Fliehkräfte - Stephan Thome - E-Book + Hörbuch

Fliehkräfte E-Book

Stephan Thome

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Beschreibung

Frau, Kind, Karriere – Hartmut hat alles erreicht, was er immer wollte. Glücklich ist er dennoch nicht. Und als plötzlich eine Entscheidung ansteht, von der er meinte, sie sei längst getroffen, bricht er auf zu einer alles entscheidenden Reise. Hartmut Hainbach ist Ende fünfzig und hat alles erreicht, was er sich gewünscht hat: Er ist Professor für Philosophie und hat seine Traumfrau geheiratet, die er nach zwanzig Jahren Ehe immer noch liebt. Dennoch ist Hartmut nicht glücklich. Seine Frau ist nach Berlin gezogen, sodass aus der Ehe eine Wochenendbeziehung geworden ist, die gemeinsame Tochter hält die Eltern auf Distanz, der Reformfuror an den Universitäten nimmt Hartmut die Lust an der Arbeit. Als ihm überraschend das Angebot zu einem Berufswechsel gemacht wird, will er endlich Klarheit: über das Verhältnis zu seiner Tochter, über seine Ehe, über ein Leben, von dem er dachte, dass die wichtigen Entscheidungen längst getroffen sind.

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Seitenzahl: 677

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Hartmut Hainbach hält die wichtigen Entscheidungen seines Lebens für getroffen. Er ist Professor für Philosophie und hat seine Traumfrau geheiratet, die er nach zwanzig Jahren Ehe immer noch liebt. Doch glücklich ist er nicht. Seine Frau ist nach Berlin gezogen, sodass aus der Ehe eine Wochenendbeziehung geworden ist, die gemeinsame Tochter hält die Eltern auf Distanz, der Reformfuror an den Universitäten nimmt Hartmut die Lust an der Arbeit. Ein überraschendes Angebot zu einem Berufswechsel führt ihn auf eine Reise nach Lissabon, die zur Erforschung verpasster Gelegenheiten und ungeahnter Lebenswege wird.

Stephan Thome wurde 1972 in Biedenkopf/Hessen geboren. Er studierte Philosophie und Sinologie und lebte und arbeitete zehn Jahre in Ostasien. Sein zweiter Roman Fliehkräfte stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und hielt sich wochenlang auf den Bestsellerlisten.

Zuletzt ist von ihm erschienen: Grenzgang. Roman (st 4193).

Stephan Thome

Fliehkräfte

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4466

© Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Stephan Thome 2012

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagfoto: Derek Seaward

Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-78910-0

www.suhrkamp.de

Für Helmut

1973

Am späten Nachmittag verwandelt sich die Welt. Flaumig leichte Flocken wirbeln durch die Luft, als wären sie von der Schwerkraft ausgenommen. Lautlos füllen sie den Raum und legen eine weiß-graue Schraffur über den Campus. Seit November hängen dichte Wolken über der Stadt, und wenn die Studenten nach den Seminaren ins Freie traten, legten sie die Köpfe in den Nacken und blickten erwartungsvoll nach oben. Jetzt streicht Schnee über die Fenster der Wilson Library, ohne daran haften zu bleiben. Fahrradfahrer, die von der Brücke kommen, ziehen pulverige Schleier hinter sich her. Vor ihm auf der winzigen Arbeitsfläche liegt Empiricism and the Philosophy of Mind, seit einer halben Stunde auf derselben Seite aufgeschlagen. Gebannt schaut Hartmut nach draußen und versucht, den Weg einer einzelnen Flocke zu verfolgen. Am liebsten würde er das Gesicht gegen die Scheibe drücken und den milchigen Niederschlag seines Atems daraufmalen. Er hat sowieso keine Ahnung, was das sein soll: der Mythos des Gegebenen.

Endlich, denkt er. Wochenlang hat die Luft nach Winter gerochen, auch wenn es in Wirklichkeit kein Geruch ist, sondern eine Sehnsucht, die man erst erkennt, wenn sie sich erfüllt. Alle haben ihn gewarnt vor Stromausfällen bei dreißig Grad minus, vor eingeschneiten Häusern und eisglatten Wegen. Jetzt wird die Welt nur still, und er ist glücklich. Das Wort in seinem Kopf überrascht ihn, aber es stimmt. Um ihn herum schauen Kommilitonen von ihren Büchern auf und beginnen, miteinander zu flüstern.

Als er um halb sieben die Bibliothek verlässt, ist es draußen stockdunkel. Leer wie nie um diese Zeit streckt sich die Wash­ington Avenue Bridge über den Fluss. Wenn Hartmut nach oben schaut, wird ihm schwindlig. Unter ihm fließt der Mississippi schwarz und beinahe geräuschlos dahin. Ein fremdes Gewässer, das er zwei Mal täglich überquert, manchmal öfter. Auf der östlichen Campusseite steht Ford Hall stoisch an seinem Platz. Benannt nach dem früheren Uni-Präsidenten und ausgestattet mit einem Vorbau aus viereckigen Säulen, trotzt das Bauwerk den dicht fallenden Flocken. Jeden Morgen steigt er hinauf in den dritten Stock, mit demselben flauen Gefühl im Magen wie vor einer Prüfung. Jetzt geht er am Gebäude vorbei durch den bereits knöcheltiefen Schnee auf der Mall. Immer die University Avenue entlang, hat Professor Hurwitz gesagt. Weil der Text partout nicht in seinen Kopf wollte, hat Hartmut ihn schließlich beiseitegelegt und stattdessen die zwei eng beschriebenen Kladden mit Notizen studiert, die er immer in der Tasche trägt. Konzentrieren konnte er sich auch darauf nicht. Kann man einen Ort vermissen, an den man nicht zurückwill? Die Rodelpartien fallen ihm ein, die Straße neben dem Haus hinab. Weil das Geld knapp war, hat sein Vater den Schlitten selbst gebaut. Hat die Kufen im Betrieb zugeschnitten und sie nach Feierabend unter das Holzgestell geschraubt, mit derselben bedächtigen Sorgfalt, mit der er jede Arbeit erledigt.

Als Dinkytown hinter ihm liegt, stapft er durch unbekanntes Gebiet. Wohnheime sind zu erkennen und vereinzelte Villen. Von den ausschweifenden Partys, die hier gefeiert werden, hört er manchmal in der Mensa, aus Gesprächsfetzen am Nebentisch. Es ist ein weiträumiger Campus mit viel rotem Backstein, knorrigen Ulmen und Gesichtern von überall auf der Welt. Aus einem der Gärten kommt ausgelassenes Gelächter, durchbricht die Stille wie dünnes Eis und bleibt hinter ihm zurück.

Jenseits der Interstate 35 kann er die Kreuzung ausmachen, hinter der sein Professor wohnt. Noch nie hat Hurwitz ihn zu sich nach Hause bestellt. Will er ihm in Ruhe erklären, warum er ihn nicht als Doktoranden annehmen kann? Dass er sich nicht in der Lage sieht, ihm in der zur Verfügung stehenden Zeit seine europäischen Flausen auszutreiben? Hurwitz’ erster Blick auf die Berliner Kursliste wurde begleitet von vernehmlichem Stöhnen. Was, bitte schön, ist ein Autonomes Seminar? Seitdem muss Hartmut alle zwei Wochen Bericht erstatten über seine Lektüre. Jedes Wort, das er nicht kennt, schlägt er nach und schreibt es auf eine kleine Karte. Notiert die Bedeutung und den Satz, in dem es vorkommt, und fühlt sich angezogen vom Klang dieser Texte. Im Seminar stellt er sich vor, die Hand zu heben und zu sagen: This claim is flying in the face of reason. In Wirklichkeit redet er wenig und fühlt sich in Raum 304 wie auf Bewährung geduldet, jeden Dienstag und Donnerstag. Aber hat er sich bewährt, oder wird Hurwitz ihm heute Abend die Tür weisen?

Das Haus ist in dem Stil gebaut, den man hier viktorianisch nennt: holzverkleidet, mit einer erhöhten Vorderterrasse und verspielten Erkern und Winkeln, alles taubenblau und anheimelnd, auch wenn nur die Umrisse auszumachen sind hinter tanzenden Flocken. Licht schimmert durch mehrere Fenster, und Hartmut spürt sein Herz klopfen, als er die Stufen zur Veranda hinaufsteigt. Seine Uhr zeigt genau sieben. Wie lange wird es dauern? Sobald er an die andere Verabredung denkt, weiß er nicht mehr, welcher Termin ihn nervöser macht. Ausdrücklich hat er gesagt, er wisse nicht, wann er sich werde loseisen können, aber bestimmt nicht vor acht. Außerdem ist der Weg länger, als er dachte. Es könnte neun werden, vielleicht halb zehn. Sie hat gemeint, er solle einfach vorbeikommen auf dem Rückweg, notfalls würden sie in die Spätvorstellung gehen. Das war vor vier Tagen. Seitdem hält er am Schreibtisch manchmal inne, als wäre von irgendwo ein Blick auf ihn gerichtet.

