Philosophie der Sorge - Boris Groys - E-Book

Philosophie der Sorge E-Book

Boris Groys

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Beschreibung

Zur menschlichen Existenz gehört elementar die Sorge. Sie besitzt vielerlei Formen: Fürsorge, Selbstsorge, Pflege oder medizinische Vorsorge. Spätestens mit der Pandemie wurde klar, dass der Körper nicht mehr Privatbesitz des Subjekts ist. Stattdessen wurde das leibliche Wohl beinahe vollständig sozialisiert, bürokratisiert und politisiert. Das Ich scheint die Selbstbestimmung an ein Gesundheits-System abgetreten zu haben. Der Philosoph Boris Groys lotet in seinem neuen Buch aus, ob und wie diese Autonomie wieder zurückgewonnen werden kann.

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Boris Groys

Philosophie der Sorge

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Stauder

essay

INHALT

EinleitungSorge und Selbstsorge

Kapitel 1Von der Sorge zur Selbstsorge

Kapitel 2Von der Selbstsorge zur Sorge

Kapitel 3Große Gesundheit

Kapitel 4Der Weise als Fürsorger

Kapitel 5Das souveräne Tier

Kapitel 6Das infektiöse Heilige

Kapitel 7Das Volk als Fürsorger

Kapitel 8Wer ist das Volk?

Kapitel 9Sorge als Sein des Daseins

Kapitel 10Unter dem Blick der Putzfrau

Kapitel 11Werktätigkeit und Arbeit

Kapitel 12Revolutionäre Sorge

Anmerkungen

Einleitung: Sorge und Selbstsorge

In den heutigen Gesellschaften ist die am weitesten verbreitete Form von Arbeit die Sorgearbeit. Die Bewahrung von Menschenleben wird von unserer Zivilisation als ihr oberstes Ziel angesehen. Foucault hatte recht, als er die modernen Staaten als biopolitisch bezeichnete. Ihre Hauptaufgabe ist es, für das körperliche Wohlergehen ihrer Bevölkerungen zu sorgen. In diesem Sinne ist die Medizin an die Stelle der Religion getreten, und das Krankenhaus hat die Kirche ersetzt. Der Körper und nicht mehr die Seele ist der vorrangige Gegenstand der institutionalisierten Fürsorge: „die Gesundheit ersetzte das Seelenheil“1. Ärzte übernahmen die Rolle von Priestern, weil sie angeblich unsere Körper besser kennen als wir – so wie die Priester behaupteten, unsere Seelen besser zu kennen als wir. Die Sorge für die menschlichen Körper geht jedoch weit über die Medizin im engeren Sinne dieses Wortes hinaus. Staatliche Einrichtungen kümmern sich nicht nur um unsere Körper als solche, sondern auch um die Unterbringung, die Ernährung und andere Faktoren, die für die Gesunderhaltung unserer Körper von Bedeutung sind – so sorgen beispielsweise öffentliche und private Verkehrssysteme dafür, dass die Körper der Fahrgäste unversehrt an ihren Bestimmungsort gelangen, während die ökologische Industrie sich um die Umwelt kümmert, um sie der menschlichen Gesundheit zuträglicher zu machen.

Die Religion sorgte sich nicht nur um das Leben der Seele in dieser Welt, sondern auch um ihr Schicksal, nachdem sie ihren Körper verlassen hatte. Dasselbe lässt sich über die zeitgenössischen, säkularisierten Sorgeeinrichtungen sagen. Unsere Kultur produziert ständig Erweiterungen unserer materiellen Körper: Fotos, Dokumente, Videos, Kopien unserer Briefe und E-Mails und andere Artefakte. Und wir beteiligen uns an diesem Prozess, indem wir Bücher, Kunstwerke, Filme, Websites und Instagram-Accounts erzeugen. All diese Dinge und Dokumente werden einige Zeit lang über unseren Tod hinaus aufbewahrt. Das bedeutet, dass unsere Sorgeeinrichtungen anstelle eines geistlichen Nachlebens für unsere Seelen das materielle Nachleben unserer Körper sichern. Wir kümmern uns um Friedhöfe, Museen, Bibliotheken, historische Archive, öffentliche Denkmäler und Orte von historischer Bedeutung. Wir bewahren die kulturelle Identität, das historische Gedächtnis und die traditionellen städtischen Räume und Lebensweisen. Jeder Einzelne ist in dieses System der umfassenden Sorge einbezogen. Unsere erweiterten Körper können als ‚symbolische Körper‘ bezeichnet werden. Sie sind nicht deswegen symbolisch, weil sie auf irgendeine Weise ‚immateriell‘ sind, sondern weil sie es uns ermöglichen, unsere physischen Körper in das System der Sorge einzuschreiben. In ähnlicher Form konnte die Kirche nicht für eine individuelle Seele sorgen, bevor deren Körper getauft und mit einem Namen versehen war.

