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Joyce Carol Oates

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Beschreibung

Genie und Wahnsinn: ein Thriller auf höchstem Niveau von Amerikas Literatur-Ikone Joyce Carol Oates Unter dem Pseudonym »Pik-Bube« verfasst der renommierte Schriftsteller Andrew Rush düster-verstörende Thriller. So leicht ihm das Schreiben dieser rauschhaften Gewaltfantasien weit nach Mitternacht von der Hand geht, so verschwommen ist später seine Erinnerung an den Inhalt. Als ein Plagiatsvorwurf Rushs guten Ruf – und damit seine Existenz und seine Familie – bedroht, ist plötzlich »Pik-Bube« mit hinterhältigen Ratschlägen zur Stelle. Und fast gegen seinen Willen beginnt Rush ihnen zu folgen ... »Nur wenige Autoren leuchten die dunkelsten Winkel des menschlichen Geistes derart gekonnt aus.« Seattle Times

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Seitenzahl: 222

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Joyce Carol Oates

Pik-Bube

Roman

aus dem Amerikanischen von Frauke Czwikla

Knaur e-books

Über dieses Buch

Genie und Wahnsinn: ein Thriller auf höchstem Niveau von Amerikas Literatur-Ikone Joyce Carol Oates

Unter dem Pseudonym »Pik-Bube« verfasst der renommierte Schriftsteller Andrew Rush düster-verstörende Thriller. So leicht ihm das Schreiben dieser rauschhaften Gewaltfantasien weit nach Mitternacht von der Hand geht, so verschwommen ist später seine Erinnerung an den Inhalt. Als ein Plagiatsvorwurf Rushs guten Ruf – und damit seine Existenz und seine Familie – bedroht, ist plötzlich »Pik-Bube« mit hinterhältigen Ratschlägen zur Stelle. Und fast gegen seinen Willen beginnt Rush ihnen zu folgen …

»Nur wenige Autoren leuchten die dunkelsten Winkel des menschlichen Geistes derart gekonnt aus.« Seattle Times

Inhaltsübersicht

WidmungMottoIDas Beil»Pik-Bube«Die Vorladung. Juni 2014Die BeschuldigungDer brave Bürger»Wir werden sie beerdigen«Ein Kuss vor dem TodeIch fordere GerechtigkeitSieger»Makellos wie ein Lamm«IIPerfektes VerbrechenVersuchungIn Sicherheit»Neffe«»Das mag ich nicht«Tumbrel Place 1Die geheime BibliothekDer ReuigeTumbrel Place 2IIIZehnjähriger aus Harbourton ertrinkt in Badesee im Catamount Park, Juli 1973Luchs. November 2014Die schuldige ParteiRaubtierUnbußfertiger SohnGute Nachrichten!»Zu düster für mich«Eifersüchtiger Ehemann»Schmor in der Hölle«»Unfall«FahrerfluchtOrtswechselSelbstauslöschung
[home]

Für Otto Penzler

[home]

»Wir stehen am Rand eines Abgrundes. Wir starren in den Schlund, uns wird übel und schwindlig. Unser erster Impuls ist, vor der Gefahr zurückzuweichen. Unerklärlicherweise bleiben wir.«

Edgar Allan Poe, The Imp of the Perverse (Der Alb der Perversheit)

[home]

I

Das Beil

Das Beil, aus dem Nichts. Irgendwo dort war ein Beil, das sich in wilden Hieben hob und senkte, auf meinen Kopf zielte, als ich versuchte, aus meiner kauernden Haltung hochzukommen, und das Gleichgewicht verlor, verzweifelt zu fliehen suchte, während meine Beine unter mir nachgaben, und eine heisere Stimme flehte »Nein! Bitte nicht! Nein!« – (war es meine eigene erstickte Stimme, unkenntlich?) –, und das Beil bohrte sich knirschend in den splitternden Tisch neben meinem Kopf, verfehlte meinen Kopf nur um Zentimeter; mittlerweile war ich heftig zu Boden gestürzt, auf einen harten, unnachgiebigen Boden unter dem abgewetzten Orientteppich. Ich versuchte, mich aufzurappeln, langte nach dem Beil, verzweifelt bemüht, das Beil zu fassen, in der Blindheit meiner Verzweiflung um mich schlagend, und die Stimme (Meine eigene? Die meiner Angreiferin?) kreischend und kaum noch menschlich klingend – »Nein! Neeiiin!« –, ein flüchtiger Blick auf die Stummelfinger der Angreiferin und die totenblassen, sehnig muskulösen Arme in den dünnen Ärmeln eines Nachthemds, und ein grunzender Schrei, in dem sich Triumph und Wut mischten; und wieder das furchtbare Ausholen des Beils, der stumpfe Glanz der rohen Schneide und der tödliche Abschwung, einmal begonnen, nicht aufzuhalten, der sich unaufhaltsam in einen menschlichen Schädel bohrte, ihn so einfach zerstörte wie eine nur von einer dicken Rinde geschützte Melone, und die graue klebrige Masse des Gehirns inmitten des aus den Arterien strömenden Bluts enthüllte.