Kurz drückt er die Klingel, erschrickt über das laute Geräusch hinter der Tür und hört flinke Schritte, die nicht zu seinem Professor gehören. Die Haustür geht auf, und eine ältere Frau, die er auf Fotos in Hurwitz’ Büro gesehen hat, streckt ihm resolut die Hand entgegen. »Sie müssen Hartmut sein. Hallo.«

»Guten Abend, Mrs. Hurwitz.«

Sie ist beinahe einen halben Meter kleiner als ihr Mann. Lächelnd deutet sie auf seine Schuhe, schließt hinter ihm die Tür und fragt, ob er das Haus gleich gefunden habe, alles auf einmal. Seinen Namen spricht sie aus, ohne dass es nach hard mud klingt, was nicht vielen in Amerika gelingt. Sich selbst stellt Mrs. Hurwitz als Marsha vor, nimmt ihm den schneefeuchten Parka ab und führt ihn ins Esszimmer. Die Wärme lässt seine Brille beschlagen. Licht aus mehreren Lampen spiegelt sich in den dunklen Fenstern. Hartmut sieht sich um, und Marsha zeigt mit dem ausgestreckten Finger auf ihn, als komme ihr gerade ein großartiger Einfall. »Heißer Tee«, sagt sie und geht weiter in die Küche, ohne seine Antwort abzuwarten. Durch Walters Haus auf der anderen Flussseite wabert immerzu der Geruch von Motoröl und feuchten Teppichen, hier glaubt er, Zimt zu riechen, frisches Brot und gebackene Äpfel. Auf dem Esstisch und den Fensterbänken liegen weiße Stickdeckchen, stehen Kerzenhalter, gläserne Blumenvasen und gerahmte Fotos. Einige zeigen einen optimistisch dreinblickenden Mann in Uniform, aber auf den meisten sind die Töchter zu sehen, einzeln oder gemeinsam, beim Spielen, Reiten und mit den eigenartigen Hüten, die man hier zum Uni-Abschluss trägt. Außerdem Hurwitz als junger Mann, immer riesig, egal wer neben ihm steht und obwohl er schon damals die leichte Rundung in den Schultern hatte.

Mit einem vollen Tablett kommt Marsha zurück. Sie trägt Rock und Jacke aus demselben dunkelgrünen Stoff, dazu eine silberne Halskette und Ohrringe, als würde sie nicht einen Studenten, sondern den Präsidenten der University of Minnesota bewirten. Vorsichtig stellt sie die Teekanne auf ein Stövchen und mustert ihn wohlwollend.

»Eine ungeschriebene Regel des Hauses besagt, dass zwar kein Gast einen English Muffin essen muss«, sagt sie, »aber jeder bekommt einen angeboten. So?«

»Ich ... Es ist bereits sieben vorbei«, sagt er trotz seines Hungers.

»Oh, keine Sorge. Hurwitz wird sich melden.« Sie blickt zur Decke, die im selben Moment unter schweren Schritten zu knarren beginnt. »Außerdem kennt er die Regel. Sie müssen wissen, Hartmut, das Haus hat zwei Stockwerke, und in diesem hier bestimme ich. Alleine.«

»Dann – okay, ess ich einen.«

»Es ist nur ein Mittel, um meine Quittenmarmelade unters Volk zu bringen. Bitte.« Marsha zeigt auf einen Platz am ovalen Esszimmertisch und beginnt, Geschirr und Besteck aufzulegen. In der nächsten Viertelstunde isst Hartmut den ersten English Muffin seines Lebens, trinkt zwei Tassen Tee mit Rum und erfährt das Wichtigste über Claire, Elaine und Cecilia Hurwitz: dass sie wunderbar sind und hoffentlich bald schwanger werden. Pausenlos springt Marsha zwischen den drei Töchtern, ihren Wohnorten, Ehemännern und Berufen hin und her und legt jedes Mal den Kopf in den Nacken, wenn über ihnen die Dielen knarren. Was oft geschieht. Gleichzeitig beobachtet sie Hartmut genau, registriert sofort, wenn er nicht versteht, was sie sagt, und wiederholt es mit anderen Worten. Erst als sie ihm lächelnd den zweiten Muffin auf den Teller legt, bemerkt er, wie schnell er den ersten verschlungen hat. Dass er seit Monaten von Sandwichs und dem billigsten Gericht in der Mensa lebt, behält er für sich. Das wenige, das zu erzählen er Gelegenheit bekommt, betrifft seine Familie und findet Marshas emphatische Zustimmung: Eltern, die jeden Sonntag in die Kirche gehen, und eine jüngere Schwester, die bald heiraten wird. Schade, dass du nicht dabei sein kannst, stand in Ruths letztem Brief, den er immer noch nicht beantwortet hat. Es ist eine verstörende Vorstellung: die kleine dumme Ruth vor dem Traualtar. Irgendwann reißt das Knarren im Obergeschoss nicht mehr ab, und Marsha schließt seufzend die Augen.

»Wenn man so lange verheiratet ist wie wir, wird man nicht nur füreinander durchsichtig. Die Wände werden es auch. Ich fürchte, Hartmut, Sie müssen bald nach oben.«

»Okay.«

»Wenn er an seinen philosophischen Texten arbeitet, höre ich stundenlang keinen Mucks. Dann sitzt er da.« Schräg zeigt ihr Arm nach oben, auf einen Punkt seitlich des Hauseingangs. »Soll ich ehrlich sein? Ich wünschte, das wäre häufiger der Fall. Früher saß er immer da, Abend für Abend.«

»Ja. Und jetzt?«

»Das wird er Ihnen gleich selbst sagen.« Als sie die Augen wieder öffnet, wirkt ihr Blick müde. »Hartmut, darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«

»Ja. Natürlich.«

»Sie sind ein junger Mann und nur für Ihr eigenes Tun verantwortlich. Trotzdem, nehmen Sie es mir bitte nicht übel. Was hat Ihr Vater im Krieg gemacht? Wissen Sie das?« Ihre Stimme wird leise und gibt Hartmut das Gefühl, sie frage nicht aus eigenem Interesse. Hurwitz kommt gelegentlich im Seminar auf den Zweiten Weltkrieg zu sprechen, auf dieselbe abrupte Weise, auf die er das Thema kurz darauf wieder fallenlässt, aber er hat ihn nie nach seinem Vater gefragt.

»Er war nicht im Krieg. Als einziges Kind und Halbwaise wurde er ...« Was ›unabkömmlich gestellt‹ auf Englisch heißt, weiß er nicht und behilft sich anders. »Nicht einberufen. Er musste sich um die Landwirtschaft kümmern. Um seine Mutter.«

»Das ist gut, ich meine ... Sie wissen schon.«

Im Gespräch entsteht eine Pause. Marsha hält ihre Teetasse in beiden Händen und betrachtet den aufsteigenden Dampf. Im Nebenzimmer knistert und knackt ein Kaminfeuer. Deutlich wie lange nicht mehr steht ihm die Arnauer Küche vor Augen, ein niedriger Raum, an dessen Wänden keine Fotos hängen, nur ein Abreißkalender mit der täglichen Bibellese. Der Geruch von Ruß und Essen. Seine Großmutter sitzt den ganzen Tag vor dem Fenster, blickt nach draußen und öffnet den Mund nur, um ihr Missfallen zu bekunden. Zahnlos seit zwanzig Jahren, seit sie ihr Gebiss in die Jauchegrube geworfen hat, weil es kniff. Die Unabkömmlichkeit seines Vaters mag auch damit zu tun gehabt haben, dass er als Modellschlosser in einem Betrieb arbeitete, der damals wichtige Rüstungsgüter produzierte. Oder Teile dafür. Spielt keine Rolle, denkt Hartmut. Tausende Kilometer von zu Hause entfernt sitzt er in einem warmen Esszimmer, spürt ungewohnten Alkohol auf den Wangen und hat später am Abend, was man hier ein Date nennt. Den ganzen Tag war er nervös und ist es jetzt nicht mehr. Wollte Hurwitz ihn als Doktoranden ablehnen, würde er ihn nicht erst von seiner Frau bewirten lassen. Was auch immer sein Professor von ihm will, das ist die Hauptsache: Er wird in Amerika bleiben, hart arbeiten und irgendwann Freunde finden, wird sein Englisch verbessern und allmählich einer von denen werden, die er mittags in der Mensa beobachtet. Einer von denen und trotzdem er selbst. Das ist das Ziel. Dafür ist er hergekommen.

Marsha stellt ihre Teetasse ab und räuspert sich. »Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, warum er sie eingeladen hat. Richtig?«

»Nicht genau, nein.«

»Hurwitz wird Sie um Hilfe bitten bei einem Projekt, das er sich in den Kopf gesetzt hat. Er kann ja kein Deutsch. Aber bevor er das tut, bitte ich Sie ebenfalls um etwas: Sagen Sie nicht sofort zu. Bitten Sie sich Bedenkzeit aus. Hurwitz ist ...« Ihre Augen irren durch den Raum, als hätte sie das richtige Wort eben noch gesehen. »Intense. Um nicht zu sagen besessen, was er auch manchmal ist.«

»Was für ein Projekt?«

»Entscheiden Sie nicht sofort, Hartmut, er wird das akzeptieren. Schließlich sind Sie hier, um Philosophie zu studieren, richtig?« Sie macht eine Bewegung mit der Hand, als wollte sie ihm über die Wange streichen und hielte sich im letzten Moment zurück. »Sie haben genug zu tun mit Ihren eigenen Studien.«

»Ja.« Wieder poltern im ersten Stock schwere Schritte, verharren und kommen die schmale Holztreppe herab, die Hartmut beim Eintreten gesehen hat. »Ich werde es mir überlegen.«

Bevor sie aufsteht, legt Marsha beide Hände auf ihre Oberschenkel und nickt.

