Phantomschmerzen - Susan Hill - E-Book

Phantomschmerzen E-Book

Susan Hill

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  • Herausgeber: Kampa Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Simon Serrailler hat seinen letzten Fall nur knapp überlebt. Wird er körperlich und psychisch je wieder in der Lage sein, als Detective Chief Inspector zu arbeiten? Er sucht Abstand von seinem Leben in der gemütlichen südenglischen Stadt Lafferton mit ihrer schönen Kathedrale, von seiner Schwester, der Ärztin Cat und ihren drei Kindern, die gerade seinen Vorgesetzten Kieron Bright geheiratet hat, und von seinem Vater Richard und dessen viel zu junger französischer Freundin. Gibt es einen besseren Ort, um sich zu erholen, als das Zuhause alter Freunde auf einer abgelegenen schottischen Insel? Mit der Ruhe ist es allerdings schnell vorbei, als eine Frau unter mysteriösen Umständen ermordet wird und Serrailler als einziger Polizist vor Ort die Ermittlungen auf Taransay übernehmen muss. Und auch ein alter Fall in Lafferton holt ihn ein. Ist die 24 Jahre alte Kimberley Still ein weiteres Opfer des Serienmörders Lee Russon?

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Seitenzahl: 451

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Susan Hill

Phantomschmerzen

Aus dem Englischen von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol

Kampa

Für Ihre Königliche Hoheit, die Herzogin von Cornwall,

»Simon Serraillers größter Fan«

Prolog

Lange war da nur Schwarz gewesen, konturloses, grenzenloses Schwarz. Doch dann war am Rand der Schwärze ein sanftes, diffuses Grau eingesickert, und kurz darauf waren die Bilder gekommen, die sich sehr schnell vorwärtsbewegt hatten, wie ein Daumenkino. Zunächst konnte er keins festhalten oder sie voneinander unterscheiden, aber allmählich waren sie langsamer geworden, und er hatte Gesichter gesehen, Körperteile – eine Hand, einen Daumen, einen Nacken. Haare. Die Bilder hatten angefangen zu pulsieren, sich aufzublähen und zu schrumpfen, wie ein klopfendes Herz, die Gesichter waren umeinandergewirbelt, ineinander aufgegangen, dann hatten sie sich wieder getrennt, und ein oder zwei Mal hatten sie ihm einen anzüglichen Blick zugeworfen oder schweigend aus Mündern voll kaputter Zähne gelacht. Er hatte versucht, sich von ihnen zu entfernen oder den Arm zu heben, um die Augen abzuschirmen, doch er war steif, sein Arm schwer und kalt, wie ein aus dem Gefrierschrank geholter Braten. Er wusste nicht, wie er ihn bewegen sollte.

Die Gesichter waren in Stücke zerborsten, die sich unkontrollierbar zu drehen begannen, und er hatte in einen Strudel hinabgeschaut.

Ein greller Blitz. In seinem Licht Millionen glitzernder, scharfer Nadelspitzen. Noch ein Aufleuchten. Die Nadelspitzen hatten sich aufgelöst.

Simon Serrailler öffnete die Augen.

Erstaunlich, wie schnell die Dinge Gestalt angenommen hatten.

»Welcher Tag ist heute?«

»Donnerstag. Es ist zwanzig nach fünf.« Die Schwester, die den Tropf eingestellt hatte, wandte sich ihm zu.

»Wann bin ich zu mir gekommen?«

»Gestern Morgen.«

»Mittwoch.«

»Sie machen sich sehr gut. Wie geht es Ihnen?«

»Weiß nicht genau.«

»Schmerzen?«

Simon überlegte. Er bewegte den Kopf und sah ein rechteckiges Stück farblosen Himmel. Das Dach eines Gebäudes, mit einem Sims ringsum. Anscheinend tat überhaupt nichts weh, obwohl sich sein linker Arm und der Hals seltsam schwer anfühlten. Der Rest seines Körpers war irgendwie losgelöst. Schmerz war das nicht. Er wusste, was Schmerz war.

»Ich glaube, es ist alles in Ordnung.«

»Prima. Sie machen sich sehr gut«, wiederholte sie, als müsste sie ihn überzeugen.

»Wirklich? Ich weiß nicht.«

»Wissen Sie, wo Sie sind?«

»Nicht so richtig. Im Krankenhaus vielleicht?«

»Volltreffer. Sie sind auf der Intensivstation des Charing Cross, und ich bin Schwester Bonnington. Megan.«

»Das nächste Krankenhaus ist nicht Charing Cross … es ist … ich weiß es nicht mehr.«

»Sie sind in West-London.«

Er ließ die Wörter auf sich einwirken und wusste ganz genau, was sie bedeuteten. Er wusste, wo West-London war, er hatte nach der Ausbildung als Detective Constable in West-London gearbeitet.

»Erinnern Sie sich noch, was passiert ist?«

Blitzartig tauchten Bilder auf. Die Körperteile. Die Hand. Der Daumen. Der Mund voll verfaulter, kaputter Zähne. Sie verschwanden.

»Ich glaube nicht.«

»Kein Problem. Das ist völlig normal. Zermartern Sie sich nicht das Hirn, um sich zu erinnern.«

»Bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt ein Hirn habe.«

Sie lächelte. »Ich denke schon. Jetzt schüttle ich erst mal Ihre Kissen auf, damit Sie es ein bisschen bequemer haben. Können Sie sich aufsetzen?«

Er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte, doch sie schien ihn anzuheben und nach vorn gegen ihren Arm zu lehnen, seine Kissen aufzuschütteln, seine Bettdecke zu richten und ihn wieder zurückzulegen, ohne größere Anstrengung. Simon sah, dass er überall Schläuche und Kabel an sich hatte, die zu Geräten und Monitoren und Infusionsbeuteln führten, und dass sein linker Arm in einer Art Schlinge steckte. Er betrachtete ihn. Verbände, ein langer Ärmel aus Bandagen bis an seine Schulter und noch weiter hinauf.

»Tut das weh?«

»Nein. Irgendwie, als wäre da – nichts.«

»Taub?«

»Nicht so richtig. Einfach nur … ich kann es nicht beschreiben.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Der Oberarzt kommt heute Abend noch bei Ihnen vorbei.«

»Wie heißt er?«

»Mr Flint. Und Dr. Lo ist der Facharzt. Er hat in den letzten beiden Tagen nach Ihnen geschaut, aber wir sind ein Team.«

»Ich habe ein Team?«

»Das haben Sie in der Tat, Simon. Ist es okay, wenn ich Sie Simon nenne? Wir fragen immer, wissen Sie, aber Sie konnten ja nicht antworten. Was ist Ihnen lieber? Mr Serrailler? Superintendent? Chief Superintendent?«

»Um Himmels willen. Simon reicht.«

Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit.

»Da kommt Besuch, also gehe ich mal. Der Notknopf ist hier, neben Ihrer rechten Hand. Drücken Sie, wenn Sie etwas brauchen.«

»Hallo, Si.« Cat beugte sich über ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bist wieder wach.«

»Wann war ich das nicht?«

»Fast immer in den letzten drei Wochen.«

»Drei Wochen? Bis wann?«

»Bis gestern. Weißt du, dass ich hier war?«

Simon versuchte, die Bilder in seinem Kopf zu sortieren. »Ich … nein.«

Er sah den flüchtigen Ausdruck der Besorgnis im Gesicht seiner Schwester, den sie rasch kaschierte.

»Es heißt, der Oberarzt kommt bald zu mir. Wusstest du, dass ich ein eigenes ›Team‹ habe? Gehörst du dazu?«

Sie lächelte.

»Hast du mir Trauben mitgebracht?«

»Nein. Aber du willst doch eigentlich keine Trauben, oder?«

»Ich will wissen, was passiert ist und warum ich hier bin. Sprich mit mir.«

»Hör zu, Si, du musst alles erfahren, aber ich bin nicht die Richtige, dir die ganze Geschichte zu erzählen, weil ich nicht dabei war. Kieron kommt morgen wieder her, und wenn sie meinen, dass du in der Lage bist, es dir anzuhören, dann erzählt er es dir.«

»Der Chief war hier?«

»Natürlich. Er hat mich an dem Tag, als es passierte, hierhergebracht. Er war seitdem ein paarmal hier, wann immer er es einrichten konnte, und ich habe ihn jeden Tag auf dem Laufenden gehalten.«

»Du? Warum du?«

»Weil ich an den meisten Tagen hier war und mit den Ärzten gesprochen habe, damit ich ihr Fachchinesisch für ihn übersetzen konnte.«

»Nein, ich meinte … ich verstehe nicht, wieso du ihn überhaupt kennst.«

»Er war mein Fels in der Brandung, Si … als sonst niemand da war, der mir hätte helfen können.«

»Aha.«

»Nichts aha.«

Er versuchte, ihre Miene zu deuten, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren, weil er im linken Arm von einer Sekunde zur nächsten immer stärkere Schmerzen verspürte, in Wogen, die sich über seinen Arm hinweg auf der Brust brachen, durch seinen Körper spülten, Schmerzen wie von Zangen und Messern.

