauensvoll in seine Hand schmiegte, war es um Proxius geschehen. Erato blieb sein Liebling, obwohl sie im Gegensatz zur robusten Clio kränkelte. Darüber hinaus begeisterte sich Proxius für Pferde. Die erotische Seite seiner Zuneigung gehörte den glutäugigen Jünglingen, obgleich der Magistrat mit einer der schönsten Frauen von Treveris verheiratet war und mit Julia zum Kreis der Hofgesellschaft zählte.
Proxius entstammte einer Dynastie von römischen Seidenhändlern. Neben einem herrschaftlichen Gebäude am Tiber besaß die Familie eine Niederlassung sowie einen Landsitz in Baiae am Golf von Neapolis mit einem herrlichen Blick auf die dortige Meeresbucht. In dem ebenso verrufenen wie luxuriösen Badeort mit heißen Schwefelquellen lebten er und Julia nach ihrer Eheschließung. Dann führte Proxius‘ Geschäftssinn sie ins nordöstliche Gallien, wo das Familienunternehmen eine weitere Filiale in der Hauptstadt Treveris unterhielt.
Mit seiner Entscheidung für die Kaiserstadt des Weströmischen Reiches war Proxius nicht allein. Zu jener Zeit machten sich viele auf den Weg über die Alpen, angelockt von der glanzvollen Residenz, deren Strahlkraft der Dichter und Politiker Ausonius in seinem Versepos Mosella gepriesen hatte. Darin erschien Treveris als eine Stadt der Verheißung in der fruchtbaren Talweite eines lieblichen Flusses, umgeben von Weinbergen und prächtigen Villen. Die Stadt wurde sogar als ein Abbild von Baiae bezeichnet, wenn auch bescheidener und ohne dessen sprichwörtliche Verschwendungssucht.
Trotz dieser Lobeshymnen wurde Proxius von einem Geschäftsfreund gewarnt.
»Lass dich nicht von schmeichelnder Poesie täuschen. Der Verfasser ist der Erzieher des Kronprinzen. Die Dichtung ist eine Werbung im Auftrag des Altkaisers und soll vermögende Bürger nach Norden locken, damit der römische Senat weiterhin die immensen Kosten der gallischen Grenzsicherung genehmigt. Deshalb schildert Ausonius das rückständige Gebiet als einen Paradiesgarten. Wahr ist, dass sich unsere hochentwickelte Kultur außerhalb der treverischen Stadtmauer wenig verbreitet hat. Die Gallier genießen römisches Bürgerrecht, sprechen aber kaum Latein, geschweige denn Griechisch.«
Proxius winkte ab. »Überholte Gerüchte. Das Gebiet ist reich an Bodenschätzen und Wäldern, während der Süden abgeholzt ist. Jeder weiß, wie sehr unsere Fabriken und Heizungen darauf angewiesen sind.«
»Das mag stimmen, dafür zerstören einfallende Germanenstämme die römischen Höfe und Villen. Schon Tacitus hat nichts Gutes über diese Barbaren geschrieben. Du wirst die Austern vom ›Goldenen Strand der Venus‹ vermissen, den Falerner und die Nähe zu Rom. Der nördliche Winter wird dir und deiner reizenden Julia zusetzen.«
Diese Dialoge wiederholten sich, bis Proxius die Warner zum Schweigen brachte. »Gallien ist im Aufbruch, Fabriken sprießen aus dem Boden und unsere Filiale macht gute Geschäfte mit chinesischer Seide. Die Nähe zum Kaiserhof verlangt nach nobler Kleidung. Nicht umsonst nennt man die Stadt das ›Rom des Nordens‹."
Proxius startete sein Leben in der Kaiserstadt mit großer Zuversicht. Mit ihren fast hunderttausend Einwohnern war sie eine pulsierende Metropole. Der wesentliche Teil der Bürger lebte innerhalb der Stadtmauer rechts der Mosella. Obgleich sich dort der Palastbezirk sowie das Filialgebäude des Seidenhandels befanden, entschied sich Proxius für eine erhöht liegende Villa urbana am ruhigen Westufer im Schutz der Sandsteinwände des Marcusbergs. In den darauffolgenden Jahren hielt die Schönheit von Treveris die Sehnsucht nach dem Süden in Grenzen. Die Filiale blühte auf und Proxius erfüllte sich einen Lebenstraum, indem er ein kleines Gestüt in der Nähe seiner Villa erwarb. Er stellte einen erfahrenen Verwalter ein und hoffte, in absehbarer Zukunft mit seinen Pferden an den Rennen im Circus teilnehmen zu können. Diese Großereignisse standen unter der Schirmherrschaft des Kaisers.
Nach einigen Jahren gehörte Proxius zu den Mitgliedern des Städtischen Rates. Das einflussreiche Amt eines Magistrats hatte er vor allem seiner und Julias Spendenfreudigkeit zu verdanken sowie der Fürsprache des kaiserlichen Präfekten, Konsular Ausonius. Heute Abend würde er dessen Gast sein. Der ehemalige Rhetorikprofessor mit dem phänomenalen Gedächtnis war ein universell gebildeter Gesprächspartner.
Wie immer hatte sich der Magistrat bestens vorbereitet, denn er kannte die insistierenden Fragen des Konsulars. Was die zu erwartenden Speisen anging, rechnete Proxius nicht mit der von ihm geschätzten Opulenz. Freunde nannten ihn aus diesem Grund »unseren Apicius«. Dieser seit langem verstorbene Feinschmecker hatte ein Kochbuch verfasst, das in der Küche der Villa Armitari als Anregung diente. Der beneidenswert schlanke Konsular bevorzugte eher leichte Kost. Allerdings rechnete Proxius heute zumindest mit Austern, weil spätestens ab Oktober der gekühlte Transport von der Kanalküste in die Kaiserstadt einsetzte.