»Gut. Es hat mich sehr gefreut. Die Tasse nehmen Sie am besten mit. Sie können natürlich jederzeit runterkommen, wenn Sie mehr wollen.«

Als er zwei Stunden später das Haus verlässt, ist der Schneefall so dicht geworden, dass die Sicht kaum zehn Meter weit reicht. Das Wärmegefühl, das der Rum auf seinen Wangen hinterlassen hat, ist verflogen, und trotzdem fühlt es sich gut an, eingepackt in den Parka durch die Straßen zu laufen und kalte Nachtluft zu atmen. Sein Kopf brummt. Zwei Stunden lang hat er angestrengt zugehört, weil Hurwitz so auf seine Erzählung konzentriert war, dass er nicht merkte, wenn er Hartmut überforderte. Jetzt ist es, als löste sich ein Muskel in seinem Kopf und begänne, vor Erschöpfung zu zittern. Im Gehen hascht er nach den Schneeflocken und wischt sie sich über die Stirn. Erst jenseits der Hennepin Avenue steckt er die Hände in die Taschen und bemerkt den in eine Serviette eingepackten Muffin. Wie ein Filmausschnitt steht ihm die mühsam gebändigte Erregung vor Augen, mit der sein Professor auf und ab lief, nach Büchern suchte, Karten auf- und zufaltete und ihn an Marsha denken ließ, die wahrscheinlich im Esszimmer zur Decke starrte und genau wusste, worum es ging.

Wird sie ihm übel nehmen, dass er sich sofort bereit erklärt hat mitzumachen?

Ohne stehen zu bleiben, packt er den Muffin aus und beißt hinein. Beschleunigt den Schritt, obwohl er mit vollem Mund nicht gut atmen kann. Sandrine wartet auf ihn, und er fühlt sich merkwürdig leicht. Bisher sind sie ein paar Mal zusammen in der Mensa gewesen. Haben in der Mall auf dem Rasen gesessen und geredet, als es dafür noch warm genug war, aber viel weiß er nicht von ihr. Sie kommt aus Paris, lebt hauptsächlich von Obst und Salat, hat genug Geld und zu allem eine feste Meinung. Wenn er spricht, schaut sie ihn durch ihre schwarze Hornbrille an, als verdiente jedes Wort ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Obwohl sie meistens anderer Ansicht ist. Als sie wissen wollte, ob er gerne ins Kino gehe, hat er einfach Ja gesagt.

Die Umrisse von Sanford Hall tauchen aus dem Schneetreiben auf. Helle Fenster schweben in der Dunkelheit. Vor dem Eingang wurden die Gehwege frei geschaufelt und sind bereits wieder eingeschneit. Mit einem Nicken schleicht sich Hartmut an der Rezeption vorbei und findet die Treppe hinauf in den dritten Stock. Neonlicht spiegelt sich in feuchten Fußabdrücken auf dem Boden. Hinter nummerierten Türen erklingen Stimmen und gedämpfte Musik, davor stehen gefütterte Winterschuhe in Pfützen aus geschmolzenem Schnee.

Hinter Sandrines Tür hört er nichts. Zwei Mal klopft er vorsichtig, vernimmt keine Antwort und glaubt schon, sie sei ohne ihn ins Varsity Theater gegangen, als sich die Tür langsam öffnet und Sandrine ihr bebrilltes Gesicht in den Spalt schiebt. Mit ihrem Lächeln kommt ihm ein Hauch warmer Luft entgegen.

»Was ist mit den pünktlichen Deutschen los?« Ihr Akzent ist weniger stark als seiner, aber man hört, aus welchem Land sie kommt. Fröstelnd hält sie sich die Arme vor die Brust und blickt den leeren Flur hinauf und hinab.

»Tut mir leid. Hurwitz hat kein Ende gefunden. Soll ich reinkommen oder ...?«

»Du hast Schnee auf dem Kopf.« Auf nackten Füßen huscht sie zurück ins Zimmer. Es ist nicht größer als seine Kammer in Walters Haus, hat aber ein hohes Fenster, in dem die Skyline von Minneapolis steht, schemenhafte Türme mit grünlich schimmernden Lichtern. Fast sieht es aus, als würde ein riesiger Ozeandampfer flussaufwärts ziehen. Hartmut lässt die Schuhe im Flur stehen und tritt ein. Während er die Brille über das Innenfutter seines Parkas reibt, stehen sie einander gegenüber zwischen Sandrines wenigen Möbeln: einem Schrank, zwei überfüllten Bücherregalen und einem kleinen Schreibtisch. Sie wohnt alleine und nutzt das obere Etagenbett als Stauraum.

»Ich hab Wein gekauft«, sagt sie, »den besten schlechten Wein, den ich kriegen konnte. Eigentlich wollte ich auf dich warten, aber dann – hab ich doch nicht gewartet.« Nickend sieht sie sich um, als fiele ihr das Chaos im Zimmer erst in diesem Moment auf. Nicht nur auf dem Bett, überall liegen Sachen herum, Bücher, Zeitschriften und stapelweise Schallplatten. »Lass mich raten. Bei dir ist es ordentlicher?«

»Ich hab weniger Sachen.« Vorsichtig, damit keine Tropfen auf die vielen Papiere fallen, zieht er seinen Parka aus und legt ihn aufs obere Bett.

»Weißt du, was mir aufgefallen ist? Wenn du ein Sandwich auspackst, faltest du hinterher das Papier zusammen.« In Erwartung seines Protestes streckt sie ihm den Zeigefinger entgegen. »Doch. Ich hab mir aber schon gedacht, dass du es nicht bewusst tust. Es ist deine zweite Natur.«

»Wann ist dir das aufgefallen?«

»Bei jeder Mahlzeit. Kante auf Kante, immer drei Mal.« Lächelnd sieht sie ihn an, und er braucht einen Moment, um zu realisieren, dass er sich nicht verspottet fühlt. Ihre hellbraunen Haare werden von Spangen zurückgehalten, das Gesicht wirkt offen und ein wenig verträumt. Im Seminar sitzt sie im Schneidersitz auf ihrem Stuhl, hat den Rücken durchgedrückt und die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Starr vor Aufmerksamkeit. So saß sie eines Morgens neben ihm im Wahlpflichtkurs zur amerikanischen Verfassung. Sie musste sich verspätet haben, jedenfalls hat er sie erst bemerkt, als der zu patriotischen Floskeln neigende Dozent Amerika das Mutterland der Demokratie nannte und rechts von ihm jemand ein ploppendes Geräusch mit den Lippen machte und sagte, you wish, Nixon.

»Doch kein Kino?«, fragt er.

»Ich hab mir überlegt, dass es zu kalt ist. Außerdem bin ich schon ein bisschen tipsy.« Sie wendet sich zum Schreibtisch und hantiert mit der Weinflasche und einem zweiten Glas. Ihre weite, aus verschiedenen Stoffstücken zusammengenähte Hose lässt die Form eines schmalen Hinterns erahnen. »Was hat dich aufgehalten? Sind Hurwitz noch fünfhundert Bücher eingefallen, die du bis zum Sommer lesen musst?«

»Ich soll ihm helfen, den Tod seines Bruders zu recherchieren.«

»Oh.« Sie hält in der Bewegung inne, mit der sie ihm das Glas reichen wollte, ihre grau-blauen Augen direkt auf seine gerichtet. »Erzähl, wie ist er gestorben?«

»Im Krieg. Ich soll mit niemandem darüber reden.«

»Erzähl!«

Um den Blickkontakt zu verlängern, zögert er. Nimmt zuerst das Glas und trinkt einen Schluck. Der Wein schmeckt nicht, tut aber gut. Sandrines blasse Sommersprossen werden nur sichtbar, wenn Licht auf die Haut fällt.

»Das ist ein Befehl«, sagt sie.

Beim Reden wird ihm so warm, dass er Pullover und Hemd auszieht und Sandrine schließlich im T-Shirt gegenübersitzt. Die meisten Wörter hat er vor einer Stunde von Hurwitz gelernt und benutzt sie zum ersten Mal. Es fühlt sich merkwürdig an, von Deutschland wie von einer unbekannten Hölle zu sprechen, aber tatsächlich hat er vor heute Abend noch nie von diesem Landstrich in der Nordeifel gehört, wo im Winter 1944/45 zerfetzte Leichen in den Bäumen hingen. Sandrine hört zu in ihrer Yogi-Haltung, mit geradem Rücken und so reglos, als wäre sie in Meditation versunken. Draußen auf der Fensterbank wächst eine weiße Düne, die sie langsam von der Außenwelt abschneidet.

»Einmal in der Woche soll ich bei ihm vorbeikommen.« Nach einem halben Glas spürt er wieder Hitze auf den Wangen. »Es gibt ein ganzes Zimmer voller Material, aber natürlich liest er nur Englisch.«

»Ist es ein altes Haus?«

»Ja. Seine Frau hat mich vor seiner Besessenheit gewarnt. Früher im College war er ein berühmter Footballspieler. Hier an der U of M. Wenn er in Fahrt kommt, ist er nicht zu halten. Er hat darüber gesprochen, als wäre alles gestern passiert.«

»Wie hieß der Bruder?«

»Joey. Jedenfalls hat Hurwitz ihn so genannt.«

Das obere Stockwerk in Hurwitz’ Haus besteht aus zwei niedrigen Zimmern, deren größeres als Arbeitsraum dient. Das andere zeigt zum Garten und beherbergt die Materialsammlung; noch ungesichtet und nur provisorisch geordnet auf langen Regalböden. Memoiren, Briefe, historische Studien. Zwei alte Landkarten hängen an den ansonsten kahlen Wänden, auf der größeren zeigen Pfeile die Truppenbewegungen an. Hurwitz nannte den Raum seine Zelle und diese Schlacht den größten Fehler des Zweiten Weltkriegs. Ein Feldzug im schlimmsten Winter seit fünfzig Jahren, ohne entsprechende Ausrüstung! Ein völlig überflüssiges Gemetzel. Je länger er sprach, desto größer wurde seine Empörung, erst beim Abschied vor der Haustür fand er zurück zu seinem distanzierten Selbst. Ein wenig müde, mit immer noch unruhigen Augen. Für seinen Händedruck ist er unter Studenten gefürchtet; vorsichtshalber spannte Hartmut den Oberkörper an, bevor er einschlug. Marsha sah er nicht mehr.

