Pflaumenregen - Stephan Thome - E-Book

Pflaumenregen E-Book

Stephan Thome

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Beschreibung

Pflaumenregen entfaltet ein historisches Panorama, in dessen Zentrum eine familiäre Tragödie steht. Stephan Thomes berührender Roman ist eine Liebeserklärung an seine Wahlheimat Taiwan und den zähen Überlebenswillen ihrer Bewohner.

Taiwan in den 1940er Jahren, am Ende der japanischen Kolonialzeit. Während der Pazifische Krieg unaufhaltsam näher rückt, wächst die achtjährige Umeko behütet in einer Kleinstadt im Norden der Insel auf. Sie ist stolz auf ihr gutes Japanisch und himmelt ihren älteren Bruder an, den Star des örtlichen Baseballteams. Als die Armee jedoch am Ortsrand ein Lager für ausländische Kriegsgefangene einrichtet, gerät ihr Leben in einen Strudel aus Schuld und Verbrechen, der die Familie siebzig Jahre später immer noch gefangen hält.

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Seitenzahl: 696

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Cover

Titel

Stephan Thome

Pflaumenregen

Roman

Suhrkamp

Impressum

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Der Autor dankt dem Deutschen Literaturfonds e. V. für die großzügige Unterstützung der Arbeit an diesem Buch.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2021

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2021.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2021Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Chingx20/Shutterstock

eISBN 978-3-518-76957-7

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Jo-chiao (若喬)

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

In den Jahren 1894/95

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Die Namen der Hauptpersonen

Glossar

Karten

Abbildungsnachweis

Informationen zum Buch

Pflaumenregen

In den Jahren 1894/95

In den Jahren 1894/95 führten das chinesische und das japanische Kaiserreich einen Krieg, der die Kräfteverhältnisse in Ostasien von Grund auf neu ordnete. China verlor und musste seine Provinz Taiwan als Kolonie an den Sieger abtreten. Zunächst lebten die Inselbewohner in einer Art Apartheid avant la lettre, aber mit der Zeit entstand eine einheimische Mittelschicht, die sich in ihren Lebensgewohnheiten kaum von den Kolonialherren unterschied, obwohl sie diesen niemals gleichgestellt war. Nach dem Ausbruch des Pazifischen Kriegs wurde die Tendenz zur Assimilierung vonseiten Japans noch verstärkt. Viele junge Taiwaner, insbesondere Angehörige der indigenen Bevölkerung, kamen als japanische Soldaten ums Leben. 1945 fiel Taiwan zurück an die chinesischen Nationalisten (Kuomintang oder KMT) unter Generalissimus Chiang Kaishek. Diese hatten acht Jahre lang gegen Japan gekämpft und reagierten mit Abscheu auf die japanisierte Lebensweise ihrer vermeintlichen Landsleute. Umgekehrt führte ihr aggressives Auftreten zu Widerstand, der sich im Frühjahr 1947 gewaltsam entlud und anschließend grausam niedergeschlagen wurde: durch willkürliche Verhaftungen und Exekutionen, die als ›März-Massaker‹, später mit dem Kürzel 228 (für 28.Februar, den Beginn der Unruhen) bezeichnet wurden. Nach der Niederlage gegen Chinas Kommunisten zog sich die KMT 1949 ganz nach Taiwan zurück und verwandelte die Insel in einen autoritären Polizeistaat. Das Kriegsrecht wurde erst 1987 aufgehoben, 1996 fanden erstmals freie Präsidentschaftswahlen statt. Heute ist Taiwan eine ebenso lebendige wie gefährdete Demokratie, denn das Regime in Peking betrachtet die Insel – die nie zur Volksrepublik gehört hat – als Teil seines Staatsgebiets und strebt eine notfalls gewaltsame Vereinigung an. In Taiwan will das so gut wie niemand.

雨夜花

雨夜花 雨夜花 受風雨吹落地

無人看見每日怨嗟 花謝落土不再回

雨無情 雨無情 無想阮的前程

並無看顧軟弱心性 乎阮前途失光明

作詞:周添旺

作曲:鄧雨賢

Blüte der Regennacht

Blüte der Regennacht, Blüte der Regennacht!

Von Wind und Wasser zu Boden geweht

weint sie dort, wo niemand es sieht

liegt sie da, für immer verblüht

Fühlloser Regen, fühlloser Regen!

Was kümmert es dich, wer sich darin verirrt

du kannst nicht sehen, was mein Herz verwirrt

so treibe ich dunklen Tagen entgegen

Taiwanischer Schlager von 1934

Text: Chou T’ien-wang

Musik: Teng Yü-hsian

1

Sie rannte so schnell, dass die Welt vor ihren Augen verschwamm. Den Hügel hinab, die schmale Gasse zwischen den Wohnheimen entlang und vorbei an Menschen, die ihr nachriefen, sie solle vorsichtig sein. »Umeko-chan, du wirst hinfallen, wenn du so rennst!« Ihre Zöpfe lösten sich von den Schultern und flatterten hinter ihr her, klack-klack-klack machten die Holzsandalen auf dem festgetretenen Boden. Weder ihr Schuhwerk noch das Kleid eigneten sich zum Rennen, aber unten bei der Schule hörte sie bereits das gespannte Raunen der Zuschauer, die dem Spielbeginn entgegenfieberten. Warum war sie nicht früher aufgebrochen? In letzter Minute hatte sie beschlossen, oben beim Schrein für den Sieg zu beten, jetzt erreichte sie den planierten Weg vor der Mine und bog nach links ab. Neben dem Grundstück von Direktor Yamashita führte eine Treppe hinab in den Ort.

Kurz verlangsamte sie den Schritt. Hoher Bambus versperrte den Blick auf das Haus, das größte und schönste in ganz Kinkaseki – wenn man vom Chalet des Kronprinzen absah, das aber nicht zählte, weil niemand darin wohnte. Einmal hatte ihr Vater sie mitgenommen, als er dem Direktor nach Feierabend ein wichtiges Schriftstück bringen musste. Drinnen duftete es nach Hinoki, auf der Talseite erstreckte sich ein gepflegter Garten mit weißen Kieswegen und einem Teich voller Goldfische. Mit dem Automobil, das wie immer vor dem Haupteingang parkte, wurden Herr Yamashita und seine Frau zum Bahnhof von Zuihō gefahren, wenn sie übers Wochenende verreisten, oder die Frau ließ sich nach Kyūfun bringen, um einzukaufen. Nie sah man den schweigsamen Chauffeur ohne seine Uniform und die weißen Handschuhe.

»Umeko-chan!«

Vorsichtig, um in der Eile nicht zu stolpern oder auf eine Schnecke zu treten, hatte sie die ersten Treppenstufen genommen. Hier und da war der Boden noch feucht vom letzten Regen. Jetzt blieb sie stehen, hob den Blick und erkannte hinter dem Zaun die elegante Erscheinung von Frau Yamashita. In der linken Hand hielt sie einen Sonnenschirm aus hellem Papier und deutete mit der rechten ein Winken an.

»Frau Direktorin Yamashita … Guten Tag!« Als Umeko sich verbeugte, spürte sie, wie sehr sie außer Atem geraten war. Für einen Moment wurde ihr schwindlig.

»So schnell unterwegs, du wirst noch hinfallen«, sagte die Frau des Direktors lächelnd. In ihrem pflaumenblauen Kimono und dem mit Kamelienblüten bestickten Obi wirkte sie so graziös und vornehm wie immer. Wie eine Hofdame im alten Kyōto, dachte Umeko.

»Es ist wegen … des Spiels«, brachte sie mit Mühe hervor. »Wir gegen die Mittelschule aus Kīrun. Wenn wir gewinnen …« Je ruhiger sie zu sprechen versuchte, desto atemloser wurde sie, außerdem fiel ihr ein, dass es unhöflich war, so draufloszuplappern wie zu Hause. »Oniisan ist der erste Pitcher«, fügte sie nur noch hinzu, um ihre Aufregung zu erklären.

Vom Schulgelände drang eine neue Runde Applaus den Hang herauf. Entweder wurde die Aufstellung angesagt, oder es ging bereits los.

Falls sie verstimmt war, ließ sich die Frau des Direktors nichts anmerken. Das weiche Licht des Frühlings, das durch die Bambusblätter fiel, betonte ihre blasse Haut und die feinen Gesichtszüge. Ihre Familie stammte tatsächlich aus Kyōto, wurde im Ort erzählt, und hatte einen Stammbaum, der viele Jahrhunderte zurückreichte. »Sein Fastball soll kaum zu treffen sein, habe ich gehört«, antwortete sie zu Umekos Überraschung. Dass sich Frau Yamashita für Baseball interessierte, hätte sie nicht gedacht. Wurde im Haus des Direktors etwa über die Schulmannschaft und die Wurfkünste ihres Bruders gesprochen?

