Philisterburg - Jacques Decour - E-Book

Philisterburg E-Book

Jacques Decour

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Beschreibung

Ein Franzose 1930 in Magdeburg: Das vorurteilslose, scharfsinnige, komische und tragische Porträt eines Landes vor dem Untergang. Sein Autor Jacques Decour: in Deutschland unbekannt – in Frankreich ebenso. Diese Geschichte kann sich keiner ausdenken – ein junger, wacher Franzose kommt als Austauschlehrer in die preußische Stadt, findet die Autoritäten ziemlich lächerlich aber den Nazi von nebenan ziemlich interessant. Und doch erkennt der junge Mann, was kommt, was kommen muss. »Entschlossen, alles, was ihm begegnet, ganz sachlich zu beobachten, meidet er die Vorurteile, die sich gewöhnlich in die Betrachtung des deutschen Lebens mischen. Er hütet sich davor, wie ein Tourist auf seinem Weg immer bloß das vorfinden zu wollen, was er sich vor der Abreise vorgestellt hat.« (Louis Aragon) Der junge Mann nennt sich Jacques Decour und die Erzählung, in der er aus Magdeburg berichtet, nennt er »Philisterburg«. Er schreibt über Deutschland, wie einer, der das Land noch nicht kennt, aber doch dessen Literatur, ihren »Humanismus«, liebt und immer lieben wird. Er ist offen, subjektiv, leidenschaftlich und doch nicht festgelegt oder einseitig. Der in Tagebuchform geschriebene Text entwickelt Gedanken, unterzieht sie scharfer Kritik, verwirft oder verbessert sie, rekapituliert, resümiert: »Philisterburg« zeigt die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben. Dank seiner Unbestechlichkeit erkennt Jacques Decour, wie groß die Gefahr ist, die sich zusammenbraut. Es ist diese schonungslose Wahrheitstreue, die bei Erscheinen der Erzählung 1932 in Frankreich wütende Abwehr hervorruft. Nur ein Jahr später sind seine Kritiker widerlegt, aber dann ist von diesem Buch auch schon keine Rede mehr. Jacques Decour (1910–1942) hieß mit bürgerlichem Namen Daniel Decourdemanche und stammte aus Paris, studierte Deutsch, übersetzte – und arbeitete als Lehrer ein Jahr lang in Magdeburg, bevor er in Paris unterrichtete. Er ist zusammen mit Jean Paulhan 1942 Begründer der berühmten Résistance-Zeitschrift »Les Lettres francaises« im besetzten Frankreich. Im gleichen Jahr wird er von der französischen Polizei an die Gestapo ausgeliefert, gefoltert und erschossen. Sein Abschiedsbrief ist ein berührendes Dokument.

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Jacques Decour

Philisterburg

Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Vorwort versehen von Stefan Ripplinger

Die Andere Bibliothek und ihre Kometenwerden herausgegeben von Christian Döring

ISBN 978-3-8477-6005-4

© für die deutschsprachige Ausgabe:

AB – Die Andere Bibliothek GmbH & Co. KG, Berlin www.die-andere-bibliothek.de

Philisterburg von Jacques Decour ist im März 2014 als Band 6 der »Kometen der Anderen Bibliothek« erschienen.

In gedruckter Form erhältlich unter:

http://www.die-andere-bibliothek.de/Kometen/Philisterburg::654.html

Übersetzung: Stefan Ripplinger

Covergestaltung: Cornelia Feyll und Friedrich Forssman

Herausgabe: Christian Döring

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de

Umsetzung und Vertrieb des E-Book erfolgt über:

Inhaltsübersicht

Impressum

Vorwort

Prolog

Jacques Decours Abschiedsbrief

Vorwort

Jacques Decour war ein junger Franzose, der die Deutschen liebte. Er liebte die Deutschen bereits, bevor er sie persönlich kannte, und liebte sie noch, als er sie 1930 kennenlernte.

Jacques Decour war auch ein Schriftsteller, der die Gerechtigkeit liebte. Sein Gerechtigkeitssinn zwang ihn, gegen die Vorurteile der französischen Nationalisten anzuschreiben. Zugleich zwang er ihn, die Verhältnisse in Deutschland nicht rosiger und die Deutschen nicht liebenswürdiger darzustellen, als sie waren.

