Philippe - Link Manolo - E-Book

Philippe E-Book

Link Manolo

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Beschreibung

Auf einer Parkbank in Galicien begegnet der achtjährige Juan dem weisen Alfredo. Hier beginnt die geheimnisvolle Geschichte von Philippe, der im 19. Jh. in Pamplona lebt und Menschen heilt. Der Leser spürt die heilende Kraft der Liebe, kraftvolle Energien von Gedanken und die immerwährende Quelle zum Lebensglück, die in ihm fließt.

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Manolo Link

PHILIPPE

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Verlage, Herausgeber und Autor unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

2. Auflage

www.karinaverlag.at

Lektorat: Monika Thees, Martin Urbanek

Covergestaltung: Martin Urbanek, Paula Nolan

2019, Karina Verlag, Vienna, Austria

Print: ISBN: 9783966617253

Dieses Buch widme ich in Liebe

meinen Eltern

Katharina und Ferdinand Link

Philippe

Juan ließ das Gefühl nicht los, am falschen Ort zur Welt gekommen zu sein. Er lebte in einer großen Stadt. Die vielen Menschen und Autos bereiteten ihm ein ums andere Mal Unbehagen. Juan liebte den Park, der sich am Ortsende befand. Am meisten imponierten ihm die riesigen Bäume, die bis in den Himmel zu ragen schienen. Auf einer Anhöhe befanden sich steinalte, moosbedeckte Eichen, die ihm manchmal unheimlich vorkamen. Wie Greise wirkten sie. Inmitten der Bäume thronte eine kleine Kirche aus grauem Naturstein. Im Park hielt er sich gerne auf, spielte mit seinem Freund Nicolas Entdecker, war aber oft allein. Seine großen braunen Augen strahlten jedem entgegen, der sich ihnen öffnete. Die Schule war ihm nicht so lieb, doch tat er sich leicht in der zweiten Klasse, weil er seine Lehrerin mochte.

An einem schönen Sommertag, zur späten Nachmittagsstunde, saß Juan auf seiner Lieblingsbank, betrachtete ein Eichenblatt in seiner Hand und lauschte dem lieblichen Gesang der Vögel. Ein alter Mann mit einem Stab und langem Mantel kam langsam auf ihn zu. Juan erschrak. So einen Mann, in solch ungewöhnlicher Kleidung, hatte er nie zuvor gesehen. Sein erster Gedanke: weglaufen. Doch aus irgendeinem Grunde blieb er sitzen. Der Alte kam näher. Juan beobachtete jeden seiner Schritte.

»Guten Tag«, begrüßte der Mann Juan mit einer leichten Verbeugung, als er kurz vor der Bank stehen blieb, und lüftete seinen Hut.

»Guten Tag«, erwiderte Juan verlegen.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte der Alte.

»Ja – ja doch«, stammelte Juan.

»Ich heiße Alfredo, und wer bist du?«

»Ich – eeehm – Juan.«

Alfredo, der trotz seines hohen Alters eine gewisse Jugendhaftigkeit ausstrahlte, reichte ihm die Hand. Juan drückte sie und fühlte etwas wie einen leichten Stromschlag, der seinen Körper durchfuhr.

»Magst du Geschichten?«, fragte Alfredo den Knaben.

»Ja, ich liebe Geschichten.«

»Nun gut, dann will ich dir eine Geschichte erzählen, die sich vor langer Zeit ereignet hat.

Philippe war sechs Jahre alt. Sein Vater Ángel und seine Mutter Rosa waren schon bei seiner Geburt voller Verwunderung. Sie hatten zwar bereits drei Kinder, Laura, Anna und Ramon, doch bei Philippe war etwas anders. Ganz anders. Als er zur Welt kam, strahlten seine Augen auf eine eigentümliche Weise, für die niemand eine Erklärung fand. Alle, die Philippe anschauten, verschlug es die Sprache.«

Juan rutschte aufgeregt hin und her und lauschte gespannt den Worten des Alten.

»Nun, da sich Philippes Augenfarbe, wie es bei allen Babys üblich ist, veränderten, stellten seine Eltern eine weitere Besonderheit fest. Jeder, ausnahmslos jeder, der in die Augen ihres Kindes sah, strahlte ebenso. Wenn die Menschen sich in Philippes Nähe aufhielten, fühlten sie Freude in ihren Herzen.