Und noch immer kreischte die Stimme ungläubig: Nein nein nein nein.

»Pik-Bube«

Es hatte vor fünf Monaten, zwei Wochen und sechs Tagen ganz unschuldig begonnen. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass »Pik-Bube« irgendetwas damit zu tun hatte.

Denn niemand hier in Harbourton wusste von »Pik-Bube« – selbst jetzt weiß niemand davon. Kein einziger Mensch, der Andrew J. Rush nahesteht – meine Eltern, meine Frau und Kinder, Nachbarn, langjährige Freunde aus meiner Schulzeit.

Hier, in dieser ländlichen Vorstadtgemeinde in New Jersey, in der ich vor dreiundfünfzig Jahren geboren wurde und wo ich mit meiner lieben Frau Irina seit mehr als siebzehn Jahren lebe, kennt man mich als »Andrew J. Rush« – wohl der bekannteste Einheimische, Bestsellerautor von Krimis und Thrillern mit einem Schuss Horror. (Nur ein Hauch Horror, nicht eklig-fies oder verstörend. Niemals obszön, geschweige denn sexistisch. Frauen werden in meinen Krimis mit Anstand behandelt, abgesehen von ein paar Noir-Einsprengseln. Die Leichen sind in der Regel weiße männliche Erwachsene.) Mit meinem dritten Bestseller in den Neunzigern begannen die Medien mich »Andrew J. Rush, der Stephen King für den Bildungsbürger« zu nennen.

Selbstverständlich war ich geschmeichelt. Die Verkaufszahlen meiner Romane, obwohl nach einem Vierteljahrhundert der Mühen, sind im zweistelligen Millionenbereich, nicht im dreistelligen wie die Stephen Kings. Und obgleich meine Romane in rund dreißig Sprachen übersetzt wurden – (eine ziemliche Überraschung für mich, der nur eine einzige Sprache beherrscht) –, bin ich sicher, dass die Bücher Stephen Kings noch häufiger übersetzt wurden und mit größerem Gewinn. Und nur drei meiner Romane wurden fürs Kino adaptiert (und die Filme rasch vergessen), nur zwei für das Fernsehen (und gewiss nicht von den Premiumsendern) – im Unterschied zu King, dessen Verfilmungen zu viele sind, um sie aufzuzählen.

Was Geld angeht, kann man Andrew J. Rush und Stephen King nicht miteinander vergleichen. Aber wenn man nach Steuern rund dreißig Millionen Dollar verdient hat, hört man einfach auf, über Geld nachzudenken, so wie ein Serienmörder nach ein paar Dutzend Opfern vermutlich aufhört, darüber nachzudenken, wie viele Menschen er umgebracht hat.

(Entschuldigung! Ich glaube, das war eine dieser herzlosen Bemerkungen, die meine liebe Irina mit Sicherheit dazu provozieren würde, mir mahnend gegen den Knöchel zu treten, wie sie es gelegentlich tut, wenn ich in der Öffentlichkeit etwas Unpassendes sage. Ich wollte keinesfalls gefühllos erscheinen, nur einen Witz machen – auf meine unbeholfene Art.)

Wie geschmeichelt auch immer ich von dem Vergleich mit Stephen King war, weigerte ich mich doch, meinem Verlag zu gestatten, dies auf dem Umschlag meines nächsten Romans abzudrucken, ohne die Erlaubnis von King einzuholen; meine Bewunderung für Stephen King – (ja, und mein Neid auf ihn) – machten mich keineswegs blind für die Möglichkeit, dass er dies als beleidigend auffassen könnte und auch als ausbeuterisch. Doch Stephen King schien es nicht im Geringsten zu stören. Berichten zufolge lachte er nur – Wer will schon der Stephen King für Bildungsbürger sein?

(War dies eine herablassende Bemerkung einer literarischen Legende, vergleichbar dem Wegwedeln einer lästigen Fliege, oder einfach die humorvolle Reaktion eines Schriftstellerkollegen? Da Andrew J. Rush selbst ein humorvolles Individuum ist, zog ich es vor, Letzteres anzunehmen.)