Der Konsular, der um die Aussagekraft von Zahlen wusste, hatte um eine aktuelle Gegenüberstellung von städtischen Ein nahmen und Ausgaben gebeten. Wegen der angespannten Wirtschaftslage würde er neue Vorschläge erwarten, außerdem Zuschüsse aus den städtischen Steuerquellen.
Vor dem Weg über die Brücke zur Innenstadt blieb Proxius Zeit, die Aussichtsterrasse seines Anwesens aufzusuchen. Heute trug er über seiner knöchellangen Seidentunika einen elfenbeinfarbenen Überwurf aus feiner Schurwolle, hergestellt in einer städtischen Tuchfabrik. Er verlieh seiner untersetzten Gestalt Vornehmheit. Die Silberfäden in seinen kurzen Locken zeigten, dass der Magistrat sein vierzigstes Jahr überschritten hatte. Erato auf dem Arm und Clio zu Füßen, richtete er den Blick auf das gegenüberliegende Panorama der Innenstadt.
Die mächtige Stadtmauer gab ihr die Form eines länglich gerundeten Blattes, aus dem an der südlich gelegenen Porta Media der Cardo maximus wie ein Stängel hinausführte, vorbei an Webereien, Glas- und Waffenfabriken, Töpferwerkstätten und weiteren Handwerksbetrieben. Ihnen folgten die südlichen Gräberfelder. Innerhalb der Mauer war Treveris nach dem Vorbild Roms in rechtwinklige Insulae gegliedert.
Jetzt lag die Residenz im Herbstlicht. Die Weinlese hatte einen passablen Jahrgang beschert, Obst und Gemüse, Nüsse und Pilze waren geerntet. Bald würde der kalte Wind von den Höhen eintreffen oder der berüchtigte Nebel, der sich gerne in der Talweitung festsetzte. Dann reizte der Holzrauch die Augen, denn Thermen, Wärmestuben und die Wohnhäuser der Wohlhabenden wurden beheizt.
Der Magistrat hatte seinen Holzvorrat bereits auffüllen lassen. Der Preis war noch höher gewesen als erwartet, weil der einzige Brennstoff über immer längere Distanzen herbeigeschafft werden musste, denn die Wälder um Treveris waren verschwunden. Die meisten Wohnungen würden im Winter kalt bleiben. Nur wenige der mehrstöckigen Mietshäuser besaßen eine Warmluftheizung. Die überdachten Kochstellen lagen in den zugigen Innenhöfen. Der Magistrat wollte sich für weitere Wärmestuben und Armenspeisungen einsetzen.
Heute schien die kalte Zeit fern. Proxius‘ Blick wanderte liebevoll über die gallische Hauptstadt, für deren Wohl er mitverantwortlich war. Er glitt von der Pfaueninsel zur Steinbrücke und weiter über die fünftorige Stadtmauer zur Innenstadt. Diese wurde zwischen Nord und Süd vom Cardo maximus und zwischen Ost und West vom breiten Decumanus maximus in vier Teile geteilt. Auf dem Hafengelände am rechten Flussufer befanden sich zwei große Speichergebäude sowie die Verkaufshallen und Laderampen. Die Horrea und die Verladeplätze mit den Lastkränen waren eine anrüchige Gegend und das Reich des zwielichtigen Petronius. Schließlich verweilten Proxius‘ Augen auf dem stillgelegten Tempel des Asklepios. Sogar der Gott der Heilkunst war von der unerbittlichen Religionspolitik Gratians gestürzt worden.
Imposante, mit farbigen Anstrichen oder Malereien versehene Bauten lenkten die Aufmerksamkeit auf sich, ebenso die nach Kaiser Augustus benannte riesige Thermenanlage hinter der Brücke. Das Forum und die Curia lagen im Zentrum, in der Nähe der Kaiserlichen Hochschule und der Bibliothek. Mit ihrer Erweiterung wollte sich der Konsular ein Denkmal setzen. Von Osten brachte eine sechs Leugen lange Leitung, unterirdisch oder über Aquädukte, das Wasser aus dem Tal der Erubris in die städtischen Verteilerbecken. In dieses Versorgungssystem waren die umliegenden Quellen und Bäche eingebunden.
»Eine Meisterleistung dank des universellen Opus caementitium«, stellte Proxius bewundernd fest.
Ferner befanden sich im Osten die Aula Palatina, der Circus und das Amphitheater sowie die nicht vollendeten Kaiserthermen. Statt ihrer Fertigstellung hatte Valentinian auf dem Gelände einen neuen Palast errichten lassen sowie eine Kaserne für seine Leibgarde. An den kaiserlichen Park grenzte auch das Anwesen des Konsulars.
»Der Präfekt hat ein Gespür für das Besondere«, murmelte Proxius anerkennend. Die Eleganz der Villa Sabina, die ihren Eigentümer als Ästheten auswies, beeindruckte Proxius, obwohl er selbst sich zum Leidwesen seiner Gemahlin gerne mit Pomp umgab. Er und Julia sahen Treveris als Herausforderung in einer nördlichen Region, deren Realität den euphorischen Mosella-Versen in einigen Punkten widersprach. In der Stadt existierte sehr wohl Armut. Proxius wusste, dass Julias soziales Engagement sein Ansehen als Magistrat stärkte. Er bedauerte, für seine Gemahlin nur Freundschaft empfinden zu können, und sah darüber hinweg, dass sie ihr eigenes Leben führte. Dazu gehörte, dass sein keltischer Verwalter nicht nur Julias Einsatz für das Gestüt unterstützte. Inzwischen heimste der Rennstall Armitari beachtliche Preisgelder ein. Überhaupt verdankte das Gestüt seine Erfolge im Wesentlichen dem Pferdewissen des jungen Edwin.