Im fernen Galicien, in Nordspanien, lebte Philippes Großonkel Fernando mit seiner Frau Dolores. Ihre fünf Kinder waren schon lange aus dem Haus. Es hatte sie in die weite Welt verschlagen. Das Dorfleben war ihnen zu langweilig. Fernando war bei allen beliebt, weil ihm stets ein Scherz auf den Lippen lag. Für sein fortgeschrittenes Alter hatte er noch kräftige Haare, die nicht vollends ergraut waren. Seine knollige Nase war etwas zu groß geraten, doch verunstaltete sie ihn nicht. Auffallend waren seine glänzenden blauen Augen, wie sie in Galicien nicht oft zu sehen waren. Seit Jahren hatte Fernando große Probleme mit seiner Gesundheit, wovon niemand wusste. Selbst in Gegenwart seiner Frau hatte er nie ein Wort darüber verloren, selbst wenn die Schmerzen unerträglich waren. Er wollte niemanden mit seiner Krankheit belasten. Warum auch, es würde nichts zu seiner Genesung beitragen. Kein Arzt wusste Rat.

Ein tiefes Gefühl begleitete ihn, seit er von Philippes Geburt erfahren hatte: ›Ich muss zu Philippe‹, hatte er immer wieder zu Dolores gesagt.

›Ich muss Philippe sehen. Ich muss ihn sehen.‹

›Dann gehe endlich, du folgst doch sonst auch immer deinem Gefühl‹, hatte Dolores ihm eines Tages nahegelegt.

An einem wolkenverhangenen Frühlingstag schnürte Fernando sein Bündel, zog seine besten Schuhe und den alten Mantel seines Vaters an und machte sich auf den weiten Weg. Eine lange, gefährliche Reise lag vor ihm. Wegelagerer, extreme Wetterverhältnisse, Krankheiten und Hunger erwarteten ihn. Doch Fernando blieb keine Wahl – eine innere Stimme sagte ihm, dass er gehen müsse. Und da war noch etwas Spezielles, dass Philippe und Fernando verband. Er hatte eine Vermutung.

Die Bischofsstadt, in der Philippe lebte, war weit entfernt. Fernando und Dolores besaßen nicht viel Geld. Ein wenig konnte er mitnehmen. Doch er wusste, dass es nicht ausreichen würde. Es geht schon, hatte er Dolores beruhigt, die sich Sorgen machte. Während er dem unebenen Weg folgte, traten die stechenden Schmerzen in seinem Rücken wieder auf. Manchmal waren sie so stark, dass er nicht weitergehen konnte. Dann setzte er sich hin, trank Wein und fühlte Erleichterung. Fernando wusste nicht, wie lange er bis zur Stadt gehen musste. Er war sich nicht sicher, ob er es überhaupt erleben würde.«

Juan fühlte sich in eine andere Zeit, in eine vollkommen neue Welt versetzt. Denn der Alte war ein Meister im Geschichtenerzählen.

»Fernando war von kräftiger Gestalt«, fuhr der Alte fort. »Mit seinem riesigen Stab, der ihn vor wilden Tieren und Gesindel schützen sollte, sah er Respekt einflößend aus. In Finisterre, dem Dorf, in dem seine Familie seit Generationen lebte, war er beliebt. Nicht ausschließlich wegen seines sonnigen Humors: Seine Nachbarn brauchten ihn nicht zweimal um Hilfe zu bitten. Fernando war ein feiner Geselle. ›Der ist von Gott gesegnet‹, sagten sie hinter seinem Rücken. Er war ein Mensch, dem das Glück zufiel. Leider traten die Schmerzen irgendwann in sein Leben. Das stimmte ihn traurig. Wenn er alleine war, ließ Fernando seinen Tränen freien Lauf. Sein Vertrauen in Gott jedoch hatte er nie verloren.

Es war schon dunkel, als Fernando einen Bauernhof erreichte. Licht brannte in der Kammer. Er klopfte an die Holztür. Schritte näherten sich. Ein alter Bauer öffnete die Tür einen Spaltbreit, schaute ihm in die Augen und wusste im gleichen Moment, dass ein guter Mensch vor ihm stand.

