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Michaela und ihr Mann sind in die wunderschöne, aber unheimliche Landschaft New Mexicos gezogen, um dort an einem renommierten akademischen Institut zu arbeiten. Doch dann erkrankt Gerard schwer, und schon bald gleicht ihr Leben einem Albtraum. Mit siebenunddreißig Jahren steht Michaela vor der erschreckenden Aussicht, Witwe zu werden – und vor dem Verlust von Gerard, dessen Identität ihre eigene stark geprägt hat.
»Wache halten« ist eine Erkundung des rohen Wahnsinns von Trauer und eine wahrhaftige Liebesgeschichte, die sich mit den großen Fragen unserer Existenz auseinandersetzt.
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Seitenzahl: 421
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über das Buch
Michaela und ihr Mann Gerard sind in die wunderschöne, aber unheimliche Landschaft New Mexicos gezogen, um dort an einem renommierten akademischen Institut zu arbeiten. Doch dann erkrankt Gerard schwer, und schon bald gleicht das Leben der beiden einem Albtraum. Mit 37 Jahren muss Michaela sich mit der schrecklichen Aussicht, Witwe zu werden, auseinandersetzen. Und schließlich mit einem Leben ohne Gerard.
Eindringlich und zutiefst berührend erzählt Wache halten vom rohen Wahnsinn der Trauer und was passiert, wenn eine Liebe nicht aufgegeben werden kann.
Über die Autorin
Joyce Carol Oates wurde 1938 in Lockport, New York, geboren. Sie zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Autorinnen der Gegenwart. Für ihre zahlreichen Romane und Erzählungen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem National Book Award. 2019 erhielt sie den Jerusalem Prize. Joyce Carol Oates lebt in Princeton, New Jersey, wo sie Literatur unterrichtet.
Joyce Carol Oates
Wache halten
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Silvia Morawetz und Bettina Eschenhagen
Ecco
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Breathebei Ecco, New York.
www.eccoverlag.de
© Joyce Carol Oates
Deutsche Erstausgabe
© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe
Ecco Verlag in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH Valentinskamp 24 · 20354 Hamburg
Autorinnenfoto von Deena So Oteh
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783753001104
Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte der Urheberinnen und des Verlags bleiben davon unberührt.
In memoriam Charlie Gross
Der Geist ist eine Welt für sich und kann sich den Himmel zur Hölle, die Hölle zum Himmel machen.
John Milton: Das verlorene Paradies
Wie überaus schwer, ein leeres Haus zu betreten.
Anonym
Teil I
Die Wache
1
Eine Stimme aus dem Fiebernebel
Eine Hand greift nach deiner. Eine warme trockene Hand greift nach deiner glatten feuchten Hand.
Wer immer da auf dich einredet – Atme!
Über dich gebeugt bittet – Atme!
Nicht Worte, sondern Tonschwingungen, die das Wasser kräuseln. Wellig sich kräuselndes Wasser, darin wie in einem Freudentaumel wimmelnder Sonnenstaub.
Trunkener Freudentaumel. Glühend heiße Haut, Fieber. Bei welcher Temperatur kochen Bakterien? Bei welcher Temperatur beginnt das Gehirn zu kochen?
Blinzel, wenn du hörst. Blinzel, wenn du lebst.
Blinzel, kneif die Augen zu, versuch zu erkennen, wer sich über dich beugt und dich anfleht: Atme! – das Gesicht liegt im Schatten.
Liebling, lieb dich so.
Hab deine Hand. Lass dich nicht allein.
2
Die Wache
Wichtig ist nur eines: Er darf nicht sterben.
Er muss atmen. Er darf nicht aufhören zu atmen.
Sauerstoff rinnt in langsamem, stetigem Strom durch einen durchsichtigen Plastikschlauch in seine Nasenlöcher.
Infusionen fließen in seine Adern, er war stark dehydriert.
Er ist weder völlig bei Bewusstsein noch völlig bewusstlos. Du nimmst an, dass er dich hört, sein Gesicht ist nicht unbewegt, der Ausdruck wechselt ständig, die Augen hinter den geschlossenen Lidern sind aufmerksam, lebhaft.
Du bist so aufmerksam und lebendig wie selten in deinem bisherigen Leben und willst unbedingt, dass dein Mann atmet.
Bittest verzweifelt. In kindlicher Hoffnung, gegen alle Vernunft. Redest auf deinen Mann ein: Atme! Hör nicht auf!
Flehst, wie du dir nie vorgestellt hättest, einmal am Bett eines sehr kranken Mannes zu flehen, klammerst dich an seine Hände, die (wie du in naiver Hoffnung begeistert feststellst, du wirst dich lange daran erinnern) genauso warm sind wie deine eigenen und (wie du glaubst) gerade noch spürbar reagieren – wenn du seine Finger drückst, reagiert er, wenngleich nur schwach, wie jemand, der mit den Gedanken woanders ist.
Verlass mich nicht! Bitte verlass mich nicht! Ich liebe dich so sehr, ich kann ohne dich nicht leben …
Eine Bitte, eine Drohung, ein Versprechen, ein Schwur – kann ohne dich nicht leben.
Klägliche Worte, vergebliche. Worte, so oft gesprochen im Laufe der menschlichen Geschichte und nie anders als vergeblich.
Nichts da! Der Schädelgott der Wüstenhochebene um Santa Tierra lacht höhnisch.
Die Angst vor dem Tod (deines Ehemanns) zermürbt dich, der Stolz hat dich verlassen, wie der Urin deines Ehemanns durch den Katheter in seinem Penisstummel tröpfelt.
Stolz, Würde, gesunder Menschenverstand, sie sind verschwunden. Wohin?
(In einen Plastikbeutel, diskret unter dem Bett befestigt.)
Bittest den sich quälenden Mann: Atme!
Wie es dazu gekommen ist und warum – dein Leben mit dem Leben dieses Mannes verbunden.
Warum er und warum du. In Liebe.
Man fragt sich schon – sind wir im tiefsten Innern, in unseren prägenden Erinnerungen Kinder, vereint in der Angst vor dem totalen Verlust?
Was du am meisten liebst, das verlierst du. Der Preis für deine Liebe ist der Verlust.
Wohin ein grausamer, launischer Gott deinen Mann (und dich) zum Sterben geführt hat.
Ein Fehler, in diese abgelegene Gegend zu kommen. Ein Abenteuer, hatte Gerard gesagt.
Nicht dass Santa Tierra, New Mexico, weniger als eine Autostunde von Albuquerque entfernt, wirklich abgelegen wäre. Ein kleineres und weniger gentrifiziertes Santa Fe.
Wochen und Tage verbringt ihr schon in der für euch neuen Landschaft. Sie vergehen quälend langsam, während die Minuten schnell verrinnen.
Zu schnell! Zu schnell! Ein Grundprinzip der Physik: Die Zeit beschleunigt sich, je näher der Aufschlagpunkt rückt.
Denn dein Ehemann, den du mit einer fieberhaften Verzweiflung liebst, die dich überrascht, atmet nicht mehr normal. Schon seit Wochen fällt ihm das Atmen schwer, und jetzt wurde ihm ein Atemschlauch angelegt, der reinen Sauerstoff in sein Gehirn leitet. Schon seit Wochen strengt das Atmen ihn erkennbar an, eine Strapaze, die sich in seinem Gesicht zeigt und die auch zu deiner geworden ist.
Denn du hilfst ihm zu atmen. Du bist überzeugt, dass du ihm zu atmen hilfst.
Es ist kein regelmäßiges Atmen, kein Atmen wie nach einem Taktmaß, ungezwungen und leicht, sondern ein keuchendes Luftholen, und zwischen den Atemzügen gibt es Pausen, Zäsuren, vergleichbar den Fehltritten in Träumen, wenn man schwankt, stolpert, eine Treppenstufe oder einen Bordstein hinunterfällt und mit einem Ruck aufwacht.
Diese Pausen beim Atmen deines Mannes, schrecklich anzuhören, beängstigend.
Ursprünglich lautete die Diagnose Lungenentzündung. Dann ein Blutgerinnsel am (linken) Lungenflügel. Dann (metastasierter) Krebs am (linken) Lungenflügel, bei einem Scan entdeckt.