»Ich konnte ihn nicht unterbrechen«, sagt er. »Ihm sagen, dass ich noch eine andere Verabredung habe.«

Sandrine winkt ab und schenkt Wein nach. Als er sich umschaut, kommt ihm das Zimmer nicht mehr chaotisch vor, sondern wohnlich auf ähnliche Weise wie Sandrine herzlich ist, ohne offensichtliches Bemühen. Sie sitzen auf einem Lager aus Kissen und so nah beieinander, dass seine ausgestreckten Beine ihre Knie berühren. Einmal steht sie auf, macht sich am Plattenspieler zu schaffen und setzt sich genauso dicht zu ihm wie zuvor. Hält ihm das bunte Cover der Platte entgegen.

»Mein Vater schickt mir so was. Magst du europäischen Jazz?«

»Keine Ahnung.«

»Was ist das für eine Antwort?«

»Ich müsste es erst hören.«

»Tust du gerade.« Sie schaut ihn an, und er spürt die Stelle an seiner Wade, die ihr Knie berührt. »Mein Vater versorgt mich regelmäßig mit Büchern und Platten, damit ich ihm verzeihe, dass er meine Mutter betrügt. Eigentlich müsste ich ihm alles zurückschicken, aber er ist ein gewiefter Hund. Er weiß genau, was ich mag. Also bin ich seine Komplizin.« Sie legt sich das leere Cover auf den Kopf, wo es ein paar Sekunden in der Balance bleibt. Dann rutscht es über ihren Rücken zu Boden. »Das ist meine Familie: ein Casanova, der aussieht wie Fernandel, und eine gebildete kluge Frau, die zu allem, was sie im Lauf des Tages schluckt, Aspirin sagt. Und ich. Von deiner Familie erzählst du nie.«

»Warum trennen sie sich nicht?«

»Feigheit. Komplizierte Vermögensverhältnisse. Tradition. Sie haben geheiratet, weil meine Mutter schwanger war, und an manchen Tagen bringe ich es fertig, mich deswegen schuldig zu fühlen. Komisch, oder? Wir sind alle sehr bourgeois.« Mit einem Schulterzucken greift sie nach seiner Hand.

Einen Moment lang fühlt er sich überrumpelt und weiß nicht, wie er reagieren soll. Dann reden sie einfach weiter. Im Hintergrund spielt eine Trompete, wie er sie noch nie gehört hat: unruhig, flatterhaft, ein Haken schlagendes Tier. Er selbst wird immer ruhiger. Spürt Sandrines Fingerspitzen über seinen Handteller fahren und hört zu, wie sie von einer geplanten Reise erzählt. »The Great River Road«, sagt sie, als wäre es eine Zauberformel. Der Verlauf scheint auf seinen Unterarm geschrieben zu sein, jedenfalls tippt sie auf eine Reihe von Punkten und flüstert unbekannte Namen dazu. Hartmut denkt an die Mark-Twain-Geschichten von früher, an seine Phantasien von Schaufelraddampfern und selbst gebauten Flößen. Dunst über dem weiten Wasser, einen Grashalm im Mund. Kann man sich nach einem Ort sehnen, an dem man nie gewesen ist? In Sandrines Erzählung kann man ihn sogar erreichen. Man muss nur dem Fluss folgen, der draußen durch den verschneiten Campus fließt. Immer weiter, bis tief in den Süden.

»Du hast eine Gänsehaut«, sagt sie. »Bin ich das?«

»Wie willst du fahren? Mit dem Zug?«

»Ich kauf mir ein Auto.«

Inzwischen liegt er auf dem Rücken. Sandrine lässt seine Hand los, dreht die Platte um und stellt die leeren Gläser auf den Schreibtisch, bevor sie sich zu ihm legt. Wie selbstverständlich nimmt sie ihre Brille ab, bettet den Kopf auf seinen Oberarm und sagt: »Einen offenen Thunderbird. Mr. Casanova bezahlt.«

»Du hast schon alles geplant.«

»Fast alles.« Sie streckt den Hals und küsst ihn sanft auf die Wange. Die Berührung erinnert ihn an die Schneeflocken vor den Fenstern der Wilson Library. »Der Beifahrersitz ist noch frei.«

Langsam dreht er ihr das Gesicht zu. Normalerweise geschehen Dinge nicht auf diese Weise, und trotzdem ist er nicht überrascht. Den gesamten Sommer und den Herbst hindurch hat er mit der Erwartung gelebt. Seit er in New York gelandet und zwei Tage lang durch die Stadt gelaufen ist. Müde und durstig, unaufhörlich staunend. Seitdem weiß er von der Unumkehrbarkeit seines Weges.

»Heute Nachmittag hatte ich so ein Gefühl«, sagt er, »in der Bibliothek. Als es auf einmal begonnen hat zu schneien.«

»Was für ein Gefühl?«

»Weiß nicht. Ein gutes.« Obwohl er sich schämt für seinen Maulwurfsblick, wehrt er sich nicht, als Sandrine ihm die Brille abnimmt. Ihr Gesicht verschwimmt, eine Hand legt sich auf seine Wange.

»War es bisher nicht gut?«

Er kann ihren Atem riechen, den Wein und die Wärme.

»Das erzähle ich dir ein andermal.«

»Es ist unsere Zeit, weißt du. Die Nixons sind bald alle weg.«

»Oh ja«, sagt er. »Auf jeden Fall. Keine Frage.«

Die Trompete hält den Ton und lässt ihn langsam lauter werden. Seine Gedanken gehen darin unter. Sandrines Gesicht kommt näher, und draußen fällt Schnee, als würde der Winter ewig dauern.

1 »Was ist das für eine Frage?« Mit einem Ruck steht Peter Karow auf, und zum ersten Mal liegt Ungeduld in seiner Stimme. Ein Anflug von Gereiztheit, den er lächelnd zu kaschieren versucht. Er kommt um den Schreibtisch herum, dann stehen sie einander gegenüber in jenem wechselseitigen Unverständnis, das seit einer Stunde von Peters wortreicher Jovialität überdeckt wird. Zwei nicht mehr junge Männer, die unterschiedlicher kaum sein könnten und deren guter Wille wenig findet, woran er sich bewähren kann. Was tun wir hier, denkt Hartmut und weiß, dass auch ihm die Anspannung anzumerken ist. Den vor zwanzig Minuten angebotenen Kaffee hat er immer noch nicht bekommen. Schon den ganzen Morgen sitzt ihm ein nervöser Reizhusten in der Kehle und zwingt ihn häufiger als sonst, sich zu räuspern.

»Ich meine nicht, ob es Regeln gibt«, sagt er. »Ich versuche mir vorzustellen, wie es sein würde. Das ist alles.« Sein hartnäckig beibehaltener Konjunktiv, mit dem er zu Peters wachsendem Verdruss ihre Unterhaltung gängelt.

»Verstehe. Okay.« Peter legt ihm eine Hand auf die Schulter, öffnet mit der anderen seine Bürotür und deutet den Flur hinab. »Soll ich dir was zeigen, das dir helfen kann, eine genauere Vorstellung zu entwickeln?«

Ein paar Mitarbeiter sehen durch Glaswände in ihre Richtung. Die nächste Tür steht halb offen, und Peter schiebt Hartmut in einen weiß getünchten leeren Raum, aus dessen großflächigen Fenstern der Blick über die Dächer des Viertels geht. Helle Wolkentupfer stehen über Berlin wie eine Armada wartender Luftschiffe. Das schwarze Kuppeldach muss zu einem Bau auf der Museumsinsel gehören, aber es ist lange her, dass er sich hier ausgekannt hat. Im Ostteil der Stadt eigentlich nie.

»Bitte sehr. Größer als meins.«

»Hier würde ich arbeiten?« Um sich von der Hand auf seiner Schulter zu befreien, macht Hartmut einen Schritt in das Zimmer hinein. Wie in allen Räumen von Karow & Krieger riecht es nach frischer Tapetenfarbe, Laminat und neuen Büromöbeln. Ein synthetischer, angenehm kühler Geruch, der die gesamte Etage durchweht und zur Stimmung unter den jungen Mitarbeitern passt: professionell und klar. In diesen Räumen herrscht ein ruhiger Elan, der nicht Bedenken wälzen, sondern etwas auf die Beine stellen will.

»Wenn du Wünsche hast«, sagt Peter hinter ihm, »das Mobiliar oder andere Dinge betreffend, nur raus damit. Du sollst dich wohl fühlen bei uns.«

Bisher besteht die Einrichtung nur aus einem großen Schreibtisch samt Drehstuhl. Beide Seitenwände werden von Regalen eingenommen, auf denen die elegant hochformatigen Publikationen des Verlags ausliegen. Ein von Lamellen verdecktes Fenster zeigt zum Flur, daneben lehnt Peter Karow und beobachtet ihn mit verschränkten Armen. Zur dunkelblauen Jeans trägt er ein weißes Seidenhemd und sieht jünger aus als fünfundfünfzig. Immer noch blonde Haare, blaue Augen und um die schmalen Lippen eine Andeutung von Überheblichkeit, die zum Typ passt und daher nicht unsympathisch wirkt. Hartmut lässt sich auf dem Schreibtischstuhl nieder, dessen Hydraulik ein leises Seufzen von sich gibt. Er weiß, dass er jetzt etwas sagen muss, und ist froh, als Peters Assistentin Nora Velasquez hereinkommt und ihm endlich den Espresso und ein Glas Wasser bringt. Seine Kehle ist so trocken, dass er glaubt, einen Hustenanfall zu bekommen, wenn er nur den Mund öffnet.