Zum Dank schickte ich verschiedene signierte Taschenbuchausgaben meiner bekanntesten Romane an Stephen King an seine Privatadresse in Bangor, Maine. Auf dem Haupttitel der neuesten Ausgabe stand der Scherz –

Kein Stalker, Steve –

Nur ein Schriftstellerkollege!

 

In tiefer Bewunderung –

 

ANDREW J. RUSH

 

»Andy«

Mill Brook House

Harbourton, New Jersey

Selbstverständlich erwartete ich keine Antwort von diesem vielbeschäftigten Menschen, und ich erhielt auch keine.

 

Die Parallelen zwischen Stephen King und Andrew J. Rush! Obgleich ich überzeugt bin, dass es sich um Zufälle handelt.

King nicht unähnlich, von dem man sagt, er habe sich gefragt, ob er seine außerordentliche Karriere nicht irgendeinem Zufall verdankt, habe auch ich gelegentlich Zweifel an meiner schriftstellerischen Begabung gehegt; mich schuldig gefühlt, weil talentiertere Individuen als ich weniger Glück hatten und durchaus im Recht sein könnten, wenn sie mich ablehnen. An meiner Hingabe an mein Handwerk, meinem Eifer und meiner Bereitschaft zu arbeiten zweifle ich weniger, denn die einfache Wahrheit lautet, dass ich es liebe zu schreiben, ich werde rastlos, wenn ich nicht mindestens zehn Stunden am Tag an meinem Schreibtisch sitze. Doch manchmal, wenn ich nachts aus dem Schlaf auffahre, einen Moment lang nicht weiß, wo ich bin oder wer neben mir schläft, scheint es absolut erstaunlich, dass ich überhaupt ein veröffentlichter Schriftsteller bin – ganz zu schweigen davon, der allgemein bewunderte und wohlhabende Autor von achtundzwanzig Krimis und Thrillern zu sein.

Diese Romane, veröffentlicht unter meinem allseits bekannten echten Namen – Andrew J. Rush.

Es gibt eine weitere merkwürdige Ähnlichkeit zwischen Stephen King und mir: So wie Stephen King vor einigen Jahren mit einem frei erfundenen Alter Ego namens Richard Bachman experimentierte, begann auch ich in den späten neunziger Jahren mit einer erfundenen Identität zu experimentieren, als meine Karriere als Andrew J. Rush gefestigt schien und nicht mehr so viel meiner nervösen Energie bedurfte wie noch zu Beginn. Und so wurde Pik-Bube geboren, aus meiner Rastlosigkeit nach dem Erfolg als Andrew J. Rush.

Zu Beginn dachte ich, ich würde einen, vielleicht zwei Romane als der vulgäre, blutige, schockierende »Pik-Bube« schreiben – aber dann kamen mir Ideen für einen dritten, vierten, sogar fünften Roman unter Pseudonym, häufig mitten in der Nacht. Ich erwache und stelle fest, dass ich mit den Backenzähnen knirsche – oder vielmehr, dass meine Backenzähne aus eigenem Antrieb knirschen –, und kurz danach kommt mir der Einfall für einen neuen »Pik-Bube«-Roman, ungefähr so, wie eine Nachricht oder ein Icon wie aus dem Nichts auf einem Computerbildschirm aufploppt.

Genau wie Andrew J. Rush seinen Literaturagenten, seinen Verlag und seinen Lektor in Manhattan sowie einen Hollywoodagenten hat, mit dem er schon seit langem arbeitet, hat auch »Pik-Bube« seinen (weniger seriösen) Agenten, seinen (weniger seriösen) Verlag und seinen Lektor in Manhattan und einen (nahezu unbekannten) Hollywoodagenten, mit dem er noch nicht lange zusammenarbeitet; doch während seine literarischen Mitarbeiter ebenso wie seine Nachbarn und Freunde in Harbourton, New Jersey, »Andy Rush« persönlich kennen, hat noch nie jemand »Pik-Bube« getroffen, dessen Noir-Thriller digital übermittelt und dessen Verträge in ähnlich unpersönlicher Weise ausgehandelt werden. Die Umschlagfotos von Andrew J. Rush zeigen einen freundlich lächelnden Mann mit Fältchen um die Augen und beginnender Glatze vor vollgestopften Bücherregalen, der eher einem Lehrer als einem Bestsellerautor ähnelt; von »Pik-Bube« dagegen scheint es keine Bilder zu geben, und dort, wo man das Autorenfoto auf der Rückseite des Umschlags erwarten würde, ist nur eine unheimliche (schwarze) Leere.