›Komm rein, Wanderer, sei willkommen.‹

›Danke‹, erwiderte dieser.

Der Bauer führte Fernando in die Küche, holte Wein und rief nach seiner Frau: ›Bring Brot und Suppe.‹ Minuten später trat die Bäuerin in die Kammer, stellte Brot und heiße Suppe, in der ein paar Brocken Fleisch und Gemüse schwammen, auf den Tisch und begrüßte Fernando mit einem leichten Kopfnicken. ›Iss!‹, sagte der Bauer und goss Wein in den Becher.

›Woher kommst du, Fremder, und wohin willst du?‹

›Ich komme aus Finisterre in Galicien und befinde mich auf dem Weg in die Bischofsstadt.‹

›So, in die Bischofsstadt willst du. Das ist noch ein langer Weg, und gefährlich ist er. Schon viele sind überfallen und beraubt worden in den Wäldern. Dort treibt sich übles Gesindel herum.‹

Der Bauer goss Wein nach. Suppe und Wein stärkten Fernando.

›Warum, Fremder, nimmst du so einen gefährlichen Weg auf dich?‹

›Ich muss zu meinem Großneffen Philippe.‹

›Nun‹, sprach der Bauer. ›Du bist alt genug, musst wissen, auf was du dich einlässt. Heute Nacht kannst du hierbleiben.‹

›Danke‹, sagte Fernando und leerte seinen Becher.

›Komm, ich zeige dir die Kammer.‹

Fernando nahm sein Bündel und folgte dem Bauer, der ihn in ein kleines Zimmer führte, in dem sich ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank und ein kleiner Tisch befanden, auf dem eine weiße Schüssel stand. Bevor er sich ins Bett legte, wusch er sich und reinigte seine Zähne. Träume von einem Buben, der ihm beständig etwas zuflüstern wollte, begleiteten seinen tiefen Schlaf.

Der Bauer und seine Frau standen früh auf den Beinen, weil sie das Vieh versorgen mussten. Die Bäuerin hatte für Fernando ein kleines Frühstück zubereitet. Als dieser in die Küche trat, Brot und Käse auf dem Tisch sah, strömten Wärme und Dankbarkeit in sein Herz. Gute Menschen sind es, dachte er und setzte sich an den alten Holztisch neben dem Ofen, in dem ein kleines Feuer loderte.

Die Bäuerin erschien eine Weile später, nickte kurz, nahm eine große, graue Kanne vom Ofen und goss Fernando eine braune Flüssigkeit in seinen Becher. Was es war, wusste er nicht. Wahrscheinlich Tee von Kräutern aus Wald und Feld. Bevor Fernando den Bauernhof verließ, ging er zum Stall, dankte dem Bauern und verabschiedete sich. ›Guten Weg‹, wünschte dieser.

Fernando war schon viele Tage unterwegs, fühlte Müdigkeit, die von seinem Körper Besitz ergriff. Die Wälder lagen vor ihm. Obwohl er Vertrauen hatte, spürte er eine leichte Unruhe. Er hielt den Stab nun fester in seiner Hand. Vögel zwitscherten, hin und wieder vernahm er ein Rascheln im Unterholz, Wind strich über die Baumkronen. Ein Flüstern schien den Wald zu durchlaufen, als wenn er seine eigene Sprache hätte. Wahrscheinlich trifft das zu, dachte Fernando und lauschte aufmerksam. Der liebe Gott hat eine schöne Welt erschaffen: Tiere, Bäume, Blumen, die Wolken und das Meer, das Fernando besonders liebte, waren ihm Beweis der Gegenwart Gottes. Gott ist allgegenwärtig, da war er sich sicher. In allem ist Gott, und er ist schön, der Gott. Manchmal glaubte Fernando die Vögel zu verstehen, wenn sie sich mitteilten. Sie gefiel ihm, die Vogelsprache. Seit seiner Kindheit tat er es ihnen gleich, pfiff, versuchte sie nachzuahmen, liebte sie und fühlte sich von seinen gefiederten Freunden verstanden. Auch sie liebten ihn.

»Kannst du noch zuhören?«, fragte der Alte.

»Ja, ja«, erwiderte Juan.

»Natürlich fühlten Tier und Mensch die Liebe, die Fernando ausstrahlte. Solch ein Mensch ist ein Segen für jeden, der ihm begegnet.