»Wenn er heute gut spielt«, platzte sie heraus, »kann er im nächsten Jahr vielleicht auf die japanische Handelsschule in Taihoku gehen und eines Tages am Kōshien Cup teilnehmen.«

»Tatsächlich, ja? Du musst sehr stolz auf ihn sein.« Im Umgang mit Kindern war Frau Yamashita ebenso höflich wie zu ihresgleichen – wobei es ihresgleichen in Kinkaseki natürlich nicht gab. Die örtliche Goldmine gehörte der Nippon Bergbau GmbH und war die größte in ganz Asien. Ohne die Japaner, sagte ihr Vater, würden hier ein paar Abenteurer mit bloßen Händen nach Gold graben, so wie früher, stattdessen hatte der Ort ein eigenes Krankenhaus, ein Kino und zwei Schulen. Im Übrigen war kürzlich ein Zeitungsartikel über Keiji erschienen, weil er ein komplettes Match absolviert hatte, ohne einen Punkt abzugeben, vielleicht wusste Frau Yamashita deshalb Bescheid. Sein Fastball kommt schnell wie der Blitz, hatte dort gestanden, und trifft den Handschuh des Catchers wie der Frühjahrsdonner. Einen Moment lang spürte Umeko den wohlwollenden Blick, der auf ihr ruhte, und vergaß darüber, dass sie es eilig hatte. Im Garten blühten bereits Blauregen und Orchideen, große schwarze Schmetterlinge flatterten umher. Noch einmal hob die Frau des Direktors die Hand: »Dann wollen wir hoffen, dass wir heute gewinnen, nicht wahr? Sei du trotzdem vorsichtig, der Boden ist immer noch rutschig. Was für ein schönes Kleid du trägst, pass gut darauf auf.«

»Vielen Dank, Frau Direktorin Yamashita!«, rief Umeko und verbeugte sich. »Einen schönen Tag noch!« Bis zur Mitte der Treppe schaffte sie es, so damenhaft zu gehen, wie ihr Aufzug es verlangte – das Kleid hatte ihre Mutter selbst genäht –, dann ballte sie die Hände zur Faust und rannte erneut los. Hinter dem Kino kam ein kleiner Ausschnitt des Meeres in Sicht, das sich glatt wie Glas bis zum Horizont erstreckte. Weit draußen ging ein Schauer nieder, aber über den Hügeln waren die Wolken schneeweiß und standen ungewöhnlich still am Himmel, so als wollten auch sie das Spektakel verfolgen, das sich auf dem Sportplatz neben dem Goldglück-Tempel abspielte. Das Endspiel um die Meisterschaft der nördlichen Schulbezirke.

Nie zuvor war die Mittelschule von Kinkaseki so weit gekommen.

Normalerweise machten japanische Teams aus Kīrun und Taihoku den Sieg im Norden unter sich aus. Schulen mit großen Einzugsgebieten, wo die Söhne hoher Beamter und reicher Geschäftsleute daran gewöhnt waren, unter besten Bedingungen zu trainieren. In den letzten Jahren hatte meistens die Handelsschule Taihoku gewonnen, aber vor dieser Saison waren zwei wichtige Spieler zurück nach Japan gezogen, hatte Keiji erzählt und hinzugefügt: Das ist unsere Chance. Kinkaseki verfügte nicht einmal über ein richtiges Baseballfeld, das Team der Minengesellschaft absolvierte seine Spiele in Zuihō, und die heutige Partie hätte eigentlich auf dem Hof der Mittelschule stattfinden sollen, aber der stand nach dem Frühjahrsregen noch unter Wasser. Der Sportplatz beim Goldglück-Tempel, den Umeko in diesem Moment erreichte, gehörte zur Grundschule, die sie besuchte, und auch hier gab es tiefe Pfützen. Von weitem sah es aus, als lägen überall Spiegel auf dem Boden.

Mit klopfendem Herzen drängte sie sich durch die Menge. Sämtliche Schüler und Lehrer waren erschienen, auch einige Eltern und sogar Anwohner, die mit der Schule nichts zu tun hatten. Alle wollten dabei sein, wenn ihr Bruder den Gegner mit seinen Würfen zur Verzweiflung brachte. »Sumimasen«, rief sie und kämpfte sich voran, so gut es ging. Wäre sie unterwegs nicht aufgehalten worden, hätte sie rechtzeitig zum ersten Pitch die Stelle erreicht, wo sie mit Reiko verabredet war. Schon hörte sie das satte Klatschen, mit dem der Ball im Handschuh des Fängers landete, und hätte allen, die ihr die Sicht versperrten, am liebsten in den Hintern getreten. Applaus kam auf, jemand rief Keijis Namen. Noch ein paar Meter. Sie musste aufpassen, dass ihr Kleid nicht schmutzig wurde, und Ausschau nach ihrer Freundin halten, und falls sie einem Lehrer begegnete, durfte sie nicht vergessen, zu grüßen. Über den Köpfen erhoben sich die grün bewachsenen Hügel, die den Ort nach drei Seiten umgaben wie die Tribünen eines Stadions. Auf halber Höhe, wo bereits der nackte Fels durchbrach, thronte das rot bemalte Torii des Schreins – dort war sie vor wenigen Minuten losgelaufen; kein Wunder, dass sie jetzt nach Luft schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen.

»Umeko-chan!« Diesmal war es Reiko, die aus der Menge heraus nach ihr rief. Erleichtert hob sie die Hand und winkte, wenig später stand sie neben ihrer Freundin und konnte endlich das Spielfeld überblicken. Einigermaßen jedenfalls. So viele Leute hatte sie noch nie auf dem Sportplatz gesehen. Da kein Zaun das Spielfeld eingrenzte, hatte der Schulleiter Seile spannen lassen, um die Zuschauer zurückzuhalten.

»Was habe ich verpasst?«, fragte sie keuchend.

»Wo bist du bloß gewesen?«

Statt zu antworten, reckte sie den Hals. Aufrecht wie ein Soldat stand Keiji auf der Position des Pitchers, seine Miene verriet höchste Konzentration. Den Fanghandschuh, den er sich vor jedem Wurf an die Brust hielt, hatte Vater ihm als Belohnung für seine guten Noten geschenkt. Ein Mizuno-Handschuh aus echtem Leder! Im nächsten Moment schob er den Kopf vor, um zu erkennen, was ihm der Catcher anzeigte. »Es ist der erste, ja?«, fragte sie heiser. »Der erste Schlagmann. Ich kann die Tafel nicht sehen.«

»Den ersten hat er mit drei Bällen nach Hause geschickt«, gab Reiko zurück. »Zack, zack, zack.«

»Oh, verstehe. Er hat’s mal wieder eilig.«

»Sag endlich, wo du gewesen bist!«

»Hab eine Münze rauf zum Schrein gebracht.« Kurz sahen sie einander an, und Reiko gab ihr einen Knuff in die Seite. Ihre Freundin hätte auch gern einen älteren Bruder gehabt, den die ganze Schule bewunderte, aber sie hatte nur jüngere Geschwister, und davon ziemlich viele. Zu neunt wohnte ihre Familie in einem winzigen Haus zwischen den Bahnschienen und dem Meer, darum gingen sie beide morgens nicht gemeinsam zur Schule, sondern trafen sich auf dem Hof und verabschiedeten sich nach dem Unterricht am großen Tor, das dem Sportplatz gegenüberlag. Beste Freundinnen waren sie trotzdem.

Keijis nächster Wurf wurde Aus gegeben. Danach zielte er zwar noch einmal zu hoch, aber diesmal mit Absicht, und die ging auf: Der gegnerische Schlagmann ließ sich locken und drosch ein schönes Loch in die Luft. »Brav«, murmelte Umeko vor sich hin. Wo ihr Bruder stand, bildete das großzügig ausgestreute Sägemehl einen Abwurfhügel, so wie sie es von Fotos der Profis kannte. Erneut hielt er sich den Handschuh an die Brust und nickte dem Fänger zu. Inzwischen hatte sie ihm oft genug zugeschaut, um seinen Fastball noch vor dem Abwurf zu erkennen. Der Schlagmann stand auf den Zehenspitzen und schien vor Konzentration zu vibrieren, aber wie an der Schnur gezogen, sauste der Ball an ihm vorbei in den Handschuh des Catchers. Ein Raunen ging durch die Menge. »Strike-out Nummer zwei«, sagte Reiko zufrieden, und Umeko konnte sich nicht länger beherrschen.

»Oniisan, ganbatte kudasai!«, schrie sie aus Leibeskräften. Einige ältere Schüler drehten sich lachend nach ihr um, und sie wurde augenblicklich rot, aber es fühlte sich trotzdem gut an. In der hölzernen Box neben Keijis Bett, seiner Schatzkiste, lag ein abgegriffenes Foto des Kōshien-Stadions in der Nähe von Ōsaka, wo die nationale Schülermeisterschaft ausgetragen wurde. Mehr als fünfzigtausend Zuschauer fasste es, und sogar hier auf der Insel kamen alle Spiele live im Radio. Um sich seinen Traum zu erfüllen, müsste ihr Bruder allerdings auf eine weiterführende Schule in der Hauptstadt wechseln und mit ihr Meister von ganz Taiwan werden – leider durfte aus den Kolonien jedes Jahr nur ein Team teilnehmen.

Der nächste Schlagmann sah ängstlich aus, als er den Platz betrat, und wenig später war das erste Halb-Inning beendet. Applaus begleitete ihren Bruder, der mit gemessenen Schritten das Feld verließ. Drei rauf, drei runter, nannte man das. Umeko kam es vor, als könnte sie zum ersten Mal an diesem Nachmittag richtig durchatmen.

Auf der Höhe der dritten Base hatte man aus Holzstangen und weißem Stoff einen Unterstand für die Lehrkräfte gebaut. Sie erkannte Lehrerin Honda, die sich mit den Kollegen unterhielt, und wäre am liebsten hingelaufen, um ihrer Klassenlehrerin Guten Tag zu sagen. Von ihr hatte sie sich abgeschaut, wie man beim Lachen die Hand vor den Mund hielt, mit vier Fingern und etwas Abstand zu den Lippen. Sehr damenhaft sah das aus, bloß vergaß sie es meistens, wenn sie plötzlich losprusten musste.