Dann: noch mehr. Und jetzt noch mehr.
Ihr hattet beide davon gesprochen, einmal gemeinsam durchzugehen, was seit der Einlieferung ins Krankenhaus alles geschehen ist. Hattet davon gesprochen, es gäbe irgendwann einmal eine Zeit, in der ihr gemeinsam eine Auszeit nehmen und umso besser begreifen könntet, was da geschehen ist und geschieht.
So eine Auszeit hat es aber nicht gegeben.
Und langsam dämmert dir, dass es so eine Auszeit auch nicht geben wird.
Du kannst nur eines tun: nach der Hand deines Mannes greifen. Auf ihn einreden – Atme!
Wo diese kräftigen Finger doch einmal deine hielten, deine (kleinere) Hand mit seiner umschlossen. Genauso wie die Seele deines Mannes, großmütiger als deine, deine (verletzte, geschrumpfte) Seele umschloss und ihr Auftrieb gab.
Jetzt sprichst du Gerard Mut zu. Hoffst verzweifelt, dass du ihm Mut zusprichst. Du siehst allmählich ein, dass du keine wichtigere Aufgabe im Leben hast, als Gerard Mut zuzusprechen.
Drängst blind vorwärts in den rapide kleiner werdenden Raum eurer (gemeinsamen) Zukunft, als verkleinerte er sich nicht rapide, sondern wäre unbegrenzt.
Wie können wir das begreifen, ein sichunendlich ausdehnendes Universum?, hatte Gerard sich gefragt.
Im Grunde gar nicht.
Aus der Perspektive der Endlichkeit können wir die Unendlichkeit nicht begreifen.
Aus der Perspektive unseres (kleinen) Lebens können wir die Größe unseres Todes nicht begreifen.
Du spürst ihn schon, den Verlust, den Schmerz, der dir bevorsteht. Dass du diesen Mann verlieren wirst, den zu kennen du dich im Leben am meisten (und vergeblich) bemüht hast.
Elf Jahre älter als du. Ja, er ist väterlich gewesen, ein Beschützer. Jetzt aber musst du ihn beschützen.
In einer wilden Fantasie bittest du den Onkologen mit der starren Miene: Nehmen Sie Knochenmark von mir, wenn das möglich ist, und übertragen es ihm – retten Sie ihn!
Abstrus, jämmerlich. Du würdest nicht so ein verrücktes Zeug daherreden, wärest du bei Verstand.
Du spürst die Strapaze für das Herz deines Mannes. Sein starkes, beständiges, hoffnungsvolles Herz. Seinen Lebenswillen, den Willen, weiter da zu sein. Du musst ihn festhalten. Für die Dauer seines Lebens und darüber hinaus.
Verlegung ins Hospiz. Eine Wendung, mit der die Straße zu einer Sackgasse wird, auf die keiner von euch beiden gefasst war.
Ungläubig: Das kann doch nicht sein!
Und doch: Geschieht das? So bald?
Beschleunigte Näherung an den Aufschlagpunkt. Keine Zeit zu planen, was ihr hättet planen können – einen bedachteren Tod, einen gemeinsamen Tod. Denn du warst nicht vorbereitet. Warst wie gelähmt, dein Gehirn reagiert langsam. Du hinkst hinterher, taumelst. Wurdest hinausgeschoben auf die Bühne. Blinzelst, geblendet von grellem Licht. Du hast kein Drehbuch, keinen Text. Siehst kein Publikum. Du kannst nur um Änderungen im Drehbuch bitten. Um Gnade.
Ich bin hier, ich hab deine Hand, ich liebe dich – bitte gib nicht auf …
Hörst dich selbst stammeln und flehen. Mit leiser, versagender Stimme. Mit einer Stimme, zitternd vor Angst und zugleich Hoffnung: Du beteuerst deinem Mann, dass er geliebt wird, ja, er wird sehr wohl geliebt. Und weil er geliebt wird, ist er in Sicherheit, wird umsorgt, wird nicht leiden müssen. Wird keine Schmerzen mehr haben, wird vor Schmerzen bewahrt, die schlimmsten Schmerzen hat er hinter sich. Man hat ihn sediert, er treibt auf einem warmen, schimmernden Meer aus Dilaudid-Träumen, in sehr hoher Dosis, die täglich erhöht wird, und ist daher vor weiteren Beeinträchtigungen genauso geschützt wie vor grausamen Hoffnungen, denen du dich aus Unwissenheit, Naivität törichterweise hingegeben hast. Doch die Hoffnung ist nun verflogen, die Sicht ist frei.
Wie ein Zug, der an einer Bahnstation weit draußen auf dem Land abgefahren und hinter dem Horizont schon nicht mehr zu sehen ist – die Hoffnung ist verschwunden.
Und du sitzt nicht in dem Zug. Der Zug Hoffnung ist für dich abgefahren.
Während der Rest eures gemeinsamen Lebens rapide zu Ende geht.
Das könnten meine letzten Tage sein, sagte Gerard vor elf Tagen am Telefon, als er dich kurz nach Dr. N__s Morgenvisite um sieben Uhr anrief.
Unerwartete Worte, von deinem Mann in aller Ruhe ausgesprochen, einer Stimme aus dem Nichts, einer Stimme aus dem Nebel, vernichtende Worte, die du durch das Gesumm in deinen Ohren zuerst gar nicht gehört hast.
Innerlich aufgeschrien: Nein. Nein. Nein. Nein!
Es fehlte nicht viel, und das Handy wäre dir aus den eiskalten Fingern geglitten und auf der Arbeitsplatte gelandet.
(Ruft Gerard dich gerade zum letzten Mal auf dem Handy an? Du willst das nicht glauben: ja, vermutlich.)
Als du im Krankenhaus ankamst, hattest du dich von dem Schock des Gehörten erholt. Hattest Zeit, dir eigene Worte zurechtzulegen. Gegenargumente. Widerreden.
Hast darauf gepocht, dass Gerard sich irren müsse, er möchte doch bitte so etwas nicht sagen, solche verstörenden Dinge, es beunruhigt dich, so etwas zu hören, mit Sicherheit sind das nicht seine letzten Tage, Dr. N__ wirkte doch vor wenigen Tagen noch so hoffnungsvoll, sprach davon, die kleineren Tumore zu zertrümmern und eine Immuntherapie einzuleiten und damit die größeren Tumore zum Schrumpfen zu bringen – erinnerte er sich nicht? So schnell hätte Dr. N__ die Anordnungen bestimmt nicht geändert. Es führe also in die Irre, von letzten Tagen zu sprechen …
Dich bemüht, dass dein Gesicht nicht zerspringt wie Glas.
Ich bin hier. Ich habe deine Hand. Verstehst du denn nicht, dass ich dich nicht loslasse, ich liebe dich doch so sehr.
Du bist erzürnt, wirst verbittert sein, aber du darfst nicht in Verzweiflung versinken, gestattest dir (noch) nicht, daran zurückzudenken, wie eindringlich du den seltsam kurz angebundenen, teilnahmslosen Dr. N__ bitten musstest, einen Scan von Magen und Bauch bei deinem Mann anzuordnen (denn Gerard klagte seit Wochen über Schmerzen in diesem Teil seines Körpers, schon während seine Atembeschwerden so viel bedenklicher waren, sofort hätten behandelt werden müssen; die Schmerzen im Unterbauch tat der Onkologe als Verstopfung ab, woran der Patient ja tatsächlich litt, aber die Verstopfung war ein Symptom und nicht die Ursache seiner Schmerzen), und als der Scan endlich gemacht wird, ist die Geschwulst in der Harnröhre bereits zu groß für eine Operation.
Warum wartet Dr. N__ so lange, bis er den Scan anordnet? Warum nickt er zwar weise, hört dich offenbar aber nicht?
Doch (noch) nicht solche Gedanken. Denn es ist eine andere Zeit: Dein Mann ist (noch) am Leben.
Als er dich halb mitleidig, halb zärtlich anschaut, kommt dir plötzlich der Gedanke: Ich kaufe Opernkarten für August! Eine von Gerards Lieblingsopern, Glucks Orpheus und Eurydike, stand beim Opernfestival von Santa Tierra in der ersten Augustwoche auf dem Programm.