Unabhängig von seinem abgelegten Götterglauben und seiner neuen christlichen Religion vertraute der Magistrat in erster Linie auf das Diesseits. Er schätzte die guten Dinge des Lebens, ähnlich wie Lukrez und Epikur, deren Schriften er mit Begeisterung gelesen hatte. Der römische Dichter Horaz hatte diese Einstellung mit seinem carpe diem auf den Punkt gebracht.
Ebenso wie Konsular Ausonius hielt Proxius »Ovids Metamorphosen« für die größte Dichtung. Diese Schöpfungsgeschichte anhand griechischer und römischer Göttersagen hatte ihn bereits als Schüler fasziniert, insbesondere das Schicksal des hochfliegenden Jünglings Ikarus, der aus Selbstüberschätzung ins Meer stürzte. Das erinnerte ihn an den jungen Kaiser, der in Proxius' Augen zunehmend die Bodenhaftung verlor. Leider hatte der Präfekt seinen Einfluss auf Gratian eingebüßt. Nun wollte Ausonius der wirtschaftlichen Stagnation mit Investitionen begegnen, außerdem Steuererleichterungen auf Grundnahrungsmittel gewähren. Hoffentlich konnte er Gratian überzeugen, den Gold- und Silbergehalt der Münzen erneut zu senken. Wozu gehörte Treveris zu den Hauptmünzstätten des Reiches? Proxius dachte an seinen wichtigsten Wahlspruch: Der Denar muss kreisen!
Die Sonne sank hinter die westlichen Höhen. In die milde Herbstluft mischten sich kühle Feuchtigkeit und der Geruch gärender Rückstände aus den Kelteranlagen. Der Magistrat fröstelte. Eratos Köpfchen kraulend, beobachtete er einen Krähenschwarm, der mit heiseren Rufen am Flussufer aufstieg, und fragte sich, wie sonnenwarm der heutige Abend in Baiae sein mochte. Er wandte sich zum Gehen und entdeckte Julia an einem der oberen Fenster. Sie machte eine grüßende Bewegung.
Während sich Proxius auf Konsular Ausonius einstimmte, blickte Julia aus einem Fenster des Obergeschosses über den Fluss zum Palastbezirk und dachte: »Endlich wird die Residenz wieder zum Leben erwachen, der Kaiser ist zurück. Die Herbstund Winterfeste werden stattfinden und wir Frauen können die neueste Mode zeigen.«
Sie lächelte, als sie ihren Gemahl auf der Terrasse entdeckte. Proxius wurde rundlich. Wie sein verstorbener Namensvetter Lucullus war er ein Genießer üppiger Mahlzeiten. Früher hatte er den täglichen Ausritt auf Hector geschätzt, inzwischen benutzte er die Sänfte und ließ sein schwarzes Lieblingspferd von einem Stallmeister bewegen.
Die kluge Römerin war als Tochter eines Professors der Rechtswissenschaften aufgewachsen, der nicht nur seine Söhne, sondern auch Julia von ausgezeichneten Lehrern unterrichten ließ. Gerne erinnerte sie sich an die Lebensweisheiten, die ihr Vater zum Besten gegeben hatte, so Senecas: »Der Geist, nicht die Truhe, muss gefüllt werden.«
Sie dachte an ihre Heirat in Rom. »Warum wurde aus Proxius und mir ein Paar?«, fragte sie sich und kannte doch die Antwort. Der Wunsch ihrer Familien hatte sie zusammengeführt, weil Vermögen und Stammbaum sich bestens ergänzten. Eine solche Verbindung festigte die gesellschaftliche Stellung. Darüber hinaus galt der junge Armitari als geschäftstüchtig und liebenswürdig. Nach der Hochzeit folgte ihm Julia nach Baiae. In diesem Badeort der Reichen und Schönen, nahe dem vor dreihundert Jahren unter Asche begrabenen Pompeji, drehte sich alles um die Freuden der Liebe und des guten Lebens. Schon der römische Dichter Ovid beschrieb die Stadt als einen Ort für Liebesspiele und der römische Philosoph Seneca nannte sie ein Rasthaus der Laster. Bald gehörte Julia zu den Schönheiten der mondänen Gesellschaft und das erotische Desinteresse ihres Gatten führte dazu, dass ein Liebhaber nicht auf sich warten ließ.
Dessen ungeachtet begleitete sie Proxius in die Hauptstadt des nördlichen Imperiums, die plötzlich in aller Munde war. Dort teilte sie seine Begeisterung für die Pferderennen im Circus, welche in der Kaiserstadt eine gesellschaftliche Bühne darstellten, vor allem in Anwesenheit des Kaisers. Inzwischen überstieg das Ansehen der ruhmreichen Wagenlenker dasjenige der Gladiatoren, was der christlichen Ausrichtung des Kaiserhauses entsprach. Damit Proxius genügend Zeit für den Seidenhandel und seine Magistratstätigkeit blieb, ließ sich Julia in die Belange des Gestüts einbinden. Seit der keltische Verwalter Edwin ihr das Reiten auf einem Vierhornsattel nahegebracht hatte, ritt sie gerne aus. Julia verehrte die Pferdegöttin Epona. Ihr zu Ehren befand sich am Eingangstor des Gestüts ein Sandstein, geschmückt mit dem Relief der Göttin im Sattel, in den Händen eine Schale mit Früchten. Zu Julias Leidwesen dachte Proxius die Entfernung des Kultsteines an, weil sein Gestüt dem christlichen Kaiserhaus geschäftlich verbunden war.
