Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600) - Thomas Leinkauf - E-Book

Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350–1600) E-Book

Thomas Leinkauf

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Beschreibung

Zu Beginn seiner Abhandlung »Über das einsame Leben« (De vita solitaria) schreibt Francesco Petrarca 1346: »Niemand schafft es, lange unter Wasser zu leben. Es ist unausweichlich, dass er auftaucht und das Antlitz, das er verbarg, offen zeigt.« René Descartes dagegen, in seinen Cogitationes privatae, notiert dreihundert Jahre später: »Wie die Komödianten […] Masken anziehen, so schreite ich, der ich am Schauspiel dieser Welt […] teilzunehmen gedenke, mit einer Maske bedeckt voran.« – Einmal die offene, einmal die verdeckte Konfrontation: bei Petrarca ein Ich, das sich schrittweise erst aus dem mittelalterlich-scholastischen Gefüge herauswindet; bei Descartes ein selbstbewusstes, aber skeptisches Subjekt, das sich angesichts der Erfahrungen der Inquisition lieber verdeckt auf die Bühne des Theatrum mundi begibt. Zwischen diesen beiden Selbstentwürfen liegt eine komplexe geistesgeschichtliche Entwicklung, der Thomas Leinkauf in seiner großangelegten, materialreichen Studie zur Philosophie des Humanismus und der Renaissance zwischen 1350 und etwa 1600 detailliert nachgeht. Auf allerhöchstem Niveau, dabei die historischen Grundbedingungen wie die rasante Wissensentwicklung und Weltexploration, Protestantismus und Konfessionalisierung, aber auch Faktoren wie die Ausbreitung der Pest und die Rivalität zum kirchlich-scholastischen Denken im Blick behaltend, beschreibt das Werk die faszinierende, komplizierte, von gegensätzlichen Kräften und Denkschulen vorangetriebene Entwicklung hin zum modernen Denken. Eine Einleitung, ausführliche Register und eine Bibliographie erschließen das Werk.

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Seitenzahl: 4895

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Thomas Leinkauf

GRUNDRISS

Philosophie des

Humanismus und der

Renaissance (1350–1600)

Band 1

Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.ISBN (ePub) 978-3-7873-3160-4 (2 Bände)

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2017. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gestaltung: Jens-Sören Mann. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Konvertierung: Bookwire GmbH.www.meiner.deFür Links mit Verweisen auf Webseiten Dritter übernimmt der Verlag keine inhaltliche Haftung. Zudem behält er sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings (§ 44 b UrhG) vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Inhalt

Vorwort

EINLEITUNG

Voraussetzungen

Irritationen

Irritation I: Die »potentia absoluta« Gottes, die Kontingenz der Welt, der Nominalismus

Irritation II: Der Tod (Pest, Epidemien) und die Angst

Irritation III: Kopernikanische Wende und Weltexploration

Irritation IV: Protestantismus und Glaubensspaltung

Humanismus

Würde (dignitas)

(i)Mitte

(ii)Sprachfähigkeit

(iii)Denken, Vernunft

(iv)Die Hand

(v)Naturwesen

Wissen und Wissenschaft

(i)Propositionales und intuitiv-immediates Wissen

(ii)Wissen und Wollen

(iii)Wissen und Methode

Jacopo Zabarella (1532–1589)

(iv)Wissen und Universalität

Technik, Innovation

(i)Perspektive

(ii)Buchdruck

(iii)Anatomie

(iv)Fernrohr

PETRARCA (1304–1374)

I.Ich

(i)secum esse

(ii)intentio animi, virtus, beatitudo (Ethik)

(iii)expressio, Sprache, Dichtung

(iv)scientia: Denken und Wissen(schaft)

(v)amor

 II. Welt

(i)Vielheit

(ii)Menschenaffinität, Erfahrung, dignitas

(iii)Endlichkeit, Zeit (Geschichte), Tod

III. Gott, Theologie

Wirkung und Rezeption

SPRACHE

Einleitung

Latein und Volgare als Grundsprachen

Grammatik/Dialektik (Logik)

Coluccio Salutati (1331–1406)

Lorenzo Valla (1407–1457)

Rudolph Agricola (1444–1485)

Paris 1480–1520: Die Dialektik zwischen Nominalismus und Humanismus. Jacques Lefèvre d’Étaples (Faber Stapulensis)

Erasmus (1466/7–1536)

Juan Luis Vives (1492–1540)

Petrus Ramus (1515–1572)

Mario Nizolio (1488–1567)

Explicit

Rhetorik-Poetik (theologia poetica)

Petrarca (1304–1374)

Boccaccio (1313–1375)

Salutati (1331–1406)

Leonardo Bruni (1370–1444)

Angelo Poliziano (1454–1494)

Übergang (Giovanni Pontano, Girolamo Savonarola)

Poetik des Enthusiasmus (Platon-Tradition) und die Theorie des »poeta creator«

Marsilio Ficino (1433–1499)

Cristoforo Landino (1424–1498)

Die Transformation des »furor« im 16. Jahrhundert:Fracastoro, Minturno, Segni

Pietro Bembo (1470–1547)

Poetik (Rhetorik- und Aristoteles-Tradition)

Kriterien des Poetischen

Auseinandersetzung mit der Poetik des Aristoteles

Alternativen zu der an Aristoteles orientierten Poetik: Beispiele

Vidas De arte poetica von 1517 (publ. 1527)

Sacligers Poetices libri septem von 1561

Die Theorie des »romanzo« (Giraldi, Pigna)

Die Theorie des »mirabile« und die universale Poetik (Francesco Patrizi)

(i)Das »mirabile« als letzte Form

(ii)Die Funktion des Gegensatzes

(iii)Universale Explikation

(iv)Kombinatorik

ETHIK

Einleitung

1.Das Gute (bonum)

2.Die Tugend (virtus)

3.Der Wille (voluntas)

4.Freiheit (libertas, liberum arbitrium)

(i)Freiheit als Folge von Vernunft-Sein (libertas)

(ii)Sein als Folge von Freiheit: Entscheidung (liberum arbitrium)

(iii)Freiheit als libertas indifferentiae: die nach-tridentinische Diskussion in der Scholastik

5.Notwendigkeit: die Auflösung der Freiheit im »fatum«

6.Gemeinschaft (societas, civitas, Hof). Ethik-Typen

(i)Die ›bonum-commune‹- und virtus-Ethik (Salutati, Bruni, Pomponazzi)

(ii)Die voluptas-Ethik (Lorenzo Valla, Cosma Raimondi)

(iii)Die Kontemplations- und Liebes-Ethik (Ficino, Landino, Ficino-Schule)

(iv)Die miles-christianus-Ethik (Erasmus, Vives, Luther)

(v)Die Nutzen- und Kalküls-Ethik (Machiavelli)

(vi)Die Höfische Ethik (Edukations-Ethik): Beispiel Castiglione

(vii)Ethik des »heroischen« Individuums (Giordano Bruno)

7.Die ›scholastische‹ Ethik-Diskussion in der Frühen Neuzeit: Einige Hinweise auf zentrale Weichenstellungen

POLITIK

Einleitung

Dante: De monarchia (1307–18?)

Marsilius von Padua: Defensor Pacis (1323/4)

Naturalisierung der »civitas« (Defensor pacis, Buch I)

Unmittelbare Gegenwart absoluter Macht und Gleichrangigkeit

Herrschaft der Vielen und Wahlmandatierung

Padua und Florenz 1320–1380: Option der Oligarchie oder Fürstenherrschaft

Christine de Pisan, Le livre du corps de policie (1404/07)

Übergang zum Humanismus und zur Renaissance (Salutati, Bruni, Rinuccini, Buonaccorso)

Salutati, De nobilitate legum et medicine (1399)

Minima politica: Fragmente politischer Theorie zwischen Salutati und Machiavelli (1420–1510)

(i)Stabilität. Beispiele: Leonardo Bruni, Matteo Palmieri

(ii)Nobilität. Beispiel: Poggio Bracciolini

(iii)Staatsamt. Beispiele: Leonardo Bruni, Matteo Palmieri, Pontano

(iv)Vielherrschaft (Republik) – Einherrschaft (Prinzipat, Monarchie)

(v)Gerechtigkeit als politisches Grundkriterium; Naturrecht (Bruni, Palmieri, Pontano)

(vi)Die politische Funktion der Religion (Palmieri, Ficino, Landino)

(vii)Freiheit versus Tyrannis: die res publica libera und die res publica ammissa

Übergang ins 16. Jahrhundert

Machiavelli

Politica christiana

Ein platonischer Einwurf: die Staatsutopie des Francesco Patrizi

Politik, Religion und Philosophie: das Beispiel Girolamo Cardano (1501–1576)

Die politische Funktion der Religion

Die Staatsutopien: ein Blick auf Thomas Morus, Tommaso Campanella und die politischen Utopien des 16. Jahrhunderts

Staatsräson und Souveränität: Jean Bodin

HISTORIK

  I. Einleitung: Geschichte als Phänomen und als Problem

(i)Anfänge 1: Geschichte und Wahrheit – Geschichte als Wissenschaft

(ii)Anfänge 2: Geschichte und Wahrheit – Nachahmung, Ähnlichkeit, Wahrscheinlichkeit

(iii)Anfänge 3: Voraussetzungen des Anfangens: antike Historik

(iv)Voraussetzungen des Anfangens: Die christliche Implikation

(v)Die anthropologische Dimension

(vi)Struktur-Begriffe: Sequenzialität, Temporalität, Ordnung (Geschehensordnung)

 II. Der Begriff des »Anfangs«

III. Faktoren und Kriterien des Geschichtlichen zwischen 1300 und 1600

(i)Faktoren

(ii)Kriterien der Historik: eine Dokumentation

(1)Das Kriterium der »Wahrheit« (Faktizität, Trennung von Fiktion)

(2)Das Kriterium der »Objektivität« (Wie es eigentlich gewesen ist), Faktizität, Richtigkeit, Einzeldingvollzug

(3)Das Kriterium der Universalität (Universalgeschichte)

(4)Das Kriterium der Offenheit, Unabgeschlossenheit, Inkonstanz

(5)Das Kriterium der Freiheit

(6)Das Kriterium des Nutzens: utilitas (educatio), commoditas, virtus, bene vivere

IV. Beispiele

(i)Francesco Petrarca: Geschichte als kulturelle Grundstruktur – De viris illustribus und die Rerum memorandarum libri

(ii)Leonardo Bruni: Geschichte als Stadtgeschichte, Geschichte aus Dokumenten

(iii)Giovanni Pontano: Geschichte als »quasi soluta poesia«, Geschichte aus »exempla«

(iv)Francesco Patrizi: Geschichte als Philosophie und als anthropologischer Selbstausdruck