Jetzt war Anfang April, noch Monate hin bis August.
Was fängst du mit so einer Tatsache an? Stumpf und schwer wie ein Felsbrocken in deiner Hand.
Du gelobst, fest daran zu glauben, dass Gerard im August (noch) lebt. Gelobst, auf das zu vertrauen, worauf der Einzelne in höchster Not immer vertraut und wofür es keinen Namen gibt.
Kauf die Karten, zeig sie Gerard morgen! Damit er weiß, dass du darauf vertraust. (Es sei denn, er lacht traurig, schüttelt den Kopf. Sagt kein Wort.)
Und nun ist der elfte April. Der dreizehnte Tag von Gerards intensivmedizinischer Behandlung. Just diesen Morgen haben die Ärzte konferiert – der Onkologe, der Pulmologe, der Urologe, der Nephrologe. Der Gastroenterologe. Die Palliativmedizinerin, die Palliativschwester.
Eine (weitere/letzte) Biopsie ist angesetzt worden, bei der ein metastasierter Tumor in einer Niere deines Mannes genauer angesehen werden soll. Eine (letzte) immunologische Behandlung, mit der gegen den (sehr großen) Tumor in der Harnröhre vorgegangen werden soll.
Hoffnung ist das Ding mit Federn. Aber nein.
Hoffnung ist grausam. Streich Hoffnung aus deinen Gedanken!
Ist die Hoffnung gestrichen, vergeht die Zeit schneller, auch wenn die Stunden so quälend langsam verrinnen wie auf einer der Schwerkraft des Jupiter unterliegenden Uhr.
Du wirst deinen Mann noch fester halten, immer fester. In Santa Tierra bläst der Wind mit heftigen heißen Böen, die an den Fensterscheiben des Krankenhauszimmers rütteln, und damit diese Windböen euch nicht auseinanderreißen, hältst du (könnte man meinen) deinen Ehemann fest im Arm. Es drängt dich, ihn zu halten, seine Schultern, seinen Körper, drängt dich, ihn auf die Stirn zu küssen, die fiebrig und feucht ist, seine Wangen, die jetzt von feinen Linien durchzogen sind, seine (schönen) (graublauen) (halb geschlossenen) Augen. (Ob Gerard die Augen jemals wieder ganz öffnet? Und wenn er sie wieder öffnet, kann er dann sehen? Dich sehen?) Du beteuerst, dass du ihn nicht verlässt, dass du ihn liebst und nie aufhören wirst, ihn zu lieben, er wird nicht allein sein, du wirst ihn für immer in deinem Herzen tragen; du, die das feierliche Versprechen ernst nimmt, wahrhaftig zu sprechen/schreiben, klar, ohne leere Phrasen oder Ausflüchte, ohne Rückgriffe auf abstrakte Worthülsen wie in deinem Herzen, hast noch nie so gesprochen; du warst allerdings auch noch nie so verwirrt, noch nie auf so schwankendem Grund, musstest deinem um Atem ringenden Ehemann noch nie versichern, dass er nicht leiden wird, womit du (natürlich) sagen willst, dass die starken Opioide, die ihn über Wasser halten, die unbeschreiblichen Schmerzen abmildern, die unausweichlich sind, wenn der Opioid-Dämmer sich legt; sein Leiden ist also erträglich, oder zumindest ist es so zugesagt worden; es ist nicht falsch von dir zu behaupten, er sei »in Sicherheit« – und du möchtest ja glauben, das seist du ebenfalls (auch wenn du über einem Abgrund stehst: Wenn diese Tortur ihren Lauf genommen hat, musst du dich entscheiden, ob du den Schritt vorwärts in den Abgrund tun oder dich feige an dein reduziertes Restleben klammern wirst), obwohl du (selbstverständlich) nicht sediert und daher nicht in Sicherheit bist, denn dich hat man nicht betäubt gegen die verheerenden Qualen des Krebses, eines Krebses, der überall in deinem Körper Metastasen gebildet hat; deine Haut wimmelt von Reizen, deine sämtlichen Nerven; dir ist sogar, als wäre dir die äußere Schicht deiner Haut abgeschält worden und als spürtest du sogar an der zarten, blutgetönten Hautschicht darunter den leisesten Luftzug.
All das sagst du deinem geliebten Mann wieder und wieder, denn jede Minute wiederholt sich, jede Stunde, unaufhörlich, unbegreiflich, da alle endlichen Räume (wie dieses Krankenzimmer im siebten Stock des Krebszentrums von Santa Tierra) Unendliches enthalten.
Wieder und wieder und noch einmal bittest du deinen Ehemann mit hypnotischer Bestimmtheit: Atme! – denn du kannst dir die Welt nicht ohne ihn vorstellen, kannst dir keine Dimension des Seins vorstellen, die ihn nicht einschließt; kannst dir nicht vorstellen, dass dein Leben weitergeht, wenn dich quält, dass jeder Atemzug deines Mannes womöglich sein letzter ist, schon jetzt hat dein tapferer Mann länger stoisch durchgehalten als vom medizinischen Personal erwartet und heiser, angestrengt, krampfhaft weitergeatmet, wie ein Ringer, dem der Griff eines grausamen Gegners schon den Brustkorb zerquetscht, noch atmet, es noch schafft zu atmen, obwohl er bebt vor Anstrengung, es noch schafft zu atmen, obwohl er wimmert vor Anstrengung; falls das Wimmern nicht deines ist, das Beben nicht deines, wird er unaufhörliche Tage über Stunden atmen und wird atmen, wenn du ihn bittest: Atme! – und sein Atem wird immer länger stocken, jedes Mal länger, du leidest Qualen, lebst in deinem eigenen Schmerz, hältst nach dem Luftholen selbst den Atem an und wartest, bis du deinen Mann atmen hörst, das keuchende Einatmen, den eingesaugten Atem, das Stocken in deiner Kehle, ein feuchtes Klick! – du würdest zu gern feilschen, wie ein Kind feilschen mag: Lass ihn nicht aufhören, lass ihn nicht sterben – noch nicht, auch wenn du nichts zum Tausch anzubieten hast. Du kannst deine Seele nicht einem x-beliebigen Gott oder Teufel zum Tausch anbieten, denn du hast keine Seele außer deinem stockenden Atem. Du kannst deine Seele nicht zum Tausch anbieten, denn hättest du eine, wäre sie inzwischen zerfetzt wie ein Lampion aus Pappmaché nach einem Sturm. Für deinen Ehemann ist es Zeit zu sterben, das medizinische Personal hat sich erstaunt gezeigt, dass er so lange durchhält, in diesem Schwebezustand zwischen Wachheit und Schlaf, Bewusstsein und Bewusstlosigkeit verharrt; vielleicht träumt er ja, träumt von einer verzweifelten Frau, die sich über sein Krankenbett beugt und ihn in den Armen halten will, das Gesicht nass von Tränen, hässlich und verzerrt von Tränen, nicht als seine Frau erkennbar, die gewillt ist, ihren Mann so fest in den Armen zu halten, dass nicht einmal der Tod ihn loseisen kann.
Ist das ein Traum? Das findet nicht statt, es muss ein Traum sein.
(Und wenn wir gemeinsam träumen? Können wir einer den anderen retten?)
Kein Boden unter den Füßen, sondern so etwas wie eine Eisschicht, darauf das Krankenbett, in dem dein Mann liegt, mit Infusionsschläuchen in den Venen ans Bett gefesselt, die Eisfläche glänzend, blendend, so stark die Augen blendend, dass du nicht deutlich siehst, nicht wagst, deutlich zu sehen, denn du versinkst in den Opioid-Traum, der unter den blutunterlaufenen Lidern deines Mannes schimmert. Das Schimmern von Träumen wie Spiegelungen in Eis. Im eiskalten Wasser darunter. Du kannst die Träume fast sehen. Sie jagen wie Fische im leuchtenden Wasser unter dem Eis hin und her. Du spürst sie an den hautlosen Armen – zappelnd, surrend, der warme Körper deines Ehemannes, der um sein Leben kämpft, während er schon unter das glitzernde Eis in den Tod und den Verfall gezogen wird, zu gestammelten Worten, Ächzern, heruntergezogen von dem launischen grausamen Gott der Wüstenhochebene Ishtikini – ein Name, so entsetzlich, dass man ihn nicht laut aussprechen kann. Der Pueblo-Gott des zahnlosen Lachens, der Gott der leeren Augenhöhlen, Schädelgott, Tiergott, Aasfressergott, im Begriff, die Körperorgane zu verschlingen, sobald kein Leben mehr in ihnen pulsiert: Herz, Gehirn, Lunge, Nieren, Leber, Magen, Gedärm.