»Si?«

»Großer Gott.« Er schaute auf die Verbände und die Schlinge, die den Arm hochhielt. Ihn hätte es nicht gewundert, wenn sie lichterloh gebrannt hätte. So fühlte es sich an.

Cat sprang auf. »Ist schon gut. Ich bring das in Ordnung … warte einen Augenblick.«

 

Eine Stunde lang kam sie nicht wieder. Eine Nacht. Für den Rest seines Lebens. Er war in Schmerz gehüllt, außer Schmerzen empfand er nichts. Er hörte sich selbst so laut schreien, dass er schon befürchtete, sie würden kommen und ihn bestrafen. Die Gesichter. Die Schwärze war nicht mehr nur dunkel, hatte keine sanften Ränder mehr, sie war im Zentrum scharlachrot, und das Zentrum breitete sich immer weiter aus.

»Großer Gott …«

»Ist schon gut. Gleich kommt jemand.« Cat hielt seine rechte Hand fest. Sie berührte sein Gesicht und wischte die Tränen ab, doch er spürte weder Scham noch Verlegenheit, nur Schmerzen.

»Wir bringen das jetzt in Ordnung.« Diesmal war es ein Mann, der neben dem Bett aufragte.

»Einen Augenblick noch.«

Simon konnte nicht warten, aber es gab keinen Fluchtweg. Er krümmte sich vor Schmerz. Cat wischte ihm mit einem feuchten Tuch den Schweiß von der Stirn. Wütend. Auch sie war wütend. Warum waren alle wütend auf ihn?

Hektik brach aus, Leute kamen ins Zimmer, beugten sich über ihn.

»Gleich haben wir es, Simon … jeden Moment.«

Das endlos sanfte Nachlassen des Schmerzes, sodass sich sein Körper entspannte. Sein Kopf fühlte sich kühl an, sein Arm schien verschwunden.

»Geschafft. Sie hätten klingeln sollen. Sie hätten Bescheid sagen –«

»Nein«, hörte er Cat sagen und erkannte diesen Tonfall, obwohl sie ihn selten benutzte. »Nein, es hat nichts mit ihm zu tun, sondern mit allen anderen. Es gibt Behandlungsvorschriften, und denen ist Folge zu leisten, sonst passiert so etwas hier. Und es hat viel zu lange gedauert, bis ich überhaupt jemanden fand, der über ihn und seinen Fall Bescheid wusste, und bis ich Sie dann so weit hatte, herzukommen – und sagen Sie mir jetzt bitte nicht, dass gerade Schichtwechsel war.«

»Es war Schichtwechsel, tut mir leid.«

»Herrgott noch mal.« Der Mann. Er war jung, hatte einen Bart, und seine Augen waren voller Sorge, Mitleid und Wut.

»Simon, ich bin Dr. Lo. Ich kenne Sie, aber jetzt sind Sie zum ersten Mal bei Bewusstsein und können mich sehen. Hat der Schmerz nachgelassen?«

Ihm war, als läge er auf einem Bett aus Daunen. Außer Sanftheit und Leichtigkeit spürte er nichts. Er schenkte allen im Zimmer ein glückseliges Lächeln.

 

Simon wusste, dass er wieder geschlafen hatte, dann war er durch die Luft geschwebt und hatte sich schließlich auf dem Wasser treiben lassen, doch die Zeiger der Uhr an der Wand gegenüber seinem Bett gingen langsam rückwärts, wodurch er jegliches Zeitgefühl verlor. Es war hell, dann wieder dunkel, und noch immer schwebte er.

»Heute ist Freitag«, sagte jemand.

Er kam zu sich.

Zwei Personen, und Cat war auch da. Man setzte ihn auf, und an den Fensterscheiben glitten silberne Regentropfen herab.

»Freitag.«

»Wir würden gern mit Ihnen besprechen, was wir vorhaben, wenn Ihnen danach ist?«

Er erkannte den jüngeren Arzt, nicht aber den älteren mit sehr schütterem Haar und einer Brille mit kleinen runden Gläsern.

»Mein Name ist Flint, Greg Flint. Ich bin Facharzt für orthopädische Traumata.«

»Ist das hier eine Konferenz?«

»So etwas in der Art. Ich bin froh, dass Dr. Deerbon hier ist … wenn das für Sie in Ordnung ist? Ich werde versuchen, mich klar auszudrücken, aber sie kann unsere Fachsprache für Sie übersetzen, wenn es mir nicht gelingt, und Sie können sie alles fragen, was Ihnen unklar ist. Ich habe sie kurz in Kenntnis gesetzt, als Sie noch bei den Elfen waren.«

»Jetzt bin ich hier.«

»Und ich entschuldige mich dafür, dass man Sie mit Ihren Schmerzen so allein gelassen hat – das hätte nicht passieren dürfen, und es wird nicht wieder vorkommen. Wie fühlen Sie sich jetzt?«

»Taub. Wenn Sie meinen Arm meinen.«

»Und der Rest?«

»Gut, glaube ich. Ich hatte starke Kopfschmerzen.«

»Das überrascht mich nicht – Sie haben einen furchtbaren Schlag abbekommen. Mich wundert, dass Ihr Schädel keine Fraktur aufweist.«

Er runzelte die Stirn. Schlag? Schädel? Wie? Er sah Cat an.

»Schon gut«, sagte sie. »Du kannst dich nicht daran erinnern. Das ist normal. Es wird dir wieder einfallen. Vielleicht auch nicht, aber du hast keinen Hirnschaden, dein CT war ohne Befund.«

»Ein CT? Das, was passiert ist …«

»Wir machen uns keine Sorgen um Ihren Kopf oder die anderen Verletzungen, die verheilen gut. Wenn der Arm nicht wäre, hätten wir Sie schon entlassen.«

Simon spürte, wie sein Kopf klarer wurde. »Also … was genau ist mit meinem Arm passiert?«

»Im Wesentlichen wurde er durch den Müllzerkleinerer gedreht.«

Müll? Zerkleinerer? Aber er nickte.

»Wir haben alles getan, was zu dem Zeitpunkt möglich war, doch wir mussten abwarten, um genau feststellen zu können, was noch zu retten ist. Wir machen noch ein CT, und wenn wir uns das angesehen haben, sollte die Sache klarer sein – solche Verletzungen verheilen durchaus. Ich möchte Ihren Arm gerne retten, Simon, und nach den letzten Aufnahmen bin ich mir ziemlich sicher, dass ich es kann. Allerdings wissen wir das erst, wenn ich Sie wirklich auf dem OP-Tisch habe. Selbst dann sieht die Sache manchmal gut aus, und trotzdem gibt es auf halber Strecke ein Problem. Aber damit rechne ich nicht. Ich gehe nie von Problemen aus.«

»Wenn Sie sagen, meinen Arm ›retten‹ …«

»Ja.«

»Soll das heißen, er wird so gut wie neu?«

»Das kommt drauf an. Ich hoffe, wir können ihn zu 80 oder womöglich sogar 90 Prozent wiederherstellen – das wird die Zeit zeigen, und jede Menge Physiotherapie. Hundert Prozent sind unwahrscheinlich.«

»Verstehe.«

»Physiotherapie ist unbedingt notwendig, und Sie dürfen Ihre Übungen nicht schleifen lassen, nicht ein einziges Mal. Ich werde alles tun, was ich kann, so wie alle anderen auch, doch danach hängt es von Ihnen ab.«

»Darüber mache ich mir keine Sorgen. Es war der Gedanke, den Arm zu verlieren.«

»Ich bin zuversichtlich. Aber wir machen die Aufnahme, und wenn ich die habe, kann ich planen. Die Verbände müssen entfernt werden, aber wir bringen Sie gleich runter, und dann bekommen Sie einen neuen Verband. Das wurde sowieso jeden Tag gemacht.«

Plötzlich fiel es ihm ein. Man hatte ihm so viel Schmerzmittel verabreicht, dass er nichts gespürt hatte, und ihm gesagt: »Schauen Sie nicht hin, das ist mein Rat. Wenden Sie sich ab. Verletzungen fangen immer an wehzutun, wenn man hinschaut.«

Er hatte den Kopf zur Seite gedreht. Alles war taub gewesen.