(v)Jean Bodin: Geschichte als methodische Geschichtsreflexion

Vorwort

Eine Gesamtdarstellung der Philosophie der Renaissance und des Humanismus ist, wenn man einmal von Kompendien wie z. B. der Cambridge History of Renaissance Philosophy (1988) oder dem bald erscheinenden Band zur Philosophie des 15. und 16. Jahrhunderts des Neuen Ueberweg – Grundriß der Geschichte der Philosophie (soll 2017 erscheinen) absehen wollte (wo aber die Darstellungen eben nicht in einer Hand liegen), seit langem nicht versucht worden. Insbesondere im deutschen Sprachraum ist nach Ernst Cassirers ersten beiden Bänden der grandiosen Geschichte des Erkenntnisproblems (Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 1906–1907) und nach seinem Meilenstein Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (Leipzig/Berlin 1927) keine wirklich übergreifende Darstellung vorgelegt worden.1 Eckhard Kesslers kenntnisreiche und souveräne Darstellung der Philosophie der Renaissance ist leider Fragment geblieben, denn sie hat den Schritt in das 16. Jahrhundert nicht wirklich vollzogen.2 Auch ist die Diskussion Cassirers unter den Index neukantianischer ›Erkenntnisinteressen‹ gestellt, was zur Verfremdung des komplexen Befundes geführt hat,3 und die Rekonstruktion Kesslers geht in klassischer, chronologischer und auch autorenzentrierter Weise vor. Es fehlt immer noch eine Darstellung der Denkentwicklung, die den ganzen Zeitraum vom Frühhumanismus bis hin zu den vielfältigen Diskussionen der Phase der späteren Renaissance in den Blick nimmt und die einerseits problemorientiert vorgeht, andererseits die übergreifenden mentalitätsgeschichtlichen Rahmenbedingungen nicht aus dem Auge verliert. Dass man einem solchen Vorhaben unter den Bedingungen moderner Forschung eher skeptisch gegenüber stand und steht, darf nicht verwundern; es darf aber eben auch nicht Anlass sein, ein Projekt dieser Art gar nicht mehr zu unternehmen. Die erwähnte Skepsis ist natürlich nicht Produkt idiosynkratischer Willkür, sondern sie ist das Ergebnis des Bewusstwerdens einer schon seit den Tagen etwa Wilhelm Diltheys, Ernst Cassirers, Ernesto Renans, R. Charbonnels, A. Renaudets, Jan Huizingas oder Eugenio Garins immer deutlicher gewordenen übergroßen Komplexität des Gegenstandes selbst. Wir wissen durch herausragende Forschungsarbeit vieler Kollegen heute scheinbar einfach zu viel von der Zeit zwischen Francesco Petrarca und Giordano Bruno, zwischen Giovanni Boccaccio und Francisco Suárez, zwischen Coluccio Salutati und Tommaso Campanella,4 wir sind sensibler geworden für die diffizilen Zusammenhänge zwischen Politik- und/oder Wirtschaftsgeschichte auf der einen und Geistesgeschichte auf der anderen Seite, zwischen philosophischem Bewusstsein und dem Sein, auf das es reflektiert oder das sich ihm unter bestimmten Bedingungen zeigt. Je näher wir dem Limes der Jetztzeit etwa im Durchgang durch kompetent erstellte Bibliographien zur Philosophie und Wissensgeschichte unseres Zeitraumes kommen, desto umfangreicher und unübersichtlicher wird die Forschungsliteratur. Schon zu einem einzigen Autor produziert die Fachforschung heute unabsehbar große Mengen an Monographien, Tagungsakten oder Aufsätzen – man denke etwa nur an die Publikationsflut zum Œuvre Immanuel Kants – dies kann bei einem Epochenfokus nur zu einer potenzierten Ergebnismasse führen, eine ›Masse‹, an deren kritische Steuerung man sich kaum heranwagt. Wir können und dürfen zusätzlich, so scheint es, das immer feiner gewobene Netz eines breiten diagnostischen Zugriffs auf die Fakten- und Mentalitätsgeschichte, in das uns auch der philosophische Gedanke eingewoben erscheint, von diesem nicht mehr so einfach abziehen, so dass man sagen könnte: ›hier die – immer noch in sich herausfordernde – Komplexität des Fortschritts im Denken, dort die verschiedenen Ausprägungen der geschichtlichen Verlaufsformen‹, so dass sozusagen Begriffs- und Denkgeschichte eine Sache für sich bildeten, die der philosophische Anatom – gleichsam wie der kriminologisch-medizinische Anatom seinen Gegenstand auf der Liege in der Pathologie, so auf einer Art Liege der nur noch für Spezialisten interessanten Vergangenheit – aufschnitte und dann für das betrachtende Publikum präparierte. Der Verfasser dieser Zeilen unterstellt seinen Lesern, dass sie ihm ein hinreichend geschärftes Bewusstsein der genannten Probleme zugestehen wollen. Dass es dennoch richtig gewesen ist, die Vorbehalte und die mit diesen verbundene Skepsis zurückzustellen und dieses ›Opus magnum‹ zu realisieren, kann wenn irgend nur durch die kritische Lektüre selbst und die Auseinandersetzung mit den im Folgenden präsentierten Beobachtungen und Argumenten bestätigt werden.

Dabei ist es eine Sache, in der Forschung Einzelprobleme einer bestimmten Phase des philosophischen Diskurses, einzelne Autoren einer Epoche, bestimmte, teils sogar epochenübergreifende Diskussionen etc. sorgfältig zu rekonstruieren und darzustellen – ein Geschäft, das sozusagen das ›Material‹ für alle anderen nicht überheblichen Reflexionen auf unsere geistesgeschichtliche Vorgeschichte bereitstellt. Eine ganz andere Sache ist aber der Versuch, die großen Diskussionslinien herauszustellen, die eine Epoche zu einer qualifizierbaren, definierbaren ›Einheit‹ machen, die Synthese aus den epochenübergreifenden und epochenspezifischen Diskussionen, die zu jeder Zeit (und das heißt auch jetzt) unsere Denkgeschichte ausmachen, möglichst umfassend sich bewusst zu machen und so auch die Philosophie in einen Kontext einzustellen, dem sie dann nicht machtlos gegenübersteht, sondern den sie selbst aktiv mitgestaltet. Der Sinn also dieser Gesamtdarstellung kann nicht quantitative Vollständigkeit in der akuten Präsentation aller Diskussionen und ihrer Verästelungen sein, ebenso wenig will sie sich anheischig machen, das, was sie tatsächlich zur Sprache bringt, auch qualitativ erschöpfend, also im jeweiligen vollständigen Erfassen der Sinnimplikate einer Argumentation oder einer Diskussion, zu präsentieren. Darum geht es nicht. Es geht darum, Spannungsbögen herauszustellen (wie am Beispiel der Konfrontation der Naturtheorie von Padua mit der ›neuen Physik‹), subliminale Zusammenhänge von scheinbar unabhängigen Prozessen zu exponieren, der Bedeutung von großflächigen mentalen Zuständen (wie am Beispiel der Irritationen in der Einleitung) für die Diskussion ihr Recht zu geben, dies alles jedoch ohne das Denken seiner Eigenständigkeit und seiner Autonomie zu berauben – etwa nach dem Muster einer trivialen Sequenzialität der Art ›weil x, deshalb y‹.

An diesem Buch werden daher viele Spezialisten zu bemängeln haben, dass gerade die Autoren und die Texte und Themen, die sie insbesondere interessieren – etwa die Bedeutung der Figur des Sokrates im Denken der Renaissance,5die differenzierte Diskussion der Positionen des Averroes und seiner Schule, eine einlässlichere Darstellung der spanischen Scholastik und ihres Metaphysik-Begriffs, die Bedeutung Dantes für die protohumanistische Diskussion, die Berücksichtigung der äußerst komplexen Geschichte des lullistischen oder kabbalistischen Denkens oder eine breitere Würdigung der Person und Position Luthers sowie der protestantischen Schulmetaphysik in ihren Anfängen, der Diskussionen um Millenarismus und Eschatologie im 16. Jahrhundert, der Ketzerproblematik im Verhältnis zur Vernunft als Toleranzorgan, die Stellung des Leonardo in der Naturtheorie etc.6 –, nicht oder doch nur verkürzt zur Sprache kommen. Dies ist dem Verfasser bewusst und er hält es dennoch für unvermeidlich; angesichts des im Blick meines Interesses stehenden Zeitraumes war eine Konzentration auf die Hauptlinien der denkgeschichtlichen Entwicklung unabdingbar, die Ausfaltungen bis in die letzten Verästelungen des geistesgeschichtlichen Kapillarsystems hätten viele Blickachsen wohl unvermeidlich verstellen müssen. Die angedeuteten Defizite wird der interessierte Leser dennoch ohne größere Umstände in die hier als grundlegend betrachteten Perspektivlinien eintragen können, zudem wird im Anmerkungsteil immer wieder auf sie hingewiesen. Umgekehrt werden in diesem Buch die speziellen Sichtweisen des Verfassers nicht zugunsten einer einebnenden, quasi nur den allgemeinen Forschungsstand referierenden Darstellung nach Art eines Handbuches aufgegeben: Sie sollen vielmehr ebenso bewusst und gewollt seine bestimmte Position zum Ausdruck bringen und sie damit, so es gelingen sollte, in diejenige Form und Gestalt von Kritikwürdigkeit bringen, die der eigentliche Motor wissenschaftlichen Fortschrittes ist. Die darzustellende Sache wird der Intention nach durchgehend als Produkt eines – quoad nos – untrennbaren Zusammen von Begriffs- und Problemgeschichte gesehen.7 Zudem sollte, da die Absicht dieses Buches grundsätzlich auch eine der interdisziplinären Problematisierung ist, immer präsent gehalten werden, dass dennoch gerade der Unterschied zwischen einer Darstellung der philosophischen Entwicklung eines Konzeptes oder Theoriemodelles und der in bestimmten Sachgebieten ebenso möglichen anderen, etwa sozialgeschichtlichen, literarhistorischen oder malereigeschichtlichen Darstellung nicht einer falsch verstandenen, nivellierenden Interdisziplinarität zum Opfer fallen darf. Wenn also im Folgenden etwa auch eine knappe Darstellung der Entwicklung der Liebesthematik gegeben wird, dann muss, da es hier um genuin philosophische (teilweise natürlich auch theologisch fundierte) Konzepte von ›Liebe‹ geht, für den interessierten Leser der Romanistik oder Literaturwissenschaft der Erwartungsfokus deutlich umgestellt werden.8 Ein Gleiches gilt natürlich auch für die Geschichtswissenschaft oder die Konfessionsgeschichte mit Blick auf unser Kapitel zur Historik (Stichwort ›Eschatologie‹) oder für die Politikwissenschaft etc. Es wird des Weiteren auch, so ist zu hoffen, den Lesern nicht verborgen bleiben, dass der Verfasser sich zwar des grundlegenden (aber auch trivialen) Unterschieds zwischen erzählender und argumentativer Darstellung, zwischen »narratio« und »demonstratio«, zwischen geistesgeschichtlicher Hermeneutik und naturwissenschaftlicher Erklärung bewusst ist,9 dass er aber davon überzeugt ist, dass gerade Darstellungen komplexer geistesgeschichtlicher Vorgänge nicht gelingen können, wenn man den Dual narratio-demonstratio nur als eine Disjunktion begreift, als ein Entweder-Oder, dessen Denominatoren sich kategorisch ausschließen.10 Das Problematische eines narrativen Zugangs zu Sachproblemen, die selbst alles andere als aus ›narratio‹ geborene, historische oder philosophische Grundfragen betreffen, zeigt etwa das sicherlich schön geschriebene, aber sachlich voller ungeklärter Vorurteile und subjektiver Einstellungen bleibende Buch The swerve. How the world became modern von Stephen Greenblatt – hier ist schon durch den Titel insinuiert, dann aber auch durch den Text gleichsam bekenntnishaft ausgeführt, dass etwa eine platonische oder aristotelische Sicht auf die Wirklichkeit gegenüber der atomistisch-epikuräischen des Lukrez, die zur Modernität führt, hoffnungslos »non-modern« sein muss.11 Warum und weshalb dies so ist, was es mit den Diskussionen, die sich bewusst im 15. und dann im 16. Jahrhundert mit guten Argumenten von Lukrez distanzierten, auf sich hat und vieles andere bleibt ungeklärt. Ich möchte hingegen eine sich nicht ausschließende Kopräsenz von narrativer und argumentativer Darstellung zum Kriterium meiner Rekonstruktion machen, so dass das eine im anderen als dessen dialektisches Implikat verborgen ist, in der Erzählung das Argument und im Argument dessen narrative Entfaltung. Resultat sollte, wenn die Rekonstruktion denn gelänge, eine Synthese sein, die man als interpretative Darstellung begreifen könnte, als eine »Einheit von Darstellung und Kritik« (Michael Theunissen).12

