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Eines Tages fasst Ma Thanegi den Entschluss: Jetzt ist es Zeit, das eigene Land kennenzulernen. Sie bucht eine der populären Pilgerreisen im Bus: 29 Städte und 60 berühmte Pagoden in achtzehn Tagen. Als die Reise beginnt, erlebt die westlich orientierte Journalistin aus der Hauptstadt ihre Heimat Burma ganz neu. »Das Sprichwort ›Beim Huldigen in der Pagode Ausschau nach Schildkröteneiern halten‹ bringt den Charakter der Pilgerreise zum Ausdruck, wonach Religion, Urlaub und auch Geschäfte Teil davon sind. Meine Pilgerfahrt brachte mir zahlreiche wertvolle ›Schildkröteneier‹ ein, zu denen nicht zuletzt die Wärme und Freundschaft von Fremden sowie Einblicke in ihre Lebensumstände gehören.« Ma Thanegi
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Seitenzahl: 328
Veröffentlichungsjahr: 2018
Eines Tages fasst Ma Thanegi den Entschluss: Jetzt ist es Zeit, das eigene Land kennenzulernen. Sie bucht eine der populären Pilgerreisen im Bus: 29 Städte und 60 berühmte Pagoden in achtzehn Tagen. Als die Reise beginnt, erlebt die westlich orientierte Journalistin aus der Hauptstadt ihre Heimat Burma ganz neu.
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Ma Thanegi (*1946) ist Malerin, Schriftstellerin und Journalistin. 1988/89 war sie Mitarbeiterin der Oppositionspolitikerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi und verbrachte nach der Zerschlagung der Oppositionsbewegung drei Jahre im Gefängnis.
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Diethelm Hofstra lebt als freier Übersetzer aus dem Chinesischen, Indonesischen und Malaysischen in Lohmar. Zudem arbeitet er seit mehr als zwanzig Jahren als Reiseleiter durch Nepal, Indien, China und Indonesien.
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Ma Thanegi
Pilgerreise in Myanmar
Reisebericht
Aus dem Englischen von Diethelm Hofstra
E-Book-Ausgabe
Horlemann @ Unionsverlag
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Dieses E-Book des Horlemann-Verlags erscheint in Zusammenarbeit mit dem Unionsverlag.
Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel The Native Tourist in Yangon.
Die deutsche Erstausgabe erschien 2002 im Horlemann Verlag, Berlin.
Originaltitel: The Native Tourist
© by Ma Thanegi 2000
© by Horlemann Verlag 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Galyna Andrushko
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30506-9
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
PILGERREISE IN MYANMAR
DanksagungInspirationErster Tag — Eine Pagode auf einem Hügel und ein gurgelnder WasserlaufZweiter Tag — Marktstände und MeditationDritter Tag — Eine Drachenhöhle und das AffenlandVierter Tag — Wohnsitz einer Göttin und ein Baum mit weißen BlätternFünfter Tag — Glorreiches BaganSechster Tag — Gottesfürchtige Schlangen und MandalaySiebter Tag — An Heimweh kränkelnde Statuen und das Heiligtum SagaingAchter Tag — Ein Baby als Novize und zurück nach MeikhtilaNeunter Tag — Eine goldene Spinne und ein langer AufenthaltZehnter Tag — Der Staat Shan und Statuen in einer HöhleElfter Tag — Ein blauer See in den BergenZwölfter Tag — Zurück nach MandalayDreizehnter Tag — Ein entstehender Film und eine LieblingstanteVierzehnter Tag — Eine zusammengebrochene Brücke und nackte HinterbackenFünfzehnter Tag — Näherrückendes China und Starren auf glamouröse ReisendeSechzehnter Tag — Verkäufe unter der Hand und der Barbier der reichen DameSiebzehnter Tag — Vergessen von Streitigkeiten und Schutz vor SpannernAchtzehnter Tag — Ein Nachtzug und Männer ohne Macho-AllürenWorterklärungenAbbildungsverzeichnis
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Den Begriff »Gemeinschaftspinkeln« prägte meine Freundin Vicky Robinson, die ihre persönliche Pilgerfahrt durch Myanmars Südwesten im Februar 1996 unternahm, während ich im Nordosten unterwegs war. Außerdem bin ich ihr zu Dank verpflichtet, weil sie meine eigenwillige Tempuswahl und fehlerhafte Rechtschreibung korrigierte.
Mein Dank gebührt auch Wendy, Ko Sonny Nyein und anderen mir nahestehenden Menschen, die das Erscheinen dieses Buches ermöglichten. Besonders Steve war (wie immer) ein starker Rückhalt in schwierigen Zeiten.
Alle trägen Sommertagträume, die durch die Werke von Martha Gellhorn, Gavin Young, Paul Theroux, Bruce Chatwin, Pico Iyer und anderen genährt wurden, hatten sich über die Jahre hinweg zu dem immer stärker auf mir lastenden Druck aufgehäuft, die Bücher zusammen mit allen nichtigen Problemen meines Lebens wegzuwerfen und einfach nur aufzubrechen.