»Wie lange dauert es nach dem CT noch bis zur Operation?«

»Wenn alles gut aussieht, wahrscheinlich bis Montagmorgen. Ich muss es in meinem Terminkalender unterbringen. Diese Art der Wiederherstellung nimmt Zeit in Anspruch.«

 

Die Operation dauerte sieben Stunden, so wurde es ihm zumindest gesagt, sieben Stunden, die nichts bedeutet hatten, und jetzt trieb er wieder auf dem Wasser, schwebte, selig. Sein Leben zog ruhig vorüber.

Die Tür ging auf, und er erblickte einen Mann in dunkler Khakihose, hellblauem Sweatshirt. Dunkle, krause Haare. Simon dachte an seine eigenen blonden Haare und stellte fest, dass er sie seit einiger Zeit nicht mehr aus der Stirn hatte streichen müssen. Wie lange schon? Seit Jahren vielleicht.

»Wo sind meine Haare?«, fragte er den Mann, der so viele hatte.

»Die mussten für die Reparatur abrasiert werden, glaub ich. Keine Bange, die wachsen nach.« Der Mann hatte sich auf den Stuhl neben dem Bett gesetzt. Simon kannte ihn. Kannte ihn ziemlich gut.

»Hi«, sagte er, um Zeit zu gewinnen.

»Cat lässt schön grüßen, und sie ist froh, dass alles gut aussieht, aber sie musste für einen Kollegen einspringen – offensichtlich stand niemand anders zur Verfügung. Sie kommt morgen wieder her.«

Also kannte der Mann Cat.

»Ich wünschte, mein verdammtes Hirn käme wieder in Gang. Hab es satt, durch Watte zu denken.«

»Das sind die Medikamente.«

Also wusste er auch darüber Bescheid.

Der Bolzen schnappte zurück, und die Tür sprang auf. »Chief …«, sagte Simon. Er wollte sich aufsetzen, doch sein Körper war mit Bleigewichten bedeckt.

Kieron Bright lächelte. »Der bin ich«, sagte er. »Keine Sorge, auch das liegt an den Medikamenten. Wie geht’s denn so?«

»Komisch. Hören Sie, die haben mir nicht viel gesagt. Was ist passiert?«

Kieron brauchte eine halbe Stunde, um es ihm zu erzählen. Serrailler hatte den Eindruck, dass er ihm einige Einzelheiten ersparte, vielleicht nur fürs Erste, aber das, was ihm zugestoßen war, wurde in groben Zügen klar, und während der Chief redete, tauchte hin und wieder so etwas wie ein Schimmern am Horizont seines Verstandes auf und verschwand wieder. Er erinnerte sich, wenn auch nicht an alles, und doch schien es vertraut, ergab einen gewissen Sinn.

»Über Ihre Verletzungen kann ich Ihnen nicht viel sagen, das haben die Ärzte ja wohl getan.«

»Nicht so richtig.«

»Sie haben es Ihnen gesagt – wahrscheinlich haben Sie nicht alles aufgenommen, was ja verständlich ist.« Er lehnte sich zurück, die Arme verschränkt. In Freizeitkleidung wirkte der Chief jünger, was normal war. Goldtressen verliehen Würde, und Würde ging mit Alter einher. Er war nur vier Jahre älter als Simon.

»Danke, dass Sie gekommen sind.«

»Ich war vorher auch schon hier, aber Sie waren nicht bei Bewusstsein. Gut, Sie jetzt zu sehen. Wir haben uns Sorgen gemacht.«

»Ich bin nicht unterzukriegen.«

»Sieht ganz so aus. Ihre Schwester war sich nicht so sicher.« Er schlug ein Bein über das andere und stellte sie dann wieder nebeneinander. Simon merkte ihm eine gewisse Anspannung an, oder auch eine Art Beklemmung – er konnte es nicht einordnen, obwohl der Dunst, der sein Hirn umnebelt hatte, sich langsam wieder auflöste. Und sein Arm tat weh.

»Ich bin ein paarmal mit ihr ausgegangen.«

»Mit Cat?«

»Ja. Ich hoffe, das stört Sie nicht.«

Simon lachte. »Damit hab ich nichts zu tun – ihr Leben ist ihre Sache.«

»Aber Sie stehen einander sehr nah.«

»Ja … das war schon immer so. Komisch – man hätte das von Ivo und mir erwartet, doch das war nie der Fall. Er war immer der Sonderling. Ivo ist ganz anders.«

»Das hat Cat auch gesagt.«

Also hatte sie darüber gesprochen, was Cat nur selten tat. Sie war nie besonders zurückhaltend gewesen, was sie selbst betraf, ihre Ehe, Beruf, Kinder, Beschäftigungen, aber im Hinblick auf sie drei schon, so wie er selbst. Wie Ivo das hielt, wusste Simon nicht. Australien hatte Ivo schon gereizt, bevor er Arzt geworden war, und sobald er seine Ausbildung abgeschlossen hatte, war er nicht mehr zu halten gewesen. Er war nie zurückgekommen.

Als Kieron gegangen war und bevor die nächste Ladung Schmerzmittel zu wirken begann, hatte er einen klaren Moment, in dem er über den Mann nachdachte, als Chief Constable und somit seinen Chef und auch als jemanden in einer Beziehung mit seiner Schwester – wie auch immer die letztendlich aussehen mochte.

Er drehte und wendete den Gedanken, nahm jede Seite sorgfältig unter die Lupe, die Vorstellung der beiden als Paar war wie ein Erdball, den er in Händen hielt.

Nichts wirkte falsch daran. Nichts beunruhigte ihn.

»Wie fühlt es sich an?« Die forsche Schwester ohne Lächeln. Ohne Lächeln, aber nicht ohne Mitgefühl, dachte er, doch sie würde sich niemals beim leisesten Anzeichen von Mitgefühl ertappen lassen. Ein bisschen so wie er.

»Auch wenn die Medikamente noch nicht abgesetzt werden können, ist es eigentlich nicht so schlimm – verdammt viel besser als vorher.«

»Gut.«

»Wann kann ich es sehen?«

»Das hat Mr Flint zu entscheiden. Morgen vielleicht.«

»Wann kann ich ihn denn wieder benutzen? Nein – vergessen Sie’s. ›Mr Flint wird entscheiden.‹ Aber liebe, liebe Schwester, könnten Sie nicht Mr Flint sein, nur für einen kurzen Moment?« Er zog eine Augenbraue hoch. Sie warf die benutzte Spritze in den Abfalleimer, streifte ihre Gummihandschuhe ab und warf sie weg. Beim Hinausgehen sagte sie: »Übertreiben Sie es nicht.«

Könnte sein, dass sie gerade gelächelt hat, dachte Simon.

 

Am nächsten Morgen hielt sie seinen rechten Arm, und eine andere Schwester schob den Infusionsständer, als Simon zum ersten Mal aufstand und mit langsamen Schritten über den Flur ging. Seine Beine waren unsicher, als warteten sie auf eine Anleitung, wie sie sich vorwärtsbewegen sollten, erst das eine, dann das andere, und als sie an die Kreuzung mit einem anderen Flur kamen, funktionierten sie wieder.

»Ich kann jetzt allein weitergehen.«

»Was habe ich gesagt?«

»Ich soll’s nicht übertreiben?«

»Dann halten Sie sich daran. Das war schon sehr gut, und Sie können später noch einen Ausflug machen.«

Simon freute sich wie ein Kind über fehlerfreie Hausaufgaben.

 

Zwei weitere Spaziergänge durch die Flure, und er wurde schneller. Das Gehen fühlte sich wieder normal an. Die Prellungen und Quetschungen, die er am Körper, an den Beinen, am rechten Arm festgestellt hatte, ließen nach und heilten rasch. Im Spiegel sah er, dass seine Haare inzwischen über die meisten Narben und Stiche vorn am Kopf gewachsen waren. Ob man sie wieder abrasieren würde, wenn die Fäden gezogen wurden? Würde man sie ziehen? Er wollte fragen, doch die Schwestern waren gegangen. Er fühlte sich plötzlich erschöpft, dann wurde ihm sehr kalt. Die Betten waren gewöhnungsbedürftig. Er brauchte eine Daunendecke, nur gab es die in Krankenhäusern nicht.

»Abendessen.«

Das Tablett mit dem Blechdeckel über dem Teller. Eine Beilage, die wie Obstsalat aus der Dose und Vanillepudding aussah. Der junge Mann hob den Deckel mit einem Tusch hoch, und der Geruch von Blumenkohl stieg auf. Blumenkohl. Ein Stück Quiche. Drei kleine Kartoffeln.