»Lieber Herr Hainbach, tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Wir brauchen dringend eine neue Maschine.« Sie ist groß gewachsen und schlank, die leicht geknickte Nase verleiht ihrer Schönheit einen dominanten Zug. Im Ausschnitt der engen Bluse sieht Hartmut ein Kreuz baumeln, als sie das kleine Tablett vor ihm abstellt.

»Ich bekomme keinen?«, fragt Peter.

»Du bekommst alles, was du willst. Aber wenn ich dir noch einen bringe, ruft Erwin mich heute Abend an und sagt: Norchen, wir hatten doch eine Abmachung.« Dank hoher Absätze überragt Nora ihren Chef um ein paar Zentimeter und scheint das zu genießen.

»Ich weiß deine Besorgnis zu schätzen, Liebling. Machst du mir bitte einen.«

»Wie du meinst.«

Aus den Augenwinkeln sieht Hartmut, wie die beiden einen Blick tauschen. Er trinkt sein Wasser, versucht Boden unter die Füße zu bekommen und wäre am liebsten für einen Moment allein. Der Zwischenfall mit der aufdringlichen Spendensammlerin sitzt ihm immer noch in den Knochen. Er kann seinen eigenen Schweiß riechen und hat darauf geachtet, Abstand zu wahren zu den jungen Leuten, die ihm in der letzten Stunde vorgestellt wurden. Einige sind kaum älter als Philippa. Der Umgangston ist frei von akademischer Selbstgefälligkeit und verkrampfter Bildungshuberei, stattdessen ironisch, flott und – lieb, hat er gedacht und nicht gewusst, warum das zu seinem Unbehagen beitrug. Insgeheim hofft er darauf, dass jemand den Arm hebt und die Inszenierung beendet. Seit er die Verlagsräume betreten hat, kommt er nicht heraus aus der Rolle des zögerlichen Griesgrams, der hinter jeder Freundlichkeit Kalkül vermutet und selbst für dieses sonnige Büro keine Worte der Anerkennung findet. Der Geruch von Menthol-Zigaretten und einem herben Parfüm bleibt zurück, als Nora Velasquez den Raum verlässt.

»Übrigens weiß Maria nicht, dass ich heute hier bin«, sagt Hartmut. »Und solange ich mich nicht entschieden habe, muss sie das auch nicht.« Der Espresso ist stark und bitter und schmeckt genau richtig. Hier sitzt er und redet von Entscheidung, als würde er tatsächlich daran denken, den Schritt zu tun.

»Verstehe.«

»Bin ich ihretwegen hier?«

»Fragst du mich das?« Die Angewohnheit, seine Augenbrauen beim Sprechen nach oben zu ziehen, gibt Peters Rede einen affektierten Einschlag, und jedes Mal denkt Hartmut, dass er gerne mit der Assistentin unter vier Augen sprechen und sie fragen würde, wie Peter Karow so ist. Als Mensch. Was er natürlich auch Maria fragen könnte, aber die würde sofort wissen, was er meint, und missbilligend den Kopf schütteln.

»Ich meinte von deiner Seite. Machst du mir dieses Angebot ihr zuliebe?«

»Ich bin Geschäftsmann, Hartmut. Du weißt, wie sehr ich deine Frau mag, aber das sind zwei Dinge, die ich trenne. Trennen muss.«

»Wie kommst du dann auf mich? Ich hab keine Erfahrung im Verlagsgeschäft.«

»Erfahrung haben wir selbst, wir brauchen dich für die Inhalte.« Peter sieht auf die Uhr und atmet kurz durch, als stemme er sich gegen seine wachsende Resignation. »Also noch mal von vorne. Wir sind ein Fachverlag mit hervorragendem Ruf in einem bestimmten Marktsegment. Kulturwissenschaften, Gender Studies, Medientheorie, Design und so weiter. Wir sind preisgünstig, zuverlässig, ein bisschen schick, ein bisschen anders. Autoren kommen von sich aus zu uns, in immer größerer Zahl. Mit einem Wort: Wir sind im deutschen Verlagswesen eine der Erfolgsgeschichten der letzten Jahre. Okay?« Peter hat sich vom Türrahmen gelöst und tritt vor die linke Bücherwand, als wären dort die neuesten Umsatzzahlen von Karow & Krieger zu sehen, hübsch aufgeteilt in die Segmente des akademischen Dernier Cri. »Jetzt wollen wir unser Profil erweitern. Rein in die klassischen Geisteswissenschaften, wo wir noch keinen Ruf haben. Also suchen wir nach Verstärkung, deine Expertise, deine Kontakte, dich. Wir wollen nicht die tausendste Platon-Exegese, sondern neue Ansätze. Was in der Philosophie spannend ist, soll bei uns passieren. Reicht dir das? Ich kann endlos weiterreden, Hartmut, das ist mein Job. Ich kann aber auch sagen, dass ich dich mag und keine Lust mehr habe, der älteste Mitarbeiter meines Verlags zu sein. Such dir was aus.« Mit den Augen fügt er hinzu: Aber tu es bald.

»Ich hab ein bisschen Angst um meine Freiheiten.«

»Was soll ich dir sagen? Wir haben ein Programm und ein Verlagsprofil, zu uns passt nicht alles. Die inhaltliche Ausrichtung wird abgesprochen, ansonsten bist du frei. Mit Sicherheit freier als an der Uni.«

»Die letzte Entscheidung liegt bei dir, nehme ich an.«

»Du wirst sehen, dass ich kein Problem damit habe, der fachlichen Kompetenz meiner Mitarbeiter zu vertrauen. Ich weiß, was du aufgibst.«

Woher denn, denkt Hartmut und hört im Nachbarzimmer das Telefon klingeln. Die Wände scheinen ziemlich dünn zu sein. Sein Blick fällt auf ein neongelbes Buchcover mit dem Titel Sieh! Mich! An!

»Und wenn das Experiment scheitert?«, fragt er.

Peter ist zurückgekehrt zu seinem Platz neben der Tür und sagt ohne eine Spur von Koketterie: »Scheitern ist nicht mein Stil. Nicht mehr.«

»Nicht dein Stil, hm.« Das Bild ihres ersten Zusammentreffens steht ihm vor Augen: der Abschied auf einem schlecht beleuchteten Bahnsteig, Mitte der Achtzigerjahre, irgendwo in Ost-Berlin. Peters Tränen. Damals wie heute strahlt er eine Verwundbarkeit aus, die zu tief sitzt, als dass markige Sprüche oder Designerhemden sie überdecken könnten. Maria zufolge ist er oft gescheitert in seinem Leben, als experimenteller Dramatiker ebenso wie später als Wissenschaftler, Café-Betreiber und zuletzt als Herausgeber einer avantgardistischen Kunstzeitschrift namens neo. Ohne das Kapital seines Partners Erwin Krieger hätte er wahrscheinlich auch mit der Verlagsgründung keinen Erfolg gehabt. Inzwischen beschäftigt er fast zwanzig Mitarbeiter.

»Hartmut, ich hab das Gefühl, du glaubst gar nicht an dieses Projekt. Warum?«

»Ich brauche mehr Zeit.« Es ist bereits kurz vor zwölf. Er muss raus hier, Maria anrufen und in Ruhe nachdenken.

»Zehn Tage. Weil du es bist und nur, wenn du am Ende Ja sagst. Wir sitzen hier in den Startlöchern.«

»Okay.« Hartmut stellt die Tasse ab und steht auf. »Zehn Tage.«

Die Büros liegen rechtwinklig um einen dank heller Außenkacheln freundlichen Innenhof. Auch im Flur stehen Regale mit den typischen knalligen Umschlägen des Verlags, Werbeposter schmücken frisch gestrichene Wände, überall stapeln sich Kartons. Ein paar Mitarbeiter winken, und Nora Velasquez eilt aus ihrem Büro, um ihm die Hand zu schütteln.

»Bis bald, Herr Hainbach. Wir freuen uns auf Sie.« Ihre zahlreichen Armbänder machen ein raschelndes Geräusch.

»Wir werden sehen.«

»Wir sind wirklich nett hier, oder?«

»Das stimmt. Vielen Dank schon mal.«

Das Treppenhaus ist grau und leer wie in einem Rohbau. Durch die Glasfassade kann Hartmut ins Innere des hinteren Gebäudeflügels sehen. Es beginnt das vorletzte Wochenende im August, die Sonne steht hoch und bringt metallene Fensterrahmen zum Glänzen. Dahinter sitzen junge Hauptstadtbewohner vor ihren MacBooks oder stehen um große Arbeitstische herum und diskutieren.

»Es gibt so was wie den Sog des Unvorstellbaren, oder?«, hört Hartmut sich sagen. Ist es das, was er sich einzureden versucht, seit er den Verlag betreten hat: dass ein Risiko einzugehen zum Leben dazugehört und sich auch dann lohnt, wenn es schiefgeht? Weil kein Risiko einzugehen bloß die Niederlage vorwegnimmt, vor der man sich fürchtet? Auf den Gedanken ist er kürzlich im Bonner Sommerkino gekommen. Als einziger Professor saß er im Arkadenhof der Universität und hat sich gefragt, was es über seinen Zustand aussagt, dass er sich vom Geschehen auf der Leinwand so persönlich angesprochen fühlte.