Julia verließ ihren stilvollen Wohnbereich und erreichte über eine ausladende Marmortreppe die Speise- und Repräsentationsräume im Erdgeschoss. Vom Atrium gelangte man zum Tablinum und weiter zum großen Hof des Peristyls, dessen Säulengänge mit Mosaiken und bemalten Marmorstatuen geschmückt waren. In der Mitte lag ein Ziergarten, darin das Nymphäum mit Springbrunnen und Wasserbecken. In diesem geschützten Außenbereich blühten Julias Duftrosen bis weit in den Herbst. An das imposante Wohngebäude grenzte ein weitläufiger Garten, den sie nun aufsuchte. Hier, inmitten von verwilderten Pflanzen und Bäumen, hatte sie ihre Passion entdeckt und einen Gartenarchitekten mit der Umgestaltung beauftragt. Danach wurden Rosenstöcke gepflanzt, Brunnen und Teiche angelegt, Blumenbeete entstanden sowie ein Nutz- und Kräutergarten. Zur Überwinterung empfindlicher Pflanzen kam ein heizbares Gebäude hinzu. Bald nannte man Julia, die mit der Veredelung ihrer Rosen experimentieren ließ, »die römische Rose«. Wer Ende Mai oder Anfang Juni mit einem Bukett aus der Villa Armitari bedacht wurde, war zum Rosenfest eingeladen und zählte sich zur guten Gesellschaft von Treveris.
Jetzt im Oktober warfen die Gehölze erstes Laub ab. »So wie Proxius seine Hunde und Pferde umsorgt, so liebevoll gestalte ich meinen Garten«, dachte Julia beim Anblick der bunten Astern, die mit den jetzt goldfarbenen Pappeln kontrastierten.
Sie nahm den kürzesten Rückweg und passierte die Stelle, an der im Frühling ein gläsernes Gewächshaus entstehen sollte, ganz nach dem Vorbild der herrschaftlichen Villen Italiens. Julias Gartenpläne wurden von Proxius unterstützt. Weiter hatte er auf ihren Vorschlag hin die öffentlichen Plätze der Stadt mit Rosenbeeten oder Pflanzkübeln bereichern lassen sowie die Hauseigentümer in den Ladenstraßen ermuntert, die jeweilige Fassade mit einem Rosengewächs zu schmücken. Diese Anregung fand begeisterte Nachahmer.
Julia erreichte das Tablinum und nahm Platz. Der Raum diente als Statussymbol und war durch hölzerne Schiebeelemente mit dem Atrium verbunden. Seine Wände waren mit Fresken und Steinbüsten geschmückt, der Fußboden mit Mosaiken. Durch die Fenster konnte man zum Nymphäum blicken. Auf dem Rand des Brunnenbeckens saß ein pausbäckiger Amor aus weißem Marmor und zielte mit seinem zierlichen Bogen auf einen steinernen Delfin. Julia lächelte, nicht zuletzt, weil Edwins Besuch bevorstand. Ihre Beziehung mit dem selbstbewussten Kelten hatte vor einem Jahr begonnen, als er ihr verletztes Pferd heilen konnte.
Eine Dienerin trat ein und meldete die Ankunft des Verwalters. Julia erhob sich und begab sich in das vorbereitete Speisezimmer.
Edwin verließ die Augustustherme wohlig erfrischt. »Welch ein Tag«, murmelte er und blinzelte in die Sonne des Herbstnachmittags. Nach einigen Schritten blickte er auf das riesige Wasserparadies zurück und dachte an seinen ersten Besuch.
Die Therme lag am breiten Decumanus maximus nahe der Mosellabrücke und stand allen Bürgern offen. Eine ähnlich imposante Anlage befand sich nur in Rom. Dieser der Körperpflege gewidmete Palast von Treveris besaß einen hohen technischen Wissensstand und erforderte eine unvorstellbare Menge an Wasser und Brennstoff, außerdem ein Sklavenheer für die Befeue-rung der Heißluftheizung. Neben der Körperhygiene diente die Augustustherme als beliebter Treffpunkt. Läden boten Kosmetika, Genusswaren sowie Getränke an, und eine kleine Bibliothek stellte einige Schriften zur Verfügung, in denen man unter Aufsicht lesen konnte.
Vor mehr als zehn Jahren hatte Edwin hier die römischen Bäderrituale erkundet. Der Wechsel zwischen Kalt- und Warmwasser-Anwendungen, vor allem die Sportangebote in den Trainingsräumen und auf der gesandeten Palaestra, begeisterten ihn. Die gesamte riesige Einrichtung erfüllte ihn mit Ehrfurcht, ihre hohen Tageslichträume mit den Wasserbecken, die Mosaike, der Marmor, die Statuen in den Nischen. Sogar die Latrine ließ ihn staunen. Man saß, getrennt nach Geschlechtern, über einer Wasserrinne auf hölzernen Sitzflächen mit runden Einschnitten. Die Reinigung erfolgte mit einem Stockschwamm, die Ausscheidungen wurden in die Kanalisation gespült.
Heute hatte Edwin die Augustustherme ebenso routiniert absolviert wie ein damit aufgewachsener Römer. Nun blieb ihm auf seinem Weg zu Julia Armitari etwas Zeit. Er freute sich auf den Besuch, der nicht nur der Entscheidung über anstehende Fohlenverkäufe diente, und passierte die Wechselstuben an der Brücke. In einigen konnte man Geld anlegen oder leihen. Ein Wächter an der Zollstelle der Porta Inclyta winkte ihn mit einer lässigen Bewegung durch. Im Herbst waren die Münztaucher auf der Brücke verschwunden. In seinem ersten Sommer in der Kaiserstadt war auch Edwin hier in den Fluss gesprungen, wenn ein Bürger ein Geldstück ins Wasser warf, um sich an den Tauchgängen und Balgereien der Burschen zu belustigen, und war stolz gewesen, eine Münze unter Beifall in die Höhe zu halten. An der Brücke war die Mosella sauber, die Abwässer strömten an anderer Stelle ein. Plötzlich näherten sich im Laufschritt zwei kräftige Träger mit einer geschlossenen Sänfte und wichen den Kuhfladen und Pferdeäpfeln auf dem glatten Buckelpflaster aus. Edwin deutete eine Verbeugung an, ohne zu wissen, ob sein Ge-stütsherr im Innern der Sänfte ihn wahrgenommen hatte.