»Ich habe eigentlich gar keinen Hunger. Würden Sie das bitte wieder mitnehmen?«

Der Mann lächelte und sagte: »Sie müssen probieren.« War er Pole? Rumäne? »Essen ist wichtig. Nicht essen, nicht gesund werden. Okay?«

Und er ging schwungvoll zur Tür hinaus. Die Räder des Rollwagens quietschten im Flur, und die Blechdeckel über den Tellern schepperten.

Er konnte nicht essen. Er hätte keinen Bissen runtergebracht, obwohl er das Glas Wasser trank und versuchte, sich zum Krug auf seinem Nachttisch hinüberzubeugen, um nachzuschenken. Aber er kam nicht dran.

Ihm war so warm, dass er sich krank fühlte. Krank vom Essensgeruch und der Hitze, von Kopfschmerzen und dem Pochen im linken Arm.

Nachdem er lange Zeit still gelegen und sein Zustand sich verschlimmert hatte, fragte er sich, ob jemand kommen würde und was er mit seinem Tablett anfangen sollte, fragte sich am Ende, wo er war und warum. Da fiel ihm etwas auf der Bettdecke auf. Er war verwirrt, was es sein könnte, streckte aber die Hand aus und stellte fest, dass da ein Knopf war, den er drücken konnte.

 

»Der Alt ist noch immer nicht im Einklang. Ich weiß, es ist kompliziert, aber bitte noch einmal.«

Es war kompliziert. Sie probten das Stück von John Tavener jetzt seit einem Monat und bekamen es kaum in den Griff. Der Alt hatte Schwierigkeiten. Cat quälte sich. Das Mozart-Requiem, das die St.-Michael-Singers im selben Konzert aufführten, war im Vergleich dazu ein Kinderspiel.

»Das ist nicht schwerer als der Britten, den wir Weihnachten hatten – los jetzt, konzentriert euch.«

»Ist viel schwerer«, murmelte Cats Nachbarin, die im Alt sang. »Also echt, wir sind doch nicht der Chor der Londoner Philharmoniker.«

»Nein, Nancy – wir streben an, sogar noch besser zu sein. So, zurück zu Seite vier bitte.«

Andrew Browning, der Chorleiter, war ein strenger Zuchtmeister, der es viel genauer nahm als sein Vorgänger. Er hieß im Chor bereits Browning der Grausame.

»Eins, zwei, drei und …«

Cats Handy vibrierte in ihrer Tasche. Sie ignorierte es. Es vibrierte alle paar Minuten, und sie ignorierte es weiter. Wenn Sam wieder mal seinen Haustürschlüssel vergessen hatte, konnte er im Gartenschuppen warten.

Sie meisterten eine schwierige Partie, und plötzlich klappte es. Vielleicht war Tavener am Ende doch zu schaffen.

Sie machten Pause, um etwas zu trinken, und Cat sah auf ihr Handy. Sams Name tauchte auf dem Display auf. Nein, dachte sie, ein Mal zu viel, Sambo, das wird dich jetzt lehren, an deinen Schlüssel zu denken. Sie stellte sich vor, wie er im Schuppen hockte und darauf wartete, dass sie nach Hause kam.

»Cat, da möchte dich jemand sprechen.«

Sie blickte auf. Sam war nicht im Gartenschuppen, er kam durch den Vorraum auf sie zu, und seine Miene sagte ihr, dass es diesmal nicht um einen verlorenen Schlüssel ging.

»Wie bist du hergekommen?«

»Kieron. Er war der Einzige, der mir einfiel, weil du nicht ans Handy gegangen bist. Du musst mitkommen, der Wagen wartet.«

»Welcher Wagen? Wozu?«

»Simon. Das Krankenhaus hat angerufen. Mum – beeil dich.«

 

Kieron war in vielerlei Hinsicht nicht so wie ihr Mann Chris, aber in zwei Punkten – und beide spielten für sie eine große Rolle – stimmten sie überein. Chris war ruhig und unerschütterlich gewesen. Das war Kieron auch – wahrscheinlich sogar noch mehr. Die zweite Ähnlichkeit wurde ihr auf dem Heimweg zu später Stunde in dieser Nacht bewusst. Kieron fragte sie nicht, wie es ihr ging, versuchte nicht, das Geschehene schönzureden, sagte nicht ein einziges Mal über Simon »Na ja, wenigstens ist er …«. Er saß neben ihr auf dem Rücksitz des Wagens, hielt ihre Hand und sagte erst etwas, als sie zu reden begann. Sie fuhren rasch und zügig, mussten aber nicht rasen, um zu Simon zu gelangen. Es war passiert. Sie waren rechtzeitig eingetroffen und hatten noch gesehen, wie er vom Operationssaal zu seinem Zimmer gefahren wurde. Der Chirurg, der noch in seiner OP-Kleidung hinter ihm herauskam, winkte ihnen zu, ihm in eine leere Nische zu folgen. Er und Kieron standen, Cat setzte sich auf den einzigen Stuhl.

»Tut mir leid, ich konnte nicht auf Sie warten. Zeit ist entscheidend – die Infektion in seinem Arm hat sich rasch ausgebreitet, und wenn ich sie nicht in den Griff bekommen hätte, wäre er womöglich an einer Sepsis gestorben. Sah schlimm aus.«

»Also mussten Sie amputieren.«

»Mir blieb nichts anderes übrig. Es ist zum Verrücktwerden, denn ich war mir ziemlich sicher, dass ich den Arm gerettet hatte. Hat lange gedauert, aber es funktionierte. Alles lief nach meiner Vorstellung, und es sah besser aus, als ich zu hoffen gewagt hatte.«

»Und dann das.«

»Sepsis ist immer ein Risiko, auch wenn wir noch so vorsichtig sind.«

»Ich sage den Leuten oft, dass sie, was Infektionen angeht, außerhalb von Krankenhäusern sicherer sind als drinnen.«

Der Chirurg zuckte mit den Schultern. Er wirkte sehr erschöpft, das Gesicht grau, dunkle Ringe unter den Augen. Mitternacht war längst vorbei.

»Sie können reingehen und kurz bei ihm bleiben, aber er wird wahrscheinlich gar nicht mitbekommen, dass Sie da sind.«

»Aber er kommt doch wieder auf die Beine?« Kieron hatte zum ersten Mal etwas gesagt.

»Ja. Der Infektionsherd ist weg, und der Patient wird mit den stärksten Antibiotika vollgepumpt, die wir haben und nur sehr sparsam anwenden. Seine Temperatur ist gesunken. Ja, er wird wieder gesund. Ich weiß noch nicht, wann ich ihn entlassen kann, aber ich sehe keinen Grund, warum er nicht in zwei Wochen nach Hause könnte. Dann fängt alles an.«

»Physiotherapie?«

»Ja, aber vor allem die Anpassung einer Prothese. Damit soll begonnen werden, sobald keine Gefahr mehr besteht. Ich werde ihn an die besten Spezialisten überweisen.« Er richtete sich auf. »Morgen bin ich fix und fertig.«

Nachdem er gegangen war, standen sie noch ein paar Minuten schweigend zusammen. Im OP-Bereich war es ruhig. Zu dieser Nachtzeit fanden nur Notoperationen statt, und davon gab es gerade keine. Nur selten war es in Krankenhäusern derart still.

Kieron streckte die Hand aus. »Hör zu, du willst ihn sicher sehen, aber nicht heute Nacht, wenn er noch ohne Bewusstsein ist. Ich habe im Büro angerufen und Bescheid gegeben, dass ich mir morgen freinehme, sie sich aber in dringenden Fällen melden können. Daher schlage ich vor, ich suche uns ein Hotel, da gehen wir hin, bekommen etwas zu trinken und hoffentlich wenigstens ein Sandwich und kommen morgen gleich wieder her. Und« – er legte eine Hand auf ihre – »keine Bedingungen. Zwei Zimmer.«

»Ich habe nicht …«

»Ich weiß. Ich auch nicht. Komm, heute Nacht kannst du nichts mehr tun, und du brauchst Schlaf.«

 

Das zu einer Kette gehörende Hotel lag eine Meile entfernt. Es war sauber, gemütlich, hatte Zimmer frei und eine Bar, die noch offen war. Cat hatte das Gefühl, zu schwimmen, statt auf festem Boden zu gehen, als sie Kieron an einen Tisch folgte. Ihre Gefühle für Simon hatte sie in eine Ecke ihres Bewusstseins geschoben, die Ärzte genau für diesen Zweck vorsehen. Wenn man mit schockierenden und verstörenden Tatsachen nicht zurechtkam, lernte man schnell, sie irgendwo abzustellen. Nicht jedoch zu begraben. Auf diese Weise begannen abgelagerte Probleme zu gären.