Auch im Netz finden sich keine Fotos von »Pik-Bube«, nur Bilder der grellen, auffälligen Cover seiner Romane, ein paar Rezensionen und knappe Spekulationen zu seiner Biographie, die mich zum Lächeln bringen, weil sie so naiv und überzeugend sind – »Pik-Bube« ist angeblich das Pseudonym eines ehemaligen Häftlings, der seine Schriftstellerlaufbahn begann, während er in einem Hochsicherheitsgefängnis in New Jersey eine Haftstrafe wegen Totschlags verbüßte. Man behauptet, gegenwärtig sei er auf Bewährung und würde an einem neuen Roman arbeiten.

Alternativ und ebenso überzeugend wurde »Pik-Bube« bereits als Kriminologe, Psychiater, Professor für forensische Medizin, Kriminalkommissar (im Ruhestand) oder Pathologe (im Ruhestand) identifiziert, der abwechselnd in Montana, Maine, dem Staat New York, Kalifornien oder auch in New Jersey lebt.

Eine weitere, völlig unverantwortliche Vermutung sieht »Pik-Bube« als Gewohnheitsverbrecher, möglicherweise Serienkiller, der seit seiner Jugend unentdeckt unzählige Verbrechen begangen hat. Sein wahrer Name ist ebenso wie sein Aufenthaltsort ausnahmslos »unbekannt«.

Niemand will glauben, dass »Pik-Bube« nur das Pseudonym eines Bestsellerautors ist, eines nicht im Geringsten kriminellen, sondern äußerst verantwortungsvollen Familienvaters und gesetzestreuen Staatsbürgers. Das ist nicht romantisch!

Es wird zunehmend schwieriger, dieses komplizierte Geheimnis zu bewahren, insbesondere in dieser überwachsamen Ära der elektronischen Spionage, aber es ist mir durch vier Romane und die Verhandlungen zu einem fünften von »Pik-Bube« gelungen, die Distanz zwischen Andrew J. Rush und »Pik-Bube« aufrechtzuerhalten.

Was bedeutet, dass meine hauptamtlichen Mitarbeiter nichts von meinem Noir-Ich wissen. Wie verstört sie wären, wenn sie erführen, dass sich ausgerechnet Andrew – »Andy« – Rush ohne ihr Wissen eine geheime Schriftstelleridentität aufgebaut hat! Als würde eine glücklich verheiratete Frau herausfinden, dass ihr Mann sie seit Jahren betrügt – ohne sich jemals auch nur im Geringsten anmerken zu lassen, dass er in ihrer Ehe nicht vollkommen glücklich ist.

Oh, Andrew – wie konntest du nur! Das ist so, so erschütternd …

Wenn ich in den frühen Morgenstunden ruckartig erwache und neben Irina liege, die mir so absolut vertraut, sind es Sätze wie diese, bei denen sich mein Herz vor Schuldgefühlen verkrampft.

… und diese Romane von »Pik-Bube« … so schockierend, so verkommen …

Ja, ich muss es zugeben: Hätte ich nicht selbst diese Horrorromane von »Pik-Bube« geschrieben, ich würde sie abstoßend finden.

Aber natürlich ist meine/unsere Identität (noch) nicht entdeckt worden. Ich bin fest entschlossen, es nie dazu kommen zu lassen.

Ich stelle mir vor, dass Pik-Bube morden würde, um seine Identität zu schützen – obgleich Andrew J. Rush selbstverständlich nicht einmal im Traum jemandem etwas zuleide tun würde. (Das ist möglicherweise nicht ganz korrekt: Ich habe vermutlich schon davon geträumt, Menschen wehzutun, die Strafe verdienen. Doch im Wachzustand würde ich niemals eine Bestrafung außerhalb des Rechtssystems billigen, und wenn ich interviewt werde, gebe ich zu Protokoll, dass ich angesichts der Launen des US-amerikanischen Rechtssystems, in dem Rassismus eine große Rolle spielt, nicht an die Todesstrafe glaube.) Es ist Pik-Bube, der sich als Schriftsteller oder »Visionär« sieht; Andrew J. Rush hegt die eher bescheidene Hoffnung, als exzellenter Verfasser von unterhaltsamen Kriminalromanen bewundert zu werden. Und doch ist es Andrew J. Rush, der vor einigen Jahren den Edgar für das beste Krimidebüt gewann und für weitere Preise nominiert war, während Pik-Bube – bisher – nie mit einer Ehrung ausgezeichnet wurde.