Peter zuckt mit den Schultern.

»Ich seh dich hier«, antwortet er schlicht. »Wir haben ein gutes Team, ein paar ältere Leute mit viel Erfahrung, dazu junge Mitarbeiter mit frischem Schwung. Bei uns passiert was. Sei dabei.«

»Ich muss noch mal um Diskretion bitten, falls du Maria in der Zwischenzeit siehst.«

»Bestell ihr schöne Grüße. Wie kann ich dich erreichen, falls du zwischendurch einen Tritt brauchst?«

»Am besten per E-Mail. Die Adresse hast du.«

Sie schütteln einander die Hand, dann geht Hartmut die Treppe hinunter und ist überrascht, wie eilig er es hat. Erst draußen auf dem Bürgersteig bleibt er stehen und atmet tief durch. Blickt auf Altbaufassaden und die balkonlose Tristesse sanierter Plattenbauten. An den Laternenpfählen protestieren Aufkleber gegen steigende Mieten. Natürlich hätte er Peter seine Handynummer geben müssen, statt ihn wie einen Studenten mit der E-Mail-Adresse abzuspeisen. Ein paar Worte des Dankes wären angebracht gewesen, außerdem die Versicherung, dass er in dem Wechsel mehr sieht als nur einen Beitrag zur Rettung seiner Ehe. Niedergeschlagen und dennoch erleichtert durchquert Hartmut die Grünanlage am Koppenplatz. Überquellende Mülleimer und Bänke mit chaotischen Graffiti. Ein Holztisch und zwei alte Stühle auf der Wiese könnten Kunst oder Sperrmüll sein. Was er jetzt braucht, ist ein Café, wo Maria ihm bald Gesellschaft leisten kann. Am besten in der Nähe des Theaters. Sie hat mittags nicht viel Zeit.

Gläserne Fassaden reflektieren das Sonnenlicht und werfen es auf die Gehsteige. Als Hartmut aus dem Durchgang der Hackeschen Höfe tritt, muss er die Augen zusammenkneifen und den Schritt verlangsamen. Vor dem British Council bietet sich dasselbe Bild wie am Morgen: Vier junge Menschen versuchen Mitglieder für eine Organisation namens Oxfam zu gewinnen. Eifrig wedeln sie mit ihren Broschüren, mustern die entgegenkommenden Passanten und warten auf ein Gesicht, das nach wenig Widerstand aussieht. Am Morgen war Hartmut spät dran, weil Maria überraschend erklärt hatte, erst um halb elf im Theater sein zu müssen. Hinter ihnen lag einer der besseren Kurzbesuche, auf die sich ihre Ehe seit zwei Jahren reduziert. Im Deutschen Theater hatten sie Hedda Gabler in einer Inszenierung gesehen, die seinen Geschmack eher traf als Marias, und waren sich hinterher trotzdem einig in ihrem Urteil. Wie immer in der Wohnung seiner Frau hat er schlecht geschlafen, morgens lange geduscht und beim Frühstück versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Draußen strahlte ein verheißungsvoll sonniger Himmel. Nach zwanzig Jahren Ehe frühstücken sie an einem Tisch, auf den keine ausgebreitete Zeitung passen würde. Marias stilles Lächeln verriet, dass seine Angespanntheit ihr nicht entging. Um kurz vor elf kam Hartmut am Hackeschen Markt an, lief bei Rot über die Straße und der jungen Frau direkt in die Arme. Sie hielt ein Clipboard mit Beitrittsformularen in der einen Hand, einen Flyer in der anderen und trug im Gesicht den Zweckoptimismus der nebenberuflichen Samariterin. Rötliche Allergieflecken umrahmten die Augen. Hartmut wollte ihrem Blick ausweichen, aber es war zu spät, sie hatte ihn auserkoren. Er wusste sofort, dass das schiefgeht.

»Sie möchten das Richtige tun, das sehe ich.«

»Ich möchte zu einem Termin«, sagte er und spürte sein Lächeln einfrieren, als er den Schritt verlangsamte, ohne anzuhalten. Warum pickte sie aus dem breiten Strom von Passanten ausgerechnet ihn heraus? Sah er aus wie jemand, der sich schnell überreden ließ? Beinahe hätte er sie danach gefragt, aber er wollte in der Vorwärtsbewegung bleiben, sich nicht einfangen lassen von dieser Wegelagerei des guten Zwecks. Ein wichtiges Gespräch stand ihm bevor, er musste sich konzentrieren.

»Das hier könnte sehr schnell gehen.« Links und rechts drängten Leute vorbei, machten unwirsche Handbewegungen, als ließe das Elend der Dritten Welt sich wie ein Insekt verscheuchen, und Hartmut saß in der Falle. Gefangen zwischen der jungen Frau und einem mit Aufklebern zugekleisterten Stromkasten. Nach vorne versperrten Fahrradständer den Weg, idiotisch postiert auf dem ohnehin engen Trottoir. ›Für eine gerechte Welt. Ohne Armut.‹ So stand es grün auf weiß auf ihrem T-Shirt.

»Ich nehm so ein Formular mit, okay?«

»Oxfam ist eine unabhängige Entwicklungs- und Hilfsorganisation, die sich für eine gerechte Welt ohne Armut einsetzt. Wir betreiben Nothilfe in Krisenregionen und decken die der Armut zugrundeliegenden Strukturen auf.« Sie hatte weiße Speichelrückstände in den Mundwinkeln und einen manischen Sprachduktus, der Hartmuts Widerwillen verstärkte. »Es geht um nachhaltige Erwerbsgrundlagen, Gesundheit, Umweltschutz und Bildung. Dafür kooperieren wir mit über dreitausend Partnern in derzeit neunundneunzig Ländern.«

Sobald er einen Schritt nach vorne machte, bewegte sie sich rückwärts, immer direkt vor ihm, so dass er sie hätte umrennen müssen, um zu entkommen. Oder über vier angekettete Fahrräder springen.

»Wollen Sie Mitglied werden?« Offenbar dachte sie, sie hätte ihn schon so weit.

»Jetzt nicht. Jetzt will ich zu meinem Termin.«

»Armut und Rückständigkeit sind vermeidbar. Es geht nicht um Almosen, sondern um die nachhaltige Veränderung ungerechter Strukturen. Sie können Ihren Beitrag leisten. Drei Viertel unseres Budgets gehen direkt in Projekte und Kampagnen.«

Er nickte ergeben und griff nach seinem Portemonnaie. Ihr Lächeln war ihm nicht unsympathisch, nur diese Allergieflecken zogen seinen Blick gleichzeitig an und stießen ihn ab. Wir stehen auf derselben Seite, wollte er sagen. Irgendwas in der Art und dann weg.

»Wir dürfen kein Geld nehmen. Ich hab hier dieses Formular, und Sie können selbst entscheiden, welche Form der Mitgliedschaft ...«

»Hören Sie ...« Ich finde das wirklich gut, was Sie machen. Was fällt Ihnen ein, mich so zu überfallen? Er konnte sich nicht für einen Satz entscheiden, drehte sein Gesicht aus ihrem erwartungsvollen Blick und suchte im Strom der Passanten nach einer Lücke. Ihm stand ein wichtiges Gespräch bevor, und er war spät dran! Mit einem genervten »Ja, ja, ja« rauschte ein junger Mann an ihnen vorbei, und in seinem Windschatten machte Hartmut zwei Schritte nach rechts. Wäre beinahe über eine Hundeleine gestolpert, stieß gegen jemandes Schulter und glaubte, es geschafft zu haben, als er die Frau hinter sich sagen hörte: »Dann vielen Dank. Und einen schönen Tag noch.«

Rückblickend kann er nicht mehr entscheiden, ob ihre Stimme sarkastisch oder resigniert geklungen hat. Vielleicht beides. Sie musste an Abfuhren gewöhnt sein, und wahrscheinlich sagte sie ihm dasselbe wie allen, die ihr Engagement nicht auf der Stelle unterstützten. Am Morgen allerdings hat er ihre Bemerkung wie einen Tritt in den Hintern empfunden. Erst zwang sie ihn zu dieser schmählichen Flucht, dann verhöhnte sie ihn dafür. Noch zwei Meter ging er weiter, bevor er sich umdrehte und die Worte in ihm hochkamen wie Übelkeit. Tu’s nicht, dachte er, aber es war zu spät: »Verschonen Sie mich mit Ihrem verdammten Gutmenschentum! Ja, geht das?« Er machte sogar einen drohenden Schritt zurück in ihre Richtung. »Warum stecken Sie sich Ihre gerechten Strukturen nicht einfach in den Arsch!«

Neben ihm zog eine Frau ihr Kind dichter zu sich heran. Zwei Kerle in weiten Hosen lupften grinsend ihre Kopfhörer und zeigten auf den älteren Herrn mit Armani-Brille, der in aller Öffentlichkeit herumbrüllte. Wie ein schlecht gerührter Drink bestand die Luft aus Kälte und Wärme zugleich. Hartmut hörte das Echo seiner Worte, die schrille rohe Wut darin. Sie kam ihm größer vor als das, was er empfand. Dann war die Sekunde vorbei, und alle gehorchten ihrer großstädtischen Konditionierung. Stellten fest, dass niemand verletzt worden war und sahen wieder weg. Alle, bis auf die Oxfam-Frau. Mit hängenden Armen stand sie drei Meter entfernt und starrte ihn an. Strähnige blonde Haare fielen ihr auf die Schulter. War ich das?, fragte ihr Blick. Ohne Groll, nur erschrocken und beinahe mitleidig. Das hat mit Ihnen nichts zu tun, dachte Hartmut, aber anstatt es zu sagen, schüttelte er den Kopf und entkam auf die andere Straßenseite. Durch den Eingang der Höfe, zu seinem Termin bei Karow & Krieger.