»Proxius lässt sich wieder einmal tragen«, dachte er belustigt, zugleich erleichtert, dass der Magistrat offensichtlich zu einer Verabredung eilte. Um diese Zeit würde sie mit einem anschließenden Essen verbunden sein, was eine ungestörte Zweisamkeit mit Julia versprach.
Auf der linken Seite der Mosella lag unterhalb des Marcusbergs der Lenus-Mars-Tempel. Mittlerweile war der Bezirk um die Kultstätte einschließlich Theater und Pilgerherbergen verwaist und wurde als Steinbruch benutzt. Weiter südlich befand sich eine Arbeitersiedlung, darin ein vierstöckiges Mietshaus mit verwinkelten Treppen und engen Wohnungen, zum Teil mit winzigen Balkonen. Das Gebäude gehörte Petronius und besaß innen keine Wasserversorgung. Diese lag bei den Kochstellen im Hof, ebenso ein Lebensmittelladen. Im Erdgeschoss befanden sich die heizbaren Räume, aber Edwin kam im dritten Stock ohne diesen Komfort aus. Er verpflegte sich an den Garküchen oder bei seiner Schwester Fabala, manchmal versorgten ihn die Küchensklaven von Petronius. Seit Edwin zum Gestütsverwalter aufgestiegen war, nutzte er tagsüber ein Kontor im Verwaltungsgebäude. Stand ein Abfohlen an oder war eines der Tiere erkrankt, konnte er dort übernachten.
Der junge Kelte war der Sohn eines Schmieds aus Dornberg. Nach dem Tod der Mutter blieb seine jüngere Schwester Fabala bei einer Tante in Dornberg, der neunjährige Edwin folgte seinem Vater in die Marktsiedlung Belginum, wo dieser eine Hufund Wagenschmiede eröffnete. Die Raststation lag auf einem Hochplateau an der römischen Militärstraße von Bingium nach Treveris. Der kräftige Junge ging seinem Vater zur Hand oder trieb sich in den Werkstätten und Gassen herum. In den Unterkünften rasteten Händler aus aller Welt und berichteten von der nahen Residenzstadt.
In den folgenden Jahren wurde aus Edwin ein versierter Schmied, der ein außergewöhnliches Geschick mit Pferden entwickelte. So verstand er sich wie kein Zweiter auf deren Hufpflege mit Baumharz und experimentierte mit Salbenverbänden. Seine Erfolge wurden bekannt und so sprach der Geschäftsmann Petronius den Fünfzehnjährigen eines Tages an:
»In Treveris können die Tüchtigen es weit bringen. Du glaubst nicht, was unsere Hauptstadt alles bietet. Die großen Rennen im Circus würden dir gefallen. Du wüsstest schnell, auf welchen Wagenlenker man setzen muss oder welches Gespann den Sieg holen wird. Treveris ist reich, denn der Kaiser sorgt gut für seine Residenz. Meine Geschäfte liegen im Hafen. Ich könnte dich zwar gut gebrauchen, aber da du so viel von Pferden verstehst, wäre ein Gestüt besser für dich.«
Beim nächsten Aufenthalt wurde Petronius deutlicher.
»Komm in die Kaiserstadt, Edwin. Du könntest im Gestüt Armitari anfangen, obendrein ein paar Dinge für mich erledigen. Dein Vater wird dir sicher nicht im Weg stehen.«
Als Petronius berichtete, Magistrat Armitari habe mit dem Aufbau eines Rennstalls begonnen, verließ Edwin die Schmiede. Man wünschte dem tüchtigen Burschen viel Glück, denn die Kaiserstadt galt als hartes Pflaster für Neuankömmlinge.
In seiner ersten Zeit in Treveris übernachtete Edwin in der Baracke für die Stallburschen oder in einem Schuppen auf dem Hafengelände, welcher Petronius gehörte. Da der ehemalige Schmied nur das Rechnen beherrschte, sorgte Magistrat Armitari für weiterführenden Unterricht durch einen griechischen Sklaven. Nach einigen Jahren wurde Edwin zum Stallmeister befördert. Als der alte Verwalter starb, trat er dessen Nachfolge an. Der ehemalige Schmied war für den aufstrebenden Rennstall unverzichtbar geworden.
In Treveris bewegte sich der junge Dornberger im Umfeld geschäftstüchtiger Männer. Von Petronius erhielt er Einblick ins Hafenmilieu und überbrachte in dessen Auftrag so manche Bestechungsgabe. Später organisierte Edwin die beliebten, jedoch verbotenen Hundekämpfe und war an den Wetteinnahmen beteiligt. Die Kämpfe fanden in Lagerschuppen statt, in denen Petronius für Ordnung sorgen ließ. Einträglich waren auch die Schwarzmarktgeschäfte, darunter solche mit dem hoch besteuerten Kaiserpilz, im Volksmund Fliegenpilz genannt. Neben seiner schmerzstillenden Wirkung schätzte man ihn als Rauschund Potenzmittel. Er konnte Ekstase, Aggressionen und Halluzinationen hervorrufen, aber auch zu spirituellen Erkenntnissen beitragen. So erzählte man von einem Pilzsud, mit dem die Druiden ihre Sinne schärften. Ein Legionär wiederum war überzeugt, der Pilz werde im Heer gegen die Angst eingesetzt. Edwin kannte die Plätze in den kaiserlichen Jagdwäldern, an denen er von Juni bis Oktober reichlich wuchs, und ließ ihn von eingeweihten Helfern sammeln und trocknen. Petronius sorgte für das Verteilernetz und strich den größten Profit ein.