Nun, das ist vielleicht nicht ganz richtig. In den Internetrankings von Best of Noir, Most Extreme Noir, X-Rated Noir und so weiter finden sich häufiger Titel von Pik-Bube, und der Fairness halber muss erwähnt werden, dass Pik-Bube eine kultische Untergrundgefolgschaft von bescheiden geschätzt mehreren tausend Personen hat.

Eigentlich weiß ich gar nicht, warum ich solche Angst davor habe, dass mein Geheimnis enthüllt wird; es ist beinah, als wäre ich ein gewöhnlicher Krimineller! Die auf das von »Rush« und »Pik-Bube« verdiente Geld fälligen Steuern zahle ich peinlich genau, trotz der Komplikationen und der Erfordernis von nicht nur einem, sondern zwei Steuerberatern; ich betrüge die US-Regierung um keinen einzigen Penny. (In einem seiner ersten Romane beschreibt Pik-Bube in grauenhaften Details die Ausweidung eines Steuerfahnders, der das Privatleben eines psychopathischen Milliardärs ausgespäht hat – doch Andrew J. Rush ist von reißerischer Prosa wie dieser nur angewidert.) Tatsächlich liebe ich mein ruhiges, vorhersehbares Vorstadtleben als mehr oder minder »Familienmensch« – ich bin eher der Brooks-Brothers-Typ und trage häufig Krawatte, da mir das behagliche Gefühl einer selbstgeknüpften Schlinge um den Hals gefällt; »unangepasst« (wie meine Familie lästert) sind meine Birkenstocks und mein Dreitagebart, mit dem ich, zumindest in einem verschwommenen Spiegel, einem dieser Actionstars ähnle, auf deren kantigen Kiefern wie bei primitiven Jägern Stoppeln schimmern. Meinen alternden, doch noch ziemlich rüstigen Eltern, die im Zentrum von Harbourton in dem roten Backsteinhaus an der Myrtle Street leben, in dem ich aufwuchs, und die rührend stolz auf ihren Sohn sind, den »berühmten Bestsellerautor«, dessen Bücher sie mit Stolz und Vergnügen lesen, bin ich stets ein guter, pflichtbewusster, wenn auch gelegentlich etwas zerstreuter Sohn gewesen; Irina, die ich in den frühen Achtzigern kennenlernte, als wir beide an der Rutgers studierten, bin ich stets ein guter, pflichtbewusster Ehemann gewesen; meine drei mittlerweile erwachsenen Kinder würden sicher bestätigen, dass ich ein sehr guter, sogar »sagenhafter« (ihr Wort) Dad gewesen bin, obwohl sie (vermutlich) nie ganz einverstanden mit mir waren, denn welcher Schriftsteller ist zuverlässig für seine Kinder da, selbst wenn sie nach ihm verlangen? Und welcher Ehemann ist stetig, die ganzen Jahre, für seine Frau da, selbst wenn er sie verehrt?

Dies sind sozusagen offene Geheimnisse. Dinge, die wir nicht zu artikulieren wagen, aus Angst, Menschen zu verletzen, die uns nahestehen.

(Da Pik-Bube niemandem nahesteht, ganz zu schweigen von jemandem, den er verehrt, würde er sich absolut keine Gedanken über die Enthüllung etwaiger Geheimnisse machen!)

Obgleich heute mit Anfang fünfzig ein ausgeglichenes Individuum, bin ich doch überzeugt, dass ich in meiner Kindheit an einem schweren Fall von ADHS litt – an der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. In der Grundschule war es mir buchstäblich unmöglich, ruhig an einem Tisch zu sitzen und nicht mit meinen Klassenkameraden zu plappern oder sie hin und wieder zu schlagen. Dennoch schienen Lehrer mich insgesamt zu mögen und lobten meine schulischen Leistungen, doch es kann nicht einfach gewesen sein, mich zu unterrichten. Manchmal hatte ich das Gefühl, als würden rote Ameisen unter meiner Kleidung krabbeln, mich stechen und beißen. Am liebsten wäre ich dann aufgesprungen, um mich überall zu kratzen und Schimpfwörter und Obszönitäten zu kreischen – Wörter, von denen ich kaum wusste, was sie bedeuteten! (Was ich selbstverständlich niemals tat. Im Alter von zehn hatte ich gelernt, mir – wörtlich – auf die Zunge zu beißen und auch sonst alles im Mund zu behalten; ich hatte gelernt, mit den Backenzähnen zu knirschen, um mich zur Ruhe zu zwingen.) Meine Eltern schimpften mit mir, wenn ich »meine Anfälle hatte« (wie sie es nannten), aber ich glaube nicht, dass ich jemals körperlich gezüchtigt oder ernsthaft gemaßregelt wurde.