Kieron hatte zwei doppelte Whisky und einen Krug Wasser geholt. Mitternachtssnacks waren noch bis zwei Uhr zu haben. Er hatte Omeletts bestellt.

»Alles in Ordnung?«

Cat schüttelte den Kopf. »Bei mir schon. Ich kann damit umgehen. Aber du musst mir eine Frage beantworten, Kieron. Die wichtigste nach ›Wird er überleben?‹.«

»Ich kann mir denken, um welche Frage es geht.«

»Na schön.«

»Vorausgesetzt, Simon ist so weit gesund, hat aber eine Armprothese, kann er dann noch bei der Polizei bleiben?«

Prüfend betrachtete sie sein Gesicht, konnte darin aber nichts erkennen.

»Natürlich kann er das. Absolut. Das steht außer Frage, und besonders bei der Kriminalpolizei. Es wäre auch bei der Schutzpolizei möglich, aber da gäbe es größere Umstellungen und ein paar Einschränkungen. Bei der Kriminalpolizei überhaupt nicht.«

»Und das stimmt?«

»Die Entscheidung liegt bei mir, sobald die Ärzte ihr Urteil gefällt haben und Simon mir sagt, dass er bleiben will. Das ist vielleicht nicht der Fall.«

»Oh, das wird er. Was sollte er sonst machen?«

»Zeichnet er mit der linken Hand?«

»Nein, er ist Rechtshänder. So gut er auch ist – und er ist gut –, er könnte nicht ausschließlich das machen. Er ist Polizist. Das hat ihn in über zwanzig Jahren zu dem gemacht, der er ist.«

»Er wird auch Polizist bleiben.«

Ihr Essen wurde gebracht, Cat aß ihr Omelett und trank ihren Whisky aus, solange sie die Augen offen halten konnte.

»Ich muss mich noch um ein paar Sachen kümmern. Geh du ins Bett. Wir können frühstücken, bevor wir ihn besuchen, dann muss ich wieder zurück nach Lafferton.«

»Danke«, sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, mit denen sie nicht gerechnet hatte. »Ohne dich hätte ich das nicht durchgestanden.«

»Natürlich hättest du. Ich bin nur froh, dass du es nicht musstest.« Er streckte die Hand aus, und sie drückte sie kurz, bevor sie ihre letzten Energiereserven nutzte, um hinauf in ihr Zimmer und ins Bett zu gehen.

Kieron trank seinen Whisky und blieb noch sitzen, dachte über einen Detective Chief Superintendent nach, der mentale und emotionale sowie extreme physische Traumata durchgemacht hatte und der sich jetzt mit einer langsamen, schwierigen Reise zu einer wie auch immer gearteten Genesung konfrontiert sah. Kieron waren die großen Fortschritte bei Prothesen bekannt, die bionischen Arme, die so angepasst werden konnten, dass sie Anweisungen direkt aus dem Gehirn folgten, um fast wie ein natürlicher Arm zu funktionieren. Er wusste, dass Serrailler hinsichtlich seiner Arbeit geringfügige Nachteile würde hinnehmen müssen. Er könnte einen Computer benutzen und mit dem Auto fahren, sowie bei allen Aspekten der Arbeit in Höchstform sein, die überhaupt nicht betroffen wären – Verhöre, Fälle durcharbeiten, Besprechungen mit Kollegen, ein Team einweisen.

Er kam jedoch nicht umhin, sich klarzumachen, dass Simon nicht unkompliziert war. Er war ein guter Ermittler, hatte allerdings persönliche Probleme, die er vielleicht nie lösen würde, und obwohl sie seine Arbeit in der Vergangenheit nicht beeinflusst hatten, könnten sie jetzt an die Oberfläche kommen, zu einem Zeitpunkt, an dem er absolut hilflos war, und zu Schwierigkeiten führen. Das konnte man nicht wissen. Er selbst konnte nur beobachten und abwarten, Hilfe und Unterstützung geben, soweit es ihm möglich war, und weder zu viele noch zu wenige Erwartungen haben. Er könnte auch den anderen im Lafferton-Team klarmachen, wie wichtig es wäre, sich genauso zu verhalten.

Die Bar war leer. Er trank den letzten Tropfen Scotch mit viel Wasser und stand auf. Hoffentlich konnte Cat schlafen.

Cat. Sie war eine starke, unverwüstliche, fähige Frau, eine gewissenhafte Ärztin, eine liebevolle Alleinerziehende. Doch ihm war früh aufgefallen, dass sie verletzlich war, nicht nur durch ihre Kinder, sondern durch ihren Bruder. Sie kannte Simon so gut wie niemand sonst – besser wahrscheinlich, als er sich selbst kannte. Sie würde voll und ganz verstehen, wie ihn dieses Trauma treffen würde, und nicht auf eine für alle sichtbare Weise. Physisch würde er zurechtkommen. Aber seine Genesung bedeutete sehr viel mehr als nur ein wenig Rehabilitation und Physiotherapie. Serrailler würde die Hilfe aller benötigen, und vor allem würde er Cat brauchen, und sie würde ihm alles geben, worum er bitten würde, und noch mehr.

Als Kieron durch das Foyer des Hotels zum Lift ging, stellte er sich besorgt die Frage, ob sie neben ihrem Bruder und ihren Kindern noch für jemand anderen Platz haben würde.

 

Kurz nach sechs Uhr wachte er auf und konnte nicht wieder einschlafen. Das Zimmer war recht gemütlich, aber überheizt, und die Fenster ließen sich nicht öffnen. Er ging hinaus. Die Straßen um das Hotel waren öde wie alle Straßen in Gegenden, die an ein Industriegebiet und eine Autobahn grenzen. Kieron wäre gelaufen, wodurch langweilige Orte schon allein deshalb weniger eintönig werden, weil man keine Zeit hat, sie wahrzunehmen, musste sich jedoch mit schnellem Gehen begnügen, da er keine Sportkleidung mitgenommen hatte. Er ging vierzig Minuten lang, um Büroblocks aus Beton und Metall, Lagerhäuser, Supermärkte, die Parkplätze, die sich bereits füllten. Eine Meile weiter rechts erblickte er das Flachdach des Krankenhauses. Er kehrte um.

Cat war noch nicht aufgestanden, also holte er sich Kaffee und warf einen Blick auf sein Handy. Keine Nachrichten. Er wartete noch eine halbe Stunde, las die Zeitungen, bevor er im Präsidium anrief. Seine Assistentin war da, aber auch sie hatte nichts für ihn. Er verspürte eine eigenartige Unruhe, als sollte er vor Ort sein, um etwas in Gang zu bringen, was es auch sein mochte. Er rief den diensthabenden Sergeant an.

»Nichts zu melden, Chief. Ein paar Verkehrsunfälle auf der anderen Seite des Countys und alle versorgt. Eine Einbruchsmeldung, aber falscher Alarm.«

»Dann war die Nacht überall ruhig.«

»Ziemlich. Nur eine Meldung, und das ist wahrscheinlich nichts. Lafferton. Jemand hat in der Nähe der alten Lagerhäuser am Kanal einen Brand gelegt. Wie so ein Feuer zur Guy Fawkes Night – Kleinholz, Stöcke, ein paar tote Äste. Papier. Angehäuft in Form eines Wigwams. Obendrauf lag ein Fahrradreifen, sie hatten gut einen halben Kanister Lack drübergeschüttet. Der Geruch hat alle aufgeschreckt, ziemlich viele haben angerufen – hinzu kam noch der dichte, schwarze Qualm. Die Feuerwehr hat es in null Komma nichts gelöscht und alles in Ordnung gebracht, aber es war seltsam. Wer würde sich die Mühe machen?«

»Ein Irrer. Kein Schaden?«

»Nicht einmal an überhängenden Büschen.«

»Wenn beim nächtlichen Feiern nichts Schlimmeres rausgekommen ist, können wir uns nicht beklagen.«

Als er das Gespräch beendete, kam Cat herein.

»Frühstück. Du solltest etwas essen«, sagte Kieron. Die Anstrengung des vorigen Tages überschattete ihr Gesicht.

»Können wir direkt ins Krankenhaus fahren?«

Er nötigte sie, Kaffee zu trinken, doch sie blieb dabei stehen. Eine Viertelstunde später waren sie in Simons Zimmer.

Er saß aufrecht, überall Infusionsbeutel und Schläuche, die Geräte piepten ununterbrochen. Er war bleich, sein Gesicht schien schmaler, aber er trank mit einem Strohhalm aus einem Plastikbecher.