Der Schutz unserer lebendigen Körper wird nämlich durch unsere symbolischen Körper vermittelt. Wenn wir einen Arzt aufsuchen, müssen wir deshalb einen Personalausweis oder andere Ausweispapiere vorlegen. Diese Dokumente beschreiben unsere Körper und deren Geschichte: männlich oder weiblich, Ort und Datum der Geburt, Farbe der Haare und Augen, biometrische Fotos. Darüber hinaus müssen wir unsere Postanschrift, Telefonnummer und E-Mail-Adresse angeben. Wir müssen auch unsere Krankenversicherungskarte vorlegen oder private Zahlung vereinbaren. Das setzt voraus, dass wir nachweisen können, dass wir ein Bankkonto, einen Beruf und einen Arbeitsplatz besitzen oder eine Rente beziehungsweise andere relevante Sozialleistungen beziehen. Wenn wir einen Arzt aufsuchen, werden wir nicht zufällig zunächst aufgefordert, eine Vielzahl von Dokumenten auszufüllen, einschließlich einer Anamnese unserer früheren Krankheiten, und unsere Zustimmung zu einer eventuellen Weitergabe unserer privaten Daten sowie eine Verzichtserklärung bezüglich aller Folgen unserer Behandlung zu unterschreiben. Der Arzt prüft all diese Unterlagen, bevor er unseren Körper untersucht. In vielen Fällen untersuchen die Ärzte sogar überhaupt nicht unsere physischen Körper – die Sichtung der Dokumentation scheint ausreichend zu sein. Das zeigt, dass die Sorge für unsere physischen Körper und deren Gesundheit in ein viel umfassenderes System der Überwachung und Versorgung integriert ist, das unsere symbolischen Körper kontrolliert. Und es drängt sich der Verdacht auf, dass dieses System weniger an unserer individuellen Gesundheit und unserem Überleben interessiert ist als an seinem eigenen reibungslosen Funktionieren. In der Tat ändert der Tod eines Individuums nicht viel an seinem symbolischen Körper – er führt nur zur Ausstellung der Sterbeurkunde und einiger zusätzlicher Papiere im Zusammenhang mit der Beerdigungsprozedur, der Positionierung des Grabes, der Gestaltung eines Sarges oder einer Urne und anderen ähnlichen Vorkehrungen. Es sind nur geringfügige Veränderungen in unseren symbolischen Körpern, die sie in symbolische Leichen verwandeln.

Das System der Krankenversorgung scheint uns als Patienten zu verdinglichen, uns in lebende Leichen zu verwandeln und uns als kranke Tiere statt als autonome menschliche Wesen zu behandeln. Dieser Eindruck ist jedoch – glücklicher- oder unglücklicherweise – weit von der Wahrheit entfernt. In Wirklichkeit macht uns das medizinische System nicht zu Objekten, sondern zu Subjekten. Zunächst einmal beginnt sich dieses System nur dann um einen individuellen Körper zu sorgen, wenn sich der Patient an dieses System wendet, weil er sich unwohl, angeschlagen oder krank fühlt. Die erste Frage, die einem gestellt wird, wenn man zum Arzt geht, lautet nämlich: Was kann ich für Sie tun? Mit anderen Worten: Die Medizin versteht sich als Dienstleistung und behandelt den Patienten wie einen Kunden. Die Patienten müssen nicht nur entscheiden, ob sie krank sind oder nicht, sondern auch, welche Teile ihrer Körper krank sind, denn die Medizin ist hoch spezialisiert, und es ist der Patient, der die anfängliche Wahl der geeigneten medizinischen Einrichtung und der Art des Arztes treffen muss. Die Patienten sind bei der Sorge für ihre Körper die Hauptverantwortlichen. Das medizinische System der Versorgung ist sekundär. Die Selbstsorge geht der Sorge durch andere voraus.