Zudem war ich anfällig für Unfälle. Ich stolperte und stürzte, schürfte mir die Knie auf, verstauchte mir Knöchel oder Handgelenk; rannte zu schnell die Treppe hinunter, stürzte und schlug mir den Kopf am Geländer auf; ertrank beinah im Badesee im Catamount State Park, als ich mit zwölf Jahren vom Sprungbrett fiel (oder von einem älteren Jungen gestoßen wurde).

Noch heute kann ich die entfernten Schreie hören – Der Junge da! Er geht unter! Rettet ihn …

Direkt unterm Sprungbrett. Sieht aus, als hätte er sich den Kopf angeschlagen …

Mit der Zeit entwuchs ich dieser chronischen Ruhelosigkeit, an der mit Sicherheit ein gewisser Prozentsatz von Kindern leidet, besonders kleine Jungen. Glücklicherweise existierte die medizinische Diagnose ADHS in meiner Kindheit noch nicht, ansonsten wäre ich womöglich in jungen Jahren sediert und mein Gehirn in Mitleidenschaft gezogen worden. (Niemand kann mir einreden, dass die Anwendung dieser hochwirksamen Drogen bei Kindern keine langfristigen Nebenwirkungen bei ihnen auslöst.) In der Highschool spürte ich erneut hin und wieder den Drang, mich von meiner Persönlichkeit als »guter Schüler« zu befreien und mich zu den Störenfrieden und Klugscheißern zu gesellen, aber immer nur vorübergehend – und insgeheim. Denn ich wollte meine größtenteils sehr guten Noten und meinen ausgezeichneten Ruf als zuverlässigster Junge des Jahrgangs ’79 nicht gefährden.

Es ärgert mich, aber nur ein wenig – meine Andrew-J.-Rush-Romane werden in der New York Times Book Review nur hin und wieder besprochen, und dann unweigerlich in einer Zusammenfassung von Kriminalromanen; meine »Pik-Bube«-Romane sind noch kein einziges Mal in der Review erwähnt worden, ohne Zweifel, weil sie als Taschenbuch-Originalausgaben veröffentlicht und mit ihrer vulgären Materie und dem wenig skrupulösen Stil als unter der Würde der Times erachtet werden. Und doch verkaufen sich die »Pik-Bube«-Romane überraschend gut, wenn man bedenkt, wie nahezu unbekannt und unbeworben der Autor ist: Sein erster Roman ging rund 35000 Mal über den Ladentisch, Tendenz steigend, sein vierter zwischen 50000 und 60000 Mal, wobei momentan die Möglichkeit einer Vergabe der Filmrechte im Raum steht. (Falls dies nicht zustande kommt, ist das auch nicht schlimm, denn wenn der Scheinwerfer sich auf »Pik-Bube« richtet, könnte Licht auf Andrew J. Rush fallen, was unglücklich wäre. Und das Geld brauche ich wirklich nicht!) Doch erst gestern erschien ein seltsamer, unverhoffter Beitrag im Feuilleton der Times, den ich rein zufällig entdeckte, da niemand, der mich kennt, mich darauf aufmerksam gemacht hätte.

Gryphon Books kündigt für sein Herbstprogramm einen fünften »Pik-Bube«-Roman an: Scourge (Geißel). Wie es scheint, ist »Pik-Bube« nicht nur Verfasser von grausamen Noir-Thrillern, sondern auch selbst ein Mysterium, da niemand zu wissen scheint, wer er oder sie ist – einschließlich seines Verlegers, des Lektorats und Vertriebs bei Gryphon. Weder weiß man, wo »Pik-Bube« lebt – noch ob er oder sie überhaupt existiert oder es sich (wie Gerüchte besagen) um die hinterlassenen Manuskripte eines misogynen Autors handelt, der 2006, angeblich unter »verdächtigen Umständen«, verstarb.

Ich war völlig verblüfft – was für ein Unsinn! Was für unverantwortlicher Journalismus! Ebenso haltlos wie die Gerüchte über »Pik-Bube«, die online kursierten. Und doch, einen angstvollen Moment glaubte ich beinah, dass tatsächlich ein als »Pik-Bube« bekanntes Individuum existierte, ein unabhängiger, autonomer, nahezu unbekannter Mensch, der mir vollkommen fremd war.