Doch wohin? Ich besaß weder die Geldmittel noch den nötigen Pass, um durch Afrikas Wildnis oder die endlosen Weiten Asiens zu streifen. Und um ehrlich zu sein: Wahrscheinlich wäre ich ohnehin schon bei meinem ersten Aufenthalt auf einem internationalen Flughafen auf dem Weg zum Klo verloren gegangen und zwei Wochen lang nicht wieder aufgetaucht, denn ich gehöre zu der Gattung Menschen, die eine ganze Weile über den Unterschied zwischen links und rechts nachdenken müssen. Die Beantragung eines Passes mag in manchen Staaten nur fünfzehn Minuten dauern, doch in meinem Land, das sich gerade erst aus drei Jahrzehnten selbst auferlegter Isolation löst, sind dazu zahlreiche Formulare auszufüllen, die nach den persönlichen Daten von Großeltern, Eltern früherer Ehemänner und eigenen Lebensdaten wie etwa dem Wo und Wann des ersten Kindergartenbesuchs fragen. Dazu sind alle möglichen anderen komplizierten Unterlagen einzureichen, wie etwa die Antragsformulare und Bewilligungsschreiben verschiedener Dienststellen, die auszufüllen meine bescheidenen Fähigkeiten bei Weitem übersteigt – ich bin eine pragmatische Frau, die sich ihrer Grenzen vollauf bewusst ist.
So entschloss ich mich zu einer Reise, die meine Landsleute bereits seit Jahrhunderten antreten: Zu einer Pilgerfahrt über die einheimische Touristenstrecke. Zumindest in der Nähe großer Städte war man längst nicht mehr in den geschlossenen Waggons aus früheren Zeiten unterwegs, obwohl diese noch immer das bevorzugte Transportmittel der Menschen vom Lande sind, wenn sie gemeinsam in großer Zahl zu Pagodenfesten reisen.
Pagodenfeste und religiöse Organisationen dienen als soziale Treffpunkte myanmarischer Frauen. Abgesehen von Veranstaltungen, in deren Mittelpunkt die Meditation steht, sind religiöse Zeremonien keinesfalls formelle und stille Anlässe. Zeremonien anlässlich spezieller Gedenk- oder Feiertage, die Vergabe von Nahrungsmitteln an die Mönche oder der Beitritt eines Familienangehörigen zum Orden werden lebhaft gefeiert und sind glückselige Zeiten für Frauen, da sie zu diesen Festen einkaufen gehen, kochen, alle möglichen Dinge arrangieren, Bekannte einladen und sich neu einkleiden.
Pilgerfahrten sind Urlaubsreisen, die Frauen gruppenweise mit Nachbarn, Freunden und Verwandten unternehmen. Nur selten reist eine Frau allein – selbst dann nicht, wenn sie in leitender Position mit einer wichtigen Geschäftsangelegenheit betraut ist. Dies darf in einer Kultur, in der ein »braves« Mädchen nach Einbruch der Dunkelheit nicht allein zum Laden an der Ecke geht, nicht überraschen. Die Menschen meines Landes sind überwiegend konservativ und bringen den traditionellen Werten unseres Volkes höchsten Respekt entgegen.
Seit mehreren Jahren bieten verschiedene Unternehmen Reisen an, bei denen Verpflegung, Unterkunft und Transporte im Preis inbegriffen sind. Sie fahren mit recht klapprig aussehenden Bussen, die zuvor jahrzehntelang in Japan oder Frankreich in Betrieb waren. Die verblichenen Schilder, die mit Wörtern der dortigen Sprachen beschrieben sind, bleiben uns recht unverständlich, doch mit Englisch können viele inzwischen ein wenig umgehen. Für eine gewisse Spannung sorgt die Tatsache, dass die Türen der Fahrzeuge in den fließenden Verkehr münden, da in jenen Ländern Rechtsverkehr und bei uns Linksverkehr herrscht, sodass man beim Aussteigen aus den großen Kästen Vorsicht walten lassen muss, um nicht wie eine Wanze zerquetscht zu werden.
Ich schickte mein Dienstmädchen los, um das Ticket für die 18-tägige Rundreise zu kaufen, die mich laut Zeitungsannonce in nicht weniger als 29 Städte, zu über 60 berühmten Pagoden, zu einigen außerordentlichen Sehenswürdigkeiten (Brodelnde Drachenhöhle, Schwankende Schirmpagode, Schlangenpagode), zu herausragenden Landschaftswundern (Inle-See, der See in den Bergen des Staates Shan; Gärten von Pyin Oo Lwin) und – was besonders aufregend war – in eine chinesische Stadt jenseits der Grenze im Norden führen würde. OHNE Pass. Und alles zusammen inklusive Mittagessen und Abendessen sowie äußerst einfachen Übernachtungen in Klöstern für nur 7000 Kyat, die zum realistischen Wechselkurs von Anfang 1996 ungefähr 60 amerikanische Dollars wert waren. Für dieses Geld brachte mir das Mädchen zwei Dokumente zurück: das Ticket und eine Liste mit Vorschriften. Auf dem Ticket stand eine Mitteilung:
»Verehrter Freund der noblen Welt des Großen Buddha. Aufgrund Deiner Verdienste im vergangenen Leben wurdest Du in diesem Abschnitt Seiner Existenz als Mensch wiedergeboren. Durch Seine Gnade und die Gelegenheit, bei dieser Reise in den berühmtesten Pagoden zu huldigen, wirst Du vielleicht alsbald aus der zum Leiden führenden Abfolge der Wiedergeburten erlöst werden und ins Nirwana einziehen können.«
In der von Sorgen umschatteten Hoffnung, dass jener Aufbruch ins Nirwana kein unabdingbarer Bestandteil des Reiseprogramms sein möge, lenkte ich meine Aufmerksamkeit von dem frommen Wortlaut ab und fand zu der Überzeugung, dass ich mit meinem Glauben allein wohl keine Moskitos würde abwehren können. Deshalb nahm ich eine große Tube Insektenschutzmittel ins Gepäck, und um sicherzustellen, dass mein Aufbruch in eine bessere Welt nicht erfolgte, bevor ich endgültig darauf vorbereitet war, packte ich außerdem Medikamente, Erste-Hilfe-Material und genügend Lomotil ein.