Wir suchen das Heil in der Medizin nur dann, wenn wir uns krank fühlen – aber nicht, wenn es uns gut geht. Falls wir jedoch über kein spezielles medizinisches Wissen verfügen, haben wir nur eine vage Vorstellung davon, wie unser Körper funktioniert. Tatsächlich besitzen wir keine ‚angeborene‘ Fähigkeit, ‚intern‘, d. h. durch Selbstbetrachtung, den Unterschied zwischen gesund und krank festzustellen. Wir können uns unwohl fühlen, aber eigentlich ganz gesund sein, und wir können uns gut fühlen und doch sterbenskrank sein. Das Wissen über unsere Körper kommt von außen. Auch unsere Krankheiten kommen von außen – entweder sind sie genetisch vorgegeben oder durch Infektionen, schlechte Ernährung oder das Klima verursacht. Alle Ratschläge, wie wir die Funktionsweise unserer Körper verbessern und sie gesünder machen können, setzen ebenfalls von außen an – sei es durch Sport oder alle möglichen Arten von alternativen Therapien oder Diäten. Anders ausgedrückt: Uns um unseren eigenen Körper zu kümmern, bedeutet für uns, die Sorge für etwas zu übernehmen, von dem wir kaum etwas wissen.

Wie alles in unserer Welt ist auch das Medizinsystem nicht wirklich ein kohärentes System, sondern ein Feld voller Konkurrenz. Wenn man sich über die medizinische Behandlung informieren möchte, die gut für die eigene Gesundheit ist, stellt man schnell fest, dass die medizinischen Autoritäten in allen wichtigen Fragen unterschiedlicher Auffassung sind. Die medizinischen Ratschläge, die man erhält, sind meist widersprüchlich. Gleichzeitig wirken all diese Empfehlungen sehr professionell, sodass es schwierig ist, eine Behandlungsmethode auszuwählen, ohne über spezielle medizinische Kenntnisse und einen entsprechenden beruflichen Hintergrund zu verfügen. Dass es sich um eine schwerwiegende Entscheidung handelt, wird jedoch dadurch unterstrichen, dass der Patient verpflichtet ist, einer bestimmten Behandlung zuzustimmen, wobei er alle möglichen negativen Folgen dieser Therapie – einschließlich des Todes – in Betracht ziehen und in Kauf nehmen muss. Das bedeutet, dass die Medizin sich zwar als Wissenschaft präsentiert, die Wahl einer bestimmten medizinischen Behandlung durch den Patienten jedoch einen irrationalen Glaubensakt voraussetzt. Irrational ist diese Entscheidung, weil die Grundlage des medizinischen Wissens die Untersuchung von Leichen ist. Die innere Struktur und Funktionsweise des lebenden Körpers kann man auf die gleiche Weise nicht wirklich erforschen. Der Körper muss erst sterben, um vollständig durchschaut zu werden. Oder er sollte zumindest betäubt werden. Aus diesem Grund kann ich meinen eigenen Körper nicht kennen, weil ich mich selbst nicht als Leiche sezieren kann. Genauso wenig kann ich mich gleichzeitig betäuben und operieren. Ohne die Hilfe von Röntgenstrahlen oder Computertomografien kann ich den inneren Zustand meines Körpers nicht sehen. Die medizinischen Kenntnisse des Arztes übersteigen mein Wissen über mich selbst. Und meine Beziehung zum Transzendenten kann nur der Glaube sein – nicht das Wissen.

Die Vorschläge zur Pflege des eigenen Körpers kommen nicht nur aus verschiedenen medizinischen Richtungen, sondern auch von einer Vielzahl alternativer Behandlungsmethoden, darunter Sport, Wellness, Fitness, Yoga und Tai-Chi sowie verschiedene Diätprogramme. Sie alle erfordern von uns einen Glaubensakt. In dieser Hinsicht ist es interessant, die Werbung für verschreibungspflichtige Medikamente im amerikanischen Fernsehen zu verfolgen. Diese Werbefilme sind meist sehr mysteriös gestaltet. Man sieht nur glückliche Paare, oft mit Kindern, die zusammen essen und lachen, Tennis oder Golf spielen. Ab und zu wird ein seltsam aussehendes Wort eingeblendet, das wahrscheinlich der Name des beworbenen Medikaments sein soll. Es ist jedoch meistens nicht erkennbar, welche Art von Krankheiten durch dieses Medikament geheilt werden und wie es verwendet werden soll. Die ganze Werbung wirkt völlig unglaubwürdig, weil alle im Clip gezeigten Personen offensichtlich gesund sind. So könnte man auf die Idee kommen, dass das Einzige, was sie krank machen kann, das beworbene Medikament selbst ist. Auch wenn nicht ganz klar ist, wofür dieses Medikament gut ist, sieht man am Ende eine kurze Liste seiner Nebenwirkungen. Üblicherweise reicht die Aufzählung von Schwindel und Erbrechen bis hin zu Blindheit und gelegentlichem Tod. Nach ein paar Augenblicken verschwindet die Liste und der kurze Film zeigt wieder die glückliche Familie. Der Zuschauer ist erleichtert, dass sie gesund und fröhlich geblieben ist – wahrscheinlich, weil sie sich entschieden hat, dieses Medikament doch nicht zu nehmen.