Den Verlagsangestellten bei Gryphon Books hatte man mitgeteilt, dass es sich bei »Pik-Bube« um das Pseudonym eines pensionierten Akademikers handelte, der irgendwo in New York lebte und seine Schriftstellerkarriere selbst vor seiner Familie geheim halten wollte; jeder bei Gryphon hatte geschworen, diese spärlichen Informationen für sich zu behalten. Als ich unter Verwendung einer E-Mail-Adresse, die nicht ohne Weiteres zu mir zurück verfolgt werden konnte, und getarnt als Agent, der »Pik-Bube« vertrat, die Vertriebsleiterin bei Gryphon fragte, wer diese Dinge über meinen Mandanten weitergegeben hatte, die ihren Weg in die New York Times gefunden hatte, behauptete die junge Dame, keine Ahnung zu haben. Sie wusste nicht mehr, beharrte sie, als das, was ihr mitgeteilt worden war – und zwar vom Agenten von »Pik-Bube«. »Er ist ein im Gebiet New York lebender pensionierter Akademiker, der darauf besteht, seine Identität geheim zu halten, und diesen Wunsch respektieren wir.«

Mir kam der Gedanke, dass ich »Pik-Bube« nach seinem fünften Roman womöglich exekutieren musste. Denn ich wollte seine Verbindung zu mir – meine Verbindung zu ihm – auf keinen Fall öffentlich werden lassen. Diese Vernichtung konnte ganz einfach bewerkstelligt werden, indem ich aufhörte, unter diesem Pseudonym zu schreiben, ohne dies irgendeinem Agenten oder Verleger näher zu erläutern. Schon bald wäre der Horrorautor dann vergessen, seine Bücher nicht mehr lieferbar.

 

»Dad, was ist das?«

Meine jüngste Tochter Julia, die ihre Mutter und mich übers Wochenende besuchte, sah zufällig einen Stapel Taschenbücher von »Pik-Bube« auf einem Tisch in meinem Arbeitszimmer; ich hatte die Bücher mit ihren grellen Trashcovern gedankenlos offen liegen lassen, nachdem Gryphon sie mir an ein Postfach (von mir extra für diese heimlichen »Pik-Bube«-Zwecke angemietet) im nahen Hadrian, New Jersey geschickt hatte. Wenn ich »Pik-Bube«-Ausgaben mit nach Hause nehme, verstecke ich sie normalerweise immer umgehend in einem geheimen Raum im Keller hinter den deckenhohen Regalen mit Übersetzungen der Bücher von Andrew J. Rush, die niemand jemals eines Blickes würdigt. (Nach achtundzwanzig Büchern, die allesamt zahllose Übersetzungen gelaicht haben, kann man sich vorstellen, was für ein Archiv sich im dämmrigen Keller angesammelt hat!) Die Erstausgaben meiner in den Staaten und in England erschienenen Romane werden in Wandregalen aus Mahagoni im Wohnzimmer stolz zur Schau gestellt; vor diesem Hintergrund aus ansprechenden, soliden Hardcoverbänden werden gewöhnlich die Fotos von Andrew J. Rush aufgenommen.

»›Pik-Bube‹ – was für ein unheimlicher Name. Ich nehme doch an, dass es ein Pseudonym ist.«

Zu meinem Entsetzen blätterte meine liebreizende Julia durch Ein Kuss vor dem Tode mit seinem grellen Schundcover, das ich selbst kaum anschauen mochte. Mein Herz begann unregelmäßig zu schlagen, und heiße Röte (Scham, Schuldgefühl) stieg mir ins Gesicht. Wie blöd von mir, die Taschenbücher so liegen zu lassen, dass die ganze Familie darüber stolpern konnte. Mein einziger Trost war, dass ständig neue Bücher und Fahnen in meinem Büro eintrafen, was meiner Familie bekannt war, weshalb ich einfach behaupten konnte, diese Taschenbücher hätte mir ein Verlag mit der Bitte um eine Rezension geschickt.

Dennoch fand ich es beunruhigend, dass Julia immer noch in dem Buch blätterte, obwohl sie angeekelt das Gesicht verzog. Julia ist die Intellektuelle unter unseren drei Kindern, mit einem Abschluss in Linguistik und Literaturtheorie an der Wesleyan; ein faszinierender, wenn auch nutzloser Abschluss, der ihr bei der Suche nach einer einträglichen Anstellung nicht besonders zu helfen schien, weshalb Julia zurück an die Uni gegangen war – um einen nützlicheren Abschluss in Soziologie und Sozialarbeit an der Rutgers-Newark zu machen. (Selbstverständlich unterstützten Irina und ich dieses neue akademische Abenteuer von Julia ohne uns zu beschweren. Schließlich hatten wir das Geld!) Geschult darin, Literatur eher zu »dekonstruieren«, als sie einfach zu genießen oder emotional darauf zu reagieren, hatte Julia ihre analytischen und argumentativen Fertigkeiten an der Wesleyan vervollkommnet und war in der Folge zu einer bissigen und erbarmungslosen Kritikerin ihres armen Vaters »Andrew J. Rush« geworden, dessen Krimis, was Handlung, Struktur, Sprache und »Vision« anging, gemessen an den Standards der Literaturtheorie hoffnungslos altmodisch waren – das Äquivalent zu Dads Brooks-Brothers-Anzügen, seinen artigen Krawatten und den Birkenstocks.