Natürlich werden manche Fachphilosophen (diejenigen, die nicht schon gleich apodiktisch behaupten, dass Geschichte der Philosophie ohnehin keine Philosophie sei) fragen: ›Was hat denn die Pest oder die Weltexploration mit Philosophie zu tun? Droht hier nicht das Historische, das Narrative, die Diskussion dieser sicherlich für die Epochenkontur unbestreitbar zentralen Phänomene die Aufgabe einer reflektierten Darstellung systematischer Denkansätze zu verunmöglichen und gar zu sabotieren?‹ Diesen kann gesagt werden, dass die in der Einleitung diskutieren Irritationen gerade als Antidot zu einer nur erzählenden, aufzählenden Präsentation der in Frage stehenden Epoche zu sehen sind: Sie setzen Ereignisse – die zudem in einer unumkehrbaren Sequenz stehen – sozusagen als Sinn-Pfeiler in den breiten Strom eines möglichen Erzählflusses, an denen dieser sich brechen muss und aus deren Verwirbelungen in der Folge ein, das ist die Überzeugung des Verfassers, ganz anderer Flussverlauf resultiert, dessen hermeneutische Kurven ein Mehr an Verstehens-Raum erschließen helfen sollen (ähnlich den mäandrierenden Flussbetten vor der Zeit ihrer ökonomisch-technokratisch gewollten Begradigungen). Es wird in diesem Buch sicherlich auch ›eine Geschichte erzählt‹, das ist schon alleine deswegen unvermeidlich, weil etwa bestimmte Sachgebiete des Denkens innerhalb der im Blick stehenden 250 Jahre doch schon eine je eigene, auf ihre Spezifität zurückzuführende ›Schichtung‹, Entwicklung oder Dynamik erfahren haben, die es zu erfassen gilt und die nicht in rein syllogistischen Verfahren vorgestellt werden können. Aber das Faktum, dass auch eine Geschichte erzählt wird, bildet nicht die Primärintention und ist auch nicht das ganze Resultat. Es soll vielmehr die Entwicklung der Gedanken und der diese Gedanken sprachlich repräsentierenden Begriffe und Worte einsichtig werden, die Auseinandersetzung der Vernunft mit sich selbst in der Phase einer viele Gewissheiten in Frage stellenden Epoche.13 Daher werden an einzelnen Sachproblemen und deren Diskussion, immer mit Blick auf die verwendete Begrifflichkeit, auch Einzelanalysen durchgeführt werden, die die philosophische Allgemeinheit des in Frage stehenden Problems herausarbeiten sollen, so etwa im Falle der Diskussion des Problems des ›Poetischen‹ oder bestimmter Naturprozesse oder vor allem hinsichtlich der grundlegenden Problem-Konfiguration, die durch das ontologisch-epistemische Quadrat angezeigt wird.

Dieser Versuch möchte auch als ein Gegengewicht zu einer großen Zahl englischsprachiger Darstellungen (leider muss man hinzufügen: immer mehr auch italienisch- und französischsprachiger Darstellungen) verstanden werden, die es aufgegeben haben oder auch als unter ihrer Würde stehend oder als überflüssig erachten, anderssprachige, vor allem jedoch deutschsprachige Forschungsliteratur zur Kenntnis zu nehmen.14 Es ist klar, dass ein solches Ignorieren zu eigentümlichen Verzerrungen im komplexen, mäandrierenden Prozess der Interpretation führen muss, wenn nicht gar zu schlichten Irrtümern oder Verkürzungen von Komplexität. Es ist hier hingegen die Intention des Verfassers vorherrschend (auch wenn er sie nicht in allen einzelnen Fragen mit gleicher Ausführlichkeit umsetzen konnte), möglichst die wichtigsten Forschungsbeiträge in den Hauptsprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch zu berücksichtigen.

Das Konzipieren und Verfassen – geschweige denn das Publizieren – eines Werkes dieser Art ist unter heutigen Bedingungen keine Selbstverständlichkeit. Die ihm entgegenstehenden, häufig subkutan wirkenden Kräfte gesellschaftlicher, ideologischer und vor allem fachgebundener Natur sind von einer erschreckenden Effizienz, die jedoch zum Glück nicht immer zu ihrem negativen Erfolg führt. Die Destruktoren eines komplexen Begriffs von Philosophie, welcher Geistesgeschichte, Begriffs- und Transformationsgeschichte und systematisches Philosophieren (die Logik eingeschlossen) als in der Wurzel untrennbar begreift, reduzieren diesen immer wieder auf formale Einseitigkeiten oder inhaltliche Trivialitäten und erweisen sich zugleich, gerade weil das Reduktionistische für uninformierte Rezipienten die größte Attraktivität gewinnen kann, als wiederauferstandene Veloziraptoren innerhalb des universitären, akademischen Stellenpools. Die Disziplin ›Geschichte der Philosophie‹, deren Begriff und Bezeichnung aus Sicht des Verfassers schon ein Dokument des inneren Zerfalls des Faches Philosophie ist,15 wird systematisch und effizient an den Rand gedrängt – dieses An-den-Rand-Drängen ist eben nicht nur durch den sogenannten ›Bologna-Prozess‹ und die Ökonomisierung der Universität und des Akademischen erklärbar, wenn auch diese Entwicklungen einen weiteren Nährboden hierfür geliefert haben.16 Es geht im Wesentlichen auch darum, einem Vereinfachen und gezielten Vergessen von komplexen philosophischen Ansätzen genau denjenigen Boden zu bereiten, dessen Biotop man oft genug selbst schon, diesen als letztes Maß und Kriterium des Denkens nehmend, entsprungen ist. Will und muss eine kompetente Begriffsgeschichte »vor allem die historische Einengung von Begriffsbestimmungen entschieden zurück(weisen)«,17 so darf erst recht die Philosophie, die aus diesen Korrekturen und Richtigstellungen das ursprüngliche Material ihrer sachangemessenen Denkarbeit zieht, solchen Einengungen und Verkürzungen keinen Raum bieten. Verfechter eines komplexeren, anspruchsvolleren Begriffs von Philosophie, die gegenüber neu eingespeisten sogenannten Denominationen wie ›Angewandte Ethik‹, gegenüber der bis zur Indifferenz getriebenen Nähe zur ›Kulturwissenschaft‹ oder auch zur ›Didaktik‹ oder gegenüber naiven, sich aus naturwissenschaftlichen Voraussetzungen ableitenden Biologismen ihre Vorbehalte haben und die zugleich der in der Wurzel untrennbaren Einheit von Philosophie mit ihrer eigenen Geschichte (nicht nur als abstrakt herausgelöster Begriffsgeschichte) sich verpflichtet fühlen, die sich also etwa, was die Erforschung von Renaissance, Humanismus und Früher Neuzeit betrifft, in die Tradition von Wilhelm Dilthey, Ernst Cassirer, Bernhard Groethuysen, Eric Voegelin, Eugenio Garin, Tullio Gregory (und dem Lessico intellettuale Europeo), Maurice Gandillac, Paul Oskar Kristeller, Quentin Skinner u. a. sowie deren heutiger Schülergeneration stellen,18 können auch schon einmal, wie es dem Verfasser selbst geschehen ist, von nachwachsenden Kollegen als ›Dinosaurier‹ bezeichnet werden – die unterstellte Nichtadäquanz der kritisierten Seinsform gegenüber ihrem Biotop und die damit einhergehende Fossilierung, die die Natur in Millionen von Jahren nur erreichen kann, setzt der Kulturmensch sozusagen per Dekret innerhalb von nicht einmal einem Jahrhundert um, dabei dem momentanen Biotop, dessen Erhaltung seiner eigenen Selbsterhaltung dient, mit seinen Kurzfristigkeiten, Moden und Fixiertheiten nahezu alles an Substantialität zuschreibend.19 Geschichte der Philosophie, so ist die nicht immer offen geäußerte Vorstellung, sollte doch, wie in der Universitätslandschaft der Vereinigten Staaten, am besten ins ›department of history‹ verfrachtet werden, damit die sich aufspreizende ›Philosophie selbst‹, die sich auch noch als ›systematisch‹ erklärt, konkurrenzlos und unbehelligt von für Tod erklärten Fragestellungen ihrem Geschäft nachgehen könne. Man muss sagen: Für alle diese ist dieses Buch wirklich nicht geschrieben – valde absit ut hunc librum legant. Hingegen wendet es sich an alle diejenigen, die bereit sind, egal ob aus der Forschungswirklichkeit des Akademisch-Universitären heraus oder ob aus individuellem, dem institutionalisierten Philosophieren gegenüber kritischen Interesse an der Genese unserer eigenen Gegenwart aus den nicht vergangenen Entwicklungen der Vergangenheit, sich der Komplexität geistesgeschichtlicher Prozesse, die häufig genug ihr Spiegelbild in der individuellen Biographie Einzelner mit ihren Schwankungen und Positionsänderungen besitzt, auszusetzen. Philosophie ist nicht nur ein Produkt wissenschaftsgeschichtlicher Entwicklungen,20 sondern vor allem eine Lebensform, deren modus vivendi eben die lebendige Auseinandersetzung mit unabweislichen Grundfragen des intellektuellen Seins ist – dies ist dem intellektuellen Diskurs spätestens seit Platon an erster Stelle in die Agenda geschrieben.21 Ohne die Voraussetzung der Lebendigkeit der Repräsentanten einer solchen Lebensform, ohne die denkenden und etwas argumentativ riskierenden Individuen würden sich die zentralen Thematiken des Philosophierens, gerade auch diejenigen der hier im Fokus stehenden ›studia humanitatis‹ und der naturtheoretischen Diskussionen, gar nicht erst zu komplexen, Disziplinen-adäquaten und intellektuellen Synthesen verdichten können. In dieser Weise möchte der Verfasser als ein Individuum und nicht nur als Repräsentant einer Disziplin ernstgenommen werden. Damit steht er auch alleine für alle Mängel und Unzulänglichkeiten dieses Werkes ein.22