Wir sind es gewohnt, Wissen mit Macht gleichzusetzen. Wir denken, dass eine Person voller Wissen eine starke, mächtige Person ist – eine potenziell universelle, herrschaftliche Person. Wenn ich jedoch Sorge trage für meinen physischen und symbolischen Körper, bin ich kein wissendes Subjekt. Wie bereits erwähnt wurde, fehlt mir das Wissen über meinen physischen Körper. Genauso wenig habe ich eine vollständige Kenntnis von meinem symbolischen Körper. Der Ursprung des Letztgenannten – meiner Identität – ist die Geburtsurkunde, die mich über meinen Namen, die Namen meiner Eltern, das Datum und den Ort meiner Geburt, meine Staatsangehörigkeit und weitere Details informiert. Sie ist das grundlegende Dokument, aus dem später alle anderen Dokumente hervorgehen, wie z. B. mein Personalausweis, verschiedene Anreden und Bildungsnachweise. Alle diese Urkunden zusammen definieren meinen Status und meinen Platz in der Gesellschaft – sie zeugen von der Form, in der die Gesellschaft mich sieht und bewertet. Und sie bestimmen, auf welche Weise man sich nach meinem Tod an mich erinnern wird. Gleichzeitig gilt, dass ich weder meine Zeugung durch meine Eltern bewusst miterleben konnte noch das Ereignis meiner Geburt samt deren Zeitpunkt und Ort noch den Erhalt meiner Staatsbürgerschaft. Meine Identität ist das Werk von anderen.

Natürlich kann ich auf verschiedene Weise versuchen, meinen symbolischen Körper zu modifizieren – von der Änderung meines Geschlechts bis hin zum Schreiben von Büchern, in denen ich erkläre, dass ich in Wirklichkeit ganz anders bin, als ich auf meine Mitmenschen wirke. Aber um das Geschlecht zu ändern, muss man zum Chirurgen gehen, und um ein Buch zu veröffentlichen, muss man das Manuskript einem Verlag zeigen und um dessen Einschätzung bitten. Oder man stellt den Buchtext ins Internet und lässt diesen von den Nutzern bewerten. Mit anderen Worten: Man kann keine vollständige Kontrolle über die Veränderungen des eigenen symbolischen Körpers erlangen. Hinzu kommt, dass symbolische Körper einem ständigen Prozess der Neubewertung unterliegen. Was gestern noch symbolisch wertvoll war, kann heute entwertet und morgen neu bewertet werden. In der Rolle des Sorgenden kann man diese Prozesse weder kontrollieren noch beeinflussen. Außerdem werden wir in unserer heutigen Zivilisation permanent überwacht und ohne unser Wissen und Einverständnis aufgezeichnet. Der symbolische Körper ist ein Archiv von Dokumenten, Bildern, Videos, Tonaufnahmen, Büchern und anderen Daten. Die Ergebnisse der Überwachung sind Teil dieses Archivs, auch wenn diese Ergebnisse dem Überwachten unbekannt sind. Dieses Archiv ist materiell und existiert auch dann, wenn niemand, nicht einmal der Überwachte, Zugang dazu hat oder sich dafür interessiert. In dieser Hinsicht ist es sehr aufschlussreich zu beobachten, was passiert, wenn jemand ein Verbrechen begeht, insbesondere ein politisch motiviertes Verbrechen. Plötzlich findet man die Bilder der mutmaßlichen Straftäter, wie sie in einem Laden Lebensmittel kaufen oder etwas Bargeld aus einem Geldautomaten abheben, zusammen mit Bildern der von ihnen verfassten Manifeste oder ihrer Waffensammlung. Dieses Beispiel zeigt, dass die Herausbildung und das Wachstum eines symbolischen Körpers einen Prozess darstellen, der relativ unabhängig von sozialer Aufmerksamkeit erfolgt und meist außerhalb der Kontrolle der Person, die an erster Stelle für diesen symbolischen Körper zuständig ist. Nach dem Tod des primär Sorgenden kommt die Sorgeautomatik aber nicht zum Stillstand. Und dieser Automatismus zeigt, dass die Bemühungen des primär Sorgenden, den symbolischen Körper zu formen, nur begrenzt erfolgreich waren. Die Grabinschrift entspricht in der Regel der Geburtsurkunde unter Hinzufügung des Todesdatums und enthält nur wenige Informationen über die Art und Weise, in der die Sorgenden versucht haben, etwas zu werden, was sie anfänglich nicht waren – wie Schriftsteller, Maler oder Revolutionär. Die Neubewertungen der symbolischen Körper gehen auch nach dem Tod ihrer Sorgeverantwortlichen weiter – Denkmäler werden errichtet, zerstört und wieder aufgestellt, Bücher werden veröffentlicht, verbrannt und wieder aufgelegt, neue Dokumente tauchen auf, andere Dokumente gehen verloren. Die Sorge wird fortgesetzt – aber merkwürdigerweise wird die Verantwortung für posthume Veränderungen bei der Bewertung eines bestimmten symbolischen Körpers dessen primär Sorgendem zugeschrieben. Und in der Tat erfordert die Sorge für den symbolischen Körper das Vorhersehen seines Schicksals nach dem Tod des physischen Körpers – so wie die Sorge für den physischen Körper die Erwartung seines unvermeidlichen Todes voraussetzt.