Schon kehrten beide Mannschaften zurück auf den Platz.

Wie erwartet, entwickelte sich eine ausgeglichene, spannende Partie. Auch der Pitcher des gegnerischen Teams warf einen kraftvollen Fastball, und es dauerte bis zum dritten Inning, ehe Kinkaseki der erste Treffer gelang. Ein Schlag die Linie entlang, der den Läufer zur zweiten Base brachte. Das Publikum jubelte wie über einen Punktgewinn, aber gleich beim nächsten Ball machte der Gegner die Hoffnung zunichte, indem er zwei Läufer auf einmal erledigte – Doppelmord. In ihren blauen Trikots, auf denen sogar der Name stand, sahen die Spieler aus Kīrun ziemlich selbstbewusst aus. Im vierten Inning musste Keiji den ersten Treffer hinnehmen, und weil sie in der Abwehr einen Fehler machten, kam der Gegner sogar bis zur dritten Base. Umeko und Reiko hielten einander so fest an den Händen, dass es wehtat. Länger als sonst verharrte ihr Bruder auf der Stelle, dann nahm er sein Schweißtuch vom Gürtel, wischte sich über die Stirn und steckte es wieder ein. Das Tuch hatte ihre Mutter mit seinem Namen und dem Zeichen für ›Sieg‹ bestickt. Als er dem Catcher zunickte, ahnten alle, was kommen würde, und hielten gespannt die Luft an. Der Läufer an der dritten Base sah aus wie ein Jagdhund, der an der Leine zerrt, aber er bekam keine Gelegenheit, loszustürmen. Blitz, Donner, Jubel. Mit drei makellosen Fastballs hintereinander wehrte Keiji die Gefahr ab.

Als ihre Freundin in der anschließenden Pause aufs Klo wollte, schüttelte Umeko den Kopf. Beim Unterstand für die Lehrer sah sie mehrere fremde Männer und beschloss, dass Trainer aus Taihoku gekommen waren, um ihren Bruder zu beobachten. Ihre Eltern mochten die Vorstellung nicht, ihn in die Hauptstadt gehen zu lassen, aber falls sich die Chance ergab, würden sie nicht nein sagen. Dass es offiziell nur noch Nationalschulen gab, änderte nichts an den Unterschieden, hatte Keiji gesagt. In japanischen Lehranstalten waren die Wände weiß getüncht, und nie drängten sich dort vierzig Schüler in ein Klassenzimmer, so wie hier. Ihr größter Wunsch, den sie Lehrerin Honda neulich anvertraut hatte, war es, in einigen Jahren die japanische Mädchenschule in Zuihō zu besuchen.

Ganbatte ne, hatte ihre Lehrerin erwidert. Auch wenn sie lächelte, blieb ein feuchter Glanz in ihren Augen, als hätte sie eben eine traurige Nachricht erhalten. Jedes Mal, wenn Umeko mit ihr sprach, drängte es sie, diese hellen, schlanken Hände zu berühren. Lehrerin Honda trug keine eleganten Kimonos wie die Frau des Direktors, sondern westliche Kleidung, und da sie aus Fukuoka stammte, konnte man sie dem Zungenschlag nach für eine Einheimische halten, aber schöner als sie waren die Frauen im Kino auch nicht. Wenn sie einkaufen ging, wurde hinter ihr aufgeregt getuschelt, hatte Mutter erzählt. Niemand konnte sich erklären, warum eine junge Frau wie sie an der Grundschule von Kinkaseki unterrichtete. Manche Leute behaupteten, ihr Mann sei in China gefallen, obwohl die Lehrerin für eine Witwe viel zu jung war.

Als lautes Klatschen sie aus ihren Gedanken riss, kamen Umeko die Schatten auf dem Spielfeld plötzlich länger vor. Im fünften und vorletzten Inning stand es immer noch null zu null, aber gerade erreichte ein Läufer die zweite Base, deshalb der tosende Applaus. Dass dem nächsten Schlagmann ein Single gelang, steigerte den Jubel bis zum Orkan. ›Fujita‹ stand auf dem Trikot des gegnerischen Pitchers, der bange Blicke zu seinem Trainer schickte. Ging ihm allmählich die Kraft aus? Begeistert stimmte Umeko in die rhythmische Anfeuerung der Menge ein. Auf zwei Schultafeln wurde das Spielgeschehen protokolliert, in der Rubrik ›Out‹ prangte eine runde Null: Noch war kein Schlagmann ausgeschieden, und mit Läufern auf der ersten und der dritten Base lag ein Punktgewinn förmlich in der Luft. Jetzt oder nie, dachte sie.

Auch die Spieler neben dem Feld hielt es nicht mehr auf ihrer Bank. Mit einem dicken Handtuch um Schulter und Wurfarm stand Keiji bei seinen Mannschaftskameraden, und Reiko fragte erschrocken, ob er sich verletzt habe. Die Gute nahm zwar lebhaften Anteil am Spielgeschehen, aber dass sie sich auskannte, konnte man nicht behaupten. »Er muss nur den Arm warmhalten«, beruhigte Umeko sie. »Genauer gesagt, seine Muskulatur.«

Kinkasekis nächster Schlagmann war der Sohn eines Minenarbeiters und spielte barfuß. Statt auf die richtige Gelegenheit zu lauern, zog er jedes Mal voll durch und jagte auch Bällen hinterher, die der Schiedsrichter Aus gegeben hätte. Missbilligend schnalzte Umeko mit der Zunge. Als sie sah, dass Keiji sich das Handtuch abnahm und zum dritten Mal an diesem Nachmittag zum Schläger griff, machte ihr Herz einen Sprung. Bisher war ihm kein Treffer gelungen, trotzdem kam im Publikum erwartungsvolles Gemurmel auf. Jemand rief auf Taiwanisch: »Los geht’s! Zeigt es den arroganten Japsen!« Hier und da wurde gelacht, aber die Lehrer reagierten nicht, stellte Umeko fest, sondern tranken ungerührt ihren Tee. Irgendwer benahm sich immer daneben. Der nächste Ball rutschte dem Pitcher aus der Hand, dann fing er sich wieder und schickte Keijis Mannschaftskamerad mit zwei präzisen Würfen vom Feld.

»Oh Mann«, jammerte Reiko. »Ich muss wirklich dringend.«

Umeko hatte von Kopf bis Fuß jeden Muskel angespannt und spürte nichts. »Geh ruhig«, sagte sie, »mich kriegt niemand von hier weg.« Wahrscheinlich würde sie am Abend Fieber oder Nasenbluten bekommen, aber es war ihr egal.

Als ihr Bruder den Platz betrat, war ihm keine Nervosität anzumerken. Kurz verbeugte er sich vor dem Schiedsrichter, kickte ein Steinchen zur Seite und ging in Position. Das vordere Knie leicht gebeugt, federte er vor und zurück. Für ein paar Sekunden sahen Fujita und er einander herausfordernd an, ohne sich zu rühren, nur das Ende von Keijis Schläger beschrieb kleine Kreise in der Luft. Umeko spürte das Knirschen ihrer Zähne. Als der Ball die Hand des Pitchers verließ, hielt sie die Luft an. Ihr Bruder zuckte, schlug aber nicht, mit einem hohlen Plopp landete der Wurf im Handschuh des Fängers. Eine Sekunde wartete sie, ob der Schiedsrichter einen Strike anzeigte – erst als das nicht geschah, atmete sie wieder aus.

Die Zuschauer applaudierten. »Gutes Auge«, meinte jemand. Je länger das Spiel dauerte, desto schwieriger wurde es für den Pitcher, der in die tiefstehende Sonne schauen musste. Auf den Hängen über der Schule versanken die Häuser im Schatten. Wenn sie um diese Zeit oben am Schrein saß und aufs Meer hinausblickte, dachte sie jedes Mal, dass es auf der ganzen Welt keinen schöneren Ort gab als Kinkaseki. Der zweite Wurf kam, Keiji zog durch und erwischte den Ball mit der Oberseite des Schlägers – von wo er ins Aus sprang. Beinahe hätte sich Umeko in die Hand gebissen. Vor ihrem inneren Auge erschien die Münze, die sie oben am Schrein abgelegt hatte. »Bitte, bitte, bitte«, flüsterte sie.

Zu ihrem Entsetzen schlug Keiji am nächsten Ball vorbei. Der Pitcher ballte die Faust, ihr Bruder fing den Schwung des eigenen Schlags ab, bleckte die Zähne und schüttelte den Kopf. Als sie zum Unterstand schaute, erkannte Umeko, dass Lehrerin Honda die Hände vor dem Mund zusammengelegt hatte, als betete sie.

»Wenn er noch mal danebenkloppt, ist er raus«, unkte ihre Freundin, obwohl es Unglück brachte. Reikos Vater arbeitete als Wachmann in der Kupfermine am Teekannenberg, und ihrem Japanisch hörte man an, dass sie es außerhalb der Schule kaum benutzte.

»Wird er nicht, wenn du es nicht beschreist«, erwiderte Umeko streng.