Unten auf dem Ticket stand die Anmerkung, dass Kinder unter sieben Jahren nur die Hälfte des Preises zahlen müssen, wenn sie auf dem Schoß eines Erwachsenen sitzen. Ich hatte bis dahin noch nie darüber nachgedacht, dass auch Kinder an einer Rundreise zu alten Pagoden teilnehmen könnten, doch nun rückte mir die uralte Gewohnheit meiner Landsleute ins Bewusstsein, Kinder überall hin mitzunehmen, außer zu Begräbnissen. Ich flehte inständig darum, nicht achtzehn Tage lang zusammen mit niedlichen kleinen Kindern im Bus sitzen zu müssen.
Das andere Dokument listete die heiligen Stätten und Sehenswürdigkeiten auf und stellte die Regeln vor, die ordentliche Pilger beachten müssen. Sie lauteten:
Da Automobile Maschinen sind (wie wahr), sind Pannen möglich (aha!); die Pilger werden gebeten, in solchen Fällen Geduld zu üben und sich nicht zu beschweren, sondern mit Fassung auf den Mechaniker zu warten, der den Schaden behebt. (Jeder Buddhist wird bestätigen, dass Geduld die nobelste aller Tugenden ist.)
Im Falle von Katastrophen wie Erdbeben, Erdrutschen oder Überschwemmungen wird eine alternative Route befahren, über die DAS MANAGEMENT entscheidet. (Ein Mitspracherecht war also ausgeschlossen.)
Der Pilger soll eigene Teller, Tassen und Löffel mit sich führen. Mittagessen und Abendessen werden von der Gesellschaft serviert.
Übernachtungen und Mahlzeiten in Gästehäusern hat der Pilger selbst zu bezahlen. Bei Aufenthalten in Klöstern oder Rasthäusern muss er nur eine kleine Spende für die Instandhaltung und Pflege der Einrichtungen hinterlassen.
Im Bus ist pro Person nur eine Tasche erlaubt; überzähliges Reisegepäck wird auf dem Dachgepäckträger untergebracht.
Es ist strikt untersagt, Schweinefleisch und Rindfleisch mit in den Bus zu nehmen; auch bei den im Reisepreis inbegriffenen Mahlzeiten werden diese Fleischsorten nicht angeboten.
Es ist den Pilgern strikt untersagt, über voraussichtliche Ankunftszeiten zu diskutieren.
Die beiden letzten Regeln basierten auf Aberglauben. Es heißt, dass manche Distrikte von Geistern namens Nat »regiert« werden, welche die genannten Fleischsorten nicht dulden. Reiseerzählungen aus Myanmar sind voll von Geschichten über schreckliche Unfälle, die Personen erlitten, welche diese Regeln nicht beachtet oder gar an heiligen Stätten gespottet hatten. In den Garküchen am Straßenrand darf man die verbotenen Speisen jedoch konsumieren, ohne mit gefährlichen Folgen rechnen zu müssen, aber mitnehmen darf man sie nicht. Einheimische Reisende führen immer Proviant mit sich, den sie zu Hause vorsorglich zubereitet haben, da sie nicht auf beste Verpflegung vonseiten der Garküchen und Reiseunternehmen vertrauen. Was die Mahlzeiten anbelangt, sind selbst die ärmsten Menschen selten nachlässig.
Da ich mich aus Bequemlichkeit und zu meiner vollsten Zufriedenheit oft tagelang nur von trockenem Brot, Möhren und rohen Eiern ernähre, war es mir vollkommen gleichgültig, dass sich das Busunternehmen um den Speiseplan kümmerte.
Hintergrund der letzten Regel war ein anderer Volksglaube: Wenn man laut über voraussichtliche Ankunftszeiten diskutiert, fordert man das Schicksal heraus, was Verspätungen bewirken kann. Zu den schlechten Vorzeichen gehören zum Beispiel Schlangen, die vor einem Fahrzeug über die Straße kriechen. Es verstößt gegen die Umgangsformen, eine Schlange als Schlange zu bezeichnen – man nennt sie Lange Kreaturen, denn ihr unbotmäßiges Erscheinen bewirkt, dass sich die Reise in die Länge zieht. In derselben ausweichenden Art werden Mäuse als Langschwänze bezeichnet, da sie denjenigen, die sie grob als Mäuse titulieren, zornig Löcher in die Kleidungsstücke nagen. Das Kind beim rechten Namen zu nennen, trifft in meinem Land nicht auf Schlangen und Mäuse zu; wer es dennoch wagt, tut es auf eigene Gefahr.
Der Aberglaube bestimmt die Hälfte des Lebens der einfachen Bevölkerung Myanmars; über die andere Hälfte wachen die Mütter oder Schwiegermütter.