»Wirkt grell, aber interessant. Offensichtlich sexistisch – alte Schule. Ist ›Pik-Bube‹ jemand, den du kennst, Dad?«

Nein. Das ist er ganz sicher nicht.

»Keiner von deinen Krimikollegen?«

Nein. Das ist er ganz sicher nicht.

»Wie schreibt er?«

Keine Ahnung. Hab’s nicht gelesen.

»Wenn es dir nichts ausmacht, Dad, würde ich mir diesen ›Pik-Bube‹ vielleicht mal ausleihen – es ist für eine Feministin immer gut zu wissen, was der Feind im Sinn hat.« Julia schob beiläufig die Taschenbücher auf dem Tisch zur Seite.

Mittlerweile war ich unter meiner Kleidung schweißnass.

Nein nein nein nein. Das wirst du nicht.

Glücklicherweise ist Julia eine einfach abzulenkende junge Frau. Ich wusste, dass sie Pik-Bube völlig vergessen haben würde, wenn sie Sonntagnachmittag abreiste, und ihr gerissener Dad würde sie gewiss nicht daran erinnern.

In jedem Fall würde ich die anstößigen Taschenbücher zu diesem Zeitpunkt in dem sicheren Raum versteckt haben, der meinem Alter Ego gewidmet war, einem verschließbaren Lagerraum, der einst in der entlegensten Ecke des Kellers unseres »historischen« renovierten Hauses als Gemüsekeller gedient hatte. Wenn man zufällig in diese Richtung blickte, wozu es nicht den geringsten Anlass gab, würde der Blick nur auf deckenhohe Metallregale mit den Übersetzungen der Andrew-J.-Rush-Romane treffen, die ob ihrer Unlesbarkeit und Undurchdringlichkeit nur umso beeindruckender waren.

Die Vorladung. Juni 2014

»Gottverdammt.«

Wenn man Rush heißt und Post adressiert an Rash erhält, ist das nicht gerade schmeichelhaft. Unter anderen Umständen hätte ich den Umschlag verärgert weggeworfen.

Aber die Adresse auf dem Umschlag war meine – Mill Brook House, 111 Mill Brook Road, Harbourton, N. J., und Absender war das städtische Gericht, der Hecate County Municipal Court, Harbourton, N. J. – was mich dazu brachte, ihn mit einiger Besorgnis zu öffnen – (vielleicht ein Strafzettel? Ein unbewusster Verstoß gegen die Verkehrsregeln von mir oder Irina, als wir mit meinem Auto in der Stadt unterwegs waren?). Beim Überfliegen des schlecht getippten, dünnen, grünen offiziellen Dokuments, in dem meine Name hartnäckig als Andwer J. Rash falsch geschrieben war, sah ich, dass es sich nicht um einen Strafzettel handelte, sondern eine »Vorladung« zu sein schien.

Bei näherer Betrachtung erkannte ich, dass die Vorladung eine Kopie des originalen Gerichtsdokuments war, komplett mit dem Siegel des Staats New Jersey, aber verschwommen und körnig wie ein nur teilweise erinnerter Traum. Mit wachsender Ungeduld las ich das Dokument zweimal durch, und beim zweiten Mal blieb mein Blick an dem alarmierenden Satz am Ende der Seite hängen:

Falls Andwer J. Rash an diesem Datum zu dieser Uhrzeit nicht vor dem städtischen Gericht erscheint, wird ein Haftbefehl ausgestellt.

Was war das? Haft?

Ich las den Satz mehrere Male, ohne ihn vollständig zu begreifen.

Stand reglos da, wagte kaum zu atmen, das miserabel kopierte Dokument umklammert.

Denn diese vom State of New Jersey Hecate Township Municipal Court nur drei Tage zuvor, am 11. Juni 2014, ausgestellte Vorladung betraf eine Klage gegen Andwer J. Rash von einem gewissen C. W. Haider, der den zuvor Genannten des Diebstahls beschuldigte.

»Diebstahl?«

Es war so absurd, dass ich in Gelächter ausbrach.

Kein zorniges Gelächter, auch kein amüsiertes – ungläubiges Gelächter.