Eine Problemgeschichte kann ohne Begriffsgeschichte nicht einmal ihre grundlegendsten Intentionen artikulieren, denn sie fiele zurück hinter die immer wieder in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Denkens deutlich werdende, bewusst und reflektiert artikulierte Komplexität des Zu-Denkenden. Denn nichts anderes stellen philosophische Begriffe dar als den sprachlichen Verweis auf ein Intelligibles – auf dasjenige, was Platon und vor allem auch Aristoteles als von sich selbst her einsehbare Sachbestimmtheit oder als »Einfaches« (Metaphysica 1015 b 11–14; an. post. 85 b 19f) bezeichnet haben23 – und auf die Möglichkeit, dieses Intelligible möglichst angemessen durch Denken dem wachen Bewusstsein vorstellig zu machen. Diese Möglichkeit, die grundsätzlich durch jede sprachliche Bildung gegeben ist, wird im Begriff immer schon als komplexe und verdichtete Möglichkeit vorgestellt, der, neben den äußeren logischen und ›inneren‹ onto-logischen Anforderungen, nicht ohne hermeneutischen Aufwand gerecht zu werden ist. Dem oben schon angesprochenen Kriterium des Duals narratio-demonstratio folgend würde das Ausfalten aller in einem Begriff implizierten Bedeutungsgehalte sozusagen aus der propositional-definitorischen Argumentation in die darstellend-erzählende übergehen, würde das im Begriff Verdichtete eine Repräsentation im Sprachlichen erfahren, die nicht unangemessen ist. Andererseits, das zeigen die sprachkritischen Reflexionen seit Platon, darf eine philosophische Deutung dessen, was sich in der Geschichte der Philosophie als Entfaltung der in ihren Grundideen enthaltenen Probleme zeigt, nicht umstandslos die Ideen und die Begriffe, die ihre genuinen Gegenstände sind, in einfache sprachliche Eins-zu-eins-Schematisierungen zwängen. Die dadurch sozusagen handhabbar gemachten ›Begriffe‹ und ›Ideen‹ würden, ihrer inneren semantischen Potentiale beraubt, zu toten Worthülsen, die klaglos und klanglos vom Interpretationsast herabfielen. Vielmehr gilt es, den Begriffen und Ideen ihre Bedeutung zurückzugeben – oder besser: diese an ihnen als ihr nicht korrumpierbares intelligibles Potential aufzuweisen und oft genug sogar deutlich zu machen, dass Begriffe oder Ideen gerade nicht einfachhin begreifbar oder einsehbar sind in der Form, die einer scheinbar luziden Propositionalität und Dialektik entspricht,24 sondern dass sie nur aus ihrem den Sachkern teilweise verdeckenden Bedeutungshof oder aus dem heraus, was sie nicht ›sagen‹, indirekt erschlossen werden sollten – darin den Individuen gleich, denen auf keiner Streckbank logischer Inquisition jemals ihre ihnen angemessene Definition abgepresst werden könnte. Solche Begriffe, die sich umstandsloser Verbegrifflichung, die vielleicht allerhöchstens eine denominatio extrinseca sein könnte, verschließen, sind in diesem Buch als Gravitationszentren der in ihm nachgezeichneten Denkentwicklungen in den verschiedenen Disziplinen nahezu durchgehend und überall gegenwärtig – etwa diejenigen der traditionellen Ideen wie Einheit, Gutes, Wahres etc., aber auch ganz andere wie diejenigen individueller Empfindungen, des ›Gegenstandes‹ der Selbstwahrnehmung, der Kraft in psychischen und physiologischen Prozessen u. ä., vor allem, wie in der Einleitung genauer ausgeführt, die Eckbegriffe des ontologisch-epistemischen Quadrats Existenz – Wesen und Sache – Worte/Sprache. Vorschläge zu deren Verstehen dürfen nicht missverstanden werden als Angaben zu einer definitorisch-exakten ›Begriffserklärung‹, sondern sollten genommen werden als Momente einer asymptotischen Annäherung an eine wohl unerreichbare vollständige Erfassbarkeit ihres Gehaltes. Die immer wieder – sei es von Nikolai Hartmann, sei es von Arthur O. Lovejoy, sei es von anderen25 – eingeforderte Stabilität, Identität und Maßstäblichkeit von ›Ideen‹ innerhalb und trotz des geschichtlichen, sich permanent wandelnden Kontextes macht aus Sicht des Verfassers dann Sinn, wenn man etwa die Problemgeschichte als eine immer wieder neu einsetzende, teils auf ihren Vorstufen aufruhende und aufbauende Thematisierung dieses stabilen Ideen-Sinnes begreift. So sind die ›Probleme‹ vor allem Produkt der Permanenz des Sich-Auseinandersetzens des Denkens und der Philosophie als dessen institutionalisierter Form mit der Gegenwart der Ideen-Gehalte; die Begriffe sind der sprachliche Niederschlag dieser kontinuierlichen Problematisierung. In diesem Sinne stellen auch die einzelnen Kapitel zu Sprache, Ethik, Politik, Historik oder Natur einen Versuch der Rekonstruktion solcher Problematisierungen vor dem Hintergrund der Spannung zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit dar – die Idee und der Begriff des Guten wird so etwa im Kapitel zur Ethik in vielfältiger Perspektivierung als ein Kernproblem des humanistischen Diskurses deutlich werden, das sich im Spannungsfeld zwischen bonum-commune-Ethik und miles-christianus-Ethik, zwischen einer Ethik des utile und einer der theoretischen Kontemplation in verschiedenen semantischen Abschattungen entfaltet hat, die jedoch immer um dieselbe Idee des Guten kreisen. Ebenso sind die anderen Kapitel zu verstehen.

Dafür jedoch, dass dieses Buch schließlich zustande kommen konnte und in der jetzigen Form vorliegen kann, sind viele Individuen und Institutionen im positiven Sinne verantwortlich. In allererster Linie sind hier zu nennen die Fritz-Thyssen- sowie die VW-Stiftung, die mit dem von beiden Stiftungen initiierten und geförderten Opus-magnum-Programm den so wichtigen äußeren Rahmen für die Realisierung des Buches dadurch großzügig zur Verfügung gestellt haben, dass ich in den Jahren 2010–2012 eine individuelle Förderung erhielt, die mich von allen (oder doch: den meisten) universitären Verpflichtungen befreite und es mir zugleich ermöglichte, in längeren Aufenthalten im In- und Ausland die einschlägigen Forschungsbibliotheken zu konsultieren. Der Fritz-Thyssen-Stiftung ist zusätzlich dafür ganz insbesondere zu danken, dass sie die doch aufwendige Publikation aus ihren Mitteln ermöglicht hat. Der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster danke ich für die Bewilligung eines direkt an diese Förderung anschließenden Forschungssemesters, dem MPI für Kunstgeschichte in Florenz und der damaligen Arbeitsgruppe ›Denkendes Bild‹ um Michael Thimann (Göttingen) und Claus Zittel (Stuttgart) danke ich dafür, dass ich vor und während der Opus-magnum-Zeit 2009–2010 mehrmals mehrmonatige Fellowships am Florentiner Institut wahrnehmen konnte.

Folgenden Bibliotheken/Instituten und den dort wirkenden Personen gilt ein weiterer großer Dank, denn sie haben mir alle großzügigen Zugang zu ihren Ressourcen und Beständen gewährt sowie mein Fragen und Suchen immer kompetent begleitet: der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin; der Villa I Tatti, The Harvard university center for Italien Renaissance, Florenz und dort insbesondere Angela Dreßen, dem Istituto nazionale di studi rinascimentali, Florenz und dort insbesondere Vittorio Vassari; dem Max Planck Institut für Kunstgeschichte, Florenz und dort insbesondere Alessandro Nova; der Houghton Library, Harvard/Cambridge; der British Library, London; der Bibliothèque Municipale, Lyon; der Bayerischen Staatsbibliothek, München; der Pierpont Morgan Library, New York; der Scuola normale superiore di Pisa und der Biblioteca universitaria di Pisa; der Firestone Library, Princeton sowie vielen anderen Bibliotheken, die ich nur für kurze Zeit konsultieren konnte.

Kein Denken und kein Denkansatz können von Null anfangen. In die Ausführungen dieses Buches sind daher natürlicherweise viele inspirierende Einsichten eingegangen, die auf Diskussionen (am intensivsten jenen mit aporetischem Ausgang) oder der Lektüre von Texten beruhen, die mich auf meinem akademischen Weg bis heute begleitet haben, die ich aber nicht im Einzelnen hier aufzählen kann. Keinem aufmerksamen Leser wird allerdings entgehen, wie viel ich etwa den Denk- und Deutungsansätzen von so unterschiedlichen Lehrern und Freunden wie Werner Beierwaltes, Arbogast Schmitt oder Wilhelm Schmidt-Biggemann verdanke, keiner kann aber wissen, wie sehr mich die Diskussionen mit meinen Freunden und Schülern motiviert und inspiriert haben, mit Thomas Micklich, der hier an erster Stelle zu nennen ist, mit Lutz Bergemann, Thomas Kisser, Stephan Meier-Oeser, Henrik Wels, Dorothee Zucca und den Teilnehmern meines Kolloquiums in Münster.

Ich danke vor allem auch folgenden Kollegen und Freunden für die kritische Vorauslektüre einiger Kapitel dieses Buches: Alfons Fürst (Münster), Stephan Meier-Oeser (Berlin/Münster), Thomas Micklich (Berlin), Michael Städtler (Hannover/Konstanz), Rainer Stillers (Marburg) und Henrik Wels (Berlin).