Außer dir wird sich niemand daran erinnern: Aber dieser Mann ist heroisch! Kämpft darum zu atmen, hartnäckig weiterzuatmen, auch wenn seine Organe versagen. Langsames Begreifen des Abbaus, des Verlusts. Allmähliches Begreifen, dass der Patient mit jedem Tag, jeder Stunde schwächer geworden ist, keine Kraft aus den in seine Venen geleiteten Flüssigkeiten zieht, sondern von ihnen ausgezehrt wird, kein Appetit, nicht mehr fähig, durch den Flur zu gehen wie anfangs noch, nicht einmal mit dem Gehgestell, zuletzt gerade noch fähig, in dem Rollstuhl zu sitzen, mit dem du ihn ein paar Runden durch den Krankenhausflur schiebst, von Tag zu Tag kraftloser, wie er ja auch verlorenes Gewicht nicht (wieder-)erlangt, sondern noch mehr Gewicht verliert, die Wangen eingesunken, die Augen randvoll mit Flüssigkeit, als du ihm die Hände gedrückt und beteuert hast, er sei ein wunderbarer Ehemann gewesen, und er sagte: Wunderbar? – aber mit meinem Sterben enttäusche ich dich.
Jähes verblüfftes Auflachen, das Lachen eines verängstigten Kindes: Was redest du da? Du bist nicht tot, du bist hier bei mir. Wir sind beide am Leben …
Ein Hustenanfall, dein Mann kann dir nicht antworten, zu schwach für Widerspruch, als du darauf bestehst: Er ist ein wunderbarer Ehemann, dein Leben mit ihm ist so glücklich, wie du es dir für dich nur hast vorstellen können, ist das einzige Leben, das du dir für dich vorstellen konntest, über dieses Leben hinaus möchtest du nicht mehr am Leben sein. Als er verstummt, versicherst du ihm noch einmal, er werde geliebt, er sei ein wunderbarer Ehemann und werde geliebt und sei, weil so geliebt, in Sicherheit, sei hier in Sicherheit, er werde nicht unnötig leiden, werde überhaupt nicht leiden, du weichst ihm nicht von der Seite. Während du in den endlosen strapaziösen Stunden, die noch kommen, deine Stimme stärker und schwächer werden hörst, schwächer und stärker, leiser und lauter, wieder leiser und noch einmal lauter, und du in den Sog des Sterbens deines Mannes gerätst, das dich unter das Eis ziehen will, sagst du konsequent weiter: Atme! Liebling, bitte atme – bitte hör nicht auf. Und die geplagte Lunge saugt Luft ein, reiner Sauerstoff fließt durch einen an der Nase befestigten dünnen Schlauch in seine Nasenlöcher. Deine Verwegenheit überrascht dich selbst, die gewaltige Kraft, derer du dich nicht für fähig gehalten hättest, wie ein Schwimmer, noch nie durch tiefes Wasser auf die Probe gestellt, überrascht ist, dass er sich oben halten kann und nicht ertrinkt. Du willst unbedingt, dass dein Ehemann nicht aufgibt, nicht stirbt und dich alleinlässt, nicht einen Augenblick zu früh. Auch wenn du mittlerweile so benommen bist vor Erschöpfung, dass dir die Augen zufallen, begreifst du kaum, was in dem Krankenzimmer vor sich geht, was für eine Tortur, was für ein Grauen, warum du den Mann inständig bittest: Atme! Atme! – bitte …, denn in dem kühlen, von Monitorgesumm erfüllten Raum gibt es in dieser endlosen aus der Zeit gefallenen Zwischenzeit nur die Gegenwart, in der du seit dem Morgengrauen schon so viele Stunden ohne Schlaf und ohne Essen ausharrst, den Mann umarmst, mit dem du dich tapfer fürs Leben verbunden hast, dich über seinen Körper in dem hohen Bett beugst, der Nacken, die Schultern, die Kehle tun dir weh von der Strapaze, diesem Mann unermüdlich zu versichern, dass du ihn liebst, dass er in Sicherheit ist, er wird keine Schmerzen haben, wird nicht allein sein, wie viele Tage vergangen sind, du weißt es nicht, wie viele Stunden und Wochen, während außerhalb des Krankenzimmers der glühend heiße Wind von New Mexico weiter durch die sonnenhellen Tage weht, Windböen tragen Glimmer heran, Grus, der in Nasen, Münder, Lungen eingeatmet wird, Windböen wie das wilde Lachen der Wüstengötter, und nach der Dämmerung legt sich der Wind, lässt nach, und die Nacht ist mit einem Mal kühl und New Mexico keine warme Gegend mehr, sondern die Wüstenhochebene, und dir wird klar, wie weit ihr gereist seid, wie viele Tausende Meilen (leichtsinnig) bis hierher von eurem bequemen Stadthaus in der Monroe Street in Cambridge, den Bücherwänden, den Bücherregalen in Schlafzimmern und Badezimmern, in schmalen Fluren, den Bücherstapeln im Keller, Büchern, nach wie vor in Kisten verpackt seit dem Umzug vor zwölf Jahren, als ihr mutig versprochen habt, gemeinsam durchs Leben zu gehen, gelacht habt vor Leichtsinn, vor Sehnsucht und Liebe. Willst du diesen Mann nehmen? Ja, ja! Willst du diese Frau nehmen? Aber ja – ja …
In guten und in schlechten Tagen. Bis dass der Tod uns scheidet.
Entsinnst dich mit Schrecken, wie glücklich du die Worte ausgesprochen hast. Als ließen sie sich so deuten: bis dass der Tod uns scheidet, ein Glück.
Feucht vor Schweiß, aber bibbernd und mit klammer Haut, beklommen vor Angst vor dem Kommenden. Im Film: unheilverkündende Musik. Im Krankenzimmer: nur das Geräusch des Atmens.
Anfangs, nach der Einlieferung ins Krankenhaus, sah Gerard noch scharf, war geistig noch klar.
Hustenanfälle, Bronchitis, Sedierung notwendig, weil er nicht schlafen konnte, nicht atmen konnte, ohne zu husten, geistig aber noch klar, noch nicht unzähligen Tests unterzogen, noch nicht angegriffen von den starken Opioiden, die seinen Geist trübten. Noch nicht in das angeschlossene Krebszentrum verlegt – ein schwerer Schlag für seine Stimmung, und für deine. Antibiotika, Blutverdünner, Oxycodon, Computertomografien, Biopsien, fMRI. Anfangs schien die Prognose nicht klar zu sein. Anfangs hatte es den Anschein, als wüchsen die zuerst entdeckten Krebsgeschwülste (in der Lunge, den Nieren) nur langsam. Sogar nach diesen ernüchternden Nachrichten und unter den neuen Umständen bestand Gerard noch darauf, arbeiten zu wollen, war wütend, so viel Zeit zu vergeuden, verfluchtes Pech, acht Monate am Institut, der erste bereits verstrichen, und er hatte kaum etwas vorzuweisen. Er wollte unbedingt arbeiten, lehnte Medikamente ab, die ihn benommen machten, jedenfalls so lange, wie er es aushielt, instruierte dich, was du ihm aus dem Büro im Institut mitbringen solltest, wie du ihm beim vierhundert Seiten langen redigierten Manuskript seines nächsten Buchs mit dem provokanten Titel Das Unbehagen am menschlichen Verstand helfen konntest; Gerard hatte die Angewohnheit, jede Frage eines Lektors sorgfältig und von Hand auf gelben, an den Rändern des Manuskripts befestigten Klebezetteln zu beantworten – ein Gerard-typisches Manuskript war mit solchen gelben, an Gebetsfähnchen erinnernden Zetteln gespickt.
Vielleicht kriege ich hier etwas geschafft, vielleicht ist meine Zeit außerhalb der Zeit nicht vollkommen vergeudet.