Erneut nahmen die beiden Kontrahenten Position ein. Über das Gesicht des Gegners glitt ein siegesgewisses Lächeln, Keijis war zur Maske erstarrt. Wieder beschrieb das Ende seines Schlägers kleine Kreise in der Luft. Ein letztes Mal atmete der Pitcher tief ein, dann holte er aus, und Umeko wunderte sich, dass sie die Flugbahn des Balles diesmal besser erkannte als zuvor. Mit einem satten Klong traf Leder auf Holz. Es war kein Volltreffer, von der Unterseite des Schlägers prallte der Ball auf den Boden, sprang hoch und flog über die hastig ausgestreckte Fanghand des Pitchers hinweg. Keiji warf den Schläger zur Seite und rannte los. Alle Mitspieler und Zuschauer schrien wild durcheinander, auf einmal zitterte der Boden wie bei einem Erdbeben. Die beiden anderen Läufer waren bereits unterwegs, und Umeko wusste kaum, wohin sie schauen sollte. Vor ihr sprangen die Leute unkontrolliert auf und ab. Zur entscheidenden Verzögerung kam es, weil sich zwei Feldspieler gegenseitig behinderten. Schon erreichte der erste Läufer die Homebase, und der zweite war Ah-hao, der schnellste Sprinter der ganzen Schule. Die Zuschauer am Spielfeldrand wedelten mit den Armen, um ihm anzuzeigen, dass er weiterlaufen sollte. Umeko schlug ihrer Freundin auf den Rücken und schrie. An der Bewegung des Catchers erkannte sie, dass der Wurf aus der Abwehr ungenau war: Um ihn zu fangen, musste er einen Ausfallschritt nach rechts machen, der linke Fuß verlor den Kontakt zur Base, und im selben Moment warf sich Ah-hao nach vorn, rutschte über den Boden und schlug mit der Hand an.

Der Schiedsrichter breitete die Arme zur Seite: Safe!

Von der Spielerbank flogen Mützen in die Luft. Zwei zu null für Kinkaseki! Umeko sprang auf und ab, als wäre sie selbst ein Ball. Wie ein aufgewühltes Meer wogte die Menge hin und her, und dass Keiji mit gereckter Faust an der zweiten Base stand, merkte sie erst, als sie innehielt, um Luft zu holen.

»Warum hat der Pitcher so lahm geworfen?«, fragte Reiko fassungslos.

»Lahm?«, rief sie lachend. In der sinkenden Sonne begann der Sportplatz bernsteinfarben zu leuchten. »Das sollte ein Curveball werden, meine Liebe.« Auch beim Unterstand der Lehrer waren alle aufgesprungen und klatschten. »Ja, ja, ja, ein Curveball«, schrie sie wie von Sinnen, »bloß hat er nicht genug Senf dazugegeben.« Den Spruch kannte sie erst seit kurzem und fand ihn ziemlich schneidig. Wild gestikulierend versuchte Coach Ōta, seinen Spielern klarzumachen, dass die Partie noch nicht gewonnen war. Keiji hatte sich bereits wieder gefangen und blickte zufrieden auf den Trubel, den sein Treffer ausgelöst hatte.

Bei zwei zu null blieb es bis zum Ende des Innings. »Kommst du jetzt endlich?«, fragte Reiko, als die Teams wechselten. »Ich muss so dringend, ich platze gleich.«

Diesmal gab sie nach. So schnell es ging, drängten sie sich durch die Menge, überquerten die Straße und suchten die Latrinen hinter dem Schulgebäude auf. Umekos Ohren glühten, ihre Finger waren taub vom vielen Klatschen, und als sie sich hinhockte, überfiel sie ein plötzliches Frösteln. Hoffentlich kam das Fieber nicht während des Spiels. Um sich abzulenken, kratzte sie die Kruste von der kleinen Wunde an ihrem Knie. Ein Sturz beim Rennen. Kaum standen sie wenige Minuten später wieder an ihrem Platz, kehrten auch die Spieler aufs Feld zurück, und ihre Befürchtung, dass der Trainer im letzten Inning einen frischen Werfer bringen könnte, erwies sich als unbegründet. Unter den aufmunternden Rufen der Zuschauer nahm Keiji seine angestammte Position ein.

Es folgte eine Viertelstunde Höllenqualen. Mehrmals verzog ihr Bruder das Gesicht, als hätte er Schmerzen, und leistete sich ungewohnt viele Fehlversuche. Über sechzig Bälle hatte er bereits geworfen, morgen würde sein Arm zu schwer sein, um einen Stift zu halten, aber morgen zählte nicht. Nachdem die ersten beiden Schlagmänner aus Kīrun getroffen hatten, nahm Trainer Ōta eine Auszeit. Umeko zitterte, betete und trat von einem Fuß auf den anderen. Sie sah, wie ihr Bruder signalisierte, dass er weitermachen wollte. Die nächsten beiden Schlagmänner schieden aus, aber mit Läufern auf der ersten und zweiten Base reichte ein Homerun, um alles zu drehen. Mal hielt sich Umeko die Hände vors Gesicht, mal starrte sie aufs Spielfeld, bis ihre Augen tränten. Erster Strike. Jubel brandete auf.

Ihre Kehle fühlte sich an, als hätte sie seit Tagen nichts getrunken.

Ein Ball war zu hoch, dann der zweite Strike. Mit untergehakten Armen standen Keijis Teamkameraden am Spielfeldrand, niemanden hielt es mehr auf der Bank. Für einen kurzen Moment glaubte Umeko, ihr Blick würde seinem begegnen. Lächelnd nickte sie ihm zu, und beim nächsten Wurf lächelte er selbst. Wenn ihm der perfekte Pitch gelang, hatte er einmal gesagt, spürte er es schon im Moment des Abwurfs. Ein Fastball natürlich. Mehrere hundert Augenpaare folgten der geraden Linie, die der Ball beschrieb. Als er im Handschuh des Fängers landete, herrschte vollkommene Stille. Alle schauten zum Schiedsrichter, der mit den Händen auf den Knien an seinem Platz stand. Langsam richtete er sich auf, schien kurz zu überlegen und ballte beide Fäuste zum Zeichen für Strike-out.

Das Spiel war vorbei.

Statt eines Jubelschreis brachte Umeko nur ein heiseres Winseln heraus. Als würde sich aus allen Richtungen zugleich eine Flutwelle formen, strömte das Publikum aufs Feld und riss sie mit. Beinahe wäre sie gestolpert. Glücklich warf sie beide Arme in die Luft, legte den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel hinauf: Gewonnen! Als sie ihren Bruder entdeckte, ragte er wie ein Riese aus der Menge, weil ihn die Mitspieler auf den Schultern trugen. Tränen strömten über sein Gesicht. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie ihn zuletzt hatte weinen sehen, und für einen Augenblick fühlte sich ihre Freude an wie ein Ziehen in der Brust. Vergebens hielt sie Ausschau nach Reiko, um sie herum tanzten überall jubelnde, begeisterte Menschen. Beim Unterstand nahm Coach Ōta die Glückwünsche der Kollegen mit demütigen Verbeugungen entgegen, wie es sich für einen Japaner gehörte. Lehrerin Honda hatte beide Hände auf die Wangen gelegt, als könnte sie nicht fassen, was geschehen war, und am liebsten wäre Umeko hingelaufen, um sie zu umarmen. Es kam ihr vor, als sähe die Lehrerin zum ersten Mal nicht traurig aus.

Am Mast vor dem Schultor wehte die weiße Fahne mit der blutroten Sonne.

*

Die Nachricht des Sieges verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Ort. Auf dem kleinen Platz mit den Banyanbäumen, wo die Minenarbeiter nach Schichtende eine Zigarette rauchten, wussten schon kurz nach Spielende alle Bescheid. Manch einer fragte vorlaut, ob es mit der Unbesiegbarkeit der Vierbeiner doch nicht so weit her sei, andere blickten hinüber zum Verwaltungsgebäude, wo die Angestellten mit den sauberen Händen saßen, in deren Wohnheimen es elektrisches Licht und fließendes Wasser gab. Am frühen Abend versetzte das Sirren der Zikaden die Luft in schwingende Bewegung. Minuten zuvor waren die Männer im hölzernen Vorbau von den Wachleuten gefilzt worden, damit bloß niemand einen Goldsplitter nach draußen schmuggelte; eine ebenso vertraute wie verhasste Prozedur, die nur Neulinge zu kessen Sprüchen herausforderte: dass es die einzige Gelegenheit sei, einem Japaner die Zunge rauszustrecken oder ins Gesicht zu furzen.

Die Jungs von der Mittelschule hatten es den Schnöseln aus Kīrun also gezeigt. Die Nachricht machte das frühsommerliche Licht noch weicher und ließ den Heimweg ein wenig kürzer erscheinen. Um ihren Hunger zu unterdrücken, rauchten die Männer, bis die Glut ihre Fingerspitzen erreichte, dann nickten sie einander zu und setzten sich in Bewegung. Hinter den Bürofenstern, von wo aus man den kleinen Platz überblickte, gingen die Lichter an. Auch hier wurde über das Spiel gesprochen, wenngleich ohne besondere Anteilnahme. Herr Ri war der Einzige, dessen Sohn die örtliche Mittelschule besuchte, der Nachwuchs seiner Kollegen ging entweder in Zuihō zum Unterricht oder studierte bereits. Der Älteste von Prokurist Yamada spielte für die Waseda-Universität in Tōkyō und würde, wenn alles glattlief, im nächsten Jahr Profi werden. Dass die Mittelschule von Kinkaseki das Endspiel der nördlichen Schulbezirke gewonnen hatte, entlockte den meisten Mitarbeitern nur ein beiläufiges Nicken, während sie ihre Sachen zusammenpackten und sich aufs abendliche Bad freuten. Einer sagte »Gut gemacht, Ri-san«, so als hätte er den entscheidenden Treffer selbst erzielt.