So forderte es die Liebe zur Gerechtigkeit, der Liebe zu den Deutschen auch zu widersprechen. So forderte sie es, das geliebte Land auf seinem Weg in den Terror zu zeigen. Und so gelang dem jungen Autor eine der intelligentesten, tragischsten und komischsten Schilderungen der Zeit: Philisterburg.

Decour, bürgerlich Daniel Decourdemanche, stammte aus der Pariser haute bourgeoisie. Ein Onkel, Jean-Adolphe Decourdemanche (1844–1916), war ein bekannter Orientalist, ansonsten stand die Familie der Gelehrsamkeit eher fern. Decours Vater hatte sein Vermögen an der Börse gemacht. Er zog den Sohn, das Nesthäkchen, seinen andern Kindern vor.

Ihr Bruder, berichtet Denise, eine Schwester, sei schon als Kleinkind »eigenwillig und wild« gewesen. »Er war verhätschelt und verwöhnt, lernte mit einer erstaunlichen Leichtigkeit das Lesen, als er gerade vier war. Seine ganze Schulzeit, erst im Gymnasium Carnot, dann im Gymnasium Pasteur, verlief, ohne dass wir, die doch mit ihm zusammenlebten, ihn jemals arbeiten gesehen hätten. Wenn er kein hervorragender Schüler war, dann doch wenigstens das, was man gewöhnlich gehobenes Mittelfeld nennt.«1

Statt sich nämlich mit dem Unterrichtsstoff zu beschäftigen, geht der junge Decour lieber ins Kino und gibt sich ausschweifenden Lektüren hin. Stendhal gibt ihm schon früh die Liebe zur sachlichen Darstellung auch unscheinbarer Fakten ein. Er liest Gide, Larbaud und Proust. Auch die skandinavische Literatur schätzt er. Vor allem aber schätzt er die deutsche. Nicht allein Heine und Nietzsche, die seinem Temperament und dem klassischen französischen Ton so nahe kommen, gefallen ihm, nein, über alles stellt er die heitere Gravität Goethes. Kein einziges seiner Lieblingsbücher findet sich in der väterlichen Bibliothek.

Mal tritt er als Dandy, mal als Bohemien auf, »und all das«, sagt die Schwester, »ohne je renommieren zu wollen, so wie er alles angepackt hat, mit einer diskreten, aber festen, ja unerschütterlichen Bestimmtheit. Trotz der Wildheit, die in ihm wohnte, habe ich bei ihm nie einen Zornesausbruch erlebt. Seine augenscheinliche Zartheit, seine einstudierte Ruhe konnten einlullen, im Innern jedoch blieb er stets derselbe, leidenschaftlich sein ganzes Leben lang.«

Das bekommt die Familie bald zu spüren. Mit 16 reißt der junge Decour von zu Hause aus. Eingeweiht ist nur sein bester Freund, der ihn begleiten soll.

»Ich wollte mich mit Jacques Prévotière an der Garage in Neuilly treffen. Der Wagen stand bereit. Ich hatte ihn aufgetankt. Eine Viertelstunde später war mein Freund immer noch nicht da. Ich fuhr zu seinem Haus in Levallois und stieg die fünf Stockwerke hoch. ›Wollen Sie Jackie besuchen?‹, fragte seine Mutter. ›Ja, Madame, hat er vergessen, dass wir heute Morgen unsere Hausaufgaben in Philosophie machen wollen?‹ Ich holte ihn aus dem Bett und zwang ihn, sich anzuziehen. Er folgte mir wider Willen. Wir fuhren ab. In Versailles wollte er aussteigen, um seiner Mutter und seiner Großmutter zu schreiben. Ich gab ihm ein Blatt Papier und wir betraten das Postamt. Er schrieb: ›Meine lieben Eltern‹, nichts weiter. Nach fünf Minuten zerknüllte er das Blatt. ›Ich kann nicht abhauen, weil ich dafür absolut keinen Grund habe.‹ ›Und der acte gratuit, die grundlose Tat?‹, fragte ich ihn. Er senkte den Kopf. Er widerrief lau seine eigenen Theorien. Schon saß ich am Steuer und er stand an der Tür. ›Komm, komm zurück‹, sagte er, ›noch ist es nicht zu spät.‹ ›Entscheide dich‹, antwortete ich, ›ich gebe dir fünf Minuten.‹ Er entschied sich dagegen und ging, mit sonst nichts am Leib, zu Fuß nach Paris zurück.«