Warum stecken Sie sich Ihre gerechten Strukturen nicht einfach in den Arsch! Seine eigenen Worte. Zu einer Frau!

Was ihn in die Gegenwart zurückholt, ist das Geräusch seines Atems. Seit dem Espresso im Verlag klopft sein Herz schnell und hart, und die peinigende Erinnerung tut ein Übriges. In der vierköpfigen Gruppe auf der anderen Straßenseite erkennt er die junge Frau wieder. Stoisch stellt sie sich einem Passanten nach dem anderen in den Weg, ein robustes Lächeln im Gesicht und ihren Spruch auf den Lippen. Soll er zu ihr gehen und sich entschuldigen? Sobald er den Gedanken erwägt, fühlt er sich aufs Neue bedrängt vom Betrieb auf der Straße. Trams klingeln sich den Weg frei. Das Licht kommt aus allen Richtungen, so wie die vielen Fußgänger, und ihn übermannt das Bedürfnis nach Schatten und Stille. Was er ihr an den Kopf geworfen hat, klingt derart absonderlich, dass er sich nur halbherzig dafür schämt. Eher erstaunt es ihn, dass er das tatsächlich gesagt haben soll. Heute Vormittag, auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch?

Schnellen Schrittes überquert er die Straße. Vor den Restaurants beim S-Bahnhof mokieren sich Gäste über den Kerl mit der Gitarre, der nicht singen kann und sie trotzdem gleich anbetteln wird. Hartmut zwängt sich zwischen Tischgruppen hindurch und betritt den riesigen, fast leeren Raum unter der Bahntrasse. Angenehmes Dämmerlicht empfängt ihn. Rechts eine opulente Bar, links der Durchgang zu den Tischen, von denen nur zwei besetzt sind. Ein Barkeeper mit breiten Schultern und rasiertem Schädel nickt ihm zu. Auf den letzten Schritten beginnt sich sein Puls zu beruhigen, dann sitzt er an einem schweren Holztisch, zieht das Sakko aus und fühlt sich augenblicklich besser. Leise Radiomusik hält die Geräusche von draußen auf Abstand.

Als der Barkeeper an seinen Tisch kommt, bestellt Hartmut ein Wasser ohne Eis und ein Glas Riesling. Bis er auf die Autobahn muss, bleiben ihm drei Stunden.

»Kommt sofort.« Der Hüne legt eine Speisekarte auf den Tisch und will wieder verschwinden, dreht sich aber noch einmal um. »Alles in Ordnung bei Ihnen?« In seinen Ohrläppchen stecken schwarze Ringe, die wie Unterlegscheiben aussehen.

»Alles okay. Ziemlich warm draußen.«

»Sommer, wa.« Er nickt noch einmal und geht.

Zurücklehnen. Kurz die Augen schließen. Durchatmen. Beim Abschied am Morgen hat Maria darauf bestanden, dass sie gemeinsam zu Mittag essen, bevor er wieder fährt. Das Handy teilt ihm mit, dass vor einer Viertelstunde ein Anruf von ihr eingegangen ist. Hoffentlich keine Absage, denkt Hartmut und wählt ihre Nummer. Wann sie das Theater verlassen kann, hängt von vielen Dingen ab: dem Verlauf der Proben, Falk Merlingers aktueller Stimmung und der Anzahl unbeantworteter E-Mails in ihrem Computer. Nach dem zweiten Läuten hebt sie ab, klingt gut gelaunt und fragt, wo er abgeblieben sei.

»Hackescher Markt. Unter den S-Bahn-Bögen.«

»Bleib, wo du bist«, sagt sie. »Ich hab eine Stunde.«

Der Kellner bringt die Getränke. Säuerlich und erfrischend kühl rinnt der Wein seine Kehle hinunter. Draußen fällt Sonnenlicht durch die Blätter der Bäume. Der Gitarrenspieler geht mit seinem Hut in der Hand durch die Tischreihen, weiter hinten hocken Punks zwischen ihren Hunden. So könnte es sein, denkt er. Hier sitzen und nach einem ausgefüllten Vormittag im Verlag auf Maria warten. Ein leichter Lunch und entspannte Gespräche, die unspektakuläre Schnittmenge von ihrem und seinem Alltag. Maria würde sich über Merlingers Launen beklagen, er hätte einen Autor von seinem Titelvorschlag überzeugt. Gemeinsam könnten sie darüber lachen, was für Manuskripte sie auf ihrem Schreibtisch vorfinden. Was die Leute sich denken! Nach einer Stunde müsste lediglich noch geklärt werden, ob sie am Abend zu Hause oder auswärts essen.

Eines hat er damals sofort gewusst: Dass Peter Karows Angebot ihn in einen Konflikt stürzte, aus dem es kein schnelles Entrinnen gab. Knapp zwei Monate liegt die Verabredung am Planufer zurück. Es war ein Sommerabend, an dem die Hitze des Tages in den Straßen liegen blieb wie ein träges Tier und alle Menschen ins Freie lockte. Maria hatte im Theater zu tun und wollte ihnen später Gesellschaft leisten. Bis dahin saßen Peter und er zu zweit unter den Kastanien der Casa del Popolo, aßen Caprese, tranken Chianti, und Hartmut fragte sich, ob der ausführliche Bericht über die Expansion des Verlags eher dem Wein oder Peters Verlegenheit zuzuschreiben war. Sie kannten einander kaum. Auf der Premierenfeier im vorletzten Herbst wären sie grußlos aneinander vorbeigelaufen ohne Marias Intervention. Die erste Begegnung seit zwanzig Jahren. Als Peter ihn beim Hauptgang fragte, ob er bei Karow & Krieger als Programmleiter einsteigen wolle, glaubte Hartmut an einen Witz. Sein Gegenüber blieb ernst. Maria habe ihm erzählt, dass er seit Ausbruch des universitären Reformchaos die Lust an seiner Arbeit zusehends verliere. Reif für eine neue Herausforderung, lautete die Formulierung. Hartmut erinnert sich genau an den Moment. Es war spät, aber immer noch hell. Pärchen und türkische Familien gingen über die Brücke zum Fraenkelufer, und ihm saß plötzlich ein Kloß im Hals. Nach Westen öffnete sich der Blick auf seine alte Heimat. Schwäne zogen über das Wasser und sammelten sich vor den grünen Wiesen am Urbanhafen. Darüber der Großstadthimmel in seiner wohltuenden Gleichgültigkeit. Er kannte das Gefühl, obwohl er es lange nicht empfunden hatte: zu Hause sein wollen und nicht zu wissen wo. Bloß zu spüren, wie es wäre. Zwei Mal musste er sich räuspern, bevor er antworten konnte: »Wenn ich das nächste Mal in der Stadt bin, schau ich vorbei.« Seitdem sitzt in der Fracht seiner Gedanken ein blinder Passagier und verrät sich durch vorlaute Fragen. Warum nicht? Was ist so großartig an seiner Bonner Einsamkeit, dass er sie nicht aufgeben kann?

Um halb eins sieht er seine Frau über den Hackeschen Markt kommen. Mit beiden Händen schiebt sie ihr Fahrrad durch die Menge, und er genießt es für einen Moment, sie unbemerkt zu beobachten. Noch immer mag er den eleganten Gang und den sanften Stolz ihrer Augen. Ist seinerseits stolz, wenn er sie jemandem vorstellt mit ihrem klangvollen portugiesischen Namen. Sie stellt ihr Rad ab, schaut sich suchend um und will gerade aus seinem Blickfeld verschwinden, als er sie auf dem Handy anruft.

»Ich sitze drinnen«, sagt er. »Erstes Restaurant neben der Straße. Rocco oder Rocky oder so ähnlich.«

»Drinnen?« Kopfschüttelnd klappt sie ihr Handy zu und kommt ihm durch das leere Restaurant entgegen. Sie trägt eine beige Bluse über der schwarzen Leinenhose und im Gesicht den Widerschein von etwas, das sie erlebt oder gedacht hat und hoffentlich gleich mit ihm teilen wird. »Warum sitzt du drinnen? Der Sommer ist draußen.«

»Da war kein Tisch frei, und ich wollte nicht neben schwitzenden Touristen sitzen.«

»Sondern lieber alleine.« Sie küsst ihn nicht flüchtig, aber kurz. Schaut auf den Tisch und in sein Gesicht. Eine Wochenendehe führen heißt im Diskontinuum leben und verlangt nach schneller Auffassung und Anpassung. Maria ist darin besser als er.

»Wein zum Mittagessen«, sagt sie zufrieden. »Dann darf ich rauchen.«

Gemeinsam nehmen sie Platz, und Hartmut schiebt den gläsernen Aschenbecher in ihre Richtung. Wie so oft wundert er sich, dass er zwar nicht mag, wenn sie raucht, ihr aber nicht ungern dabei zusieht. Bevor sie anfangen können zu reden, kommt der Hüne zurück, und Maria bestellt eine große Apfelsaftschorle. Die vor ihr abgelegte Speisekarte ignoriert sie vorerst. Stattdessen sieht sie ihn an und passt auf, dass der Rauch nicht in seine Richtung treibt.