Ausgerechnet er mahnte Edwin: »Sorge für deine Zukunft und zeige dich großzügig gegenüber Mitwissern. Treveris ist ein Teich mit dünnem Eis.«
Petronius war ein gerissener Geschäftsmann und besaß die Vormachtstellung im Hafen. Edwin folgte dem Rat und brachte sein Geld zu einem Bankier.
Der ehemalige Schmied blieb nicht der einzige Dornberger, der in Treveris Fuß fasste, denn inzwischen waren auch seine Schwester Fabala und Jugendfreund Baard eingetroffen.
Seit ihrer ersten Begegnung empfand Edwin Bewunderung für die Gemahlin seines Dienstherrn. Die schöne Römerin, die von einem Hauch Sinnlichkeit umgeben war, konnte sowohl liebenswürdig sein als auch auf überlegene Art abstrafen. Edwins Aufstieg im Gestüt geschah mit Julias Unterstützung. Sie vertraute ihm, obwohl sie ihm an Status und Bildung weit überlegen war, und hatte dem jungen Dornberger den Blick für eine andere Sichtweise der römischen Eroberung Galliens geweitet. Erst diese habe den langen Frieden unter den verfeindeten einheimischen Stämmen ermöglicht. Allerdings stellte Edwin in Belginum und auf den Pferdemärkten zunehmend fest, dass sich das Vertrauen in eine sichere Zukunft auflöste. Im April war er im Auftrag des Magistrats nach Lugdunum gereist, denn die wichtige Handelsstadt besaß wie Treveris einen Circus mit Rennbahn. Im südlichen Gallien wurde ebenfalls deutlich, wie sehr das römische Imperium aus dem Reichtum seiner eroberten Provinzen schöpfte.
Mittlerweile, nach zehn Jahren in der kaiserlichen Residenzstadt, war Edwin stolz auf das von ihm Erreichte, verlor aber das Ziel der finanziellen Unabhängigkeit nicht aus den Augen.
»Am liebsten wäre ich mein eigener Herr«, überlegte er auf dem Weg von der Therme zur Villa Armitari. Kehrte Proxius nach Italien zurück, blieben nur die dubiosen Aufträge für Petronius. Außerdem besaß Edwin einige Pferde, die sein Vater in Belginum einsetzte. Auf den rauen Höhen war ein gutes Auskommen möglich. Er könnte dort Pferde für das Militär züchten, an Reisende vermieten oder verkaufen. Aber ein solches Dasein wäre kein Vergleich zu seinem jetzigen Leben in der Kaiserstadt mit ihren großen Pferderennen. Mittlerweile gehörte Edwin zu dieser faszinierenden Gemeinschaft und genoss deren Anerkennung.
Er erreichte die Villa Armitari kurz vor der Dämmerung. Eine Dienerin geleitete ihn in einen mit Duftlampen vorbereiteten Raum. Edwin nahm Platz und betrachtete mit Herzklopfen die auf einer Anrichte stehenden Gläser, einen mit Wein gefüllten Krug sowie ein Tablett mit kalten Speisen. Auf einem Beistelltisch lag eine Schiefertafel mit den Namen einiger Fohlen. Julia sprach nicht nur mit großem Sachverstand über ihren Garten, sondern auch über die Erfordernisse des Gestüts.
Als sie bald darauf erschien, erhob er sich und verharrte in atemloser Bewunderung. Unter Julias seidener Tunika zeichneten sich ihre zierliche Taille und der wohlproportionierte Busen ab.
Sie platzierte eine schmale Vase und fragte mit strahlendem Lächeln: »Ist diese späte Rose nicht herrlich? Sie bringt uns heute Abend den Sommer zurück.«
Er trat auf sie zu. »Aber du bist die Schönste von allen.«
»Salve Baard! Dir gefällt's wohl, im Morgengrauen zu arbeiten. Im Herbst könntest du ruhig etwas länger schlafen.«
Der Begrüßte blickte erstaunt auf seinen Meister Alexandro, der soeben die Eingangshalle der Gestütsverwaltung Armitari betreten hatte. So früh zeigte sich der Inhaber der Mosaikwerkstatt nur selten. Jetzt blickte der schlanke Ägypter auf seinen besten Handwerker, der am Boden kniend mit Setzwaage, Schnur und Glättbrett hantierte. Mit einundzwanzig Jahren erinnerte Baard noch immer an einen mageren Jungen. Das herzförmige Gesicht mit der hohen Stirn und den graublauen Augen wirkte ein wenig mädchenhaft. Dieser Eindruck verstärkte sich durch die blonden, von einem Stoffband gehaltenen Haare. Baard arbeitete an einer Bordüre, deren komplizierte Muster er zuvor in die jüngste Schicht des Unterbaus geritzt hatte. Sie gehörte zu dem Auftrag, den Eingangsbereich der Halle mit einem Mosaik zu gestalten, ähnlich dem Polydusmosaik in einem Empfangsgebäude des Palastes. Darauf war der berühmte Wagenlenker mit Peitsche, Ehrenkranz und Siegespalme dargestellt. Seine vier Pferde mit verzierten Brustgurten waren lediglich angeschirrt und der in schwarzen Steinbuchstaben verewigte Name des längst verstorbenen Helden der Rennbahn erinnerte daran, dass er einst zusammen mit seinem Leithengst Compressor die Massen in den Circus gelockt hatte. Angelehnt an das von Magistrat Armitari bewunderte Kunstwerk fertigte Baard in einem Setzkasten aus Marmor das Emblema, den wertvollsten Teil eines Mosaiks. Dieses hier stellte Rufus dar, den besten Wagenlenker des Gestüts Armitari, und befand sich zurzeit auf einem Tisch in bequemer Arbeitshöhe. Nach der Fertigstellung würde Baard den Setzkasten in das Bodenmosaik einlassen.