Es ist diese Kombination aus physischem und symbolischem Körper, die wir unser Selbst nennen. Als Sorgeverantwortlicher des Selbst nimmt das Subjekt ihm gegenüber eine externe Position ein. Das Subjekt ist dabei nicht zentral, aber es ist auch nicht dezentriert. Stattdessen ist es, wie Helmuth Plessner zu Recht feststellt, „exzentrisch“2. Ich weiß, dass ich das Subjekt der Selbstsorge bin, weil ich dies von anderen erfahren habe – genauso wie ich meinen Namen, meine Nationalität und andere persönliche Details erfahren habe. Ein Subjekt der Selbstsorge zu sein, bedeutet jedoch nicht, das Recht zu haben, über die Praxis der Sorge zu entscheiden. Als Patient muss ich alle Anweisungen der Ärzte befolgen und alle schmerzhaften Prozeduren, denen ich unterzogen werde, passiv ertragen. In diesem Fall bedeutet Selbstsorge, sich selbst zum Objekt der Fürsorge zu machen. Und diese Arbeit der Selbstobjektivierung erfordert einen starken Willen, Disziplin und Entschlossenheit. Wenn ich nicht alle meine Pflichten als Patient erfülle, wird dies als mangelnder Wille, als Schwäche interpretiert.

Andererseits jedoch wird die Entscheidung eines gesunden Menschen, alle vernünftigen Ratschläge zu missachten und das Risiko des Sterbens einzugehen, von unserer Gesellschaft bewundert. Die Kranken sollen das Leben wählen, aber die Gesunden dürfen den Tod wählen. Im Falle des Krieges ist das offensichtlich. Aber wir bewundern auch intensive Arbeitsanstrengungen, die der Gesundheit des Arbeitenden schaden könnten. Und wir bewundern Personen, die Extremsportarten praktizieren und Abenteuer erleben, die zu ihrem Tod führen können. Mit anderen Worten: Was für den symbolischen Körper vorteilhaft ist, kann den physischen Körper zerstören. Den sozialen Status unserer symbolischen Körper zu erhöhen, erfordert oftmals eine Investition von Lebenskraft, die potenziell unsere Gesundheit ruiniert und sogar das Risiko des Ablebens birgt.

Deshalb muss das exzentrische Subjekt der Selbstsorge auf die Verteilung der Sorge zwischen physischem und symbolischem Körper achten. So können beispielsweise die Gesundheitskriterien, die für einen Profisportler gelten, nicht auf jemanden angewandt werden, der keinen Profisport betreibt. Das Gleiche gilt für andere Berufe, die auf körperliche oder manuelle Arbeit angewiesen sind. Aber auch die sogenannten intellektuellen Berufe erfordern die Gesundheit der darin Tätigen – nicht jeder ist in der Lage, viele Stunden in einem Büro zu sitzen, nicht jeder kann sich über einen längeren Zeitraum auf ein bestimmtes Problem konzentrieren. So gesehen wissen wir nie, was wirklich gut für unsere Gesundheit ist – entweder eine Behandlung zu wählen, die unseren durch unseren symbolischen Status diktierten Bedürfnissen entspricht, oder diesen Status zu ändern, einen anderen Beruf, ein anderes Land, eine andere Identität, eine andere Familie oder gar keine Familie zu wählen. Alle diese Entscheidungen sind eng miteinander verknüpft – und alle können unserer Gesundheit förderlich oder abträglich sein.