Es war nicht nur pure Reiselust, die mich auf den Weg trieb, denn ich war davon überzeugt, dass die Pilgerfahrt eine gute Gelegenheit sein würde, die konservativen, traditionell eingestellten und verwurzelt lebenden einheimischen Menschen, denen ich zweifellos begegnen würde, richtig kennenzulernen. Ich konnte zu meinen eigenen Wurzeln finden, denn war ich nicht wie eine Möhre im Erdboden? Mein Geburtsort war Shwebo, eine Stadt im Landesinneren, doch bereits im Alter von acht Monaten hatten mich meine stark westlich orientierten Eltern mit in die Hauptstadt genommen, wo ich aufwuchs. In meiner Kindheit hatte ich wenig Gelegenheit, die Mehrheit meines Volkes, die in den ländlichen Gebieten und Kleinstädten lebt, kennenzulernen.
Zum Glück hatte ich in meinen späten Teenagerjahren ernsthaft zu malen begonnen und durch diese Tätigkeit zahlreiche Künstler und Schriftsteller aus allen Landesteilen kennen- und respektieren gelernt, die mich gelehrt hatten, den Geist und Stil des wahren Myanmars zu würdigen und den Reichtum des kulturellen Erbes meiner Nation zu entdecken. Nach vielen Jahren eines behaglichen Lebens, in dem ich mich mit den Künsten befasste und eine Ehe mit einem myanmarischen Diplomaten führte, die nach einigen Jahren gütlich aufgelöst wurde, war ich nun ohne geregelte Tätigkeit und hatte viel Zeit zur Verfügung.
Nur packen musste ich noch. Da wir in Klöstern übernachteten, benötigte ich Bettzeug, das ich leicht zusammenrollen konnte. In eine Tasche wanderten deshalb eine dünne Isoliermatte und ein Moskitonetz, das ich mit einer leichten Decke umhüllte, und in eine andere packte ich genügend Kleidung und Unterwäsche für achtzehn Tage, an denen ich nur wenige Dinge waschen konnte, denn es ziemt sich (ganz besonders in Klöstern) nicht, Frauenkleidung öffentlich zum Trocknen aufzuhängen, was vor allem für Büstenhalter und Slips gilt.
In eine kleinere Tasche, die ich mit in den Bus nehmen konnte, wanderten ein Plastikteller, eine Tasse, ein Löffel, kleine Päckchen mit löslichem Kaffee, Beutel mit Suppen, Süßigkeiten, Medikamente, Kosmetikartikel, Seife, Shampoo, Zahnpasta, Zahnbürste, Notizbücher, Kugelschreiber, Klopapier, Kamera, Filme, Zeichenblöcke, Pinsel und Farben.
Meine Freundin Marlar Tin, eine Schauspielerin, die wie ein fuchsroter Engel durch den Raum schwebte, wollte unbedingt, dass ich schick wirke. Ich selbst hingegen wollte lieber wie eine echte Pilgerin aussehen. Zwei Tage lang räumten wir Kleidungsstücke aus den Schränken und wieder hinein, bis wir mit bequemer und einigermaßen zeitgemäßer Kleidung einen Kompromiss gefunden hatten. Mir war vollkommen klar, dass ich mit meinen kurzen Haaren und dem roten Lippenstift nach durchschnittlichem Pilgerstandard nicht allzu dezent aussehen würde. Kurze Haare sind ab einem gewissen Alter und in gewissen Berufen wie denjenigen des Lehrers oder Professors nicht akzeptabel. Doch immerhin entfernte ich den roten Nagellack von meinen Zehen – mit stillem Gruß an Miss Gellhorn.
Mein Freund war ungehalten, dass ich ihn einfach so für achtzehn Tage verlassen wollte und vergaß dabei geflissentlich (typisch Mann), dass er mich erst kürzlich vierzig Tage lang allein gelassen hatte, doch er brachte mir schwermütig eine große Tüte mit klebrigen Orangenbonbons, die ich so gerne mochte.
Meine besten Freundinnen, die sich unter Urlaub lediglich Faulenzen am Strand vorstellten, waren davon überzeugt, dass ich als totales Wrack heimkehren würde. Marlar, die nicht nur Schauspielerin war, sondern auch Unterricht zur Körperertüchtigung gab, versprach mir, mich wieder in Form zu bringen, falls ich lebendig zurückkehren sollte. Yan Yan leistete das heilige Versprechen, mich mit ihrer guten Küche verhätscheln zu wollen, und die Gesundheitsfanatikerin Yi Yi überreichte mir mit der Empfehlung, alles das unbedingt mitzunehmen, eine lange Auflistung von Vitaminen und Reformkost. Die mir sehr vertraute Bankangestellte Wendy schob mir ein dickes Bündel Banknoten zu. Die anderen stöhnten nur O nein! O nein! – was ich zuvor schon oft genug gehört hatte. Auf Cocktailpartys überschütteten mich ausländische Freundinnen mit Reaktionen wie: »Toll« oder: »Meine Güte. Achtzehn Tage? Im Bus? Bist du verrückt geworden?«
Mein Dienstmädchen nörgelte, es müsse unbedingt mitkommen, denn wer würde sich sonst um die gnädige Frau kümmern? Da ich mir völlig sicher war, dass keiner der berühmten Reisenden jemals eine Magd mitgenommen hatte, lehnte ich ihr Angebot rundweg ab und brach an einem Freitagabend im Februar 1996 um 23 Uhr Richtung Bahnhof auf. Der Bus sollte um Mitternacht abfahren, um früh am nächsten Morgen unser erstes Ziel Pyay (Prome) zu erreichen.