Dem Meiner Verlag in Hamburg, vor allem seinem Verleger Manfred Meiner, sei herzlich dafür gedankt, dass er in heutiger Zeit das Risiko auf sich genommen hat, dieses doch umfangreiche Werk zu publizieren. Marcel Simon-Gadhof vom Meiner Verlag gebührt größter Dank für die perfekte Lektorierung, vor allem aber dafür, dass er es eigentlich gewesen ist, der die Idee hatte, dieses Buchprojekt ins Programm des Meiner Verlags aufzunehmen.

Ein großer Dank gilt außerdem Daniela Kämmerer und Henrik Wels für die Mithilfe bei der Erstellung der aufwendigen Register.

Gewidmet ist dies Buch Angela und den vielen Diskussionen sulla terrazza vicino Piazza Tasso a Firenze.

Berlin, Dezember 2016

Thomas Leinkauf

1 Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 1906–7, jetzt ECW Bd. 2–3, hg. von Tobias Berben und Dagmar Vogel, Hamburg 1999; Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, 1927, jetzt ECW 14, hg. von Friederike Plaga und Claus Rosenkranz, Hamburg 2002. Hingegen gibt es Darstellungen im angelsächsischen Raum, so etwa den Band Renaissance Philosophy (in der Reihe: A History of Western Philosophy N. 3) von Brian P. Copenhaver und Charles B. Schmitt (Oxford 1992, 2. Auflage 2002), der ebenfalls vom Frühhumanismus bis in die Zeit um 1600, also Giordano Bruno, Justus Lipsius etc., reicht. Copenhaver/Schmitt strukturieren ihren Band im Wesentlichen nach den philosophischen Schulen (Platonismus, Aristotelismus, hellenistische Schulen), zusätzlich finden sich Abschnitte zur Naturtheorie und zur Wirkungsgeschichte des Renaissance-Begriffs. Ebenso hatte schon Eugenio Garin eine knappe Darstellung unseres Zeitraums in seiner Storia della filosofia italiana (Torino 1966) vorgelegt.

2 Kessler 2008. Schon der Untertitel: ›Das 15. Jahrhundert‹ indiziert die Beschränkung auf den Zeitraum des Quattrocento, der nur in der Herausstellung Pomponazzis und der alexandrinisch-naturalistischen Schule ins 16. Jahrhundert übergreift.

3 Siehe meine Besprechung der Neuedition der ersten beiden Bände in der beim Meiner-Verlag erscheinenden Gesamtausgabe (ECW 2–3), in: Leinkauf 2001, S. 293–300, S. 295: »Die ganze Darstellung steht ebenso unter dem Eindruck des Marburger Neukantianismus, wie sie auch von Diltheys Begriff des ›Systems der Geisteswissenschaften‹ beeinflußt ist (Vorrede [Bd. 1, S. xi]; Das Erkenntnisproblem [Bd. 2, S. 8, 12, 50, 153, 228 u. ö.])«. Cassirer geht, nach dem Muster, das er bei Descartes, Leibniz, Kant vorgeprägt findet, immer von der Apriorität des »setzenden Denkens« aus (so in Leibniz’ System, ECW 1, S. 7, 10–11); die beiden ersten Bände von Das Erkenntnisproblem, die bis zu Kant reichen, stellen die »Entwicklung der neueren Philosophie letztlich als eine schrittweise Transformation der Strukturen des ›realen Seins in ein System notwendiger Denkakte‹ dar« (S. 298).

4 Als ein Beispiel für viele sei nur genannt das ›masterpiece‹ von Charles Trinkaus, In our image and likeness. Humanity and divinity in Italian humanist thought, Chicago 1970 und jetzt mit besten Gründen in einem Reprint Notre Dame 1995, 2012 zugänglich, man könnte natürlich ebenso die Arbeiten von Alister C. Crombie, Paul Oskar Kristeller, Heiko A. Oberman, Edward Grant, August Buck, Eckhard Kessler u. a. anführen, auf die in dieser Darstellung selbstverständlich immer wieder zurückgegriffen wird.

5 Schließlich wirkt der Topos des Sokrates als Silen (Platon, Symposion 221 E–222 A) und die dadurch virulent gewordene metaphorisch-allegorische Funktion des Silens noch bei Giordano Bruno (siehe etwa Cabala, L’asino cillenico; BW VI, S. 128: »apporto l’esempio de Socrate, giudicato dal fisognomico Zopiro per uomo stemprato, stupido, bardo, effeminato, namoraticcio de putti et inconstante«; Spaccio della bestia trionfante, Epistola esplicatoria; BW V, S. 6; Candelaio, Antiprologo; BW I, S. 26: »l’autore, si vio lo conoscete, direste ch’have una fisionomia smarrita etc.« [eine andere Deutung gibt Kodera, Kommentar, ebd. S. 309], u. ö.) oder, wenn man die Umkehrung ›äußrer Schein‹ (ornament) – ›innerer Wert‹ (beauty) in Rechnung stellt, bei William Shakespeare nach, siehe The Marchand of Venice III, 2, vv. 73–74: »so may the outward shows be least themselves,/–The world is still deceiv’d with ornament«; vv. 104–107, f.: »You that choose not by the view / Chance as fair, and choose as true: / Since this fortune falls to you«: Bassanio wählt das scheinbar uninteressante, unschöne bleierne Kästchen und wird zunächst mit dem Bild, dann mit der Liebe der schönen Portia belohnt; zur Silen-Figur siehe Ordine 1999, S. 144–157, 148 f.; 2003, S. 37–43.

6 Zu Sokrates vgl. etwa Hankins 1999, S. 321–324; Allen, 1998, c. 4; zu Averroes siehe Niewöhner, Sturlese 1994, Canone 2003, S. 79–120, Akasoy, Giglioni 2013; zur spanischen Scholastik siehe Reinhardt 1965; Cenal 1972; Blum 1988; Knebel 2000; zur protestantischen Metaphysik siehe Leinsle 1985, Lamanna 2013; zur Luther-Dekade und ihren Implikationen auch Christian Geyer in der FAZ vom 18. 11. 2014, S. 11; zu Milennarismus und Eschatologie siehe Verheus 1971; Zambelli 1986; Taubes 2007; zur Geschichte der Kabbala und der verschiedenen Ausprägungen der Kabbalistik im Christentum ist einzusehen Schmidt-Biggemann 2012–14.

7 Weber (1904) 1982, 206–208; zu Leonardo Duhem 1955; Kemp 1981; Fehrenbach 1997, 2002.

8 Vgl. etwa den Prolog von Sabine Meine zu Helms/Meine 2012, S. 9–21 und die Fixierung auf einen wesentlich soziologisch geprägten Begriff von Liebe in der Folge vor allem von Norbert Elias’ Arbeiten Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt/M 1969; Die höfische Gesellschaft, Frankfurt/M 1994. Was deutlich werden sollte in den von uns hier exponierten philosophisch inspirierten Diskussionen des Liebes-Themas, ist dennoch, dass es sich nicht um abgehobene, abstrakte Reflexionen ohne Nabelschnur zur tatsächlichen Erfahrung des Phänomens ›Liebe‹ handelt. Umgekehrt sollten Darstellungen, die aus der Philologie, Musikwissenschaft oder Literaturwissenschaft kommen, eine theoretische Fundierung ihres Themas in dem finden können, was in unserem Liebes-Kapitel abgehandelt wird. Überhaupt ist die Lebenspraxis des Humanismus seit seinen Anfängen, seit Petrarca, Boccaccio und Salutati, gesättigt durch das Ernstnehmen dieses Themas, ebenso wie auch die ersten großen Philologen, wie etwa Filippo Beroaldo il Vecchio (1453–1505), durch ihren überall von den Zeitgenossen hochgerühmten und als paradigmatisch herausgestellten Lebensvollzug ein Beispiel dessen gegeben haben, was Freundschaft (amicitia) und Liebe (amor) für das Zusammensein der Menschen bedeuten können – übrigens durchaus in Bezug auf Platon und die platonisierende Tradition (Platon, Cicero, Plutarch). Hierzu siehe Krautter 1971, S. 21–23.

9 Siehe etwa Schmidt-Biggemann 2014; Hampe 2014. Hampes Behauptung, dass die Wirklichkeit bzw. die Welt aus »Einzelheiten«, »Einzelwesen« oder konkreten Individuen bestehe (S. 100 f., 247 f., zu denen erstaunlicherweise auch das Elektron gehören soll, S. 295), die seine Analyse der Leistungsfähigkeiten von argumentierender Philosophie und darstellender Dichtung oder Erzählung leitet, ist selbst schon eine Annahme, die den Status eines Einzeldinges, einer Einzelheit oder eines Konkreten transzendiert. Sie gleicht der im Nominalismus verbreiteten und letztlich aus Scotus übernommenen (siehe Einleitung, Abschnitt: Irritation I, S. 29 ff.) Vorstellung, es gebe vor den begrifflich-universalen Intentionen noch so etwas wie ein unserer mentalen Episteme immediat zugängliches Erfahrungssubstrat, das aus Einzelseienden bestehe (singularia). Aber die Primärintention auf das esse/ens singulare ist selbst schon eine begrifflich-mentale und steht in einer katastrophischen Spannung zu den sinnlich – durchs Auge, Ohr etc. – oder experimentell transportierten Datenmengen. Die »letztliche Inadäquatheit der behauptenden Einstellung« (Hampe 2014, S. 33) selbst wieder – nicht zu behaupten, aber doch – zu insinuieren, führt zu einem Durchstreichen philosophischer Systematik (siehe S. 31–36) und zu einem Verdikt der (akademischen) Philosophie als »doktrinär« (121 f., 128 f., 172 u. ö.). Für Schmidt-Biggemann hingegen ist Philosophie als systematisch-logischer Argumentationszusammenhang oder als Diskurs ebenso unfähig, die Wirklichkeit des Geschichtlichen zu erreichen, die vom – eigentlich außer- oder transgeschichtlichen, aber zum Initial von Geschichte werdenden – »Ereignis« bis hin zur plastischen Fülle der Heilserzählungen in den großen Religionen reicht (Schmidt-Biggemann 2014, S. 37 f., 102, 149 f.). Sie berührt sich gleichsam begrifflich nur selbst, der existentiell zentrale Kontakt zum wirklich sich ereignenden ›Sein‹ findet nur jenseits der begrifflichen Verarbeitungssysteme statt und kann auch nur in einer großen Erzählung vermittelt werden. Im Unterschied zu Hampe allerdings bewegt sich Schmidt-Biggemann in einer Wirklichkeit, die durch theologische Grundzusammenhänge gestiftet ist, die der Mensch nur ›hinnehmen‹ oder ›verdrängen‹ kann (S. 11: Die Wahrheit »tut sich kund«) – wobei sowohl Hinnahme wie auch Nicht-Hinnahme natürlich Gegenstand von Hermeneutik sind. Es wird angesichts der als Grundmodus des Existierens herausgestellten Kontingenz eine dialektische Diätetik des Bekömmlichen-Unbekömmlichen oder Erträglich-Unerträglichen entfaltet sowie eine existentielle des Sich-Fürchtens-Verdrängens (S. 129, 149 f.). Für Hampe lässt sein Materialismus und Biologismus nur eine Annahme von »Konstellationen« oder »Mustern« von mehr oder weniger komplexen Konkreta zu (Hampe 2014, S. 11, 34, 201 f.); was deren Einheit, Substantialität etc. ausmachen könnte, ist nicht wiederum aus der bloßen Konstellation zu erfahren. Hier wird davon ausgegangen (in der Folge Platons, des Cusanus, des Leibniz), dass sich selbst reflexiv zugängliche Individuen Einheitsinstanzen darstellen, die unendlich viele Einheiten in sich synthetisieren, zu denen auch die Einheiten vor allem gehören, durch die seelisch-intellektuell das vorliegend Disparate, Dispersive, Dysfunktionale in imaginative, mentale und begriffliche Einheiten aufgehoben wird.