Von Versailles nach Levallois sind es 20 Kilometer. Decour setzt die Fahrt alleine fort. Auf halbem Weg, in Ruffec, hat sein Auto eine Panne. Er findet einen Bauern und sogar einen Mechaniker, die den Wagen abschleppen. Mit ihnen verbringt er den Abend und freut sich an ihren derben Anekdoten. Die Reparatur kann er aber nicht zahlen und fährt deshalb am nächsten Tag mit dem Zug bis nach Bordeaux weiter, in der vergeblichen Hoffnung, in See stechen und das Weite suchen zu können. »Ich nahm nahe des Hafens, in einem kleinen Restaurant, das nach Austern und seinen Stammgästen roch, ein ausgezeichnetes Mahl ein.«

Das Abenteuer regt ihn zu der Erzählung Le Sage et le Caporal (Der Weise und der Gefreite) an, die er wenige Wochen später niederschreibt. Sie handelt von zwei Brüdern aus bürgerlicher Familie. Der eine folgt seiner Vernunft, der andere seinem Glauben, flüchten wollen beide.

Jean Paulhan, der große Schriftsteller und Literaturvermittler, erkennt die Stärke des jungen Autors und lässt die Erzählung 1930 im Verlag der Nouvelle Revue Française (Gallimard) drucken. »Für einen jungen Mann aus gutem Hause«, schreibt Paulhan angesichts der bitteren Ironie, mit der Decour seine Geschichte würzt, »sind die Revolte, die unregelmäßige Lebensweise, sogar die Drogen nicht weniger enttäuschend als bürgerliche Arbeit und Selbstverleugnung.« Jean Prévost urteilt, es sei zwar »kein großes, aber gerade so, wie es ist, ein glänzendes Buch, voller feiner Verrücktheiten und glitzernder Versprechungen«.

Decour zeichnet zum ersten Mal mit seinem Pseudonym. Jacques nennt er sich nach dem geliebten Freund, mit dem er sein wildes Leben hätte teilen wollen und der in Versailles ausgestiegen ist, dem früh verstorbenen Jacques Prévotière.2 Decour ist vielleicht nicht nur eine Abkürzung des Familiennamens, auch retour und détour, die Rückkehr und der Umweg, und sogar ein aristokratischer Anspruch klingen an, denn cour ist der Hof (und die Decourdemanche haben tatsächlich adelige Vorfahren).

Mit 18 Jahren verheiratet sich Decour. Jacqueline, seine Frau, ist die Tochter seines Französischlehrers, des Schriftstellers Auguste Bailly. Die frühe Heirat ist der nächste Hieb, den der junge Mann seinem bürgerlichen Vater versetzt. Aus der Ehe, der sich auch die Schwiegereltern zunächst widersetzen und die knapp zehn Jahre hält, geht 1933 eine Tochter hervor, Brigitte.

Dass er die ihm vom Vater vorgezeichnete Laufbahn nicht einschlagen will, sondern nach einem lustlosen Semester Jura in die Germanistik wechselt, kommt dann nicht mehr allzu überraschend. Aber ausgerechnet Germanistik! Das ist mit Sicherheit nicht das Fach, das im französischen Bürgertum, nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs und bei den wüsten Drohungen, die über den Rhein herüberdringen, Wertschätzung genießt.

Doch wählt er das Studium nicht bloß aus Trotz. Bereits mit 19 legt er seine erste Übersetzung aus dem Deutschen vor (Immensee von Theodor Storm), der etliche folgen werden, Goethe vor allem, dessen in Vergessenheit geratenes Stück Triumph der Empfindsamkeit er für die Pléiade-Ausgabe überträgt, auch Kleist, nämlich »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«. Wilhelm Worringers berühmte Studie Formprobleme der Gotik gehört ebenfalls zu seinen Übersetzungsarbeiten, die er grundsätzlich mit seinem bürgerlichen Namen zeichnet. Bereits 1938 und damit zwanzig Jahre vor Philippe Jaccottet, beginnt er eine Übersetzung von Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Decour liebt die deutsche, genauer, die deutschsprachige Literatur, und wenn diesen Unerschrockenen an den Deutschen wirklich etwas in heiligen Schrecken versetzt, dann, dass sie ihren Goethe nicht kennen, den er, zum Erstaunen seines Generals, selbst im drôle de guerre liest, und dessen Verse er noch auf den Lippen trägt, als er zur Hinrichtung geführt wird.