Die Regel »Jeder nur eine Tasche im Bus« konnte man vergessen. Etliche Taschen standen übereinandergestapelt auf dem Gepäckgestell oben auf dem Bus, doch Berge von anderen Gepäckstücken blockierten den Gang. Überall standen geflochtene Bambuskörbe mit Süßigkeiten, Plätzchen, Dosenfrüchten, Kürbiskernen, Chips und Lebensmittelkonserven. Große, oben zugebundene Plastiktüten wirkten wie düstere Klumpen, in denen frisch geschlachtete Opfertiere verborgen waren – doch nein, auf einer Pilgerfahrt konnte das nicht sein. Ich fand nicht heraus, was in diesen Tüten versteckt war. Wahrscheinlich handelte es sich um Waren aus dem Süden, die im Landesinneren verkauft werden sollten, denn auf halber Strecke wurden sie durch Taschen mit Waren aus dem Landesinneren ersetzt, die offenbar zum Verkauf im Süden bestimmt waren. Myanmars Frauen (die geschäftstüchtigsten Lebewesen westlich der Wall Street) werden unweigerlich vom Sprichwort Beim Huldigen in der Pagode Ausschau nach Schildkröteneiern halten geprägt.
Langsam begann sich der Bus zu füllen. Die Sitznummern waren auf Papierfetzen geschrieben, die jemand an die Oberkante der Sitze geklebt hatte. Da der Klebstoff die Tinte hatte zerlaufen lassen, gab es ein wenig Konfusion, bis alle Passagiere rund zwei Minuten vor der Abfahrt endlich Platz genommen hatten.
Mein Adoptivsohn Kyaw Thura, der mich zum Bahnhof gebracht hatte, verließ mich nur widerstrebend, nachdem er mich im Bus abgeliefert hatte. Ich musste ihn fortscheuchen wie eine aufgeregte Henne ihr Küken. Er blickte finster und besorgt drein, als er ging, und ich hörte ihn undeutlich murmeln, dass seine alte Mutter wieder zu ihren früheren Schrullen zurückgefunden habe. Myanmars moderne Jugend wandte sich rasch den Werten der Yuppies zu und hegte ein tiefes Misstrauen gegen die sorglosen Geisteshaltungen der älteren Generation, die von einer einzigartigen Kombination aus Hippiedenken und Sozialismus geprägt war, die es wohl nur in den Reihen von Myanmars Intellektuellen gibt.
Auf den Sitzen neben dem Vorderausgang saß ein Paar. Die finster und kolossal wirkende Frau trug eine wuchtige glitzernde Goldkette, die ihr auf die Brust baumelte, sowie schwere Armreifen, die sie bis hinauf zu den Ellenbogen gestreift hatte. Ein schmächtiger älterer Mann saß still an ihrer Seite und schaute starr nach vorn. Die Frau drehte sich um und inspizierte mit funkelnden Blicken die Personen auf den Sitzen hinter ihr, darunter auch mich. Ich bemerkte, dass ihre ausladenden Hüften breit genug waren, um allen anderen Passagieren im Falle eines Feuers auf effektive Weise den Weg zu versperren. Der Hinterausgang, der rund zehn Sitzreihen von mir entfernt war, befand sich hinter dem schier unüberwindbaren Hindernis des schmalen und voll bepackten Ganges. Ich prüfte das Fenster durch Hin- und Herschieben der dicken Glasscheibe für den Fall, dass ich hastig nach draußen gelangen musste.
Den beiden gegenüber saß hinter dem Fahrer, dessen Sitz sich natürlich auf der falschen Straßenseite befand, eine elfköpfige Familie, zu der zwei Mädchen mit vorstehenden Augen im Alter von sechs oder sieben Jahren gehörten. Mit ihren großen Augen, den langen Wimpern und dem weichen gekräuselten Haar, das ihnen in Locken auf die Schultern fiel, wirkten sie wie zierliche Puppen, doch sie turnten bereits auf ihren Plätzen herum. Zumindest aber waren sie still – auch für kleine Gnaden musste man dankbar sein.
Hinter den drei Sitzreihen, die jene Familie in Beschlag nahm, saßen sechs Mädchen, die ihrem Akzent zufolge offensichtlich aus Dawei (Tavoy) stammten, einer Stadt an der südlichen Küste von Taninthayi (Tennessarim). Hinter ihnen folgte eine dreiköpfige Familie, die aus Vater, Mutter und einer artigen jungen Tochter bestand, die dunkel und hübsch war. Auch ihr Akzent ließ darauf schließen, dass sie von der Taninthayi-Küste stammten. Später stellte sich heraus, dass sie aus Myeik (Mergui) kamen, das noch weiter südlich als Dawei liegt.
Ich erkannte im Verlauf der Reise, dass solche Pilgerfahrten in erster Linie von Einwohnern aus dem Süden gebucht werden. Die Menschen aus Zentral- und Obermyanmar haben in den meisten Städten Freunde oder Verwandte, bei denen sie unterkommen und so lange bleiben können, wie sie wollen. Deshalb ziehen viele von ihnen es vor, kein Geld für organisierte Reisen zu »verschwenden«.
Die dreiköpfige Familie hinter jenen Dreien stammte ebenfalls aus Dawei. Mit ihrem südlichen Akzent klang unsere gemeinsame Sprache in meinen Ohren nahezu fremd und zunächst sogar fast unverständlich, bis ich mich an ihre Aussprache gewöhnt hatte.