Lächelnd deutete er eine Verbeugung an.

Die Tür zum Zimmer des Direktors war geschlossen. Am Nachmittag hatte er drinnen vor dem Schreibtisch aus Rosenholz gestanden, in dessen polierter Oberfläche er die eigene Silhouette gespiegelt sah, während Herr Yamashita die Beschlüsse der Konzernleitung erläuterte. Widrige Umstände machten eine weitere Drosselung des Abbaus erforderlich. In Zeiten wie diesen wurde nicht für den freien Markt produziert, sondern nach Maßgabe der nationalen Bedürfnisse. Wie immer überließ es der Direktor ihm, die Schlussfolgerung zu ziehen.

»Wie viele diesmal?«, fragte Herr Ri.

»Zehn müssten reichen, denke ich. Es ist bedauerlich, nicht wahr, aber die Vorgaben der Regierung lassen uns keine Wahl.«

»Wieder zum Monatsende?«

Man musste den Direktor gut kennen, um zu verstehen, dass sein knappes Nicken keine Gleichgültigkeit signalisierte, sondern Verlegenheit. Am Horizont schimmerte das Yin-Yang-Meer in der Nachmittagssonne. Nahe der Küste mischten sich helle Schlieren unter das Blau – daher der Name –, was von den Abwässern der Kupfermine kam, die jenseits des Ortes den gesamten Hang durchzog. Dort sorgten die Vorgaben der Regierung für einen stetigen Ausbau der Förderung, angeblich sollten bald sogar ausländische Kriegsgefangene eintreffen, um die Schwerstarbeit unter Tage zu verrichten. Ein Lager für sie wurde bereits gebaut, offenbar waren widrige Umstände eine Frage der Perspektive: Mit Gold konnte man sich derzeit nicht viel kaufen, aber ohne Kupfer gab es keine Bomben, ganz einfach. Immerhin, die meisten Entlassenen würden schnell neue Arbeit finden. Dass die Bedingungen härter waren als hier, seit das Militär dort Regie führte, hielt niemanden ab, auf den zu Hause Frau und Kinder warteten.

In der Stille hörte er rhythmisches Klatschen, das aus dem Tal heraufdrang. Mehrere hundert Menschen drängten sich auf dem Sportplatz der Grundschule, um das heimische Team anzufeuern. »Gibt es eine Namensliste?«, fragte er. »Oder soll ich wieder …?«

Wortlos machte der Direktor eine Bewegung mit der linken Hand, die zu bedeuten schien: Tun Sie’s einfach. Ab und zu betastete er mit zwei Fingern seinen gestutzten Oberlippenbart, so als wäre dieser nur angeklebt und drohte sich zu lösen. Ein merkwürdiger Mann, verheiratet, aber kinderlos. Zu Hause besaß er ein deutsches Grammophon und lauschte abends den Liedern eines gewissen Herrn Schubert, die traurig und fremd klangen, besonders bei Dunkelheit. Standen im Sommer die Fenster offen, hörte man sie in der ganzen Siedlung. Beinahe unheimlich.

Erneut brandete im Tal Applaus auf. Zwei Stunden dauerte die Partie bereits, der seine Kinder wochenlang entgegengefiebert hatten, die Kleine nicht weniger als ihr Bruder. Der Direktor lehnte sich im Stuhl zurück, nahm seinen Zwicker ab und schien die Gedanken seines Gegenübers zu erraten. »Spielt Ihr Sohn nicht auch?« Dabei wirkte sein Lächeln so gequält, als wäre er eigentlich lieber allein und verlängerte die Unterredung nur aus Höflichkeit.

»So ist es, nicht wahr. Er ist der erste Pitcher.«

»Sogar die Zeitung hat seinen gefürchteten Fastball gelobt.«

Da ihm keine Erwiderung einfiel, bedankte er sich mit einer Verbeugung. Aus irgendeinem Grund machte es ihn nervös, wenn sich der Chef Zeit für ihn nahm. Herr Yamashita war zwar nicht herrisch, aber für seine Unnahbarkeit ebenso bekannt wie für die regelmäßigen Ausflüge in die Teehäuser von Kyūfun, wo der Wagen vor der Tür seine Anwesenheit auch dann verriet, wenn er sich ein Séparée geben ließ. Jetzt zog er die silberne Taschenuhr hervor, warf einen Blick darauf und steckte sie wieder ein. Als junger Mann hatte er eine deutsche Ingenieurschule besucht und schwor auf alles, was von dort importiert wurde, Ideen wie Güter. Sogar seine Rasur orientierte sich am Berliner Diktator. »Haben Sie schon einmal daran gedacht, Ihren Sohn auf eine andere Schule zu schicken?«

»Eine andere Schule?«

»In Taihoku, zum Beispiel.«

Die Frage überrumpelte ihn. »Es wäre … unüblich. Nicht wahr?«

»Ist er denn kein guter Schüler?«

Augenblicklich spürte er Schweiß auf seine Stirn treten. Keiji war der Klassenbeste, aber ohne eigene Kinder kannte sich der Chef vielleicht nicht aus. Herr Ri hatte seinerzeit in Ōsaka studiert, weil Einheimische eher im Mutterland auf eine gute Schule gelangten als hier auf der Insel, wo eine kleine koloniale Elite ihre Konkurrenz fürchtete. »Die Lehrer sind durchaus zufrieden mit ihm«, brachte er schließlich hervor.

»Also ein guter Schüler und exzellenter Pitcher – ich sehe nicht, was dagegenspricht.«

»Es ist sehr gütig vom Herrn Direktor, das zu sagen.«

»Denken Sie darüber nach, einen Weg gibt es immer.«

»Es tut mir leid, dem Direktor solche Umstände zu bereiten.« Zu spät bemerkte er, dass der Satz wie eine Bitte klang, Herr Yamashita möge sich für seinen Sohn verwenden. Ehe er sich korrigieren konnte, entließ ihn der Chef mit einem angedeuteten Nicken. Jetzt, drei Stunden später, überflog Herr Ri die Namensliste, die er gleich nach dem Gespräch angelegt hatte, und war sicher, einer der Ersten zu sein, sollten eines Tages auch im Büro Entlassungen anstehen.

Gut gelaunt verließen seine Kollegen das Gebäude.

Angeblich lautete das Ziel der Konzernleitung, die Förderung schrittweise um die Hälfte zu reduzieren. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob der Direktor den Ernst der Lage möglicherweise verkannte. Frau Yamashita jedenfalls trug dieselben prächtigen Kimonos wie vor dem Krieg und schien nicht zu bemerken, wie hinter ihrem Rücken getuschelt wurde. Bisher waren die Einschränkungen in der Kolonie weniger strikt als im Mutterland, aber die bombastischen Schlagzeilen der Zeitungen machten Herrn Ri skeptisch. Seit dem erfolgreichen Angriff auf den Perlenhafen von Hawaii glichen die Verlautbarungen des kaiserlichen Hauptquartiers wahren Jubelarien. Siege, Siege, Siege! Immer exotischer klangen die Namen der Gebiete, die nun zu Dai-Nippon gehörten, ohne dass jemand schlüssig erklärte, worin außer in Expansion denn das Ziel der Expansion bestand. Wie viele Rohstoffe gab es auf diesen pazifischen Inseln, und ängstigte es nur ihn, dass zu den Feinden Japans inzwischen die mächtigsten Länder der Welt zählten? Fragen, die ihn jede Nacht überfielen, wenn neben ihm seine Frau und hinter der dünnen Trennwand die Kinder lagen; ab und zu hörte er sie im Schlaf etwas murmeln, das in Keijis Fall mit Baseball zu tun hatte und in Umekos mit Dingen, die nur in ihrem Kopf existierten. Der große Traum seines Sohnes, eine japanische Schule zu besuchen, war unrealistischer denn je, womöglich wäre es sogar gefährlich. Das Kaiserreich brauchte keine Athleten, sondern Soldaten. Immer mehr Soldaten.

Als er allein war, räumte er den Schreibtisch auf und steckte die Liste in die Innentasche seines Anzugs. Normalerweise hätte er bei der Kupfermine nach freien Stellen gefragt, ehe er die Männer benachrichtigte, aber die Uniformierten dort mochten es nicht, von einem Einheimischen behelligt zu werden. Eine halbe Minute lang stand er still und genoss das würzige Aroma des Minori-Tabaks, das über den leeren Tischen hing. Dann ging er nach draußen.

Der Frühjahrsregen war seit kurzem vorbei. An milden Abenden wie heute deutete nichts darauf, dass der Ort acht Monate im Jahr in dichtem Nebel versank. Da seine Familie aus Keelung stammte – niemals wurde zu Hause ›Kīrun‹ gesagt –, war er an schlechtes Wetter gewöhnt, aber nach neun Jahren sehnte er sich danach, dieses feuchte Nest zu verlassen. Leider hatte er als jüngster Sohn wenig Startkapital mitbekommen, und der Geschäftssinn seiner älteren Brüder, die mit Kohle und Tee gutes Geld verdienten, fehlte ihm ohnehin. Er war bloß der ranghöchste Einheimische in einem Betrieb, dem die baldige Schließung drohte. Hätte er vorhersehen können, dass Gold eines Tages weniger wert sein würde als Kupfer?