Zwölf Jahre vor dieser allerletzten Begegnung mit den Deutschen liegt 1930 die erste. Denn zwar hat er mit dem Vater halb Europa bereist, aber Deutschland kennt er tatsächlich nur aus Büchern.

Das Domgymnasium zu Magdeburg, wo Decour, damals noch nicht 21 Jahre alt, als Austauschlehrer antritt, ist eine altehrwürdige Anstalt. Geleitet wird sie zu jener Zeit von Dr. Wilhelm Bruns, einem Schulmeister vom alten Schlag, wenn auch mit gemäßigt reformerischen Absichten. Unschwer wird man ihn in Decours Dr. Bär wiedererkennen.

Bruns, Jahrgang 1869, hat in Göttingen die Prüfung pro facultate docendi in Latein, Griechisch, Hebräisch und Religion abgelegt, eine Weile als Hauslehrer den einzigen Sohn einer Patrizierwitwe unterwiesen, danach als Hilfslehrer, Lehrer, Direktor und schließlich, in Schulpforta, als Rektor gedient. Zwischendurch, 1916, erwirbt er sich als Offizier in der Sommeschlacht das Eiserne Kreuz I. Klasse.3

Im August 1922 übernimmt er das Domgymnasium und wird, sechs Jahre später, auch Propst des Pädagogiums am Kloster Unser Lieben Frauen und damit zum ersten weltlichen Propst in Preußen – so weltlich das preußische Bürgertum überhaupt sein kann. Dass Bruns mit Haut und Haar evangelisch ist, kann niemandem entgehen. Nach der regulären Pensionierung 1932 wirkt er unter anderem an einem Evangelischen Missionsseminar in der Lüneburger Heide und tritt bis ans Ende seines langen Lebens (er stirbt 1953) auch als Prediger auf.

Des Lehrers Meisterschaft in Rhetorik und Homiletik ist weithin bekannt. Er hält lateinische Reden und pflegt zu sagen, dass »die Erziehung der mir anvertrauten Jugend meines Lebens Reichtum« sei. Man bemerke, wie genau Decour das Original wiedergibt. Bär / Bruns predigt Sittlichkeit und verkennt, welche unsittlichen Verhältnisse sich längst vorbereiten. Decour zeichnet von diesem idealistischen, selbstgefälligen, blinden und hoffnungslos unzeitgemäßen Pädagogen aber keine Karikatur, er erhebt ihn zum Typus des Preußen, der gegen die Zeit und für seine überkommenen Werte lebt.

Der anachronistischen Figur des Dr. Bär, die von einer Reihe weiterer, teils autoritärer, teils schusseliger Lehrer flankiert wird, stellt der Text moderne Nazis und Nationale gegenüber – den kaufmännischen Angestellten Adler und den Schüler Kraus. Überraschend an diesen beiden, Adler und Kraus, die Decour nicht ohne Sympathie porträtiert, ist ihre praktische, utilitaristische, gegenwartsbezogene Einstellung. Zwar durch und durch völkisch und nazistisch gestimmt, wirken sie überlegt, logisch. Trotz ihres Fanatismus ist alles in ihrem Leben feinsäuberlich geordnet und maßvoll abgewogen. Sie verkörpern die »nicht kleinzukriegende Tüchtigkeit«, die Wilhelm Hausenstein im Rückblick an den Deutschen so unmenschlich vorgekommen ist.4 In ihrer entschiedenen Ablehnung alles Vergeistigten und Höheren, von Kunst und Religion bis hin zur Moral, in ihrer nüchternen Machtergebenheit sind Adler und Kraus die Gegenbilder zu Dr. Bär.