Auf den folgenden Sitzen saßen einige allein reisende Männer, von denen einer ständig die Perlen seiner Gebetsschnur zählte und nur selten mit anderen sprach. Auch die anderen beiden waren sehr ruhig und schienen äußerst desinteressiert, jedoch aus einem offensichtlichen Grund: Während der gesamten langen Reise tranken sie ständig Schnaps aus einer Flasche, die sie in einer Stofftasche versteckt hielten. Sie zeigten wenig Interesse an Pagoden und schienen überhaupt kein Interesse für ihre Mitreisenden aufzubringen. Ich konnte mir nicht erklären, warum um alles in der Welt sie diese Reise unternahmen. Sie ignorierten jeden, und jeder ignorierte sie, sodass alle miteinander in Frieden waren.
Auf der hintersten Sitzreihe waren weitere Gepäckstücke gestapelt, doch es blieb dort etwas Platz für die jungen Schaffner und einen älteren Mann, der sich später als der Koch entpuppte.
Auf den Sitzen vor mir hatten eine mollige Frau mittleren Alters, die ein nettes rundliches Gesicht hatte, sowie drei junge Mädchen Platz genommen. Später erfuhr ich, dass es sich um ihre beiden Nichten und ein Mädchen aus ihrer Nachbarschaft handelte. Hinter mir saßen eine Mutter und ihr Sohn, der Mitte zwanzig war. Beide sahen attraktiv aus und waren zurückhaltend – perfekte Beispiele für Angehörige der konservativen Mittelschicht. Die Mutter hatte früher als Regierungsangestellte gearbeitet, und zwar als kleine Beamtin in Auditing. Der Sohn war Leutnant in der Armee und stand kurz vor der Entlassung.
Hinter mir entstand ein Tumult, weil sich zwei Mädchen über ihre Sitzplätze aufregten, da diese angeblich nicht diejenigen waren, die sie ursprünglich gebucht hatten. Nach einigem Hin und Her erhielten sie ihre richtigen Sitze, auf denen sie zufrieden Platz nahmen. Hinter ihnen saßen zwei junge Burschen im Alter von achtzehn oder neunzehn Jahren sowie zwei Paare, die ich zunächst für Brüder und Schwestern hielt, weil sie einander so ähnlich sahen.
Neben mir nahm eine resolut wirkende kleine alte Dame Platz, die zu der Sorte gehörte, der man in altmodischen Romanen begegnet. Sie hatte hübsche dunkle Augen und zierliche Gesichtszüge, was darauf schließen ließ, dass sie in ihrer Jugend eine Schönheit gewesen sein musste. Nun war sie ein wenig gebeugt und mager, doch sie huschte hurtig über die Gepäckstücke, die den Gang verstopften.
Als sich die Türen zischend schlossen, lehnte ich mich erleichtert zurück – endlich allein! Keine Freundinnen, keine Familie und kein Dienstmädchen, die mich durch ihr Geplauder ablenkten. Und ich dachte: Nun kann ich in den Tag hinein träumen, an meine Arbeit denken, über mein Leben nachsinnen und meine Beziehungen bewerten.
Ich hatte vollkommen vergessen, dass Bürger meines Landes, die sich als Fremde begegnen, innerhalb von nur fünfzehn Minuten gute Freunde werden und fortan ununterbrochen miteinander plaudern. In weniger als fünfzehn Minuten wusste ich über den Stammbaum meiner Nachbarin Bescheid, hatte erfahren, dass ihre Tochter Ärztin und sie selbst verwitwet war, und wurde, nachdem sie die Frau vor ihr (die Mollige mit dem netten Gesicht) angestoßen hatte, über folgenden Sachverhalt informiert: »Das ist Daw Saw. Wir besuchen dasselbe Meditationszentrum, doch wir sind dort sozusagen beide nur Tagesmenschen. Wir bleiben nachts nie dort, sondern gehen morgens hin, abends wieder nach Hause und bringen unser Mittagessen mit. Wir haben uns angefreundet, weißt du, und deshalb sind wir beide jetzt auch hier. Erst vergangene Woche erzählte sie mir, dass sie auf Pilgerfahrt gehen wolle, und sagte, ich solle doch mitkommen, und ich sagte: Warum nicht? Und meine Tochter sagte …«
Punkt Mitternacht begann der Motor des Busses zu brummen. Ich konnte das Gesicht des Fahrers im Rückspiegel sehen. Er wirkte jung, vielleicht Anfang zwanzig. Er war hager und machte aufgrund seiner dicken schwarzen Augenbrauen und dünnen Lippen einen etwas finsteren Eindruck. Durch das blaue Tuch, das er sich um den Kopf geschlungen hatte, sah er aus wie ein Apache, der in die Schlacht zieht.
Als der Bus langsam auf die fast verlassene Straße rollte, stand vorn ein recht junger stämmiger Mann auf, dessen vom Betel rot gefärbte Lippen gegen sein dunkles Gesicht abstachen. Er bat um Aufmerksamkeit und stellte sich in ruhigem Tonfall mit dem Namen Ko Tu vor.
»Er ist der Eigentümer dieses Unternehmens«, zischte die Dame neben mir deutlich hörbar, während sie mir mit dem Ellenbogen einen kräftigen Stoß versetzte. Noch bevor wir richtig unterwegs waren, keimte in mir die Hoffnung auf, diesem spitzen Ellenbogen ohne Verletzung entkommen zu dürfen. Der Mann bat darum, »dass gegen Morgengrauen bitte niemand nach der genauen Zeit fragt, zu der wir in Pyay ankommen werden«.