In der Dämmerung nahm das Meer die graue Farbe der Felsen an. Für hiesige Verhältnisse waren 120 Yen im Monat üppig, aber ein Drittel davon musste er für das Privileg aufwenden, in einem japanischen Wohnheim zu leben, und vom Rest vier Personen zu ernähren, erforderte genaue Haushaltsführung. Wenn Keiji vom Training kam, hatte er Hunger für zwei. Falls es tatsächlich eine Möglichkeit gab, ihn nach Taihoku zu schicken, würde ihn der dritte Bruder bei sich aufnehmen, aber wie sollte Herr Ri seine Frau von dem Vorhaben überzeugen? Seit geraumer Zeit schon ging er nach Feierabend nicht direkt nach Hause, sondern bog auf halbem Weg ab und schaute nach, was im Kino lief. Shina no yoru hatte er bereits dreimal gesehen, der Film spielte in Shanghai und feierte die angebliche Freundschaft zwischen Japan und China, die von den Rebellen um Chiang Kaishek hintertrieben wurde. Das war natürlich Propaganda und nicht einmal sehr subtil, sah aber trotzdem gut aus. Eine schönere Frau als Ri Kōran konnte er sich kaum vorstellen. Allenfalls eine, und das verbat er sich. Im Übrigen würde ein Japaner in seiner Position mindestens 160 Yen bekommen.

Ziellos lief er umher und hing seinen Gedanken nach. Damals in Ōsaka hatte ihn die Anmut japanischer Frauen förmlich überwältigt. Wegen seines Akzents war er anfangs für einen Landsmann aus Fukuoka gehalten worden, aber auch dann kaum auf Vorbehalte gestoßen, wenn er sich als Taiwaner zu erkennen gab. Eher erntete er Komplimente für seine Größe, stets im melodiös weichen Zungenschlag der Region, den er bald gut genug beherrschte, um nicht aufzufallen. Bedienungen in den Geschäften trugen elegant geschnittene Uniformen und dezentes Make-up, und einmal in einem Izakaya in Semba hatte ihm eine Unbekannte über die Wange gestrichen und geflüstert, er sei so gutaussehend, so männlich. Ihr Lächeln würde er nie vergessen, trotz der schiefen Vorderzähne.

Als die Nacht hereinbrach, stand er auf dem Platz vor dem Krankenhaus und schaute auf die andere Seite der Schlucht. Bei Dunkelheit war von der Baustelle des Lagers nichts zu sehen. Hätte sein Vater ihn damals nicht zur Rückkehr gezwungen, würde er heute in Ōsaka arbeiten statt in diesem Bergarbeiterdorf mit seinen schmutzigen Pfaden und steilen Treppen. In den Häusern am Hang wurde gekocht, und für einen Moment empfand er den Geruch der Kohlenfeuer als tröstlich. Keiji würde vor Stolz kaum laufen können und die Kleine am Tisch den Spielverlauf schildern, bis sie Fieber bekam. Sein Vater fand es falsch, die beiden auch zu Hause bei ihren japanischen Namen zu rufen. Wer im alten Kaiserreich zur Welt gekommen war, dessen Mutterland lag im Westen, nicht im Osten. Den Angriff auf den Perlenhafen hatte der stolze Mann ebenso laut bejubelt wie die Zeitungen, bloß aus anderen Gründen: Fortan standen die USA, England und China auf derselben Seite. In seiner Familie kannte nur Herr Ri ein Japan, dessen junge Generation von Demokratie und Freiheit geträumt hatte statt vom Heldentod. Jetzt überboten sich die Männer geradezu in Opferbereitschaft, und die Frauen versteckten ihre Anmut in unförmigen grauen Hosen, einer Art nationaler Einheitskleidung, in der sich früher niemand auf die Straße getraut hätte. Davon abgesehen haderte er zwar mit den Umständen, aber wenn er ehrlich war, kam es seinem Naturell sogar entgegen, nichts tun zu können. Hier in der Nähe des Krankenhauses durfte er allenfalls auf eine zufällige Begegnung im Vorbeigehen hoffen, begleitet von Blicken aus ihren auffallend großen Augen und dem beinahe angenehmen Hauch von Hoffnungslosigkeit, der ihn dabei überfiel. Er hatte sein Herz bereits einmal verloren, seitdem war er Romantiker und Realist: dankbar, dass es sie gab in all ihrer Unerreichbarkeit.

Mehr als vom Glück zu träumen, stand einem Einheimischen sowieso nicht zu.

*

»Honda Shizuko, du warst zu lange in der Sonne«, stellte Yōko später am Abend fest. Zu zweit saßen sie in Shizukos Zimmer im Wohnheim, sie auf dem Bett und ihre Freundin auf dem einzigen Stuhl beim Fenster, durch das kühle Nachtluft hereinströmte. Wie so oft im Norden der Insel ließ der Sommer auf sich warten. In den Gesprächspausen glaubte Shizuko das ferne Meer zu hören, aber das konnte nicht sein, es war nur der Wind.

»Wenn ich rot bin, liegt es am Sake«, erwiderte sie. Zwar hatte sie den ganzen Nachmittag im Freien verbracht, aber die meiste Zeit unter einem schützenden Unterstand, ebenso bedacht auf ihren Teint wie darauf, ihre Begeisterung vor den Kollegen möglichst nicht zu zeigen.

»Ich meine nicht, weil du rot bist, sondern …«

»Schon klar. Das halbe Team habe ich unterrichtet, als sie noch Grundschüler waren. Die Frage ist, warum bist du so unbeteiligt? Freu dich wenigstens für deinen Coach.«

»Natürlich, auf meinen Coach.« Mokant zog Yōko die Augenbrauen hoch und nahm einen Schluck aus ihrem Becher. »Morgen muss er eine Stunde früher aufstehen, weil der Schulleiter die Mannschaft empfangen will – vor dem Unterricht. Das hat er davon.«

»Bist du deshalb schon zurück?«

»Mit halbvoller Flasche, immerhin. Dann feiert wenigstens ihr zwei, meinte er.«

Als Shizuko die Hand ausstreckte, spürte sie ein Frösteln auf den nackten Armen. »Ist noch was übrig?« Möglicherweise hatte sie das Geschehen auf dem Sportplatz allzu lebhaft geschildert: den letzten Pitch, die hüpfende Traube der Spieler und die kleine Ri Umeko, die mit ausgebreiteten Armen übers Feld gerannt war. Der Bruder hatte einmal darauf bestanden, seiner Lehrerin die Tasche nach Hause zu tragen, weil sie angeblich zu schwer war für eine Dame. »Sag mir, warum ich mich nicht freuen sollte, dass sie gewonnen haben?«

»Gerade hast du noch behauptet, wir hätten gewonnen.« Das halb spöttische, halb nachsichtige Lächeln ihrer Freundin kannte sie zur Genüge. Aus der Küche drangen die fröhlichen Stimmen der Schwestern herüber, die wie jeden Abend dort zusammensaßen. Shizuko war die einzige Bewohnerin, die nicht im nebenan gelegenen Krankenhaus arbeitete. Mit Dr. Okubata hatte sie seinerzeit vereinbart, dass sie nur vorübergehend hier einziehen sollte, aber weil es für eine alleinstehende junge Frau in Kinkaseki keine geeignete Unterkunft gab, durfte sie ihr Zimmer inzwischen sogar allein bewohnen. Dass außer Yōko sie alle mit einer Höflichkeit behandelten, als gehörte sie nicht wirklich dazu, fiel ihr kaum noch auf. Es war genau wie in der Schule, genau wie überall.

»Du belächelst mich bloß«, sagte sie, »weil du dich nicht für Baseball interessierst.«

»Du etwa?« Penibel teilte ihre Freundin den letzten Rest zwischen ihnen auf. »Freust du dich, weil sie deine Schüler waren oder weil dein Liebling so gut gespielt hat?«

Beides, dachte Shizuko und stand auf, um das Fenster zu schließen. Im Sommer konnte sie vom Schreibtisch aus den gleichzeitig traurigen und tröstlichen Klängen lauschen, die der Wind abends zu ihr wehte, aber heute blieb alles still. Der Musikgeschmack des exzentrischen Minendirektors ließ sie vermuten, dass er seinen schlechten Ruf gar nicht verdiente und vielleicht ebenfalls darunter litt, dass alle Japaner im Ort so viel übereinander zu wissen glaubten. »Erstens habe ich Baseball schon als Kind gemocht«, sagte sie trotzig, »zweitens behandele ich alle Schüler gleich.«

»Shizuko-chan, ich wollte dich bloß aufziehen!«

»Soweit ich sie kenne, ist die ganze Familie sympathisch. Sogar die Jüngste spricht fast akzentfrei Japanisch, und im Kollegium sagen sie: Nicht schlecht … für eine Einheimische.«

Yōko beugte sich vor und strich ihr versöhnlich über den Arm. »Tatsache ist, die meisten können es nicht.« Wenn die Freundin eine Stunde oder zwei in Gesellschaft von Coach Ōta verbracht hatte, heimlich natürlich, fiel Shizuko jedes Mal eine genießerische Trägheit in ihren Gesten auf, so als fühlte sie sich besonders wohl in ihrer Haut. »Jetzt lass uns von anderen Dingen reden. Hast du dein Ticket bekommen?«