Natürlich wird die Lösung für dieses Problem oft in der Suche nach dem ‚wahren Selbst‘ gesehen, das jenseits unserer physischen und symbolischen Körper liegen soll. Doch auch hier wird man wieder mit unterschiedlichen und oftmals widersprüchlichen Ratschlägen und Methoden konfrontiert – vom kartesianischen Zweifel bis zur transzendentalen Meditation. Das Subjekt der Selbstsorge konstituiert sich durch den Modus, in dem wir von der Gesellschaft, einschließlich der Fürsorgeeinrichtungen, angesprochen werden. Das Subjekt sorgt für seinen physischen und symbolischen Körper, weil man es von ihm verlangt. Die Forderung, gesund zu sein, ist der grundlegende und universelle Anspruch an das zeitgenössische Subjekt. Zwar weisen die menschlichen Körper je nach Geschlecht, ethnischer Herkunft und anderen Faktoren unterschiedliche Merkmale auf, aber die Forderung, gesund zu bleiben, gilt für alle Körper gleichermaßen. Nur wenn ein Körper gesund bleibt, kann sein Subjekt zum Wohlergehen der Gesellschaft beitragen – oder zu deren Veränderung. Die Investition in die Gesundheit ist die grundlegende Investition, die man tätigt, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Deshalb neigt die Gesellschaft zur Ablehnung aller Formen der Dekadenz, der Passivität, der Kultivierung der eigenen Krankheiten und der mangelnden Bereitschaft, die übliche Arbeit der Selbstsorge zu leisten.

Tatsächlich ist Sorgearbeit, einschließlich der Selbstsorge, immer harte Arbeit, und man ist immer froh, sie vermeiden zu können. Im Grunde ist es eine Sisyphusarbeit und jeder weiß das. Jeden Tag wird Essen zubereitet und dann gegessen, und dann muss man wieder anfangen, Essen zuzubereiten. Jeden Tag wird das Zimmer geputzt – und am darauffolgenden Tag sollte es wieder geputzt werden. Jeden Morgen und Abend sollte man sich die Zähne putzen – und am nächsten Tag das gleiche Ritual wiederholen. Jeden Tag muss sich der Staat vor seinen Feinden schützen – und einen Tag später ist die Situation die gleiche. Ein Pilot bringt Passagiere erfolgreich an ihr Ziel – und muss dann zurückfliegen. Und – auch das muss gesagt werden – jeder Patient, der vom Medizinbetrieb behandelt wird, stirbt zwangsläufig irgendwann, und so beginnt das System mit dem nächsten Patienten und kommt dann zum gleichen Ergebnis. Die Arbeit der Sorge und Selbstsorge ist unproduktiv, bleibt für immer unvollendet und kann daher nur zutiefst frustrierend sein. Aber sie ist die grundlegendste und notwendigste aller Arbeiten. Alles andere hängt von ihr ab. Unser soziales, wirtschaftliches und politisches System behandelt die Bevölkerung wie eine Quelle erneuerbarer Energie, wie die Sonnen- oder Windenergie. Die Erzeugung dieser Energie ist jedoch nicht auf ‚natürliche‘ Weise gewährleistet, sondern durch die Bereitschaft jedes Einzelnen in der Bevölkerung, Selbstsorge zu betreiben und in die eigene Gesundheit zu investieren. Wenn die Einwohnerschaft beginnen würde, dieses Erfordernis zu vernachlässigen, dann würde das ganze System zusammenbrechen. Das exzentrische Subjekt der Selbstsorge nimmt eine Metaposition in seiner Beziehung zum Gesellschaftssystem ein und entdeckt dabei seine Macht. Wenn das Individuum seine Investitionen durch Energie und Gesundheit einstellt, senkt es das Energieniveau der Gesellschaft als Ganzes. Und diese Metaposition ist eine universelle Position: Die Exzentrizität eines individuellen Subjekts der Selbstsorge macht es universell, weil alle Subjekte aller Selbstsorge sich in der gleichen Lage befinden.