Wir pressten die Lippen zusammen, damit uns keine unseligen Fragen entfleuchen konnten.
»Währenddessen«, fuhr er fort und hielt ein Blatt in die Höhe, »habe ich hier die rituellen Texte, die beim Zählen der Perlen der Gebetsschnur in der Wünsche Erfüllenden Pagode von Bagan rezitiert werden … wer Interesse hat, kann damit jetzt schon beginnen, damit bei unserer Ankunft schon ein Teil des Programms abgeleistet ist … aber wirklich nur, wer Interesse hat. Mein Manager Paw Paw wird die Kopien austeilen, und für den Fall, dass jemand keine Gebetsschnur mitgebracht hat, schenken wir jedem von euch diesen Miniatursatz.« (Ein kompletter Satz besteht aus 108 Perlen, ein Miniatursatz aus nur neun Perlen.)
Anschließend wurden weiße Baseballmützen mit der Aufschrift Golden Pot und dem Logo der Gesellschaft verteilt. Aufschrift und Logo waren in Gold gehalten, und an den Mützen waren kleine weiße Plastikspangen befestigt. Der Mann ermahnte uns: »Bitte achtet darauf, dass die Spangen nicht mit den Sarongs von Frauen in Berührung kommen, denn sie sind von einem berühmten Mönch gesegnet worden, um eine sichere Reise zu gewährleisten.«
Wir drückten den neu gewonnenen Talisman mit pochenden Herzen an uns. Der Mann wies darauf hin, dass der Bus hin und wieder an bestimmten Stellen zwischen den Städten halten werde, um uns Gelegenheit zu geben, an einem versteckten Platz unseren menschlichen Bedürfnissen nachzukommen. Der Fahrer werde die Stellen auswählen, da er wisse, wo es am sichersten sei. Als er von Sicherheit sprach, realisierte ich, dass es dabei eher um den Zorn der Geister als um die Gefahr von Unfällen oder um Banditen ging. Sich an einem Baum oder in dessen Nähe zu erleichtern, ist für den dortigen Baumgeist Grund genug, dem Frevler auf den Schädel zu schlagen oder bei noch schlechterer Laune den Bus verunglücken zu lassen.
Ich schaute das Sutra sorgfältig an. Es handelte sich um die wohlbekannten Verse der neun Glorien des Buddha, die einst in der antiken Schrift Pali verfasst worden waren und die man rezitiert, um Unannehmlichkeiten oder Gefahren abzuwenden oder einfach nur das Schicksal zu beeinflussen, doch das Ritual erfordert, gewisse Wörter an gewissen Tagen in einer gewissen Häufigkeit zu rezitieren. Es ist sehr kompliziert, und nur der Himmel weiß, ob man nicht etwa unwiderruflichen Schaden auf sich lädt, wenn man die Zeiten verwechselt. Da ich außerdem zu der Sorte von Menschen gehöre, die das gesamte Alphabet aufsagen müssen, wenn sie einen Namen im Telefonbuch suchen, beschloss ich, erst gar nicht mit der Lektüre zu beginnen.
Als Ko Tu, der nach seiner kurzen Rede einen erschöpften Eindruck machte, wieder Platz genommen hatte, ertönte Musik aus den Lautsprechern. Es war ein klassisches Lied zur Huldigung Buddhas, das schrill durch den Bus klang. Ich riss einige Fetzen von meinen Papiertaschentüchern ab, steckte sie mir in die Ohren und sank in einen unruhigen Schlaf. Beim nächsten Lied fuhr ich wieder hoch. Es handelte sich um ein Duett aus den 70er-Jahren mit dem Refrain: »Unterwegs zum Honeymoon, eine Pilgerfahrt zu den Pagoden, wie schön! Zwischendurch wollen wir Verwandte besuchen, wie schön!«
Da die myanmarische Umschreibung für Honeymoon »Auf einer Reise verschütteter Honig« lautet, hielt ich es für sehr gescheit, dass der Lyriker sich für die phonetische Übertragung han-nee-mun entschieden hatte statt für die zähen Wörter.
Eine Pagode auf einem Hügel und ein gurgelnder Wasserlauf
Shewsettaw
Als der Bus abrupt anhielt, erwachte ich und schielte sofort auf meine Armbanduhr.
Es war 1.55 Uhr, Samstagmorgen. Die Lautstärke der Musik war irgendwann heruntergedreht worden, und die Beleuchtung, die während meines Schlummers gedämpft worden war, leuchtete nun wieder hell auf. Es konnte doch wohl unmöglich das Morgengrauen sein, das unsere Ankunft in Pyay ankündigte? Mir war bewusst, dass der durchschnittliche myanmarische Bürger den Tag früh beginnt, doch zwei Uhr morgens war in dieser Hinsicht wohl mehr als nur ein wenig übertrieben. Hinten im Bus rief einer der Schaffner: »Körperliches Wohlbefinden! Körperliches Wohlbefinden! Kümmert euch um euer körperliches Wohlbefinden!«
Ein toller Ratschlag, dachte ich mit wachsender Irritation, zumal ich mitten in der finstersten Nacht dazu aufgerufen wurde, nach draußen zu gehen, doch als ich die anderen Passagiere schlurfend in Richtung der Ausgänge gehen sah, schloss ich mich ihnen an … Es war Zeit zum ersten Gemeinschaftspinkeln.