Decours Bericht führt vor Augen, dass gerade die Verbindung dieser beiden gegensätzlichen Charaktere – des weltfremden Moralpredigers und des pragmatischen Gewaltmenschen – brandgefährlich ist. Man sagt ihm zwar, dass es auch fortschrittliche Kräfte in Deutschland gebe, aber hören kann er sie nicht mehr. Die Nationalisten überschreien alles, und Leute wie Bär stehen dieser Entwicklung hilflos gegenüber, wenn sie nicht sogar insgeheim mit ihr paktieren.

Die Bevölkerung Deutschlands lehnt mehrheitlich die Demokratie ab. Sie wünscht Ordnung, Strenge, Härte und ist bereit, sich der Ordnung, der Strenge und der Härte zu unterwerfen. Nicht nur Magdeburg wird zu Philisterburg. Mit den Philistern sind übrigens nicht nur die Duckmäuser, Pedanten und Banausen, sondern auch die biblischen Feinde des Volks Israel gemeint.

Decour ist viel zu skeptisch und zu reflektiert, als dass er unvergängliche Nationalcharaktere annähme. Aber er neigt zum entgegengesetzten Fehler und legt nahe, Typen wie Adler und Kraus, von denen es längst Millionen gibt, seien wie Hitler »Söhne des Versailler Vertrags«. Für ihn ist der deutsche Nationalismus eine Reaktionsbildung auf die Demütigung und Verarmung nach der Niederlage des Kaiserreichs.

Gewiss ist es eine Überlegung wert, ob eine andere, rücksichtsvollere Politik der Siegermächte den Aufstieg Hitlers hätte verhindern oder verzögern können. Aber diese Überlegung müsste den Ersten Weltkrieg und die wilhelminische Aufrüstung, die imperialen Begehrlichkeiten der verspäteten Nation miteinbeziehen. Die herrschenden Strukturen – technisch-ökonomisch modern, gesellschaftlich-politisch vormodern –, die zum Ersten Weltkrieg geführt haben, bestehen in den zwanziger Jahren fort. Hugo Ball schreibt 1919, es sei seine feste Überzeugung, dass »der Sturz der preußisch-deutschen Willkürherrschaft … nicht genügen wird, die Welt vor einem ferneren deutschen Attentat – das ja nicht nur in kriegerischen Aktionen zu bestehen braucht – zu schützen«.5

Wie es dann weitergeht und weitergehen muss, findet sich in Decours Reiseerzählung auf bedrückende Weise vorgezeichnet. Vielleicht am bedrückendsten darin sind seine deutschen Schüler, kaum jünger als er selbst, die, wie es scheint, bereits ohne jede Ausnahme im nationalistischen Fahrwasser segeln und längst auch geschworene Antisemiten sind; eine für die Front geborene Generation.

Decour motiviert das Verhalten der Schüler aus der Abwesenheit, ja Verrufenheit jedes Individualismus. Nicht einmal die übliche, harmlose, pubertäre Selbstverliebtheit kann er an ihnen bemerken. Von der Rimbaudschen Revolte des jungen Decour sind sie unendlich weit entfernt. Er steht jungen Greisen, farblosen Gemeinschaftsmenschen gegenüber, die sich aller ihrer Urteile sicher sind, gerade weil sie sie von andern übernommen haben.

Überhaupt lernt er in Deutschland immer nur Persönlichkeiten mit geschlossenem, ja gepanzertem Weltbild kennen. Dr. Bär scheint von allerhöchster Instanz darüber unterrichtet, was »gottlos« ist, der Lehrer Bruneau kann nicht nur die Höhe des Brocken auf den Meter genau, sondern auch den Platz angeben, der den Juden gebührt – »abseits!« –, Adler weiß auf alle Fragen der Zeit eine Antwort, Kraus hat die Kriegsschuldfrage gelöst, und selbst Zimmerwirtinnen und Zeitungen sind zwar von Krisen und Malaisen, aber niemals von Zweifeln angekränkelt.

Decour dagegen behauptet seine Zweifel nicht nur, er führt sie vor. Wie Jérôme Garcin bemerkt hat,6 erlebt der Leser in Philisterburg eine Intelligenz bei der Arbeit. Der in Tagebuchform geschriebene Text entwickelt Gedanken, unterzieht sie scharfer Kritik, verwirft oder verbessert sie, rekapituliert sie, resümiert. Philisterburg zeigt die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben.