10 Was das unbefriedigende Resultat einer nicht dialektischen, sondern einseitigen Betrachtung des Verhältnisses von sogenannter Geschichte der Philosophie und systematischer Philosophie sein muss, das lässt sich gut an einem rezenten ›Streit‹ unter Fachphilosophen ablesen, siehe die Einlassungen von Manfred Frank, Tobias Rosefeldt und Rolf-Peter Horstmann in den FAZ-Ausgaben vom 24. 9., 14. 10 und 11. 11. 2015 (abrufbar in: www.faz.net). Die Argumente bleiben sich äußerlich, das, was sie jeweils an Sachgewicht vorweisen, bleibt gegenüber dem positionell Anderen eben ein Anderes. Dass Philosophie in der Wurzel unausweichlich in ein Zusammen von ›historisch‹ und ›systematisch‹ eingelassen ist, dessen nachträglich abgetrennte capita mortua natürlich dann jeweils für sich den Primat beanspruchen und sich mit plakativen Ausdrücken wie Selbst-Denken oder Nach-Denken bewerfen, wird nicht thematisiert. Am schlimmsten ist die Erbsenzählerei: Dass »fünf Lehrstühle mit Forschern besetzt worden (seien), die ihren Forschungsschwerpunkt im deutschen Idealismus haben« (Rosefeldt), ist kein Äquivalent für das, was Manfred Frank im momentanen Lehrbetrieb deutscher Universitäten vermisst. Auch besteht die Differenz von ›historisch‹ und ›systematisch‹ eben nicht im Nach-Denken und Selbst-Denken, wie sie Rosefeldt sich fein analytisch zurechtlegt (und Horstmann es in seiner Replik richtig problematisiert und als ebenso falsche wie schleichende Normativisierung erkennt, siehe den Absatz: »Zweierlei ist befremdlich […]«): Verstehen, was ein bestimmter Autor behauptet, bezieht sich in gleicher Weise auf Platon und auch auf Herrn Rosefeldt selbst. Das Systematische im Denken eines Autors ist das, was ihn zu einem Denker und Philosophen macht; der historische Eintrag ist die unausweichliche, auch 2015 gültige Tatsache, dass »selbst eine philosophische Frage zu beantworten« nichts ist, was ohne historische Voraussetzungen und Implikationen überhaupt geschehen könnte (siehe unten, Anm. 15).

11 Stephen Greenblatt. The Swerve. How the World became modern, New York-London 2011. Das englische Wort ›swerve‹ soll das griechische klinamen übersetzen, das zwar in Lukrez’ De rerum natura vorkommt, aber eben kein »principal Latin word« (so S. 7) ist, dies wäre ›declinatio‹. Es ist signifikant, dass die kontingente Abweichung der starren Bewegungsrichtung der Atome, aus deren kleinem Anfangswinkel dann die größte, ungesteuerte Kollisionskomplexität resultiert mit dem Zufallsprodukt Welt (mundus, kosmos), Greenblatt als Entstehungsgrund für das dienen muss, was er unter ›Moderne‹ versteht. Unzweifelhaft ist dieses Buch, da es gekonnt geschrieben ist, mit Vergnügen zu lesen. Unter das Vergnügen allerdings mischt sich Bedauern darüber, was es in seiner narrativen Dynamik den Lesern vorenthält und sie dadurch in das eigene klinamen zwingt.

12 So in Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt/Main 1980, S. 14.

13 Dass die Vernunft sich mit sich selbst auseinandersetzt, ist dahingehend zu verstehen, dass der Verfasser davon ausgeht, dass es nur eine Vernunft gibt (siehe Leinkauf 2015d) – im Unterschied zu Theorieansätzen, die eine (unbegrenzte) Pluralität von Rationalitätsformen, Sprachformen, Denkformen etc. ansetzen, deren Zusammenstimmungen oder Spannungen bzw. zurückhaltende Übereinkünfte nur als zufällig erklärt werden können (als eine Intention, die von einer Rationalität x ausgeht und verhindern will, dass die Rationalitäten y oder z durch Konfrontation ihr eigenes Biotop stören, etc.). Rationale Seinsformen, die durch bestimmte Äußerungen semiologisch-semantischer Art charakterisiert werden können, können sich selbst überhaupt nur durch die intrinsisch geteilte Rationalität ihrer Äußerungsformen auf andere rationale Seinsformen beziehen, die Rationalitäten von x, y, z setzen also immer schon etwas voraus, was für alle Geltung hat, da ansonsten ein Austausch mit substantiellen Konsequenzen nicht möglich wäre, etc. Sind aber die Rationalitäten in der Wurzel nicht unverbunden, so gibt es ein Gemeinsames, das schon immer Gegenstand philosophischer Reflexion gewesen ist. Aus dieser Einsicht ergibt sich dann allererst die Möglichkeit einer kritischen Darstellung im obengenannten Sinne.

14 Dies liegt z. B. vor bei Copenhaver-Schmitt 1992; Osler 1994; Park-Daston 2006, Gaukroger 2006 (zumindest betreffs der Ausführungen zur Naturphilosophie der Renaissance, zu Patrizi, Bruno, Telesio etc.), Vanhaelen, in: Ficino 2012 und vielen anderen Publikationen. Es nützt nichts, in Vorworten und Danksagungen darauf zu verweisen, wo man überall schon gewesen ist, wenn doch der kompetente sprachliche Zugriff fast ausschließlich auf die Muttersprache verwiesen bleibt (und man dadurch von Übersetzungen abhängig wird).

15 Dadurch, dass man innerhalb des Curriculums des Faches die Geschichte der Philosophie von der theoretischen, praktischen und kunsttheoretischen Philosophie abtrennt und natürlich schon gar von der Wissenschaftstheorie (der dann allerdings sofort die Wissenschaftsgeschichte zur Seite springen darf), wird nicht nur – zumindest unter den Studierenden – der völlig falsche Eindruck erweckt, dass man diese ersteren sozusagen ohne philosophiehistorische Kompetenz sich aneignen könne, sondern es führt ganz offensichtlich allgemein in der akademischen Philosophiewelt zu einer dramatischen Abnahme der Kenntnisse in der Geschichte des Denkens, die im Moment sogar noch in einem besonders starken Maße zunimmt. Gerade das Denken müsste auf akute Weise ein Bewusstsein seiner geschichtlichen Vermitteltheit aufweisen, das nicht im bloßen Behaupten stecken bleibt. Einige Argumente gegen den falschen Gegensatz ›Geschichte der Philosophie – systematische Philosophie‹ finden sich etwa bei Beierwaltes 1980, S. 8: »›Begriffsgeschichte‹ ist kein bloßes Akzidens eines sich als ›systematisch‹ verstehenden Philosophierens. Die geschichtliche Vergewisserung des Denkens ist ihm selbst vielmehr wesentlich, umgekehrt ist die Sache des Denkens auch dessen geschichtlicher Selbstaufklärung präsent. Beide Vorgänge sollten eine dialektische Einheit bilden«; siehe auch etwa Gadamer 1972, III, S. 237–250 (= 1993); Rühle 2010, S. 7–30.

16 Zum Hintergrund siehe Toussaint 2008 und meine Besprechung Leinkauf 2009e; Ordine 2014, S. 117–171. Zur Situation der Renaissanceforschung im Fach Philosophie in Deutschland siehe meine Bestandsaufnahme in kunsttexte.de 2/2012.

17 Pozzo/Scarbi 2011, S. 7, wo es im Grunde zwar richtig, aber mit einer Tendenz zu mechanistischer Anwendung, weiter heißt: »Die Aufhellung ihrer geschichtlichen Wirksamkeit macht Begriffe für die philosophische Reflexion brauchbar und schafft genügend begründeten Rückhalt für ihre stringente Anwendung« (m. H.). Zu Problemen der Begriffsgeschichte siehe auch Scholtz 2000, 2002; Gumbrecht 2006; Strosetzki 2010; Leinkauf 2010f, bes. S. 52 f..

18 Zu Cassirer vgl. Graeser 1994, S. 129 ff.; Meyer 2006, S. 58 ff.; zu Groethuysen siehe Böhringer 1978; Cacciatore 1998; zu Voegelin Peter J. Opitz in: Voegelin 1995, S. 123–155 (zur History of Political Ideas); zu Garin Gregory 2010, Ciliberto 2011; zum Lessico intellettuale Europeo siehe jetzt Hohenegger 2011. Zu dieser ›Schülergeneration‹ gehören etwa Werner Beierwaltes, Wolfgang Hübener, Eckhard Kessler, Cesare Vasoli, Eugenio Canone, Migual Angel Granada, Jill Kraye, James Hankins, u. a. [H. Böhringer, Bernhard Groethuysen. Vom Zusammenhang seiner Schriften, Berlin 1978]. Zur Genese eines begründeten Begriffs von Renaissance in Italien zwischen 1750 und 1950 siehe jetzt die informative und luzide Arbeit von Rubini 2014.

19 Immer mehr philosophische Seminare oder Institute, auch solche, die bislang noch zu den personal gut ausgestatteten und mit einer hierzu korrespondierenden reichen Differenzierung im Lehrangebot und der Forschung aufwarten konnten, reduzieren oder annullieren, sei es durch die Fixiertheit der Universitätsleitungen auf ‚quantifizierbare‘ Resultate (Abschlusszahlen) oder auf eine in letzter Instanz als universal konzipierte, von komplexen Inhalten wegführende Didaktisierung des Faches ›gezwungen‹, ihren auf die Denk- und Geistesgeschichte ausgerichteten Bereich. Dies betrifft vor allem, wie in München, Köln und jetzt auch in Münster, Professuren, die Lehre und Forschung mit Blick auf Renaissance, Frühe Neuzeit und klassische Philosophie anbieten (oder eben angeboten haben), durchaus aber auch, wie im Falle Hamburgs, Kerngebiete wie die klassische antike Philosophie. Eine traurige, weil durch Kurzsichtigkeit und Eigeninteresse geprägte Entwicklung, die nur einer Politik des Kahlschlags vergleichbar ist. Zur Situation der Renaissance-Forschung in Deutschland siehe meinen Beitrag »Renaissance«-Philosophie in Deutschland, in: kunsttexte.de, 2/2012.