Fernando musste weinen. Doch dieses Mal nicht vor Schmerz. Der Grund für seine Tränen war die Liebe, die er in seinem Herzen fühlte. Liebe zu jener wundervollen Natur, Liebe zu seinem Leben und eine tiefe Liebe zu Gott. Fernando setzte sich auf einen alten, umgefallenen Baum, der sein Leben gelebt und Jüngeren Platz gemacht hatte, nahm sein Bündel und steckte sich ein Stück Brot in den Mund, das er langsam und bedächtig kaute. Fernando aß Brot mit Bewusstheit. Es war ihm heilig, nährte ihn und erhielt sein Leben. Dies war ein Grund mehr, dankbar für jedes Stück Brot zu sein. Dankbar fürs Leben, das es ihm spendete. Brot bedeutet Leben, ebenso wie Wasser und die klare saubere Luft. Leben – dachte Fernando. Leben ist ein kostbares Geschenk. Ein Geschenk des Himmels. Er musste an Philippe denken und fühlte wieder jene enge Verbundenheit zu dem Kind.

Fernando hatte nie große Wünsche gehabt. Er besaß alles, was sein Leben reich und glücklich machte. Dolores war ihm immer eine gute Frau gewesen. Sie hatte ihm fünf gesunde Kinder geschenkt, hatte den Haushalt und das Vieh versorgt. Reich waren sie nicht, doch hungern mussten sie nie. Auch blieb die Familie von schweren Krankheiten verschont. Fernando besaß ein kleines altes Fischerboot von seinem Vater. Es reichte, um die hungrigen Mäuler satt zu bekommen. Und es reichte, um auf dem Markt einige Dinge gegen Fische, die sie entbehren konnten, einzutauschen. Fernando betrachtete das Stück Brot in seiner Hand und steckte es zurück in seinen Beutel.«

Der Alte wandte seinen Kopf. Juan schaute in sanfte braune Augen.

»Du musst sicher nach Hause«, sagte Alfredo.

»Nein! Ich muss noch nicht nach Hause«, protestierte Juan. »Ich will die Geschichte weiter hören. Bitte, bitte, erzähl weiter.«

»Morgen, wenn die Sonne in der Mitte der beiden alten Eichen steht, treffen wir uns hier an der Bank. Dann erzähle ich dir, wie es weitergeht.«

»Und du kommst auch ganz bestimmt?«

»Ja, gewiss, du kannst dich auf mich verlassen. Gehe nun nach Hause und habe vielen Dank fürs Zuhören.«

Juan rannte los. Seine Eltern stellten am Abend eine Veränderung bei ihrem Sohn fest. Schon die Art, wie er sein Brot aß, wunderte sie.

»Warum isst du dein Brot so langsam und schaust es dauernd an?«, fragte ihn seine Mutter.

»Es schmeckt so gut«, antwortete Juan mit vollen Backen.

»Es schmeckt einfach gut«, wiederholte er.

Seine Mutter runzelte die Stirn. An diesem Abend konnte Juan lange nicht einschlafen. Die Augen des Alten waren stets gegenwärtig. Namen kreisten in seinem Kopf – Philippe, Fernando – wie geht’s weiter? Wird Fernando Philippe jemals begegnen?

Als er am nächsten Morgen seine Augen öffnete, sah er sich in seinem Zimmer um und konnte seine Gedanken nicht so recht einordnen. Wo bin ich, was mache ich hier? Sein Blick fiel auf das vertraute Bild mit dem Meer, das er so sehr liebte. Es holte ihn in die Gegenwart zurück. Wenn die Sonne zwischen den zwei Eichen steht, kommt er. Einen Augenblick lang fasste er den Gedanken, seinem Freund Nicolas etwas von dem Alten zu erzählen. Doch er verwarf ihn schnell wieder. Juan ahnte, dass die Geschichte einzig und allein für ihn bestimmt war. Sonst wäre der Geschichtenerzähler schließlich zu Nicolas oder anderen Kindern gekommen und nicht zu ihm.