Er wollte glauben, sein Aufenthalt im Krebszentrum von Santa Tierra sei nichts Ernsteres als eine Auszeit zum Zweck der Behandlung, eine Gelegenheit für konzentriertes Arbeiten.
Hoffnung ist der vergiftete Köder. Menschen essen davon und sterben.
Erst allmählich begreifen, dass Hoffnung eine falsche Fährte ist, Betrug. Hoffnung ist das, was du nicht in den Blutkreislauf eindringen lassen darfst. Hoffnung ist das, woran du nicht glauben darfst. Hoffnung bricht dir das Herz, denn sie vernebelt die sorgsam gewählten Worte des Onkologen: Dr. McManus, ich habe ein Gespräch des Palliativarztes mit Ihnen und Ihrer Frau angesetzt, doch keiner von euch hört es; ihr hört stattdessen Computertomografie, Biopsie, Bestrahlung, die kleinen Tumore »zertrümmern«, Tumor in der Harnröhre mit Immuntherapie schrumpfen, Physiotherapie, eiweißreiche Ernährung. Während der vielen Tests, die dein Mann über sich ergehen lassen muss, wird dir klar, was Geduld bedeutet. Denn die ist vonnöten, wenn der Patient (wieder) gesund werden will: wenn das Blutbild sich bessern und Lunge, Herz, Nieren, Magen, Harnröhre – gegen alle Wahrscheinlichkeit – wieder normal arbeiten sollen. Wenn ein fein gestimmter Organismus wie der Körper eines Patienten funktionieren und nicht entgleisen soll, weil Neuronen fehlerhaft feuern oder Rippen morsch sind und daher leicht brechen, weil sich Blutgerinnsel in Oberschenkel, Lunge, Nieren gebildet haben oder ein plötzlicher Hustenkrampf Tage der Besserung zunichtemacht, wie ein Trottel feines Kristall zerschlägt. Aber wenn der Appetit schwindet und vergeht, wenn der Patient, der immer gern gegessen hat, ärgerlich den Kopf schüttelt – Nein, nicht das. Nein –, wenn der Patient ungeduldig ist, »nicht er selbst« – was soll dann geschehen?
Was geschehen ist und nicht ungeschehen gemacht werden kann?
Dann verlangsamt sich die Zeit. Tage und Nächte vergehen unerbittlich, aber die Zeit hat sich verlangsamt. Jeder Tag, jede Nacht ist endlos. Jede Stunde. Es besteht die Möglichkeit – Ist das so? Oder bildet sich die Frau des leidenden Mannes das nur ein? – einer Blutstammzellentransplantation, wenn (rechtzeitig) ein passender Spender gefunden wird. (Wäre Michaela McManus als Spender geeignet? Du hast darum gebeten, getestet zu werden, warum hat Dr. N__ keine Lumbalpunktion angesetzt?) Die Knochenmarkspende ist einer der kompliziertesten medizinischen Eingriffe und zugleich einer der teuersten, nimmst du an. Das entscheidende Wort ist aber wohl rechtzeitig. Es muss ein Spender gefunden werden, das Prozedere muss de facto unverzüglich beginnen, warum dauert im Krebszentrum von Santa Tierra alles so lange?
Scharfkantige Wolken an einem Himmel, der in den Augen schmerzt, eine Schönheit, unbekannt im Osten, wo das Stadtbild drei Viertel des Himmels ausfüllt und die Luft durchsetzt ist mit Dunst. Verglichen mit dem Ufer des Charles River, wo du dir beim Joggen ein dünnes talgiges Sekret aus den Augen reibst und durch die Luft schwebende Giftstoffe aus Autoabgasen und Industriemüll in das zarte rosa Lungengewebe eingesaugt werden, ist es viel gesünder, in Santa Tierra, New Mexico, zu leben, in größerer Höhe, obwohl man hier (durchaus) schlecht schläft, weil Luft und Blut so dünn sind. Pochende Kopfschmerzen, denn du hast mehrere Nächte in Folge nie mehr als ein paar unruhige Minuten am Stück geschlafen, bist desorientiert, kurzatmig, weil die Wache bereits begonnen hat; ehe du begreifst, was hier geschieht, hat die entsetzliche Wache begonnen und eilt auf ihr (unausweichliches) Ende zu wie eine Lawine, die beim Abgang über den Berg immer mächtiger wird und Fahrt aufnimmt. Da eine Nacht ist wie die andere, erscheinen sie alle unpersönlich, wie ein nicht beschriebenes Blatt. Und wenn du einmal über Nacht im Haus gewesen bist, nicht zu Hause (du und dein Mann, ihr habt dieses unwohnliche Haus nie Zuhause genannt, nur das Haus), stolperst du den Berg hinab, gehst wie ein Schlafwandler den Weg zum Institutsgelände hinunter und durch das Institutsgelände zur ersten Straße und zur zweiten, um diese Stunde fast menschenleeren Straße und zuletzt zum Buena Vista Boulevard mit seinen hohen weißen Laternen, gehst jetzt eine halbe Meile in scharfem Tempo, verfällst in einen Laufschritt, als du dich dem Krankenhaus näherst, keuchst, sprichst das kläglichste aller Gebete: Lieber Gott, mach, dass es ihm gut geht, mach, dass er lebt – einmal noch … gibst dich dem müßigen Gebet an einen Gott hin, an den du nie geglaubt hast, gewillt, sämtliche Tricks anzuwenden, wie ein verzweifelter Spieler trotz katastrophaler Verluste weiter zahlreiche Wetten abschließt.
Du näherst dich dem beige verputzten Hochhaus, dem Krebszentrum, wo du in Zimmer 771 ungeduldig erwartet wirst. Denn Gerard hat dich an diesem Morgen mit Anrufen bombardiert: der erste schon um fünf Uhr sechzehn, der zweite um sechs Uhr zwanzig, der dritte um sechs Uhr siebenundvierzig, da bist du richtig wach und mit vor Furcht/Aufregung klappernden Zähnen auf den Beinen, machst dich für den Gang ins Krankenhaus fertig, ohne vorher zu duschen oder auch nur die Kleidung zu wechseln, die du gestern getragen und nicht ausgezogen hast, als du aufs Bett gesunken bist. Das ist in der Phase, als Gerard noch mit dem Handy telefonieren konnte, sich verwirrt beschwerte, über sich ärgerte, ungeduldig mit sich war, (noch) nicht einsah, dass seine Krankheitseinsicht, ganz gleich, wie es darum bestellt war, nicht den geringsten Einfluss auf die Erkrankung hat, dass seine Einsicht, wie löblich auch immer, wie klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, nicht den geringsten Einfluss darauf hatte, ob er achtundvierzig Stunden später noch am Leben sein würde, in der Phase, als er sich sogar noch zu lachen traute, sich entschuldigte: Es tut mir so leid, Michaela. Dass das passiert ist und uns die Zeit hier in – wo immer wir sind … New Mexico, in einer so schönen Gegend, Herrgott! – verpfuscht, ich in dem verdammten Krankenhaus …
Und du ihm versicherst: Aber du kommst bald raus. Dann …
Aus endlosen Tagen wird eine rasch verflogene Woche, aus einer Woche werden mehrere, eines Tages staunst du beim Blick auf den Kalender, wie viel Zeit vergangen ist, und trotzdem hat Gerard sich (noch) nicht so weit erholt, dass er aus dem Krankenhaus wenigstens in eine Rehabilitationseinrichtung entlassen werden kann. Du hältst dich für eine willensstarke Schwimmerin, willst nicht untergehen, willst bis knapp über die Grenze deiner Leistungsfähigkeit hinaus schwimmen und den Kopf über Wasser halten, willst verhindern, dass du das von der Sonne erwärmte Wasser schluckst, wenn du nach Luft ringst, verhindern, dass du das von der Sonne erwärmte Wasser durch die Nase und in die Stirnhöhle einatmest, bist auf eine Art (beinahe) stolz auf dich, weil deine Ausdauer deine eigene Erwartung weit übertrifft.