20 Aber auch hier muss man mit Cassirer sagen: Begriffliches Wissen ist keine »einfache Wiedergabe« eines gegebenen Wirklichen, sondern »Gestaltung und innere Umformung des Stoffes (…) der sich uns von außen darbietet«, Das Erkenntnisproblem, Band I (1906), ECW 2, S. 1 (1974, S. 1 ff.); Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), ECW 6, S. VIII (1980, S. VI f.): »Was der Begriff seiner einheitlichen Leistung nach ist und bedeutet, ließ sich nur aufweisen, wenn diese Leistung durch die wichtigsten wissenschaftlichen Problemgebiete hindurch verfolgt und in allgemeinen Umrissen dargestellt wurde« (dies sozusagen programmatisch für das später entstehende Das Erkenntnisproblem), siehe auch S. 16, 302 f. (1980, 22, 371 f.).

21 Hadot 1991; Erler 2007, S. 430–440. Es ist klar, dass die Geschichtlichkeit der Begriffe in der hier eingenommenen Perspektive nicht auf Kosten ihrer philosophischen und zeitübergreifenden Bedeutung herausgestellt werden darf, siehe die Auskunft Garins aus dem Jahr 1986: »l’impostazione che ho sempre cercato di dare al mio modo di fare storia della filosofia (non, come è stato detto, ridurre la filosofia a storiografia, ma storia della filosofia come filosofia) ha importato un circolo costante fra presente e passato, legando strettamente la problematica del presente alla riflessione sul passato, ma senza mai schiacciare l’uno sull’altro« (zitiert in Gregory 2010, S. 28; m. H.).

22 Keinesfalls allerdings möchte der Verfasser das Fehlen von »Lösungen« oder restlos aufgehenden Erklärungen der komplexen Befundlage als Mangel oder Unzulänglichkeit verstanden wissen und vielmehr mit Friedrich Wilhelm Joseph Schelling festhalten: »Das Verdienst einer Forschung besteht nicht immer bloß darin, schwierige Fragen aufzulösen, das größere ist vielleicht, neue Probleme zu erschaffen und für eine künftige Untersuchung zu bezeichnen, oder schon bestehenden Fragen (…) eine neue Seite abzugewinnen«, Historisch-kritische Einleitung in die Philosophie der Mythologie (1842), 5. Vorlesung; SW II/1, S. 107.

23 Zur Rekonstruktion dieser Bedeutung des Intelligiblen gegen eine anachronistische, durch hellenistische Vorannahmen und Theoreme gespeiste Erkenntnislehre sind die Arbeiten von Arbogast Schmitt zu vergleichen, insbesondere Schmitt 2003 (2. Aufl. 2008), 2009, 2016.

24 Beierwaltes 1971, 1980, S. 78 f., 1985, S. 102–107 (zu Plotin V 3, 10, 32–37.13, 21 f.; VI 7, 38, 11 ff.); Blumenberg 2007, S. 11, 16, 104–109.

25 Hartmann 1909; Lovejoy (1936) 1950. Eine fundamentale Kritik am Stabilitätskriterium des Ideell-Begrifflichen übte u. a. Gadamer 1993.

Einleitung

Oportet enim in Philosophia haereticum esse, qui veritatem invenire cupit.

Pietro Pomponazzi1

In einem grundlegenden Text des Jahres 13462 lesen wir folgenden Satz: »Niemand schafft es, lange unter Wasser zu leben. Es ist unausweichlich, dass er auftaucht und das Antlitz, das er verbarg, offen zeigt« (»nemo sub aquis diu vivit: erumpat oportet et frontem, quam celabat, aperiat«). Diese Exhortatio, die sich nicht nur an ihn selbst richtet, formulierte Francesco Petrarca in dem Prohemium, eigentlich einem Widmungsschreiben an den Bischof Philippe de Cabassoles, das er seiner Abhandlung De vita solitaria voranstellte. Im Jahre 1619, gut 270 Jahre später, hingegen lesen wir den folgenden Satz: »Wie die Komödianten, ermahnt, dass auf ihrem Gesicht die Schamesröte nicht sichtbar werde, Masken anziehen, so schreite ich, der ich am Schauspiel dieser Welt, in dem ich bis jetzt nur Betrachter war, teilzunehmen gedenke, mit einer Maske bedeckt voran« (larvatus prodeo), den Descartes in seinen Cogitationes privatae notierte, kurz vor der Abfassung seines ersten Hauptwerkes Le monde.3 Ein noch gar nicht wirklich in Erscheinung getretenes Ich, das sich schrittweise aus den Vorgaben eines eine jede solitäre, subjektivistische Ich-Konstitution transzendierenden mittelalterlich-scholastischen Diskurses herauszudrehen beginnt, pocht auf die Notwendigkeit, ja Unausweichlichkeit des Hervortretens und des Expressivwerdens. Das artikulierte, radikal sich aus seinen eigenen Möglichkeiten konstituierende Ich hingegen, das durch Descartes’ kompromisslose Reflexion auf ein von aller Körperlichkeit und Materialität abgeschnittenes, autarkes Ich als »ego cogito« und »res cogitans« absolut gesetzt wird und das den »larvatae scientiae« die Masken abziehen will,4 bedeckt sich mit der massa corporea oder zumindest mit der Materie, die es als gar nicht zu sich gehörig betrachtet, und entzieht sich dem offenen aspectus. Beide Male haben wir ein starkes, unübersehbares Zeugnis von Selbststilisierung und kalkulierter, strategischer Aufforderung: einmal die offene und einmal die verdeckte Konfrontation. Dies sollte zumindest zu Überlegungen Anlass geben, nicht nur, weil mit diesen beiden Daten rein zeitlich die Pflöcke angegeben sind, zwischen denen der Entwicklungsfaden der komplizierten geistesgeschichtlichen Entwicklung zwischen endendem Mittelalter und beginnender Neuzeit aufgezogen und aufgespannt ist, sondern weil es vielleicht, was das sogenannte ›Ich‹ und ›Subjekt‹ der Neuzeit betrifft, gar nicht so ist, wie man sich das immer zurechtgelegt hat – nicht zuletzt durch die großangelegte pro-domo-Geschichtsdeutung des Idealismus.5 Aber: Aus der Perspektive dieses Buches steht Descartes schon am Anfang einer anderen Zeit, zumindest jedoch am Anfang einer deutlich anderen mentalen und philosophischen Verarbeitung der Produkte der langen Gärungsphase, die wir hier zwischen 1350 und 1600 ansetzen. Er gleicht Petrarca daher gerade durch das Anfangsbewusstsein, nicht nur durch die große, teils Wesentliches auch verdeckende Geste des sich selbst in einem unerhörten Werk Einbringen-Wollens. Markiert wird durch den unterschiedlichen Umgang mit dem Selbst oder dem Ich auch, dass die Bedingungen historisch und konfessionell andere geworden sind: Das »larvatus« des Descartes verdankt sich auch der Reaktion auf die Präsenz der Inquisition, die es zur Zeit des Petrarca noch nicht gab; das »erumpat oportet« des Petrarca reagiert auf ein Eingebundensein in einen hierarchischen Ordo, der zur Zeit des Descartes, nach Nikolaus Kopernikus, Giordano Bruno, Thomas Hobbes so nicht mehr existierte.6 Das »larvatus« des Descartes verweist auf ein skeptisches Bewusstsein, in dessen Perspektive das vom Ich ausgehende Argument, seine These, das Werk insgesamt zu einer Hypothese werden kann, die andere neben sich duldet (oder: dulden muss), die vom Ich abgelöst auf der Bühne des theatrum scientiarum erscheinen kann, während dieses selbe Ich maskiert ihrem Schicksal zuschaut.7 Damit ist eine ganz andere Freiheit gewonnen als die, die auch Petrarca in seinen Texten immer wieder (angeregt durch seine Augustinus-Lektüre) im Blick hatte,8 eine Freiheit, die sich die Techniken der Dissimulation der höfischen Ethik und deren feinziselierten, einem Dekor gleichenden Verhaltenskodizes zu eigen gemacht hat. Das Expressiv-Werden des Petrarca hingegen ist immer immediat mit dem verbunden, an dem, wodurch und weswegen es die innere Position zum Ausdruck bringt; die Vielheit und Pluralität, die hierbei notwendig ins Spiel kommt, ist eine andere als die des Descartes: sie ist Ausdruck der Selbstformung des Ich.9 Bei Descartes ist es nicht das Ich, das geformt, ausgebildet, gestaltet wird – dieses ist vielmehr dabei, sich aus der plastischen Fülle, die es mit der durch Petrarca angestoßenen frühneuzeitlichen Reflexion sich erworben hatte (Leonardo da Vinci, Michel de Montaigne, Girolamo Cardano, Francesco Patrizi, Philip Sideney, Giordano Bruno), in eine unbegrenzt fungible, aber substantial ›arme‹ Formalität herauszuhebeln –, sondern es ist das durch das Ich in Form einer prinzipiell unbegrenzt erweiterbaren Hypothesen-Pluralität hervorgebrachte Argument. Dem pluralen Ich bei Petrarca, das sich, um seine als ausstehend erfahrene Einheit zu ›retten‹, in einem durch den Einheitsgedanken strukturierten Weltdeutungshorizont differenziert artikuliert, tritt eine plurale Wissensform und Wissenschaft zur Seite, die, da sie sich in einem durch den Vielheitsgedanken bestimmten Deutungsparadigma bewegt – der scientia universalis, der Methoden-Vielfalt, der ars memorativa und Enzyklopädik, der Entwicklung und Ausdifferenzierung der Einzeldisziplinen –, ihre innere Einheit nur als System behaupten kann, in dem die Instanz des Ich jederzeit als formale, setzende Einheit gegenwärtig ist oder, sieht man es dann aus der Perspektive Kants, zumindest jederzeit und in jedem Ausprägungsakt dieses Wissens als diesen begleitend gedacht werden können muss. Das frühneuzeitliche, humanistische Bewusstsein kennt diese Form der Abstraktheit noch nicht, es ist, selbst wenn es in seinen komplexen, vielschichtigen, häufig auch skeptischen Selbstfindungsbewegungen zur »Pluralität« tendiert, doch in dieser Vielheit dem Vielen selbst nicht äußerlich, ja kann dieses gewissermaßen als sich selbst und auch an sich selbst erfahren10 – das selbstgewählte Motto Petrarcas, peregrinus ubique, »überall ein Fremder« (aber, wie das lateinische peregrinus mit impliziert: auch ein Pilger), reicht so über ihn hinaus in den faktischen Lebens- und Existenzvollzug eines anderen Weltbürgers, Giordano Bruno, dessen iter europaeum oder peregrinatio europea ihn zu einem in diesem Falle unfreiwilligen Heimatlosen werden ließ und in dessen Lebensdaten mit seinem Tod 1600 auch der Endpunkt des hier dargestellten Zeitraumes exakt eingeschlossen ist; das frühmoderne, neuzeitliche Subjekt hingegen, das einen »zweiten« Anfang setzt, tut dies unter Distanz-, Entfremdungs- und Einsamkeitsbedingungen, die in ihrer Radikalität den »ersten« Anfang der Humanisten, trotz aller nominalistischen Einflüsse, als nicht radikal erscheinen lassen. Zu den Konstituentien dieser Bedingungen gehören Faktoren wie der frühneuzeitliche, sich insbesondere im Verlauf des 16. Jahrhunderts ausprägende Skeptizismus, gehören die für das damalige Empfinden extrem schnell sich ausweitenden neuen Erfahrungsräume, die kosmologisch und geographisch-anthropologisch die traditionelle Position des Menschen, die positio media, verrückte und zu marginalisieren drohte, sowie, auf der anderen Seite, das Einrücken eines Kompetenz- und Machenkönnengefühls ins neuzeitliche Bewusstsein, das dessen manipulative, direktive und dominative Intentionen ernährte. Alle diese Faktoren führen zu einer ganz anderen Form der Selbstannahme und des Selbstbewusstseins – z. B. zu dem Gestus der rational abgesicherten Positionalität, des Setzens-von-etwas (nicht umsonst schließt der Idealismus von Kant bis Hegel so exklusiv affirmativ an Descartes an11) – als derjenigen der spätmittelalterlich-humanistischen Tradition. Aber auch schon dort, im Trecento, bereitet sich eben vor, was dann später als ›subjektive‹ Setzungsdynamik zumindest einen bedeutenden Teil des philosophischen Diskurses bestimmen sollte: die Sensibilität für das Einzelne, für das Ich als Individualität und als Einzelnes im Sinne des Alleine-Seins und im Sinne der sich selbst gewissen Selbstgegenwart und –genügsamkeit (Scaliger: sib iipsi autarkês, siehe unten, S. 19), für die Präsenz und die Dynamik des Willens, für die Vielheit, Varianz, Buntheit des Seins, für die »vicissitudines« des Existierenden. Deswegen ist der hier darzustellende Zeitraum eben auch ein einheitlicher. Insgesamt sehen sich die Zeitgenossen dieser Epoche wohl doch so, wie es der Dichter und Philosoph Cristoforo Landino in seinen Disputationes Camaldulenses formuliert hat: Man fühlt sich von einer unfassbaren, transzendenten Instanz und Macht – vom höchsten Gott – in die »unterste Region dieser Welt wie auf eine lang andauernde und schwierige Expedition gesendet«, auf welcher der Mensch, permanent gegen viele Schwierigkeiten ankämpfend, die beiden wildesten Feinde, Schmerz und Begierde, überwinden lernen soll, um schließlich einen dauerhaften Frieden genießen zu können.12 In diesem Szenario verbinden sich christliche Viator-Vorstellungen (Jammertal, Erlösung), antiker Herkulesmythos (Bivium) und eine aus antiken und christlichen Vorgaben geprägte Basisethik (Lustbekämpfung, Vorstellung des bene vivere und der tranquillitas) zu einem stabilen Amalgam. Die »longinqua ac difficilis expeditio« ist das Leben selbst: Sie kann diejenige des langen Itinerarium Petrarcas sein, aber auch diejenige der faktischen Expeditionen der Magellan, Vespucci, Columbus – ihr Ort ist zwar die untere Weltregion, diese kann jedoch, im Unterschied zur intangiblen Form-und Bewegungskonstanz des Himmels, aktiv durch den Menschen gestaltet werden. Also ist, wie eben auch für Landino, der eigentliche »Ort« dieser, man möchte sagen: Forschungsexpedition das Ich selbst, der »innere Mensch«, die Seele und der nächste durch dieses Innere aktiv gestaltbare Raum, die Familie und die Stadtrepublik, die »civilis vita«. Die physisch durchmessenen Dimensionen weiter räumlicher Expansion haben ihr Sein vor allem dadurch, dass sie im jeweiligen Ich des aktiven Individuums reflektiert und memorial vernotiert, in Reiseberichten aufgezeichnet oder in Rapporten an den Höfen und Reedereien hinterlegt worden sind.13 So entwickelt sich in unserem Zeitraum auch eine eigene Itinerar-Literatur, vor allem im Norden Europas mit Schwerpunkt im deutschsprachigen Raum, herausragendes Beispiel ist die Methodus apodemica des Basler Mediziners Theodor Zwinger (1533–88), veröffentlicht in Basel 1577.14 Die Itinerarien der Seele hingegen und der psychisch durchmessenen Dimensionen haben ihr Sein vor allem in der Dichtung, in der modernen Novellistik, im romanzo und im (philosophischen) Gedicht. Hier ist der fiktive Ort, an dem die realen Herzschläge gemessen werden: »Ce pendant ceste vie en ton corps palpitante / incessamment se meurt sa fin precipitante. / Comme en terre le grain ne cesse de pourrir, / toy en terre vivant ne cesses de mourir« (Maurice Scève).15