Seine Lehrerin wunderte sich ebenfalls über Juan. Er war stets aufmerksam und wusste auf jede Frage eine Antwort. Auch wenn sie nicht immer richtig war. Juan war liebenswürdig und freundlich, auch zu seinen Schulkameraden. Doch an diesem Tage musste sie ihn oft ermahnen, nicht immer aus dem Fenster zu starren: »Sonst bist du doch immer so aufmerksam, Juan. Was gibt es draußen so Faszinierendes?«

»Eeeh, nichts«, stotterte Juan, verfiel jedoch schnell wieder in Träumereien. Wenn die Sonne in der Mitte der Eichen steht.

Nach Schulschluss rannte er nach Hause, stellte seinen Ranzen in die Ecke und schaute sich das Meeresbild an der Wand länger als gewöhnlich an. Das Meer hatte ihn schon immer fasziniert. Seit er wusste, dass es existierte. Wo auch immer ein Bild vom Meer auftauchte, zog es ihn magisch an. Wenn jemand nur das Wort Meer in seinen Mund nahm, geschah etwas mit ihm. Es war sein größter Wunsch, einmal in seinem Leben das Meer zu sehen. Nein, nicht nur ein einziges Mal am Meer zu sein. Am Meer wollte Juan leben. Für immer leben.

Bereits am frühen Nachmittag hielt sich Juan im Park auf. Seine Augen folgten dem Lauf der Sonne. Ungeduldig zappelte er auf der Bank herum. Wie lange dauert es denn noch? Wann kommt er endlich? Leute schlenderten vorbei, schauten ihn an. Juan wandte seinen Kopf, erwiderte ihren Blick nicht und schnitzte weiter an einem Stock, mit seinem Lieblingsmesser, das ihm sein Vater zum Geburtstag geschenkt hatte. Nun war die Sonne hinter der linken alten Eiche verschwunden. Es konnte nicht mehr lange dauern. Muss sie denn genau in der Mitte stehen? Vielleicht kommt er ja ein paar Zentimeter früher. Je näher die Sonne der Mitte zustrebte, desto aufgeregter wurde er. Hoffentlich taucht er überhaupt auf.

Er kam, und zwar pünktlich auf den Millimeter, wie Juan glaubte. Die Erscheinung des Alten hatte etwas Erhabenes. Er ging langsam. Sein Gesicht war unter seinem breiten, zerknitterten Hut verborgen. Juan wollte aufspringen, etwas hielt ihn jedoch davon ab. Seine Hände umklammerten die Bank. Er zog die Schultern hoch, ließ sie wieder sinken. Rutschte hin und her. Dann stand der Geschichtenerzähler vor ihm und lächelte: »Guten Tag, Juan«, und setzte sich neben ihn.

»Hallo«, grinste Juan verlegen und konnte seine Freude nicht verbergen.

Der Alte fuhr fort.

»Nachdem Fernando seine Augen wieder geöffnet hatte, wunderte er sich, dass er neben einem alten Baum lag und eingeschlafen war. Er öffnete sein Bündel, trank einen Schluck Wein und nahm ein Stück Brot. Im Stillen dankte er für den neuen Tag, den er als ein weiteres Geschenk ansah. Nach dem bescheidenen Frühstück stand er auf, packte sein Säckel und machte sich auf den Weg, der nun bergan verlief. Fernando fühlte sich gut und ausgeruht. Der Wald wurde lichter, Sonnenstrahlen erhellten das junge Grün der Blätter. Ein Duft umgab ihn, den er aus Kindheitstagen kannte. Die Luft war klar. Das Aufwärtsgehen verlangte einiges an Kraft. Eine Scheune diente ihm als Schlafplatz für die Nacht. Stroh wärmte ihn. Hin und wieder vernahm er ein Rascheln. Mäuse wahrscheinlich. Doch sie störten ihn nicht, hatten ihre eigenen Wege.

Die Tage vergingen, Fernando kam gut voran. Ein ungutes Gefühl gesellte sich zu seiner Müdigkeit. Plötzlich sprangen drei Männer aus dem Gebüsch und versperrten ihm den Weg. Sie hielten dicke Stöcke in ihren Händen. Finstere Gesellen. Fernando hielt seinen Stab schützend vor seinen Körper. Dann stürzten sie sich auf ihn. Die ersten Attacken konnte er noch abwehren. Doch sie waren zu stark, schlugen und traten auf ihn ein.