Aber Philisterburg leistet noch viel mehr: In einer unbarmherzigen Genauigkeit protokolliert Decour die eigenen Regungen, gerade auch die peinlichen, ob das Mitgerissenwerden vom lutheranischen Choral oder vom Choral der marschierenden SA, ob den Ekel vor hässlichen Passanten oder das Fasziniertsein von einer Entschlossenheit, die ihm selbst noch unmöglich ist. Weil er sich nichts durchgehen lässt, weil er mit seiner Leidenschaft erkennt, nicht gegen sie, weil er sich selbst als Teil des Geschehens begreift, wird sein Bericht wahrhaftig. Er zieht sich nicht vorsichtig auf den Beobachterposten zurück, denn »Ansichten verpflichten«.

Mit Ausnahme von Alexandre Vialatte, der 1927 die deutsche Schule und die deutsche Universität als Horte des Nationalistischen und Soldatischen beschreibt,7 hat zu diesem Zeitpunkt kein anderer französischer Schriftsteller Beobachtungen von solcher Frische und Reflektiertheit zu bieten. Doch sind sie alles andere als willkommen.

An dem Skandal, den das Buch auslöst, ist Decour allerdings mitschuldig. Er überlässt der Sonntagszeitung Les Annales politiques et littéraires den Text zum Vorabdruck. Das damals populäre Blatt richtet sich an Bildungsbürger mit einer Vorliebe fürs Grobe. Die Partien, die es für seinen Fortsetzungsabdruck auswählt, sind geeignet, die Empörung anzustacheln. In einer Nummer druckt es den Auszug aus Philisterburg direkt neben einem Aufruf Mussolinis zur Vereinigung der weißen Rasse.

Die monatelangen Anfeindungen gipfeln für Decour darin, dass die Sorbonne ihm die bereits bestandene Agrégation nicht ausfertigen will. Noch üblere Folgen haben sie für den Lehrer, den Decour im Buch Apel nennt und dem er die erste Auflage widmet. Apel ist der autoritären Strukturen überdrüssig, will die Schüler zum Selbstdenken erziehen. Decour vermutet, Apel sei die große Ausnahme, und behält Recht damit. Nach Erscheinen von Philisterburg bezichtigt das Kollegium am Domgymnasium den Mann, der jüdischer Herkunft ist, Decour verderbliche Ansichten eingeflüstert zu haben. Der Jude als Brunnenvergifter. Auf Drängen der Kollegen verliert der Lehrer seine Stellung.

Nur ein Jahr später gelangt Hitler an die Macht, und alles fällt noch schlimmer aus als gedacht. Das von Decour prognostizierte Zerreißen des Nationalsozialismus zwischen Nationalismus und Sozialismus bleibt aus. Für den sozialen, wenn auch nicht für den sozialistischen Teil der Doktrin steht nun die Volksgemeinschaft ein und für die nötigen Prämien sorgen Arisierungen.

Decour muss bald eingesehen haben, dass auch seine Annahme, Gefahr drohe weniger aus München denn aus Moskau, unbegründet, ja irreführend ist. Bereits im Herbst 1933 nehmen er und seine Frau an Veranstaltungen der Jeunes Communistes teil, der Partei tritt er jedoch erst 1936 bei, unter dem euphorischen Eindruck, den die Volksfront auch auf ihn macht.

Der endgültige Bruch mit der Familie ist damit vollzogen. Der Vater notiert: »Ach, was habe ich dieses Kind geliebt, und was für eine Enttäuschung hat es mir bereitet.« Decours erster und letzter Roman, Les Pères (Die Väter; 1936), handelt von den Wunschvätern, an die ein Vaterloser sich erst hängt und die ihm dann, einer nach dem andern, doch als nicht so wünschenswert erscheinen.