Und doch: vom Ort des Geschehens fliehen, wenn Gerard zu einem Scan, zum Röntgen, zur Magnetresonanztomografie abgeholt wird. Den hohen Schatten des Krebszentrums verlassen und den Stoß reinen Adrenalins im Herzen spüren, in einen sehr schnellen Schritt verfallen, die Beine so flink wie die rasch pumpenden Beine eines Roboters. Dich antreiben, bis auch du nach Luft ringst, nach Sauerstoff, atemlos in dieser großen Höhe, wo die Luft rasierklingendünn ist, denn sonst kannst du nachts nicht schlafen: kannst nachts dein verwirrtes Gehirn nicht abschalten und findest keinen Schlaf: ein Gehirn, leuchtend wie Neonlicht, das dich nachts nicht schlafen lässt: ein Gehirn, das summt und knistert wie eine Insektenfalle, wie das Prasseln grellster Höllenfeuer, das dich nachts nicht schlafen lässt.
Dich verausgaben, bis du buchstäblich taumelst. Endlose Tage, die vor Morgengrauen beginnen und nach Mitternacht enden. Voll bekleidet auf dein Bett sacken, sogar zu müde, die rosa-grauen Laufschuhe mit den dunkelrosa Schnürsenkeln, die du, ein ganzes Leben ist das jetzt her, mit Gerard in einem Sportgeschäft in Cambridge, Mass., ausgesucht hast, von den Füßen zu schleudern.
Umkippen, fallen. Hinab hinab hinab.
Und dann am Morgen ruckartig hochfahren. Ist er –? Doch nein, er liegt nicht neben dir.
Ist nicht im Bad und lässt das Wasser laufen. Summt nicht vor sich hin. Hustet nicht. Ist nicht da.
(Entsetzt) (in einem Trancezustand) keuchend den »malerischen« gewundenen Vista Drive hinunterrennen, dich auf der (einspurigen) Straße ganz links halten, da Fahrzeuge, die bergab unterwegs sind, dich passieren, um diese Stunde noch sehr wenige. Kaum ein Blick für die blühenden Pappeln, Kakteen. Glyzinien, Lavendel, Rosmarin, zu im Nordosten unvorstellbarer Höhe aufgechossen.
Dein erster voller Tag in Santa Tierra, den Vista Drive in die Stadt hinabgegangen mit Gerard, händchenhaltend wie ein junges Liebespaar. Dieser Aufenthalt, das wird wie Flitterwochen! – nach eurer Hochzeit hattet ihr im Grunde keine Flitterwochen gehabt.
Das Märchen, das ihr euch selbst erzählt. Das Märchen, das ihr euch erzählt, wieder und wieder.
Ein Märchen, das nichts und doch (offenbar) alles erklärt. Aus der anfangs diagnostizierten bakteriellen Lungenentzündung werden nach einer schwindelerregenden Abfolge von Tests ein Blutgerinnsel in der (infizierten) Lunge, ein Blutgerinnsel im rechten Oberschenkel, kleine Tumore an Nieren und Lunge und, nach unerklärlicher Verzögerung, schließlich ein Tumor in der Harnröhre, mit vier mal vierzehn Zentimetern zu groß für eine chirurgische Entfernung. Vorgesehen sind Bestrahlung, Chemotherapie und Immuntherapie. Und was ist mit dem beim Patienten gemessenen hohen Kreatininwert, droht möglicherweise Nierenversagen? (Eine Computertomografie der Nieren erbringt ein fortgeschrittenes Nierenleiden, von dem die Ehefrau nichts wusste: Der Ehemann hatte Prostatasymptome offenbar jahrelang ausgeblendet.) Was ist mit Metastasen in Lymphknoten? Im Gehirn? Was mit geschwollenen Knöcheln, Handgelenken, dem rechten Arm? Die einzelnen Stunden und Tage ziehen sich zwar nervenaufreibend langsam hin, trotzdem geht alles aber sehr schnell, Gewichtsverlust, eingefallene Wangen, trübe Augen, Opioide und Delirium, ein Arzt nach dem anderen, ein Test nach dem anderen, ein Plastiktablett mit Essen nach dem anderen, ins Zimmer getragen und dem Patienten angeboten, eine kaum angerührte Mahlzeit nach der anderen, bis du zuletzt eines Morgens nach der Hand deines Mannes greifst und weinst: Lass mich nicht allein! Lass mich nicht allein! – bettelst wie ein Kind, hilflos schluchzt wie ein Kind, wie kann diese Frau, die völlig außer sich ist, du sein? – in Tränen aufgelöst, und noch mehr Tränen, ein nicht enden wollender Tränenstrom bei einer, die behauptete (sich rühmte), dass sie kaum weint, seit Jahrzehnten nicht geweint hat, nicht seit dem Tod ihrer Eltern, dem Tod einer geliebten Großmutter, dass sie keine Tränen mehr hat, und die nun ständig weint, wenn sie allein ist, irgendwo für sich, im Beisein des Patienten aber nicht weinen will, denn das würde ihn bloß ängstigen und demoralisieren.
Alles geschieht für den Patienten. Im Dienste des Patienten und Ehemanns. Du, die Ehefrau, gehst jeden Handel ein.
Flehst am Bett des Mannes: Kannst du versuchen, etwas zu essen, Gerard? Bitte, versuch etwas zu essen. Die Suppe ist heute Tomatencreme, schmeckt sogar ganz gut, ich glaub, die könntest du mögen … nein? Der Joghurt ist Blaubeere, den isst du doch am liebsten, willst du mal probieren? Bitte? Wie man auf ein widerspenstiges Kind einredet. Hebst einen weißen Plastiklöffel zum Mund deines Ehemannes, der ihn für einen Moment finster betrachtet und dann mit einer abschätzigen Geste, bei der es dir kalt den Rücken hinunterläuft, fortstößt.
Bitte, bitte, bitte, versuch doch etwas zu essen. Du hast fünfzehn Pfund abgenommen, du musst essen …
Hörst dich selbst: betteln.
Riskierst den Zorn deines Mannes: betteln.
Die Palliativmedizinerin hat behutsam mit dir, der Ehefrau des Patienten und Ehemannes, gesprochen. Die Palliativschwester hat behutsam mit dir gesprochen. Sie sind freundlich, taktvoll, sprechen leise und liebevoll. Die Stationsschwestern und Schwesternhelferinnen haben dich mit ihrem traurigen Lächeln und ihrer Zuvorkommenheit darauf eingestimmt, der Onkologe, Dr. N__, auf dessen Veranlassung Gerard McManus ins Krebszentrum von Santa Tierra aufgenommen worden ist, weicht dir geschickt aus, deinen geröteten Augen, deinem wunden Blick, was (du begreifst es mit der Zeit) nur eine andere Art und Weise ist, dich auf das Schlimmste vorzubereiten, denn dem eleganten Dr. N__, der unter dem weißen Jackett gern farbenfrohe Leinenhemden trägt, zuweilen sogar eine Fliege, ist der Verlust eines Patienten peinlich. Und der (mögliche, eventuelle) Verlust eines Patienten mit dem Ansehen eines Gerard McManus vom Institut für Spitzenforschung in Santa Tierra ist sehr peinlich und wird zum Anlass für kunstvolle Umschreibungen, unangenehme Scherze und Anspielungen, die sogar Gerard McManus schleierhaft sind, obwohl er trotzdem höflich lacht, wenn es ihm geboten scheint.
Du lachst nicht über Dr. N__s unangenehme Scherze. Du starrst Dr. N__ hungrig in das maskenhafte Gesicht und willst, dass die Augen in dieser Maske in Kontakt mit dir treten, was sie nur selten tun.