»Einarmiger Bandit«, sagte er. Es klang nicht wie ein Witz.

»Ich lasse euch beide mal allein und hole mir Kaffee.«

Doch Serrailler hob die Hand.

»Ich weiß, warum Sie hier sind. Raus mit der Sprache.« Er klang erschöpft.

»Was werde ich denn sagen? Sagen Sie es mir.«

Cat schaute vom einen zum anderen, als wären sie zwei kleine Jungen, die sie beim Zanken erwischt hatte, obwohl sie sich gegenseitig helfen sollten.

»Si …«

»Schon gut. Er soll es nur ausspucken, dann kann er gehen.«

Teils lag es an den Medikamenten, teils am Schmerz, aber sie kannte ihn, kannte seinen Stolz und seine Wut, und wusste, dass er, wie immer, lieber auf der Stelle vom Schlimmsten getroffen wurde.

Kieron seufzte und stellte sich nah ans Bett. Er streckte die Hand aus und berührte Simons Schulter leicht mit einem Finger.

»Hören Sie«, sagte er. »Sie haben viel vor sich. Ich weiß nicht einmal die Hälfte, und ich nehme an, Sie auch nicht, noch nicht. Aber ganz gleich, wie lange es dauert, Sie werden zurückkommen. Detective Chief Superintendent, Vollzeit, sobald man Ihnen grünes Licht gibt. Gar keine Frage, weil Sie nämlich zu wertvoll sind, und es wird keine Einschränkungen Ihrer Tätigkeit geben. Verstanden?«

Simon schaute ihn lange an und nickte.

»Dann gibt es nichts mehr zu sagen. Konzentrieren Sie sich darauf, gesund zu werden.«

»Chief.« Sein Mundwinkel zuckte ganz leicht.

Kieron nickte ihm zu und machte sich auf die Suche nach der Kantine.

Cat lächelte. Kieron hatte ihren Bruder richtig eingeschätzt. Das war entscheidend, in mehr als einer Hinsicht.

Sie setzte sich neben das Bett. »Schöne Scheiße«, sagte sie, »das Schlimmste überhaupt. Sie können ihr Bestes tun, aber das Risiko einer Infektion besteht immer.«

»Es ist vorbei.«

»Möchtest du, dass ich es mit dir durchspreche, oder möchtest du es lieber denen überlassen? Wäre besser. Sie sind die Experten.«

»Du bist nicht meine Ärztin, du bist meine Schwester. Dabei wollen wir es belassen.«

»Schön. Wie du willst. Aber du weißt –«

»– dass du für mich da bist, wenn ich meine Meinung ändere? Ja, ich weiß. Danke. Da wäre nur noch eins – werde ich hierbleiben, oder werden sie mich nach Hause verfrachten … oder was sonst?«

»Das weiß ich nicht, allerdings werden sie dich wahrscheinlich entlassen, sobald sie sicher sind, dass die Infektion unter Kontrolle ist. Die Antibiotika, die sie dir verabreichen, sind ziemlich stark, und du wirst sie noch zwei Wochen einnehmen müssen, in Tablettenform. Wenn der Chirurg ansonsten zufrieden ist, musst du kein Bett mehr belegen. Nur nach Hause können sie dich nicht schicken.«

»Wieso?«

»Du bist willensstark, Si, aber du wurdest durch die Mangel gedreht. Dass du jetzt gleich wieder alleine in deiner Wohnung bist, ist keine Option. Am besten wäre, du kämst zu uns. Ich würde dich keine Stunde länger als notwendig festhalten, ich will nur sicher sein, dass du gesund bist, bevor du nach Hause gehst.«

»Ja, Frau Doktor.«

Cat empfand eine Mischung aus Erleichterung und Sorge. Sofortige Zustimmung zu einem Vorschlag, der in irgendeiner Weise mit ihm zu tun hatte, war nicht das, was sie erwartet hatte.

»Sag mal ehrlich … wie geht es dir? Ich meine nicht Schmerzen, Unwohlsein … all das, ich meine … Si, du hast einen Arm verloren. Unterschätz nicht, wie sich das auf dich auswirkt … auf deine Stimmung, deine Verfassung, dein sonst so gutes Körpergefühl. Das steckt man nicht so einfach weg.«

Er starrte vor sich hin, und sie konnte seinen Ausdruck nicht deuten. Vor dem Zimmer die üblichen Krankenhausgeräusche. Sie hatte ihre Ausbildungsjahre in Kliniken geliebt, hätte aber nie eine Krankenhaus-Laufbahn einschlagen wollen, und jetzt wurde ihr noch deutlicher, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Patienten kamen und gingen innerhalb von Tagen, manchmal Stunden, man hatte kaum eine Chance, sie kennenzulernen, schon gar nicht, ihre Geschichten weiterzuverfolgen. Sie war eine Ärztin, die Kontakt zu ihren Patienten brauchte. Weder Chirurgie noch Anästhesie hatten sie gereizt, zum Teil weil Beziehungen zu den Patienten einfach fehlten.

»Ich weiß erst, wie ich hiermit zurechtkomme, wenn ich herausgefunden habe, was mich am Ende erwartet«, sagte Simon. »Und wozu ich am Ende fähig sein werde. Zum Glück ist es mein linker Arm, mehr kann ich im Moment nicht sagen. Schenkst du mir bitte etwas Wasser ein?«

Als sie ihm das Glas in die Hand drückte, schaute er ihr in die Augen.

»Aber eins sage ich dir.«

Er behielt sie fest im Blick, während er langsam trank. Cat wartete, spürte, dass etwas Wichtiges kommen würde, wollte ihn nicht drängen oder ihn derart in Verlegenheit bringen, dass er verstummte. Sie unterhielten sich oft, und manchmal erzählte er ihr etwas, zuweilen gab er bruchstückhaft Andeutungen über sich preis, über sein Innenleben, aber sie war sich stets seines streng privaten Inneren bewusst, in das sie niemals eindringen durfte. Sie hatte gelernt, das zu respektieren.

Er reichte ihr das leere Glas und drückte dabei kurz ihre Hand.

»Du solltest den Chief heiraten«, sagte er.

1

Beim letzten Mal, als Serrailler auf die Insel kam, war er in einem kleinen Flugzeug vom Himmel gefallen. Diesmal näherte er sich über das Meer mit der regulären Fähre, die außer ihm noch zwei Wanderer und einige Transportkisten übersetzte.

Taransay war dunkelbraun und lag gold gestreift in der Sonne. Er hatte vergessen, wie klein das einzige Dorf war, ein Haufen niedriger Häuser aus grauem Stein mit Blick auf das Wasser. Die Straße, die dahinter aus dem Ort führte, zog sich als blasse Linie eine Meile lang hin, bevor sie in einen Feldweg mündete, der sich auf und ab und rundherum durch die Hügel schlängelte, wo es vereinzelte Cottages und zwei Farmen gab. Ansonsten war es leeres, wildes Land. Ein paar Gebäude im Schutz der Sandbuchten waren in Ferienhäuser umgewandelt worden, doch sobald der September ins Land gezogen war, standen sie leer, und die Insulaner igelten sich für einen weiteren Winter ein.

Simon saß an Deck. Der Himmel war leicht bewölkt, und ausnahmsweise wehte nur eine Brise, kein Wind. Wenn man den Rausch stürmischer Winde spüren und sich von ihrer Kraft wegfegen lassen wollte, war Taransay mit den benachbarten Inseln genau das Richtige.

Während sie auf der leichten Dünung in den Hafen glitten, hatte er das eigenartige Gefühl, sein früheres Leben wieder zu betreten, als wäre er damals ein anderer Mensch gewesen. Fast sechs Jahre war es her, es hätten auch sechshundert sein können. Er war jung gewesen. Fit, gesund, unversehrt, aber jetzt war er nicht unversehrt, obwohl die physischen Auswirkungen nach dem Verlust eines Arms aus Fleisch und Knochen und dem Ersatz durch eine Prothese viel leichter zu verkraften gewesen waren als die psychischen. Der Verlust seines Arms verfolgte ihn. Fast jede Nacht träumte Simon, der Arm wäre noch ein fester Bestandteil seines Körpers. Er fühlte sich unvollständig, wenn sich auch Kraft und Geschicklichkeit verbesserten und er sich daran gewöhnte, neue Wege für Gewohntes zu suchen.

Möwen rauften sich zu einem lauten, gefräßigen Pack hinter der Fähre zusammen, als sie einbog und gemächlich zum Liegeplatz am Kai tuckerte. Simon stand auf, streckte sich und schaute sich um.