Alexandro scherzte mit Blick auf das unvollendete Emblema: »Denk daran, Rufus‘ Leitpferd heißt Pegasos, nach dem geflügelten Hengst der griechischen Mythologie. Am liebsten sähe sich unser Auftraggeber selbst als Rennfahrer. Dann könntest du diesen mit grauen Löckchen statt mit einem Messinghelm darstellen. Vielleicht möchte auch dein Freund Edwin einmal Wagenlenker sein. Man sagt, ohne den Dornberger wäre Rufus nicht halb so erfolgreich.«
Baard freute sich, dass sein Meister guter Laune war, und meinte: »Ohne Edwin wären die Pferde der Armitaris gewiss nicht so oft unter den Siegern. Er ist ein Pferdeversteher. Niemand bereitet die Tiere besser auf die Rennen vor als er. Rufus vergöttert ihn.«
»Genau wie du, Baard. Dabei dreht sich im Renngeschäft alles um den Sieg und die Preisgelder. Handelt dieser Edwin nicht auch mit dem Kaiserpilz? Solch ein Rausch gleicht einem Besuch im Reich der Götter. Ich spreche aus Erfahrung.«
»Aber Meister, keiner von uns Sterblichen kennt das Jenseits«, lachte Baard.
Alexandro wurde unerwartet ernst: »Durch Gratians Gesetz müssen wir nun alle an den Christengott glauben, sozusagen auf kaiserlichen Befehl. Ein Wunder, dass Eponas Weihestein noch am Eingang belassen wurde. Der Magistrat steht im Blick der Öffentlichkeit und gilt zudem als Opportunist. Wir müssen umdenken und uns auf mehr christliche Motive einstellen. Mir liegt ein lukrativer Auftrag für die Bischofskirche vor. Britto schätzt unsere Kunst und weiß, dass ein Mosaik für die Ewigkeit gemacht ist, weil es nicht verwittert oder verblasst wie die Fresken. Früher finanzierten die Reichen die Bibliotheken, jetzt stiften sie Kirchen, in denen die Mosaikkunst zelebriert wird. Die Spenden an die Christengemeinden fließen, an oberster Stelle diejenigen aus der kaiserlichen Schatulle. Gratian hat die Kirche samt ihren Priestern von der Steuerpflicht befreit. Beneidenswert. Dafür müssen jetzt andere umso mehr zahlen, wir Handwerker zum Beispiel.«
Baard, der wusste, wie sehr sich Alexandro über Steuern und Abgaben entrüsten konnte, startete ein Ablenkungsmanöver.
»Freuen wir uns über neue Aufträge, Meister. Möglicherweise ist der christliche Gott ja der richtige. Wie verwundert war ich zu Beginn meiner Zeit in Treveris über die Anzahl der römischen Götter. Für mich ist Sirona am wichtigsten. Unsere keltische Heilgöttin beschützt uns zusammen mit Apollo Grannus. Noch etwas zu meinem Freund Edwin: Der Magistrat hat ihm die Leitung des Rennstalls übertragen.«
»Ich weiß. Dafür hat sich nicht zuletzt dessen verführerische Gemahlin eingesetzt.« Alexandro grinste vielsagend, als er hinzufügte: »Dein Freund ist tatsächlich zu beneiden.«
»Edwin ist in Ordnung«, verteidigte ihn Baard. »Schließlich habe ich die Arbeit in Eurer Werkstatt durch seine Fürsprache erhalten. Sonst wäre ich ein Köhler geblieben, ein rußiger Waldschwarzer.«
Er erhob sich vom Boden, um seinen Körper zu dehnen, als sein Meister ihm zufrieden auf die Schulter klopfte.
»Ich bin froh, in dir einen so talentierten Handwerker gefunden zu haben. Bald wirst du dank meiner Unterweisungen und deiner Ausdauer zum Meister ernannt gemäß dem Wahlspruch ›Genie ist stetes Streben‹. Deine Ideen in unseren Musterbüchern überzeugen. Hoffentlich untersagen die neuen Religionsgesetze nicht die Darstellungen der alten Götterwelt samt ihren reizenden Musentöchtern. Welcher Kunde will nur fromme Motive sehen? Man entscheidet sich immer öfter für unverfängliche Obstschalen und niedliche Täubchen. Dabei zeigt erst die Gestaltung von Gesicht und Körper das wahre Können.«
»Ihr habt recht, Meister, und das Schönste ist ein lächelndes Mädchen«, bestätigte Baard, bevor sich Alexandro verabschiedete.
Bei seiner Bemerkung hatte Baard Ada vor Augen, die im Hause des Präfekten lebte, so nahe und doch ein ferner Traum. Seit Baards Kindertagen in Dornberg war sie sein Idealbild. Begegnete er ihr auf dem Forum oder bei Fabala, fand Ada stets ein paar freundliche Worte. Dann spürte Baard eine Glutwelle der Verlegenheit und Ada senkte den Blick, damit er nicht ins Stottern geriet.
Der Köhlerjunge hatte sich ein Leben in Treveris nicht vorstellen können, wenn man in Dornberg von der Stadt berichtete. Als Baards Vater starb, besorgte Edwin seinem kaum dreizehnjährigen Freund aus der gemeinsamen Kinderzeit eine Hilfsarbeit in Alexandros Werkstatt einschließlich einer täglichen Mahlzeit und Strohsack. Von da an war der schmächtige Junge frühmorgens auf der Baustelle. Zunächst kümmerte er sich um die Bereitstellung von Material, damit die Handwerker zügig beginnen konnten. Ein Glück, dass Alexandro ihn förderte und gelegentlich eine der kostenlosen Lateinschulen besuchen ließ. Am höchsten schätzte Baard den Zeichenunterricht. Bereits im Wald hatte er Muster und Figuren auf Schiefersteine gemalt. Nun entstanden Schleifen und Knoten aus Marmor, Granit, Porphyr oder Glas. Ihnen folgten Gegenstände und Tiere, zu guter Letzt die Disziplin der menschlichen Abbildung.