»Eins der letzten, die es noch gab.«

»Vier Wochen Japan, wie ich dich beneide!«

»Knapp drei, ohne die Überfahrt. Dass ich seekrank werde, versteht sich von selbst.«

»Trotzdem.« Yōko machte ein Gesicht, als rieche sie an einem Blumenstrauß. Aus Tōkyō stammend, hatte sie sich nur für den Dienst in der Kolonie gemeldet, um nicht eines Tages von der Armee rekrutiert und in ein Feldlazarett nach China geschickt zu werden. Wie viele Leute aus der Hauptstadt neigte sie dazu, sich gelegentlich etwas zu direkt und brüsk auszudrücken. »Auf deine Reise«, sagte sie jetzt und hob den Becher. »Komm bloß wieder zurück, hörst du! Lass mich nicht allein in diesem Kaff.«

»Keine Sorge.«

»Wo legst du an?«

»Ōtake. Die ersten Tage bleibe ich bei meiner Tante in Hiroshima.« Dass sie absichtlich nicht die Takasago Maru gebucht hatte, die Fukuoka direkt ansteuerte, behielt sie für sich. Ihr Vater war strikt dagegen gewesen, dass sie allein nach Taiwan zog – was sollten die Leute denken, allen voran ihre Schwiegereltern? –, und nutzte jede Gelegenheit, seinen Standpunkt zu wiederholen. Von einer Sekunde auf die andere spürte Shizuko den ungewohnten Alkohol und die Müdigkeit, die von ihr Besitz ergriff. Jedes Mal war es so, auf die kurze Euphorie folgte der umso tiefere Fall. Ihr Jubel beim entscheidenden Treffer war den Umstehenden natürlich sofort aufgefallen, auch Rektor Kondō. Außer in Yōkos Gegenwart musste sie jeden Satz prüfen, bevor sie ihn aussprach, und selbst ihre Freundin schaute sie manchmal an, als hätte sie sich gerade durch ein falsches Wort verraten. Wer wir?

»Dann, ohne ersichtlichen Grund, verfiel sie plötzlich in Schweigen.«

»Tut mir leid, Yōko-chan, es war ein langer Tag.«

»Wenn du die Wahrheit wissen willst, ich kann das Wort Baseball nicht mehr hören – er redet von nichts anderem! Hätten sie heute verloren, wäre die Saison endlich vorbei und das Thema beendet.«

Diesmal war sie es, die sich vorbeugte, um ihre Freundin mit einer kurzen Berührung zu beschwichtigen. Die Zusammenkunft in der Küche löste sich auf, nach und nach kehrten die Bewohnerinnen in ihre Zimmer zurück, und für einen Moment wünschte Shizuko, sie wäre mit ihren Gedanken allein. »Hast du von dem geplanten Lager gehört?«, fragte sie, obwohl Rektor Kondō strengste Geheimhaltung angeordnet hatte.

»Nein, welchem Lager?«

»Die Baustelle auf der anderen Seite der Schlucht. Tagsüber kannst du sie vom Fenster aus sehen. Gestern hatten wir eine Konferenz, und der Rektor hat bekanntgegeben, dass dort ausländische Kriegsgefangene untergebracht werden sollen. Mehrere hundert, um drüben in der Kupfermine zu arbeiten.«

»Mehrere hundert? Hält er das für eine gute Idee?«

»Habe ich ihn auch gefragt. Die Mauern, die sie jetzt errichten, sind sogar vom Schulhof aus zu sehen. Er meinte nur, wir werden uns arrangieren müssen.« Sein Tonfall hatte allerdings weniger resigniert geklungen, als sie ihn jetzt wiedergab. Eher vorwurfsvoll, schließlich handelte es sich um ein Vorhaben der Armee. »Angst hat er«, fuhr Shizuko fort. »Ständig kommen Männer in Uniform zu uns, um den Kindern diesen und jenen Feldzug zu erklären – oder um zu überprüfen, ob wir ihn richtig erklärt haben. Seine größte Sorge ist, wir könnten in den Verdacht geraten, nicht ausreichend kriegsbegeistert zu sein.«

Yōko verzog den Mund, als unterdrückte sie ein Gähnen.

»Ich weiß, Politik langweilt dich noch mehr als Baseball. Mich auch, sie mischt sich bloß immer stärker in meine Arbeit ein.«

»Du freust dich, wenn deine Schüler akzentfrei Japanisch sprechen. Glaubst du, dass ein bisschen patriotische Erziehung ihnen schadet?«

»Natürlich nicht«, antwortete sie so reflexhaft, als hätte Rektor Kondō sie gefragt. Hatte er auch. Unabsehbare Konsequenzen könnte es haben, sollte die Armee zu zweifeln beginnen, dass die Grundschule Kinkaseki ihren Teil zur … ob er ›heilige nationale Mission‹ oder etwas Ähnliches gesagt hatte, wusste sie nicht mehr. Seit drei Jahren lebte sie hier in den Bergen, tat ihre Arbeit und verbrachte die freie Zeit entweder lesend im Zimmer oder in Gesellschaft der anderen Frauen. Alle waren ungefähr gleichaltrig, und dass niemand sie beim Vornamen nannte, kam ihr fast wie eine Form von Aberglauben vor. Als hielten ausgerechnet Krankenschwestern ihr Unglück für ansteckend. Jetzt verließen die letzten von ihnen die Küche, unten verriegelte jemand den Eingang, und nach einer halben Minute des Schweigens stand auch Yōko auf. »Tut mir leid«, sagte Shizuko, »ich hätte nicht davon anfangen sollen.«

»Schon gut. Ich verstehe, dass es schwierig ist für dich, aber alle sagen, es wird nicht mehr lange dauern. Inzwischen wissen die Amerikaner, dass es ein Fehler war, uns in die Enge zu treiben. Sie werden verhandeln, sie müssen!«

»Und wenn nicht?«

»Dann kommt es anders. Hör auf mich und denk weniger nach über Dinge, die du sowieso nicht ändern kannst!«

Wie kraftlos ihr Lächeln wirkte, spürte sie selbst. Würde sie sich ebenso wenig wie ihre Freundin darum scheren, was andere über sie dachten, wäre tatsächlich vieles leichter. Und wennschon, sagte Yōko angesichts der Gefahr, dass ihr Verhältnis mit dem Coach publik werden könnte. Irgendwie musste man sich das Leben in dieser Einöde versüßen, oder nicht? Über mangelnde Aufmerksamkeit konnten sie beide nicht klagen, aber die Regeln, denen sie zu gehorchen hatten, waren unterschiedlich.

Leise wünschten sie einander Gute Nacht.

Allein im Zimmer, löschte Shizuko das Licht und öffnete noch einmal das Fenster. Weit draußen auf dem Meer glaubte sie einen Schimmer des Mondes zu erkennen, während sie sich langsam auszog und die Kleider über den Stuhl legte. Das Gefühl, das sie überfiel, als hätte es ihr im Dunkeln aufgelauert, verstand niemand, auch Yōko nicht. Der Krieg mochte in Kürze vorbei sein, für sie glich die Zukunft dennoch einer verschlossenen Tür, an die sie heimlich das Ohr legte, um zu horchen. Dass sie allein in der Fremde lebte, statt zu Hause ihren Pflichten nachzukommen, schien manchen Landsleuten bereits als eine Form von Untreue zu gelten. In Wirklichkeit hatte sie fast ihr gesamtes Leben auf der Insel verbracht, aber das wussten die wenigsten, und vermutlich änderte es nichts. Flucht blieb Flucht.

Kühl wie Wasser floss die Nachtluft über ihre Haut. Wir haben gewonnen, dachte sie und presste sich eine Hand auf den Mund, um den Schrei zurückzuhalten. Als junges Mädchen war sie mit den einheimischen Kindern über die Felder gerannt und dafür von ihrem Vater ermahnt worden: Vergiss nicht, dass du eine Japanerin bist. Wie denn vergessen? Hier in Kinkaseki hatte sie es eine Zeitlang versucht, aber vor den Tatsachen gab es kein Entkommen. Manchmal hörte sie hinter der Tür Kinder lachen, die sie nie haben würde. Wie ein Mahnmal stand Masayoshis Foto auf dem Nachttisch. Mit jugendlichem Ernst im Gesicht wachte der einzige Mann, der sie je nackt gesehen hatte, über ihr Leben – oder über das, was eine Witwe von fünfundzwanzig Jahren ihr Leben nannte.

2

Am nächsten Tag konnte sie es kaum erwarten, zur Schule zu gehen. Natürlich hatte sie am Vorabend Fieber bekommen und fühlte sich beim Aufwachen, als hätte sie selbst ein Spiel in den Knochen, aber zu Hause zu bleiben, kam nicht in Frage. Während sie ihre heiße Sojamilch trank, freute sie sich darauf, von allen Mitschülerinnen auf den gestrigen Sieg angesprochen zu werden. Ihr Vater war bereits im Büro und Keiji in seiner Schule, wo das gesamte Team vor Unterrichtsbeginn vom Rektor empfangen wurde. Als Mutter ihr beim Kämmen prüfend die Hand auf die Stirn legte, schüttelte Umeko den Kopf und sagte: »Kalt wie eine Gurke bin ich.« Nebenan schimpfte Herr Tanaka, weil er seine Krawatte nicht fand. Auf dem Bett natürlich, dachte sie, zog ihre Schuhe an und ging hinaus in den winzigen Vorgarten. Der Kirschbaum hatte seine Blüten verloren, die den Boden bedeckten wie Schneeflocken. Bestimmt wurde heute überall von den Helden der Mittelschule gesprochen, und sie brach absichtlich etwas früher auf, falls unterwegs jemand wissen wollte, wie sie das Spiel erlebt hatte. Frau Yamashita zum Beispiel.