Als er das Bewusstsein wiedererlangte, brummte sein Schädel. Der eiserne Geruch von Blut stieg in seine Nase. Seine Sachen lagen verstreut um ihn herum. Er griff in die Hosentasche. Das wenige Geld, das sich in seiner Hosentasche befand, hatten sie ihm gestohlen. Langsam versuchte er auf die Beine zu kommen. Wenigstens haben sie mir mein Leben gelassen. Seine Rippen schmerzten. Vielleicht gebrochen. Er band sich zur Stütze ein Hemd um den Leib. Verdammtes Pack! Nachdem er die Sachen, die ihm geblieben waren, eingesammelt hatte, setzte er seinen Weg fort, langsam fort. Das Gehen fiel ihm schwer. Öfters rastete Fernando. An einer Quelle reinigte er die blutverkrusteten Haare und sein Gesicht. Die Wunde hatte glücklicherweise aufgehört zu bluten. Schlimmer hätte es kommen können.«

»Gemeine Schurken!«, schrie Juan während er aufsprang.

»Ja, es gibt leider Gesindel.«

»Nun, da Fernando so schnell nicht unterzukriegen war und zudem fest an sein Ziel glaubte, schleppte er sich voran. Schritt für Schritt setzte er einen Fuß vor den anderen. Der Wald gab ihm nicht viel an Nahrung. Quellen, Bäche und Flüsse boten ihm frisches Wasser.

Drei Tage nach dem Überfall erreichte er spät, mit letzter Kraft einen abgelegenen Hof, der ein wenig verwahrlost schien. Eine kleine alte Frau öffnete auf sein Klopfen. Sie betrachtete ihn von oben bis unten: ›Komm rein, Fremder‹, sagte sie mit einer leichten Kopfbewegung. Fernando trat ein. Die Alte führte ihn in die Küche. Ein Feuer brannte im offenen Kamin. Über den Flammen hing ein schwarzer Topf, in dem irgendetwas brodelte. ›Suppe‹, sagte die Frau, nahm eine braune Holzschüssel vom Regal, füllte sie bis zum Rand und stellte sie vor ihm auf den Tisch. Dann schnitt sie ein dickes Stück Brot von einem Laib und legte es samt einem Holzlöffel neben die Schüssel. ›Wein‹, murmelte sie vor sich hin, verließ die Küche und erschien kurze Zeit später mit einem braunen Krug und einem Becher. ›Danke‹, sagte Fernando. ›Es sei dir gegönnt‹, erwiderte die Alte. Fernando tauchte den Löffel in die Schüssel, nahm das Brot und freute sich über die warme Mahlzeit.

›Du siehst müde und zerschunden aus‹, meinte die Alte, während sie sich ihm gegenüber auf den Stuhl setzte.

›Vor drei Tagen haben mich drei dunkle Gesellen ausgeraubt.‹

Die Alte betrachtete ihn schweigend. ›Kannst die Nacht bleiben. Bist eh zu schwach, um weiterzugehen.‹

›Danke, in Gottes Namen‹, antwortete Fernando erleichtert.

›Woher nur, Fremder, kommst du?‹

›Aus Galicien, Finisterre. Ich bin Fischer.‹

›Galicien? Nie gehört von einem Land, das sich so nennt. Wohin gehst du?‹

›Zur Bischofsstadt, wo Philippe mein Großneffe lebt.‹

›Der Weg ist weit und gefährlich.‹

›Ja, es ist noch weit‹, antwortete Fernando und schlürfte seine Suppe. Wohlige Wärme und neue Kräfte breiteten sich in seinem Körper aus. Die Alte schaute ihm amüsiert zu.

›Lang ist’s her, dass jemand an diesem Tisch mit mir gesessen hat. Mein Mann ist vor vielen Jahren gestorben. Er war ein Guter, hat viel gearbeitet. Kinder hatten wir keine.‹

Die Alte begleitete Fernando zur Kammer, nachdem dieser seine dritte Schüssel Suppe geleert hatte. Er zog Hemd und Hose aus, hängte sie geordnet über den Stuhl, legte sich ins Bett und verfiel in einen tiefen Schlaf. Im Traum erschien ihm abermals Philippe, der wieder eine Nachricht für ihn zu haben schien. Fernando konnte die Worte nicht verstehen. Sie waren weit weg, vernebelt, einer anderen Welt verhaftet. Wie sehr er sich auch bemühte, er verstand die Botschaft nicht. Als er seine Augen wieder öffnete, schien die Sonne durchs Fenster. Fernando sah sich im Zimmer um, und versuchte zu ergründen, wo er sich befand.