Das Morgenlicht war heller geworden und Baard wechselte zu seinem Arbeitstisch.
»Eines Tages wird mir ein Mädchen gelingen, das die Menschen zum Träumen bringt«, sagte er leise zu sich selbst.
***
Alexandro erreichte den Brunnen des Gestüts Armitari und trank das mineralische Wasser. Danach benetzte er sein Gesicht und hielt es in die Herbstluft. Erste Sonnenstrahlen lösten den Hochnebel auf. Bald würden zwei Helfer eintreffen und die großen musterarmen Flächen fügen, während sein Meisterschüler bei bestem Licht am Bildnis des Rennfahrers arbeitete. Am Ende würde Baard die Darstellung mit einem eigens entworfenen Rahmen schmücken: ein rotes Schlingenmuster um Palmzweige als Zeichen des Sieges. Den wertvollen rötlichen Marmor bezog Alexandro von der Laugona.
»Mein Geselle brennt für die Mosaikkunst. Diese Flamme will genährt sein«, dachte er, unzufrieden mit sich selbst.
Zwar besaß er die Routine eines erfahrenen Meisters, aber das flatterhafte Leben störte seine Inspiration. Alexandro wusste um die Anziehungskraft seiner dunklen Samtstimme und seiner feurigen Augen. Sein Einfühlungsvermögen und sein kultiviertes Benehmen machten ihn zu einem Liebling der Frauen, doch bisher war eine feste Bindung an Alexandros Freiheitsliebe gescheitert.
»Eine Frau nimmt dir die Unabhängigkeit und bürdet dir Haus und Kinder auf. Das freie Leben wäre vorbei.«
So oder ähnlich argumentierte er unter dem Beifall seiner Freunde, selbst wenn diese ihr Familienleben hochschätzten. Niemals hätte Alexandro eingestanden, dass er ein behagliches Zuhause vermisste.
Der Mosaikmeister stammte aus einer angesehenen Familie im römischen Alexandria und war stolz auf seine blühende Heimatstadt, die Alexander der Große vor siebenhundert Jahren gegründet hatte. Väterlicherseits besaß der Ägypter sowohl griechische als auch jüdische Vorfahren. Nach Abschluss der Schule absolvierte er eine Ausbildung zum Freskomaler und Mosaikgestalter. Neugierig auf fremde Handwerkskunst reiste er mit Wandmalern und Mosaizisten nach Ravenna und Aquileia, Mediolanum und Lutetia. Die Steinkunst faszinierte ihn so sehr, dass er begann, die von ihm entworfenen Motive selbst zu fügen. Schließlich erreichte er Treveris, wo vermögende Bürger und christliche Kirchen lukrative Aufträge vergaben.
Des Umherziehens müde, ignorierte er den Gedanken an eine Rückkehr in die südliche Heimat, zumal die Kaiserstadt viele Annehmlichkeiten bot. Obwohl die Aufträge nach Musterbüchern erteilt wurden, bestand seitens der Kunden Interesse an frischen Ideen. Alexandro wurde zum Meister ernannt und gründete seine Werkstatt. Die Geschäftsbücher überließ er einem steuerkundigen Buchhalter, so dass nach Abzug von Materialkosten und Löhnen ein ansehnlicher Gewinn verblieb.
Lange Zeit hielt sich Alexandro für einen Liebling der Götter, bis sich eine diffuse Unzufriedenheit einstellte. Jetzt nahm er sich vor, ihr auf den Grund zu gehen. Als er den Brunnen verließ, summte er eine Melodie.
Seit zwei Jahren hatte Fabala ihr Heimatdorf nicht mehr besucht. Dornberg fehlte ihr. Dennoch dachte sie nicht einmal im Traum an eine Rückkehr. Im Februar war sie zum zweiten Mal Mutter geworden und gönnte sich selbst nach der Geburt keine Ruhe. Jetzt, im Oktober, wurde die neue Ernte gekeltert. Um Platz zu schaffen, war der größte Teil des ausgereiften Weines mit einem Fuhrwerk zu Kunden oder zu den Anlegestellen der Weinschiffe gebracht worden. Sie hatte ihren Mann Siretos davon überzeugt, die Steingutamphoren durch Eichen- und Kastanienfässer zu ersetzen. Diese wurden von Küfern in den Walddörfern hergestellt und verfügten über so viel Volumen, dass zwei Männer gerade noch eines tragen konnten. In ihnen reifte der Wein langsamer und entwickelte mehr Alkohol, was ihn deutlich haltbarer machte. Während Siretos sich in den Tabernae aufhielt, beaufsichtigte Fabala die Arbeiten und war froh, fleißige Helfer zu haben. Fast alle würden vor Wintereinbruch in ihre Dörfer zurückkehren.
Siretos war erst kurz vor Pettias Geburt bereit gewesen, Fabala zu heiraten, obwohl er bereits der Vater ihres vierjährigen Sohnes Pentoris war. Der verwitwete Winzer dachte lieber die Ehe mit einer vermögenden Frau an, um eine weitere Steillage erwerben zu können. Erst als Fabalas Bruder Edwin ihn unter Druck setzte, gab Siretos nach, nicht zuletzt, weil er auf die Geburt eines weiteren Sohnes hoffte.
Vor sechs Jahren war das hübsche Mädchen aus Dornberg als Küchenhilfe auf den Winzerhof gekommen. Siretos stellte ihr ebenso nach wie seinen übrigen Mägden, entwickelte aber bald eine Vorliebe für Fabalas zupackende und heitere Art. Ihr wiederum gefiel eine gewisse Gutmütigkeit, die er an den Tag legen