Es war ein sonniger, aber kühler Morgen. Draußen auf dem Meer dümpelte ein Fischkutter, und über den Hügeln sahen die Nebelschleier aus wie vom Wind zerrissene Wimpel. Mit hüpfenden Schritten lief sie den abschüssigen Pfad zwischen den Wohnheimen entlang und nahm sich vor, unten auf der Treppe besonders langsam zu gehen. Im Frühsommer verbrachte Frau Yamashita viel Zeit damit, im Garten die Blüten zu betrachten. Falls sie nicht bemerkt würde, könnte sie ja stehenbleiben und ihre Strümpfe richten, oder sie sagte einfach von sich aus Guten Tag. Bei einem solchen Anlass musste man nicht befürchten, jemandem lästig zu fallen, im Gegenteil. Die Frau des Direktors würde sich freuen über einen Spielbericht aus erster Hand.

Unter ihr auf dem planierten Weg trotteten Arbeiter zum Eingang der Mine. Im nächsten Moment hörte Umeko die krächzende Stimme des Verrückten und verzog das Gesicht. Ausgerechnet heute!

Im Ort nannten ihn alle den verrückten Tsai. Zwar lebte er in einer baufälligen Hütte neben der Straße nach Kyūfun, aber tagsüber trieb er sich oft vor der Goldmine herum und bettelte die Arbeiter an, oder er lag schnarchend unter einem Baum. Noch sah sie ihn nicht, aber mehrstimmiges Lachen verriet ihr, dass er jemanden gefunden hatte, der sich mit ihm abgab. Manchen Männern gefiel es, ihn mit Bemerkungen zu provozieren, und als Umeko den planierten Weg erreichte, erkannte sie die gebückte Gestalt mit den verfilzten grauen Haaren. Angeblich hatte er früher Frau und Kinder gehabt und ein ganz normales Leben geführt. Ihre Eltern nannten ihn einen armen Kerl.

Unschlüssig blieb sie stehen. Das Ärgerliche war, dass der Verrückte sie kannte und jedes Mal mit seiner unheimlichen Stimme nach ihr rief, wenn er sie sah: schönes Kindchen, kleine Schönheit mit den roten Backen. Solche Sachen. Wie alle Leute sie dann anschauten und lachten, war ihr peinlich. »A-mei-ri-kan Marine takusan Verluste«, hörte sie ihn krähen. Sein Taiwanisch klang seltsam, weil er japanische Wörter einflocht, die er falsch aussprach. Wie immer hielt er eine alte Zeitung in der Hand und tat so, als verlese er wichtige Neuigkeiten. »Nippons Schiffe beherrschen den Pa-chi-fi-ku.« Wurde es den Wachleuten vor der Mine zu bunt, jagten sie ihn davon, aber meistens tauchte er wenig später wieder auf. Mit einem Fluch auf den Lippen riss sich Umeko los, machte kehrt und lief hinter der nächsten Häuserzeile entlang statt davor. Schnell überquerte sie den Platz, wo die Arbeiter eine Zigarette rauchten, ehe sie das Minengelände betraten, dann bog sie beim Postamt links ab und folgte dem Pfad hinab zum Krankenhaus. Wahrscheinlich, sagte sie sich, war Frau Yamashita um diese Zeit sowieso noch nicht im Garten.

Auf dem Platz vor dem Krankenhaus herrschte reger Betrieb. Hier begann jener Teil von Kinkaseki, wo einheimische Familien schon gewohnt hatten, als in der Gegend noch kein Gold abgebaut worden war. Steile Treppen führten hinab in den alten Ortskern. Als Umeko am Rand der Schlucht stehenblieb, um zu verschnaufen, hörte sie unter sich den Fluss, der nach dem Frühjahrsregen viel Wasser führte. Auf der anderen Seite erhob sich ein felsiges Plateau, wo Soldaten damit beschäftigt waren, Sträucher zurückzuschneiden und Baumaterial anzuhäufen. Von dort wanderten ihre Augen den Hang hinauf bis zur felsigen Spitze, die geformt war wie ein Teepott ohne Henkel, daher der Name Teekannenberg. Auf der hinteren, zum Meer zeigenden Seite lag der Eingang der Kupfermine, für die Reikos Vater arbeitete. Im Krieg, behauptete ihre Freundin, sei Kupfer genauso wichtig wie Öl oder Stahl, aber eigentlich meinte sie: noch wichtiger als Gold. Angeblich reichten die Stollen der Mine bis tief unter den Meeresspiegel.

Vogelgezwitscher untermalte die morgendliche Stille über der Schlucht. Nach der Einnahme von Singapur war ein Offizier in die Schule gekommen, um ihnen den Verlauf der Schlacht zu erklären. Mitten im Monsun hatten Soldaten den malaiischen Dschungel durchquert – auf Fahrrädern! – und die Engländer überrascht. Der verantwortliche General hieß Yamashita, genau wie der Direktor, aber verwandt waren sie nicht. In ein paar Jahren dürft auch ihr für den Kaiser und das heilige Vaterland kämpfen, hatte der Offizier gerufen, dann verdutzt innegehalten und laut gelacht – in seiner Begeisterung war ihm entfallen, dass er zu einer Mädchenklasse sprach! Singapur hieß jetzt Shōnan-tō, und den General nannten alle den Tiger von Malaya.

Als Umeko den ersten Gong hörte, schrak sie zusammen. In fünf Minuten musste sie auf dem Schulhof sein, und hier stand sie und träumte vor sich hin. Nur wegen des Verrückten, dachte sie, drückte sich die Tasche mit der Bentō-Box an die Brust und begann zu rennen.

Der weitere Vormittag verlief genau wie erhofft: Sofort nach dem Fahnenappell scharten sich ihre Mitschülerinnen um sie und fragten nach Keiji. War er am Morgen sehr müde gewesen? Konnte er den Wurfarm überhaupt noch bewegen? Würde er im nächsten Jahr nach Taihoku wechseln oder gleich an die Waseda Highschool in Tōkyō, um für das beste Baseballteam des Reichs zu spielen? Dass ein Trainer aus Taihoku mit dem Rektor von Keijis Schule geredet hatte, war bereits bekannt, aber Umeko beteiligte sich nicht an Spekulationen, sondern versprach lediglich, Neuigkeiten sofort mit ihren Freundinnen zu teilen. Kurz darauf erschien Lehrerin Honda, um die Klasse hineinzuführen. Statt die jüngsten Siege der japanischen Armee zu verlesen, betonte sie als Erstes, was für ein schöner Erfolg die gewonnene Meisterschaft sei. Als sie Keijis Leistung hervorhob, ruhte ihr Blick für einen Moment auf Umeko, und wieder sahen die Augen traurig aus, obwohl sie lächelte.

In Windeseile hatte sich die Nachricht gestern im Ort verbreitet. Obwohl sie sofort nach dem Spiel nach Hause gerannt war, wusste ihre Mutter bereits Bescheid und bereitete zur Feier des Tages weichen Tofu mit Zuckersirup und roten Bohnen vor, Keijis liebsten Nachtisch. Mehrere Nachbarn überbrachten ihre Glückwünsche, sogar der griesgrämige Herr Tanaka nannte den Sieg außerordentlich. Als ihr Bruder um halb sieben heimkehrte, trug er noch sein verschwitztes Trikot und verkündete, er sei hungrig wie ein mandschurischer Wolf. Vater kam erst nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Büro, und weil sich Keiji im Bad viel Zeit ließ, schilderte Umeko die entscheidende Szene des Spiels zunächst aus ihrer Sicht. »Dank deiner Sprecherin weiß ich schon alles«, meinte Vater augenzwinkernd, als sie schließlich zu viert um den niedrigen Tisch saßen. Wie immer nach der Arbeit trug er den alten Yukata, den Mutter am liebsten weggeworfen hätte, weil er so abgenutzt war. Zunächst gab es ein Omelett mit Krabben, dazu Süßkartoffeln und Gemüse. Um den Nachtisch kalt zu halten, hatte Mutter eigens frisches Eis gekauft.

»Alles noch nicht«, protestierte Umeko. »Was wollte der Trainer aus Taihoku, der mit dem Rektor gesprochen hat? Von welcher Schule kam er?«

»Hat sich nach meinen Noten erkundigt, nehme ich an«, sagte Keiji zufrieden.

Über den Tisch hinweg tauschten ihre Eltern einen Blick.

»Sag schon, welche Schule! Die Handelsschule, richtig? Die Handelsschule von Taihoku, ich wusste es.« Nach Spielende war sie zu Lehrerin Honda gelaufen und hatte zufällig gehört, wie der Rektor Keiji den besten Schüler seines Jahrgangs nannte. Die Familie sei zwar bisher nicht als landessprachlicher Haushalt registriert, aber ansonsten … mehr hatte sie im allgemeinen Trubel nicht verstehen können. »Wir müssen uns endlich registrieren lassen«, rief sie, »dann kann Keiji auf die Handelsschule gehen und ich in ein paar Jahren nach Zuihō zur …«

»Die Jüngste am Tisch wird jetzt für zwei Minuten den Mund halten«, sagte Vater streng.