Er stand auf, schüttete aus dem Krug Wasser in die Schüssel, wusch sein Gesicht und seinen Körper, kleidete sich an und ging in die Küche. Das Feuer war niedergebrannt. Auf dem Tisch befanden sich ein Teller, ein Messer, ein Korb mit Brot, Butter, Käse, Honig, Milch und ein Becher. Über der Feuerstelle hing ein kleiner silberner Topf. Von der Alten war weit und breit nichts zu sehen. Er nahm den Becher und füllte ihn mit der Brühe, die lauwarm war. Im gleichen Moment vernahm er das Knarren einer Tür. Wenige Augenblicke später stand die Alte in der Küche.

›Gut geschlafen?‹

›Ja, ich habe gut geschlafen.‹

›Du warst sehr müde. Iss nur, es ist genug Brot da.‹

›Danke.‹

Die Alte setzte sich und schaute ihn schweigend an: ›Du kannst so lange bleiben, wie du willst.‹

›Danke für das Angebot, vielleicht wäre es gut, noch eine Nacht zu bleiben, bis ich wieder bei Kräften bin.‹

Die Alte nickte, stand auf, ging raus und erschien kurze Zeit später mit einem kleinen Gefäß, das sie ihm reichte.

›Hier, das kannst du dir auf deinen zerschundenen Leib reiben.‹ Fernando ging auf sein Zimmer und verteilte die Salbe auf seine Wunden.

Am Abend erzählte ihm die Alte eine Geschichte: ›Als Kind war ich oft im Wald. An einem warmen Sommertag erschien auf einer Lichtung ein kleines engelhaftes Wesen. Ich erschrak, als ich sie sah. Ihre Augen strahlten weich, kristallen. Ich war vielleicht sieben oder acht Jahre alt. So genau kann ich mich nicht erinnern. Ich fragte, wer sie sei und woher sie komme. Von weit her käme sie und hätte eine wichtige Botschaft für mich, war die Antwort. Arlamelia sei ihr Name. Sie setzte sich ins Gras mitten auf die Lichtung.‹

›Mein Vater hat mich geschickt‹, begann sie.

›Ich soll den Menschen mitteilen, dass es viele andere Zivilisationen vor Millionen von Jahren auf der Erde gegeben hat. Wir waren das Volk der Selikaaner, ein hoch entwickeltes Volk, das in der Lage war, friedvoll und in Liebe miteinander zu leben. Irgendwann mussten wir die Erde verlassen, weil in einer anderen Welt neue Aufgaben auf uns warteten. Doch nun, da wir gesehen haben, dass die Menschheit auf dem Wege ist, sich durch Egoismus und Habgier selbst auszulöschen, musste mein Vater eingreifen. Deshalb bin ich und mit mir, viele andere ausgesandt worden. Die Menschen sind vom rechten Pfad abgekommen. Wir können sie nicht zwingen, andere Wege einzuschlagen, weil sie einen freien Willen besitzen. Doch es ist uns von Gott erlaubt, ihnen den richtigen Weg zu weisen. Einer dieser Wege ist der Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Viele Millionen, die spüren, dass einiges in ihrem Leben nicht mehr stimmig ist, werden sich aufmachen. Der Jakobsweg war schon immer eine energetische Route. Eine himmlische Energie ist ihm eigen, die den Menschen, die sich ihr öffnen, alles gibt, was sie für ihre und aller Glückseligkeit benötigen. Viele weinen auf dem Weg. Die Tränen reinigen sie. Verletzungen, Trauer und Ängste lösen sich auf. Menschen, die sich nie zuvor begegnet sind, werden eine tiefe Liebe zueinander empfinden, wie es normalerweise nur unter Brüdern und Schwestern üblich ist. Ihnen wird nicht bewusst sein, weshalb das so ist. Diese Liebe ist eine heilende, lehrende, selbstlose Liebe. Die Menschen haben nur eine Chance zu überleben: Wenn sie einander lieben und vergeben. Vergebung führt zur Heilung.