Ein großer Mann. Eine nur etwas kleinere Frau. Und ein kleiner Junge. Sie standen zusammen. Die Männer aus den Lagerhäusern und dem Pub waren wohl schon unten, um mit dem Entladen anzufangen, sobald die Bright Lass vertäut war, die Gangway herabgelassen wurde und die Passagiere an Land gehen konnten. Simon wollte auf den Kai springen. Er wollte auch umkehren und sich unter Deck verkriechen, bis die Fähre bereit zur Rückfahrt war.

Douglas hatte ihn entdeckt. Kirsty winkte. Der kleine Junge stand da, beide Hände in den Taschen seiner kurzen Hose. Beobachtete.

Douglas rührte sich zuerst, griff nach Simons Reisetasche und klopfte ihm auf den Rücken. Was immer in der Vergangenheit zwischen ihnen geschehen war, gehörte tatsächlich der Vergangenheit an, und als Kirsty ihn fest umarmte, war es natürlich, kam von Herzen, vor allem aber war es freundschaftlich und deutete nicht auf das hin, was vor einigen Jahren zwischen ihnen gewesen war. Und Douglas störte es offenbar kein bisschen.

»Das ist Robbie.«

Der kleine Junge hatte schlickbraunes Haar, graue Augen wie ein Seehund und viel Ähnlichkeit mit seinem Vater. Er streckte die Hand aus, und Simon schüttelte sie feierlich, wobei ihm der prüfende Blick des Jungen nicht entging.

»Kann ich deinen bionischen Arm mal sehen?«, fragte er.

»Robbie! Was habe ich dir gesagt, bevor wir aus dem Haus gegangen sind?«

»Ihn nicht nach seinem bionischen Arm zu fragen, ich weiß, aber es ist doch so spannend.«

»Ich werde ihn dir zeigen. Nur jetzt nicht.«

»Warum nicht jetzt?«

»Weil mein Arm und ich nach einer sehr langen Reise im Auto, zwei Zügen und einer Fähre müde sind.«

»Okay.« Robbie stieg auf den Rücksitz des Land Rovers. »Aber du zeigst ihn mir morgen, ja, wenn dein bionischer Arm ein bisschen ausgeruht ist? Versprochen?«

»Versprochen.«

Leise lächelnd schnallte Robbie sich an.

 

»Wenn es dir recht ist, noch zum Tee zu bleiben, bringe ich dich nachher zu deiner Unterkunft«, sagte Douglas, bog mit dem Rover in den Weg, der steil bergauf führte. »Oder würdest du dort lieber erst deine Sachen abstellen?«

»Das würde er lieber nicht, er würde viel lieber jetzt mit zu uns kommen.«

»Robbie, benimm dich!«

»Er hat doch recht. Ich würde gern zuerst zu euch kommen.«

Der Junge hatte den Blick nicht von ihm abgewandt. Er schaute auf Simons linken Arm und die Hand, die auf dem Sitz zwischen ihnen lag.

»Sieht das für dich irgendwie anders aus?«, fragte Douglas und deutete auf die Landschaft.

»Hat sich hier in tausend Jahren jemals etwas verändert?«

»Oh ja – vor tausend Jahren gab es mehr Menschen als Schafe und dementsprechend viele Farmen.«

»Alles noch genauso wie beim letzten Mal, als ich hier war.«

»Du hast unser Haus noch nicht gesehen.«

Auch das Haus sah unverändert aus – von vorn ein niedriger, cremefarbener Bungalow mit einem Feld ringsum und den Hügeln dahinter. Douglas hatte damals allein hier gewohnt. Doch als sie aus dem Wagen stiegen und um das Haus gingen, erblickte Simon dahinter einen Anbau mit einer Dachgaube und Blick über das Meer.

»Im letzten Monat sind wir endlich damit fertig geworden. Du weißt ja, wie es hier zugeht.«

»Siehst du, da? Kuck mal, Mr Simon, da oben – das ist mein Fenster. Von meinem eigenen Zimmer.«

»Wow, Robbie, was für eine Aussicht! Du könntest Schmuggler und Spione ebenso entdecken wie Vögel und Seehunde.«

Robbie riss seine grauen Augen auf. »Schmuggler?«

»Dafür brauchst du natürlich ein gutes Fernglas.«

»Och, das hab ich.«

»Und ein Teleskop wäre nützlich.«

Der Junge runzelte die Stirn. »Das müsste ich mir wünschen. Jedenfalls ist es ein guter Plan. Wenn du willst, kannst du mein Assistent sein.«

»Ach, Robbie, das wäre schön – aber du brauchst jemanden, der ständig zur Stelle ist, und ich muss in ein paar Wochen wieder zurück. Ich wäre dir keine große Hilfe.«

»Trotzdem, solange du hier bist. Wir könnten …«

»Du könntest die Schuhe ausziehen und Hände waschen vor dem Abendessen, das könntest du tun, Robbie Boyd. Los … ab mit dir.« Douglas schob einen Sack Kies beiseite, der vor der Tür abgestellt worden war.

»Du hast einen tollen Jungen, Kirsty.«

Sie lächelte. »Ja. Und im Frühling kommt das Nächste, aber wir haben es ihm noch nicht gesagt. Wir werden ihn gut vorbereiten müssen – er hat hier gern das Zepter in der Hand, unser Robbie.«

Simon ging hinter ihr ins Haus. Kirsty. Sie hatte sich nicht verändert. Sie war noch immer die große, freundliche, sorglose junge Frau, die er vor sechs Jahren kennengelernt hatte, ein kurzes Techtelmechtel, woraufhin er Douglas’ Kinnhaken hatte einstecken müssen für den Schmerz, den er erlitten hatte. Doch sie war es nicht. Sie war Ehefrau, Mutter, ein tatkräftiges Mitglied der kleinen Gemeinschaft, die zusammenhielt, besonders in den langen, harten Wintermonaten. Kirsty war nicht mehr so frei, ungebunden und sorglos, obwohl sie noch immer freundlich war, noch immer ungezähmtes Haar hatte.

Er wünschte sich nicht, sie Douglas endgültig weggenommen zu haben. Das ganze Jahr über auf Taransay zu leben war nichts für ihn, die Enge und die Weltabgewandtheit der Insel würden ihn verrückt machen. Er wünschte ihnen alles Gute und war froh, dass sie ihre Kinder hier großzogen, die Gegend brauchte all das junge Blut, das sie bekommen konnte. Aber er beneidete sie auch. Ein Zuhause. Miteinander. Der kleine Robbie. Bald ein zweites Kind. Ein beständiges, ruhiges Leben.

Er zog die Stiefel aus, bevor er Kirstys behagliche neue Küche betrat, mit dem Meer vor dem Fenster und dem Herd, der eine wohlige Wärme ausstrahlte. Selbst wenn auf Taransay die Sonne schien, brauchte man noch Öfen und Holzfeuer.

»Ich sitze neben dir, Mr Simon.«

»Ja, Master Robbie, und du achtest auf deine Tischmanieren, und keine frechen Fragen, sonst wanderst du ab ins Bett.«

»Kannst du mit deiner bionischen Hand die Gabel halten?«

»Robbie …«

»Lass mal, Kirsty, schon gut. Ja, kann ich – ich kann viele erstaunliche Sachen damit machen, aber in ein paar Monaten bekomme ich eine noch tollere, und dann werde ich in der Lage sein, Knöpfe anzunähen und mich hinter dem Ohr zu kratzen.«

Die Prothese war vorerst einigermaßen bequem. Simon hatte monatelange Physiotherapie hinter sich, und es würden weitere Sitzungen folgen, sowie Unterweisungen, wie die hochmoderne neue zu benutzen war. Mit der Zeit würde er sich vollständig daran gewöhnt haben, hatte man ihm gesagt. Sie würde fast so vertraut, ihr Gebrauch so instinktiv sein wie der rechte Arm. Fast. Man hatte ihm noch etwas gesagt. »Dabei geht es nicht nur um die Mechanik Ihres Arms«, hatte Alex, der Physiotherapeut gesagt. »Oder um Ihr eigentliches Hirntraining, um mit all den kleinen Unterschieden zwischen Ihrem eigenen Arm und dem hier zurechtzukommen – was am Ende der Fall sein wird. Es geht um mentale Haltung. Akzeptanz.«

»Positives Denken?«

»Eher darum, nicht negativ zu denken. Das wird kommen, Simon.«

Und er wusste, dass der Prozess begonnen hatte. Physisch hatte er gut angefangen. Die psychologische Herausforderung war härter, wie Alex vorausgesehen hatte. Er hatte mit genügend Veteranen, Armlosen, Beinlosen und allen möglichen Kombinationen gearbeitet.