Einige aus der Sicht des Verfassers allerdings unseren Zeitraum übergreifende Konstanten und Entwicklungen müssen, bevor in die konkrete Darstellung der Philosophie- und Geistesgeschichte in unserer Epoche eingetreten wird, noch benannt werden. Da ist zunächst eine Entwicklung, zu der viele Autoren, die im Folgenden behandelt werden, ihren Beitrag geleistet haben, in der vielleicht aber doch auch, wenn es erlaubt ist, es so zu formulieren, die Epoche als ganze sich in ihrer eigentlichen Prägekraft gezeigt hat. Es ist dies eine komplexe Entwicklung, die Veränderungen am ontologischen und epistemischen Grundverhältnis Substanz – Akzidens (mit Folgewirkungen auch für das sprachlogisch-propositionale Grundverhältnis Subjekt-Prädikat) einführt und die mindestens zwei Konstanten aufweist, die ich an anderer Stelle folgendermaßen und zugegebenermaßen stark verkürzt als (i) eine Akzidentalisierung des Substantiellen und (ii) als eine hierzu komplementäre Substantialisierung des Akzidentellen bezeichnet habe.16 Beide Konstanten sind untrennbar miteinander verbunden, es kommt also immer darauf an, worauf der Schwerpunkt liegt. Die Entwicklung beider Konstanten setzt zudem sachliche Grenzwerte voraus, die die je einzelnen Konstanten nicht für sich selbst aufheben könnten, ohne sich zu widerlegen: einmal den Begriff der Einheit, zum anderen den der Vielheit als strikte Negation der Einheit. Dieses Nicht-Eine ist dabei eine rein negative Größe, analog etwa der Materie als Nicht-Form, und ist strikt getrennt zu halten von einem rationalen Begriff von Vielheit als einer unterschiedlich großen Menge von unterschiedlich komplexen Einheiten. Bei Systemen, die insgesamt eine Indifferenz- oder Feld-Struktur ansetzen, liegt (i) vor: der ursprüngliche Reichtum unterschiedener, jeweils für sich ein Eines seiender Einzelsubstanzen oder -formen (Formalbestimmungen), die selbst Träger von akzidentellen Bestimmungen sind, wird aufgehoben und die Einzelsubstanzen selbst zu nicht-substantiellen, etwa modalen, graduellen oder akzidentellen Bestimmungen einer absoluten, einzig und allein wirklich seienden Einheit gemacht (Akzidentien von Akzidentien) – dieser Fall liegt vor bei Giordano Bruno (siehe die Hinweise Abschnitt »Würde«, Punkt: Naturwesen, unten, S. 156–157),17 dann bei Spinoza und mit Einschränkungen in der Identitätsphilosophie, die Schelling ab 1801 konzipieren wird, aber auch schon zuvor bei den materialistisch-heterodoxen Denkern des Mittelalters (David von Dinant etc., auf die Bruno sich wiederum beruft).18 Marsilio Ficino etwa hat in seiner Kritik der Gradations-theorie die impliziten Probleme dieses Ansatzes schon früh erkannt: »Profecto nisi aliter ens distinguamus quam more qualitatis, per primum eius gradum et secundum atque tertium latenter eo deveniemus, ut solam unam (!) essentiam substantiamve fingamus ceu calorem [sc. als Beispiel] unum modo remissiorem, modo vehementiorem, tollemusque substantialium formarum gradus distinctionesque rerum ad providentiam pertinentes«.19 Es ist klar, dass etwa klassische Grenzkriterien ontologischer, ideenlogischer oder formtheoretischer Provenienz – die etwa in Aussagen wie die folgende eingehen: »corpus in non-corpus resolvi non possit« (Cusanus, De ludo globi II, n. 96; h IX, 121) – hier im Kern wegfallen oder aus ihrer ›realen‹ oder materialen Bestimmtheit in eine ›phänomenale‹ transferiert werden müssen. Bei Systemen hingegen, die insgesamt auf einem substantiellen Einheitsbegriff insistieren, der die Differenz – gegen die Indifferenz – stark macht, liegt (ii) vor: Hier wird jetzt radikal alles, was ist, selbst zu einem substantiellen Sein, Akzidentien gibt es eigentlich nicht mehr. Sie werden, wie in (i) die Substanzen, jetzt zu Modi einer Substanz in der Form, dass sie selbst absolut wesentlich sind und zwar bis in ihre kontingente Hier-und-jetzt-so-Seins-Struktur. Dieser Fall liegt in Reinkultur bei Leibniz und dessen aus der scholastischen Debatte gezogenen Grundsatz »individuum tota sua entitate individuatur« (Disputatio metaphysica de principio individui; AA VI/1, S. 11–14) vor,20 es gibt aber hierzu Vorläufer, etwa bei Ockham, dessen Nominalismus dazu führt, dass die absolute potentia creandi Gottes in jedem einzelnen Geschöpf dieses als »wesenhafte Einzigartigkeit«, d. h. als ein x, dessen akzidentelle Bestimmungen selbst wesentliche Teile von x sind, erschafft,21 bei Nicolaus Cusanus und dessen Begriff des »ens singulare« und des Konzepts des »quodlibet in quolibet« oder bei Franciscus Suárez, dessen scotistischer Ansatz, auf Basis nominalistischer Einflüsse, einen univoken Seinsbegriff und eine Totaldifferenzierung des Realen in einem metaphysischen System verknüpft.22