Und nun ist es später. Irgendwie ist es später geworden. Aus Tagen sind Wochen geworden, und deshalb ist es später. Ihr hattet zurückgehen, hattet zurückblicken wollen, du und Gerard, ihr beide, euch das Geschehene noch einmal vor Augen führen, die Abfolge der Ereignisse rekapitulieren, angefangen bei eurer Ankunft am Flughafen von Albuquerque: so viel in Erinnerung zu rufen, in chronologischer Ordnung im Gedächtnis zu bewahren! – mit dem quälend langsamen und zugleich schnellen Vergehen der Zeit wird es, nehmt ihr an, eine Auszeit geben, die es euch erlaubt, das Geschehene zu begreifen, und doch – auch wenn ihr auf eine Verschlechterung vorbereitet wart, wart ihr (wie sich zeigt) keineswegs auf die Verschlechterung vorbereitet, zu der es (tatsächlich) kam, zunächst nicht mal schnell, dann jedoch schon, und anscheinend auch unumkehrbar: Gewichtsverlust, Austrocknung, Nierenversagen, der Druck des (vier mal vierzehn Zentimeter großen) Harnröhrentumors auf den Magen, was zu Übelkeit führte, unvorstellbar, dass der Patient und Ehemann (bei dem es sich zufällig um Gerard handelt) bei der Belastung seiner Organe, Herz, Lunge, Nieren, Leber, noch viel länger durchhält; er hat seit Wochen keine Mahlzeit zu sich genommen; was sich zunächst wie Snobismus ausnahm, wie eine Geringschätzung des mittelmäßigen Krankenhausessens, auf die man auf verdrehte Weise (fast) stolz sein konnte, entpuppt sich als Symptom der Krankheit und nicht als erlesener Geschmack; jetzt kann er, auch wenn er sich bemüht, nicht essen, hat die ganze letzte Woche kaum etwas zu sich genommen; er würgt sogar, wenn er weiche Nahrung schlucken will, würgt sogar, wenn er Flüssigkeiten schlucken will; er ist sichtlich sehr erschöpft, Knöchel und Handgelenke sind stark geschwollen; der Urin staut sich in seiner (harten, geschwollenen) Blase, Ödeme dieser Art können als solche bereits tödlich sein, deshalb musst du dich natürlich auf das Ende vorbereiten, auf seine letzten Minuten; du musst dich vorbereiten, doch deine Gedanken entschweben in einem Dunst der Unwissenheit; du erinnerst dich an euer Kennenlernen bei einem Konzert von Murray Perahia in Cambridge, eine reine Zufallsbegegnung, ein gemeinsamer Bekannter, der in eurem späteren Leben keine Rolle mehr spielte, hat euch einander vorgestellt.
Auf den ersten Blick. Nun ja – fast.
Aber ja, ich glaub, wir wussten es beide.
Nach der Hand eines Fremden greifen! Denn so ist es Brauch.
Und jetzt, Jahre später, das katastrophale Ende. Ihm entgegengehen. Jetzt muss der Preis für so viel Glück bezahlt werden.
Zu groß für eine chirurgische Entfernung. Als du das hörtest, wusstest du es. Gerard wusste es.
Wieder nach der Hand des Mannes greifen. Derselben Hand. Was hätten Worte in dem Moment ausrichten können. Und dieses Mal fühlte sich die Hand, die Jahre zuvor so warm gewesen war, so kräftig und freundlich, kalt an, weniger empfänglich.
Wo aber geht die Liebe hin?, fragst du dich. Wenn der Körper des Mannes dir genommen ist.
Solche Gedanken kannst du nicht festhalten. Geht dir so ein Gedanke durch den Kopf, ist er im selben Moment schon wieder verschwunden.
ATME! ICHLIEBEDICH.
Jetzt für euch und allein. Endlich allein. Nicht durch hereinplatzendes medizinisches Personal unterbrochen werden. Keine Mahlzeiten mehr, Mahlzeiten sind eingestellt. Keine Überwachung der Vitalzeichen mehr, diese Routineabläufe ruhen. Du sagst dir, das ist so gewollt. Ist erwünscht. Ist das dir gegebene Versprechen: Du allein darfst deinen (sterbenden) Ehemann trösten, darfst ihm die rissigen Lippen mit Salbe einreiben, darfst ihm mit einer kühlen Kompresse die Stirn abwischen; deine leise gemurmelten Worte, (vielleicht) hört er sie; auch wenn er (vermutlich) nicht reagieren kann, hört er dich (vielleicht), wenn du ihm etwas zuflüsterst, ihn in die Arme schließt, ihm noch einmal zumurmelst, wie sehr du ihn liebst, was für ein wunderbarer Ehemann er gewesen ist, wie glücklich du in deiner Ehe gewesen bist; die Geschichte, die du erzählst, wieder und wieder, dass er dein Leben für immer verändert hat; sogar als das Atmen für ihn zur Tortur geworden ist und eine Tortur, es zu hören, das heisere, schwere Atmen, das erstickte Atmen, die qualvolle sekundenlange Pause zwischen den Atemzügen; und wenn du denkst: Das ist das Ende, nichts mehr, folgt ein weiterer keuchender Atemzug und noch einer und noch einer, vor Anstrengung zitternd, als würde ein riesiger Felsbrocken vom Eingang einer Höhle fortgeschoben und sie mit Sonne geflutet, um den in ihrem Dunkel eingeschlossenen Geist zu befreien. So oft hat dich in den vergangenen Tagen ein wildes Hochgefühl erfasst – Nein. Er stirbt nicht, es geht nicht zu Ende. Es geht schon ewig so, es endet nicht. Ich lasse es nicht zu Ende gehen. Und nach den fast zwanzig Tagen, die dein Mann nun schon im Krankenhaus liegt, glaubst du halb, dass diese Zwischenzeit, diese Qual nicht endet, es könnte leicht noch lange so weitergehen, und bis dahin ist es (durchaus) möglich, dass ein neues Verfahren zur Schrumpfung von Metastasen entwickelt und zugelassen wird; (durchaus) möglich, dass dieses vollkommen neue Verfahren im Krebszentrum von Santa Tierra übernommen wird, vielleicht gibt es eine Arzneimittelstudie, in die Gerard McManus aufgenommen werden kann, all das ist mitnichten weit hergeholt, nicht nötig, dafür an Wunder zu glauben, und du glaubst ja nicht an Wunder und glaubst es trotzdem. Denn du liebst ihn so sehr, es ist eine Qual für dich. Du solltest ihn loslassen, kannst ihn aber unmöglich loslassen, sondern flehst nur weiter: Oh, Liebling, atme! Atme! – bist gelähmt vor Angst, verzweifelst daran, diesen Mann zu verlieren, den du mehr liebst als dich selbst, willst ihn nicht überleben, hattest naiverweise sogar irgendwie vor, Schlaftabletten ins Krankenzimmer mitzunehmen, eine Handvoll Barbiturate aus deinem häuslichen Vorrat, es (irgendwie) fertigzubringen, die Tabletten zu nehmen und aufzuhören zu atmen, wenn dein Ehemann aufhört zu atmen, eine romantische Idee, der du dich in deiner Erschöpfung hingegeben hast, die jedoch (natürlich) nicht verwirklicht werden kann; hättest du mit deinem Ehemann in den Armen sterben wollen, hättest du eine Strategie ersinnen und rechtzeitig Vorkehrungen treffen müssen, hättest deinen Ehemann aus dem Krebszentrum holen und in eurer Bleibe ein Hospiz einrichten müssen, wo ihr die Ruhe für so eine (noble?) Tat gehabt hättet; doch du hattest (natürlich) keine Vorkehrungen getroffen, Tage und Wochen sind verstrichen, und jetzt ist es zu spät, denn du hast dich bloß zögerlich erkundigt, mehr hast du nicht unternommen, du warst so abgelenkt von der Qual deines Mannes, so gefesselt von seinem Leid und von deiner unabänderlichen Einsicht, dass du nicht mehr Einfluss darauf hast, was deinem Mann und dir widerfährt, als wärt ihr beide dürres Laub, umhergeweht vom glühend heißen Wüstenwind.
Atme! Hör. Nicht. Auf.
Wahnsinn! Du kannst nicht aufhören, deinen Mann anzuflehen, kannst ihn nicht aufgeben vor Angst, ihn zu verlieren, auch wenn er nach Luft schnappt wie ein Fisch an Land, der sich beim Ersticken krümmt. Die verstörte Frau, schluchzend, hilflos und gebrochen, ohne jede Scham, ohne Hemmungen, willst seinen Körper jetzt mit beiden Armen halten, drückst dein heißes feuchtes Gesicht in seine Nackenbeuge, flehst immer noch, er soll dich nicht alleinlassen, nicht verlassen, gelähmt vor Entsetzen vor dem, was sich hier vollzieht, dem Höhepunkt von Wochen, Tagen, Stunden, dem Höhepunkt des Lebens eines Mannes von achtundvierzig Jahren; dieser eine, dieser endlose Tag, der im Morgengrauen begann, schon zwölf, dreizehn und nun vierzehn Stunden andauert, während dir nach und nach klar wird, dass der Tod bereits im Raum ist, der Tod hat sich, von dir unbemerkt, in das Zimmer eingeschlichen, hockt in einer Ecke des Raums an der Zimmerdecke, ein sich verdunkelnder Schatten, ein Fleck, ein dunkler sternenförmiger Fleck, der sich ausbreitet wie eine Sonnenfinsternis, die dein Leben verfinstert.