Er ist nun an verschiedenen Gymnasien beschäftigt. Wie sich einer seiner Schüler erinnert, ist er ein guter Lehrer, liebenswert, anregend, aber verschlossen. Auf dem Höhepunkt des Nazismus macht er seine Schüler mit Heines »Loreley« bekannt. Keiner von ihnen weiß, dass ihr Lehrer schreibt und dass er Kommunist ist.8

Seine Parteiarbeit ist ausschließlich intellektuelle Arbeit. Er liefert für die Parteiblätter Aufsätze, Kommentare, Übersetzungen. Louis Aragon, mit dem er sich in diesen Tagen befreundet, beruft ihn in die Chefredaktion der Commune, deren Forum er unter anderem dazu nutzt, den Lesern Werke von Bertolt Brecht, Irmgard Keun, Heinrich Mann und anderen deutschen Schriftstellern vorzustellen.

Seinen Plan, einen geschichtlichen Abriss des Deutschtums zu geben, hat er damals bereits aufgegeben. Das Buch sollte »der stählernen Bahn von Arminius über Otto den Großen, Luther usw. bis hin zu Hitler folgen«. Diese Konzeption weicht einer Dialektik, die in der Kulturentwicklung nicht die zwingende Notwendigkeit, sondern den Widerspruch aufsucht. An dieser Dialektik hält er bis zuletzt fest. Er sieht die deutsche Kultur nun in einer Spannung zwischen Schwert und Schwäche, zwischen Machtkult und Geistigkeit. Er hütet sich davor, die eine Seite über der andern zu vergessen.

Überhaupt ist er kein plumper Agitator, er bleibt auch als Kommunist Kartesianer, aber verbindet Überblick mit Leidenschaft, gewissermaßen Goethe mit Börne. Erschütterndes Zeugnis seines Denkens und Fühlens ist eine Stellungnahme, die er 1938, vier Tage vor Unterzeichnung des Münchener Abkommens, niederschreibt (und die erst posthum, 1943 im Untergrund, erscheinen kann):

»Nun bereiten wir uns alle, der eine wie der andere, aufs Sterben vor. Jeder auf seine Weise, entweder den Kopf in den Händen oder mit dem eingespielten und so bezaubernden Lächeln der Franzosen. Wir bereiten uns vor, indem wir im Stil des gesunden Menschenverstands über eine so ungesunde Sache schwadronieren, oder indem wir schweigen, mit dem zarten, Einverständnis oder Geheimnis andeutenden Lächeln der gefallenen Engel. Doch wird nicht jeder den Tod sterben, der zu ihm passt. Hastig, wahllos, wie eine Maske wird sich der Tod über die Gesichter stülpen. Wie sich da zurechtfinden? An was sich halten? Wir bereiten uns darauf vor, denken darüber nach, was kommen wird, denken an das, was immer näher rückt, um uns umzubringen, ohne dass wir auch nur die Hände zur Abwehr erheben könnten. Aber wie alle unheilbaren Krankheiten kann sich auch diese hinziehen. So lange auf einen Schicksalsschlag zu warten, darin besteht die ganze Herausforderung. Und diejenigen, die vor dieser Herausforderung stark bleiben werden, sind nicht unbedingt die, denen man das zutraut. Stark sind die, die die Liebe geliebt haben, die Liebe vor allem andern.

Der Augenblick ist gekommen, um sich der Liebe zu entsinnen. Haben wir genug geliebt? Haben wir genug Stunden am Tag damit zugebracht, andere Menschen zu erstaunen, zusammen glücklich zu sein, den Preis, das Gewicht und den Wert der Berührung der Hände, der Augen, des Körpers zu spüren? Wissen wir überhaupt noch, was es heißt, sich der Zärtlichkeit hinzugeben? Bevor wir untergehen, im Beben einer Erde ohne Hoffnung, ist es hohe Zeit, ganz und gar Liebe, Zärtlichkeit, Freundschaft zu sein, weil es sonst überhaupt nichts gibt. Wir müssen uns schwören, an nichts mehr als an das Lieben, immerzu an das Lieben zu denken, daran, Geist und Hände zu öffnen, alles mit unserem besten Blick zu betrachten, daran, das, was wir lieben, in die Arme zu schließen, ohne Furcht voranzuschreiten, von Zärtlichkeit strotzend.«

Mit diesem ungewöhnlichen Bekenntnis geht er dem Tod entgegen. Bemerkenswert daran ist nicht nur, dass er 1938 die allerletzte Illusion über Deutschland abgeschüttelt hat, sondern auch, wie fern ihm der Hass ist. Er weiß nun, was kommt und was er zu tun hat.