»Du siehst müde aus, kann das sein?« Nach Philippas Geburt hat seine Frau viele Jahre lang auf Zigaretten verzichtet, und rückblickend glaubt Hartmut an eine Verbindung zwischen dem Rückfall in ihre Nikotinsucht und dem langsam reifenden Entschluss, notfalls alleine aus Bonn wegzuziehen. »Oder nicht müde, sondern ...« Fragend nach oben gezogene Augenbrauen beenden den Satz.

»Schlecht geschlafen hab ich.«

»In meinem engen Bett.«

»Außerdem hatte ich ein unangenehmes Erlebnis auf der Straße.« Er greift nach seinem Glas, aber den Wein hat er schon ausgetrunken. In wenigen Sätzen schildert er den Vorfall und kann nichts dagegen tun, dass sein Bericht nach Rechtfertigung klingt. Maria sitzt zurückgelehnt auf ihrem Stuhl und ist, über einen Graben hinweg, den man nur von seiner Seite aus sehen kann, die Aufmerksamkeit selbst.

»Was heißt ›angebrüllt‹?«, fragt sie.

»Ziemlich laut.«

»Ärgerlich laut oder außer Kontrolle laut?« Sie will wissen, aber nicht direkt fragen, ob er sich noch einmal hat gehen lassen wie bei ihrem großen Streit vor einem Jahr. Diesmal einer Fremden gegenüber und auf offener Straße. Also erwähnt er ein anderes Beispiel.

»Ich hab mich gefühlt wie damals mit Herwegh. Als er mich aus seinem Büro schicken wollte wie einen aufdringlichen Studenten. Als ich ihn zusammengestaucht habe und plötzlich hören konnte, dass nebenan niemand mehr tippt oder telefoniert, weil alle die Ohren spitzen und denken: Was ist denn in den Hainbach gefahren?«

»Herwegh hatte dich beleidigt.«

»Ich weiß. Ich wollte das Gefühl beschreiben.«

»Okay.« Sie zieht an ihrer Zigarette und streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Du kamst dir gemaßregelt vor.«

Er nickt und trinkt einen Schluck Wasser. Gemaßregelt ist beinahe das richtige Wort, und trotzdem ärgert er sich, dass er Maria den Vorfall mit der Spendensammlerin erzählt hat. Seine Schilderung ergibt keinen Sinn, solange er auslässt, dass er wegen des Termins im Verlag angespannter war, als er sich eingestehen wollte.

Der Barkeeper bringt Marias Getränk und fragt, ob sie essen möchten. Hartmut bestellt Chili con carne, seine Frau den üblichen Salat. Als wollte die Stadt einen eigenen Kommentar zu dem Vorfall abgeben, erklingen draußen wütende Stimmen, und sofort drehen die Gäste unter den Sonnenschirmen die Köpfe. Ein Schimpfwort folgt auf einen vulgären Fluch, jemand ist blind und ein anderer bescheuert, dann müssen die Streithähne weiter, und die Anspannung löst sich auf. Nichts passiert.

»Jetzt fühlst du dich schlecht?«, fragt Maria.

»Stolz bin ich nicht. Sie engagiert sich für einen guten Zweck, und ich – hab ihre Bemerkung in den falschen Hals bekommen.« Den Wortlaut seines Ausbruchs hat er leicht zensiert und ›Arsch‹ durch ›sonst wohin‹ ersetzt. So klingt es eher nach einer Lappalie als nach abermaligem Kontrollverlust.

Maria wischt das Thema wie eine Rauchwolke beiseite und lächelt.

»Würde ein Witz unserer Tochter dich aufmuntern? Hat sie mir heute Morgen geschickt.« Das war es, was er beim Reinkommen auf ihrem Gesicht gesehen hat, die Erinnerung an einen Witz von Philippa, den sie ihm erzählen will.

»Ist er lustig?«

»Gut bis sehr gut.«

»Okay. Lass hören.«

Seine Frau ist in der Familie als mäßige Witze-Erzählerin bekannt. Meistens ohne das richtige Timing, zu schnell mit der Pointe, als wollte sie alles möglichst rasch hinter sich bringen. Ihre Begeisterung fürs Theater ist von jeher frei gewesen von dem Wunsch, selbst auf der Bühne zu stehen. Stattdessen spielt sie in Merlingers Ensemble das Mädchen für alles, pflegt die Kontakte zum Feuilleton, tröstet sensible Schauspieler und fungiert notfalls als Blitzableiter für die Launen des großen Maestro.

»Ich weiß, dass du nicht lachen wirst«, sagt sie, »aber versuch zu lächeln, okay? Sie hat mir eine Mail geschrieben, ohne Hallo, ohne Tschüss, nur den Witz. Mit der entsprechenden Betreffzeile: Ein Witz.«

»Ich bin ganz Ohr.« Die Ankündigung klingt nach Philippas trockenem Humor, den sie von keinem ihrer Elternteile geerbt hat. Seit drei Semestern studiert seine Tochter in Hamburg und verbringt diesen Sommer damit, in Santiago de Compostela Spanisch zu lernen. Ihre letzte Mail an ihn ist vor drei Wochen eingetroffen und bestand aus den üblichen Versicherungen: Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen, bis bald.

»Also.« Die Spur von Verlegenheit in ihrem Blick steht seiner Frau ausgesprochen gut. »Ein katholischer Priester, ein protestantischer Pfarrer und ein jüdischer Rabbi diskutieren die Frage, wann menschliches Leben beginnt. Der katholische Priester zögert keine Sekunde und sagt: Mit der Zeugung. Menschliches Leben beginnt mit der Zeugung. Der Protestant überlegt einen Augenblick, dann kommt er zu dem Schluss: Nein, menschliches Leben beginnt erst mit der Geburt. Schließlich schauen beide den Rabbi an, der ziemlich lange überlegt und den Kopf hin und her bewegt, bevor er antwortet ...« Sie zwingt sich zu einer kurzen Spannungspause, muss ein Lachen unterdrücken und schüttelt den Kopf über sich selbst. »Menschliches Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind.«

Lachen, denkt er und produziert ein halbwegs amüsiertes Schnauben durch die Nase. Über den Tisch hinweg will er nach Marias Hand greifen, aber seine Frau winkt ab. »Ich wusste es.«

»Es ist ein guter Witz. Und du hast ihn sehr gut erzählt.« Bitte sehr, er ist überhaupt nicht so negativ, wie Maria oft behauptet. Der Witz gefällt ihm wirklich. Sehr pfiffig. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, haha! Richtig super wird es natürlich erst, wenn die Frau auch noch geht. Da sitzt man abends im Wohnzimmer und kann sich kaum halten vor guter Laune. Zum Glück gibt es Telefon, E-Mail, Skype, die Technik fürs virtuelle Familienleben. Immerhin hat Philippa in Aussicht gestellt, ihn auf dem Rückweg nach Hamburg zu besuchen, und Maria will nach dem Kopenhagener Gastspiel für eine Weile in Bonn bleiben. Wer weiß, vielleicht wird sich ihm die Gelegenheit bieten, bei einem gemeinsamen Abendessen an sein Glas zu klopfen und zu sagen: Übrigens habe ich eine Entscheidung getroffen, die euch vielleicht überraschen wird. Für einen kurzen Moment glaubt er fest an die Möglichkeit, gegen alle Vernunft und Wahrscheinlichkeit. Peter Karows Angebot gilt, die Option besteht. Jetzt muss er sich seiner Skepsis stellen wie einem trickreichen Gegner.

»Was ist so lustig?«, fragt Maria. »Außer meinem deplatzierten Witz.«

»Ich hab an was anderes gedacht, aber vielleicht ist sogar was dran an der Pointe. Nicht, dass es jetzt erst anfängt. Es könnte bloß sein, dass menschliches Leben nicht nur ein Mal beginnt. Weil es aus Phasen besteht, die alle ihren eigenen Beginn haben. Immer wieder.« Demnach auch ein Ende, aber das denkt er nur.

»Aus deinem Mund ein bemerkenswerter Satz.«

»Man ist nie zu alt, um sich zu ändern, oder? Ich meine echte, grundsätzliche Veränderung.«

»Nein. Theoretisch nicht.«

»Das war gemein!« Er spricht es aus, als wäre es ein Spaß. Vielleicht ist es einer. Seit dem Streit vor einem Jahr weiß er manchmal nicht, was sie beide meinen mit dem, was sie sagen. Ob sie ehrlich miteinander sind und inwiefern sie mehr von ihren Zusammenkünften erwarten, als dass sie gut gehen. Was erstaunlich häufig geschieht. Er müsste lügen, wollte er behaupten, dass die regelmäßigen Fahrten nach Berlin keine Bereicherung darstellten, und trotzdem: Streitvermeidung als oberstes Prinzip einer Ehe garantiert nicht Harmonie, sondern Stagnation. Wahrscheinlich muss man große Angst vor etwas anderem haben, um darin das kleinere Übel zu sehen.

Noch einmal greift Hartmut nach ihrer Hand und küsst sie. Weiß nicht, ob er sich freuen oder was er sonst empfinden soll. Würde ein neutraler Beobachter am Nebentisch ihnen ansehen, auf welch driftendem Grund sie stehen? Ihn haben die vergangenen zwei Jahre gelehrt, dass Liebe ein schwaches Argument sein kann. Schwächer als einsame Nächte, die Frustration über ihr abgeschaltetes Handy oder das merkwürdige Gefühl beim Betreten von Marias Wohnung. Dieses demonstrative Provisorium in der Schulzestraße, halb leere Regale und kahle Wände, so als handelte es sich bei einem Teakholztisch und einem Viertausend-Euro-Sofa um Dinge, die er ihr früher aufgedrängt hatte. Dabei hat sie