»Der Körper ist willig. Mit dem kann man viel leichter arbeiten als mit dem Verstand, der sich oft verweigert. Und das ist nicht mein Fachgebiet.«

Nur zu gern war Simon bereit gewesen, möglichst viele Stunden mit Alex zu arbeiten. Er hatte trainiert, sich angestrengt, war verwundert über seine Fortschritte. Doch wenn es um seine mentale Einstellung ging, hatte er sich Terminen mit polizeiinternen Beratern und solchen aus dem Reha-Team widersetzt, wohl wissend, dass er damit falschlag.

Sie aßen gegrillten Fisch aus dem Tagesfang, Pommes frites und Bohnen aus Kirstys reichhaltigem Gemüsegarten. Auf den Inseln war nur schwer an frisches Obst und Gemüse heranzukommen, wenn man es nicht selbst anbaute – und das war nicht einfach bei einem kurzen Sommer, schwierigen Bodenverhältnissen und einem fast ständig vom Meer her blasenden Wind.

Robbie wurde sehr still, sobald der Apfelkuchen gegessen und der Orkney-Käse und die Haferplätzchen in Angriff genommen waren. Er rutschte ein Stück auf seinem Stuhl nach unten und regte sich nicht.

»Na schön, junger Mann, ich kenne deine Tricks. Wenn du dich ruhig verhältst, wirst du unsichtbar. Noch zehn Minuten. Simon, möchtest du eine Tasse Kaffee und einen Dram?«

Die zehn Minuten verstrichen, und Kirsty zeigte auf ihren Sohn. Ohne ein Wort zu sagen, stand er auf und kam um den Tisch, um einen letzten faszinierten Blick auf Simons Arm zu werfen.

»Hör zu, Robbie. Komm doch einfach morgen nach der Schule zu mir rüber, dann zeige ich ihn dir richtig, und wie er funktioniert – das ganze Drum und Dran? Wär gut, wenn du es verstehst.«

Der Junge zögerte, dann umarmte er Simon, statt ihm die Hand zu schütteln, seine Berührung kurz und sanft wie die einer Katze, und sauste hinauf ins Bett.

2

Früh am nächsten Morgen, noch immer verkrampft und ausgelaugt von der langen Reise, machte sich Simon auf den Weg über die Insel, stieg die einspurige Straße hinauf, die zu dem Hügel fast in der Mitte führte. Von dort aus verlief die Straße wieder abwärts, und da auf dieser Seite von Taransay nur wenige Menschen lebten, war sie steinig, schmal und vernachlässigt.

Nachdem er vier Meilen in gleichmäßigem Tempo zurückgelegt hatte, ging er wieder bergan bis an die Klippen über dem wilderen Meer. Er schaute hinab und erblickte eine langgestreckte Sandbucht. Basstölpel und Möwen krallten sich ans Felsgestein, stiegen ab und zu auf und landeten dann wieder auf den Felsvorsprüngen. Vor ihm lag nur das Meer, das auf dieser Seite nie ruhig war, nie still. Die großen Brecher rollten einer nach dem anderen heran, schäumten in einer langen weißen Linie an den Strand. Über die Brandung und das Krächzen der Vögel hinweg hätte er seine eigene Stimme nicht gehört. Doch hier war auch niemand, mit dem er hätte sprechen können.

Er setzte sich auf einen Vorsprung und genoss die Aussicht. Der Himmel war milchig, die Luft frisch, aber nicht kalt. Und der Wind wehte. Wie immer hier.

Er wusste nicht, ob er je an einem schöneren Fleck gewesen war – vielleicht nicht. Ihm ging das Herz auf. Er liebte die Einsamkeit, die Wildnis, die ständige Bewegung von Wolken, Meer und Dünengras, das Auf und Ab der Vögel. Wie ihn das alles einsaugte, von seiner Gegenwart jedoch keine Notiz nahm.

Die andere Seite der Insel war sanfter, geschützter, näher am Wasser, obwohl der Wind auch hier heulen und toben konnte und das Meer manchmal so rau war, dass die Boote tagelang im Hafen festsaßen und der Fährbetrieb eingestellt wurde.

Ob er hier leben könnte? Das ganze Jahr über, in dem es monatelang um drei Uhr dunkel wurde, an einem Ort, an dem dunkel schwarz bedeutete? Das ganze Jahr über, in dem man für eine Woche oder länger vom Wetter eingesperrt werden konnte? Die elektronische Kommunikation war inzwischen gut, man konnte ebenso leicht mit der Außenwelt Kontakt aufnehmen wie alle, die auf dem Festland lebten, doch das bedeutete nur Wörter, schriftlich oder mündlich, die im Cyberspace hin und her flogen, keinen engen menschlichen Kontakt.

Trotzdem, dachte er, schaute hinab, als die Sonne herauskam, auf der Meeresoberfläche funkelte und er die Köpfe von drei Seehunden sah, die nah am Strand auftauchten, trotzdem …

Die Seehunde verschwanden so plötzlich, dass er sich umschaute, um zu sehen, was sie aufgeschreckt hatte. Eine Gestalt wanderte nah am Wasser über den Strand. Eine Frau in Watstiefeln und langem braunen Regenmantel, ein Schal um den Hals verbarg ihre Haare fast vollständig. Sie ging mit großen, gleichmäßigen Schritten, den Blick auf den Sand gerichtet. Kurz darauf bückte sie sich und hob etwas auf, prüfte es und steckte es in die Tasche. Ein Stück weiter wiederholte sie das Ganze.

Eine Strandgutsammlerin also; vielleicht gab es dort eine gute Ausbeute, wo das Meer eine Linie aus Steinen und Abfällen hinterließ, wenn die Ebbe einsetzte. Hier waren die Gezeitenströmungen schnell. Die Frau ging weiter. Sie hatte Simon nicht gesehen. Er rührte sich nicht. Bald war sie hinter einem Felsvorsprung außer Sichtweite, und die Seehunde kamen wieder an die Oberfläche.

3

»Noch eine Minute.«

»Fertig.«

Felix kam polternd die Treppe herunter. Graue kurze Hose. Grauer Blazer mit der himmelblauen Paspel, die ihn als Chorjungen der Kathedrale kennzeichnete. Keine Kappe. Die waren abgeschafft worden, als Sam in die Schule kam.

»Oboe?«

Er schenkte Kieron Bright, seinem Stiefvater, einen langen, leidvollen Blick. Wenn er alles andere vergaß, dann doch bestimmt niemals seine Oboe, das Instrument, das er so bereitwillig angenommen hatte, dass es ihm innerhalb weniger Monate angewachsen schien.

»Auf geht’s!«

Kierons Fahrstrecke zum Polizeipräsidium Bevham führte ihn nicht an der Kathedrale vorbei, doch seit den ersten Tagen seiner Ehe mit Cat hatte er sich angeboten, Felix zu seinen frühen Chorproben zu fahren.

»Das ist ganz einfach«, hatte er gesagt. »Es bedeutet, dass ich Felix jeden Morgen für mich habe. Dass ich gleich als Erster zur Arbeit komme. Es bedeutet, du musst es nicht machen, und wenn es für mich ein kleiner Umweg ist, dann ist es für dich auf deinem Weg zur Praxis ein großer. Keine Widerrede.«

Das war sinnvoll, aber der beste Grund für sie war nicht der offensichtliche und praktische. Ihr Mann wollte eine Beziehung zu ihrem jüngeren Sohn aufbauen, und Felix schien mit der Abmachung ganz zufrieden – wobei Felix leicht zufriedenzustellen war. Er war ein glückliches, ruhiges Kind und nahm das Leben, wie es kam, freute sich an dem, was es bot, und hatte ihr kaum Ängste bereitet.

Hannah, die an der Schule für darstellende Künste war, hatte sich von einem problematischen Kind zu einem talentierten jungen Mädchen entwickelt, das die unbeschwerte Fröhlichkeit ihres Bruders Felix teilte. Sam, ihr Ältester, war der Schwierige.

Sie schaute dem Auto nach, wie es aus der Einfahrt bog, ihr Sohn wandte sich Kieron zu und plauderte angeregt. Dann fluchte sie leise vor sich hin, denn sie hatte vergessen, die beiden daran zu erinnern, dass sie am Abend Probe mit den St.-Michael-Singers hatte, die erste der neuen Saison. Ob Kieron daran dachte, dass er und Felix zum Abendessen allein zu Hause waren?

Kieron schon. Ihn zu erinnern, wäre überflüssig. Er war Mr Planvoll, Mr Ordentlich, Mr Tüchtig.