Du weißt es, du begreifst. Und weißt es doch nicht und begreifst doch nicht. Du bist von Sinnen, bist hysterisch. Hast jeden Anstand verloren. Rufst: Nein! Atme! Verlass mich nicht – nein!, während dein erschöpfter Ehemann schon in deinen Armen stirbt, ein letzter rasselnder Atemzug und eine lange qualvolle zitternde Pause und ein letzter Stoßseufzer tiefster Ermüdung, der Todesseufzer, mit dem ein Mann sein Leben aushaucht.
Diesen Seufzer wirst du niemals vergessen. Diesen Seufzer wirst du praktisch jede Stunde jedes Tages deines restlichen Lebens hören.
Den Seufzer und die Stille, die ihm folgt wie die Stille nach einem Donnerschlag.
3
Post mortem
Mrs. McManus? – Sie können so lange bei Ihrem Mann bleiben, wie Sie möchten.
Wir warten draußen im Korridor.
4
Aus der Zeit gefallene Zeit
Tagsüber war die Zeit glühend heißer Winde. Nachts die steinkalter Windstille. Eine Zeit, die aus der Zeit ihres Zusammenlebens (als Ehepaar) herausfiel; ein achtmonatiger Stipendiatsaufenthalt von Gerard McManus am Institut für Spitzenforschung in Santa Tierra, New Mexico, wo sie niemanden kannten. Siebenundzwanzig Meilen nördlich von Albuquerque, wo sie niemanden kannten.
Ja, sie kannten niemanden in New Mexico, wo beide noch nie gelebt, das sie nicht einmal besucht hatten.
Eine für sie neue Gegend. Eine Wüstenhochebene, Heerscharen von wie gemeißelt wirkenden Wolken, dunkelviolette El-Greco-Himmel, die den Blick, eingeschüchtert vom Schönen, schmerzlich wie scharfer Stahl, unwillkürlich nach oben zogen.
Und die Luft auf eintausendsechshundert Metern über dem Meeresspiegel glasklar, weißstichig, spürbar dünner als die (schmutzige) Stadtluft, die sie aus Cambridge, Mass., fast auf Meereshöhe, gewohnt waren.
In dieser grellen Mondlandschaft konnten sie nie richtig frei durchatmen. Vor allem Gerard, der als Kind Asthma gehabt hatte und für Atemwegsinfektionen anfällig geblieben war.
Michaela, die in Cambridge frühmorgens für eine Stunde am Charles River laufen ging, machte zu schaffen, dass sie binnen Kurzem außer Atem war, wenn sie auf dem Wanderweg in einem Canyon in Santa Tierra joggte oder Berge zu schnell erstieg. Nachts durch das panikartige Gefühl, keine Luft zu kriegen, aus dem Schlaf gerissen, als habe sie auf Nase und Mund ein Kissen liegen oder eine Geisterhand oder ein in Äther getauchtes Tuch … Zuerst nicht wusste, wo sie war, was für ein Haus das sein konnte, so sparsam möbliert und mit grellweißen Wänden, senkrechten Glaspaneelen, einem Mond, so grellweiß, als leuchte Radioaktivität durch die Schlafzimmerwand – in Wirklichkeit aber ein Fenster in einem Winkel zu ihrem Bett, wo, sie hätte es schwören können, keines sein konnte.
Doch dies war ein neues Haus. In einer neuen Landschaft. Farben, rein und matt wie Stein, auf denen natürliches Licht blenden konnte. Und diese Szenerie, stark davon abstechend, geschmückt mit exotischen Kakteen, Glyzinien mit Ranken, dick wie Abgottschlangen, mit Malven, Wüstenbeifuß, Lavendel und Rosmarin, in einer in Massachusetts unvorstellbaren Größe.
Ein noch unbelebtes Haus. Ein Haus, das sie noch zu ihrem machen mussten.
Innen überraschend wenig Farbe. Denn es war ein privates Wohnhaus, errichtet im nüchternen Stil von Frank Lloyd Wright, der das 1951 entstandene Institutsgebäude selbst entworfen hatte.
Die Atmosphäre im Hausinnern war die eines Museums für minimalistische Objekte. Grimmige Kriegermasken der Native Americans auf dem Kaminsims und an den Wänden; große klobige Kerzen, die aussahen, als würden sie beim Brennen giftige Rauchwolken ausstoßen, so grob war ihre Oberfläche; primitive geschnitzte Tierfiguren, von Gila-Krustenechsen bis zu dickbäuchigen Gottheiten oder Dämonen, die man irrtümlich für Buddhas halten konnte, wenn man nicht genau hinsah. Eine Dämongöttin mit Hängebrüsten und schreiendem Mund, spitzen gebogenen Klauen als Fingern und einer, wie es schien (weder Michaela noch Gerard waren an einer zu genauen Inspektion interessiert), ungeschlachten Vagina, die zwischen den gespreizten Beinen klaffte. Eine männliche Figur mit unverhältnismäßig großem Schädel, von dem dickes schwarzes (menschliches?) Haar in Strähnen bis zu den Schultern herabhing, aufgerissenem Mund, aufgetriebenem Bauch und einem dünnen steifen Penis, der sich aufwärts bog wie eine Schlange – der Aasfressergott Ishtikini, wie Michaela erfuhr, dessen Appetit unstillbar war.
Im großen Schlafzimmer saß ein gedrungenes, froschartiges Wesen mit Glubschaugen, als Nase dienenden vertikalen Öffnungsschlitzen und einer höckrigen Haut, die wie aus verkalktem Schlamm gefertigt schien – eine Schnitzerei aus Hartholz und um einiges größer als ein Ochsenfrosch. Am seltsamsten war ein lebensgroßer Hirschkopf aus einem Geflecht zahlloser Lederstreifen, zusammengehalten von Heftklammern, die kleinen Samenkörnern ähnelten; seine Augen waren verschiedenfarbige Murmeln, und sein fünfundzwanzig Zentimeter langes Geweih war das echte Geweih eines Hirschs, bei dem eine Sprosse angeknackst war und schief abstand.
»Oh, Gott. Was ist das?«, rief Michaela verärgert aus.
Sie entwickelte eine starke Abneigung gegen diese Artefakte oder was immer sie waren und verstaute sie (heimlich) in Schränken und Schubladen in der Hoffnung, Gerard würde sie nicht vermissen; falls doch, würde sie sagen, diese hässlichen Gegenstände seien keine Kunst, sie bezweifle, dass sie überhaupt authentisch indigen waren.
Besonders missfiel ihr die (obszöne) weibliche Figur. Die konnte nur von einem männlichen Künstler geschaffen worden sein und war so grässlich, dass Michaela sie nicht bloß in einen Schrank verbannte, sondern zusätzlich ein Tuch darüberbreitete.
Authentische indigene Kunst würden sie schon gern besitzen wollen, keine Frage. Vor ihrer Anreise hatte sich Gerard über Werke angesehener regionaler Künstler der Navajos und Taos Pueblo informiert, von denen er welche erwerben und in ihr Haus in der Monroe Street in Cambridge mitnehmen wollte. Es gab wunderschöne Schnitzereien, vor allem von Tieren, handgewebte Läufer und Wandbehänge, Quilts, die »Geschichten erzählten«.
Ja!, hatte Michaela zugestimmt. Der Haushalt, in den sie vor zwölf Jahren als Gerards Frau gekommen war, konnte eine Auffrischung vertragen.
Ihr Herz war erfüllt von der Hoffnung, diese Auszeit wären die Flitterwochen, für die ihnen immer die Zeit gefehlt hatte.
GEHWEG! VERSCHWINDE!
Du bist hier nicht erwünscht.