Ich erkämpfte mir meinen die Knochen zermürbenden Weg über Bündel und vorbei an fetten Hüften und torkelte hinaus in die frische Luft. Draußen war es so finster, dass ich mich blind fühlte. Ich war so plötzlich im Düsteren verloren, dass ein Anflug von Panik meine Kehle umschnürte. Dann aber erhellte sich allmählich mein Gesichtsfeld, und ich gewahrte, dass der Himmel von einem Meer funkelnder Sterne überzogen war. Im ersten Augenblick war ich mir überhaupt nicht dessen bewusst, was ich sah, und ich hatte das Gefühl, durch den Anblick des Schimmerns, das den Himmel überspannte, die Orientierung zu verlieren. In Yangon wurden die Sterne von den Lichtern der Stadt überstrahlt, nur die hellsten und größten Sternbilder waren dort zu erkennen – und sie waren mir dort immer gewaltig genug erschienen. Ich traute meinen Augen nicht, als ich die Anzahl dieser funkelnden und glitzernden und pulsierenden Lichtpunkte sah, die so unvorstellbar dicht zusammengedrängt war … es gab keine treffendere Beschreibung als die Wiederholung der uralten Worte, dass eine Million Scheffel Diamanten am Himmel ausgestreut sind. Und diese Diamanten schienen nur so von Leben zu strotzen, so als ob sie einander mit den Ellenbogen verdrängen wollten.
Meine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Intensiver als ich sie sah, spürte ich die Gruppen von Menschen, die sich nach Geschlechtern getrennt in die Büsche schlugen. Zögernd folgte ich den mir vorausgehenden Frauen und betete inständig darum, weder große noch kleine Kreaturen zu stören oder von ihnen gestört zu werden. Ich setzte meine Schritte ebenso behutsam wie die anderen Mitreisenden, um nicht auf frisch durchnässte Stellen zu treten, und kauerte mich schließlich wie alle anderen um mich herum hin, wobei ich meinen Sarong langsam bis zu den Hüften heraufzog.
Alsbald waren wir wieder unterwegs. Ein eisiger Wind blies schräg durch den Spalt, den ich im Fenster geöffnet hatte, und wirkte auf mich wie eine Berieselung mit reinem Sauerstoff.
Ich presste meine Nase gegen das Glasfenster und starrte zu den Sternen hinauf. Die breite Fläche der Fensterscheibe reflektierte die helle Erleuchtung des Innenraums. Die Leute plauderten, teilten untereinander Imbisse aus und knabberten Melonensamen – aufmerksam lauschte ich den leisen knackenden Geräuschen. Die Dame vor mir bot mir Süßigkeiten an und lächelte dabei scheu. Ich hatte solche Süßigkeiten niemals zuvor probiert und fand sie köstlich, und außerdem hatte ich das Gefühl, auf äußerst wohlschmeckende Weise meinen Koffeinbedarf befriedigen zu können, wonach ich mich aufrichtig sehnte.
Dann döste ich ein und träumte im Halbschlaf. Gegen 4.30 Uhr hielt unser Fahrzeug vor den Toren der Shwesandaw-Pagode in Pyay. Ein älterer Wächter informierte uns, dass die Tore um 5 Uhr geöffnet würden und klammerte sich verbissen an die Stangen des Eisengatters, hinter dem er stand, als er hinzufügte: »Und keine Minute früher!«
In der Nähe gab es einige mit Bambusmatten ummantelte Wasserbecken, und etwas weiter entfernt befanden sich (wie Aufschriften besagten) die Klos für Mönche, Männer und Frauen. Die Nonnen teilten sich die Einrichtungen offensichtlich mit den Frauen. Ich tastete in meiner Toilettentasche herum, die ich unter meinem Sitz verstaut hatte, und fand Becher, Seife und Zahnbürste, jedoch keine Zahnpasta. Die kleinen Läden ringsum begannen ihre Pforten zu öffnen, und die Ladenbetreiber gähnten mit weit aufgesperrtem Mund, während sie die Planken vor der Vorderseite entfernten.
Ich kaufte eine kleine Tube Zahnpasta – die erste von vieren während der Reise – und steuerte auf eine Stelle zu, an der eine Gruppe Mädchen, die auf den Fersen hockten, an einem engen Abflussrohr emsig mit Zähneputzen beschäftigt war. Der Boden ringsum weichte rasch auf.
Die Klos waren sauber. Neben jeder Einrichtung gab es ein kleines Wasserbecken, auf dessen Rand eine Blechbüchse stand, und an der grauen Wand standen die mit Kohlestift geschriebenen Worte: Freund, benutze weder Reisig noch Papier, sondern trage dazu bei, die Anlage sauber zu halten. Wie in allen asiatischen Toilettenanlagen waren auch hier die Abwasserrohre zu eng für Papier. Und Menschen vom Land benutzen auch heute noch Reisig, doch es entzieht sich meiner Kenntnis, warum, geschweige denn, dass ich wüsste, wie.
Innerhalb nur einer Minute sahen die Frauen frisch und sauber aus, nachdem sie sich geschwind Thanakha-Paste oder -Pulver ins Gesicht gerieben und ihr verwuscheltes Haar mit einem Kamm geglättet hatten. Thanakha ist eine Paste oder ein Pulver aus einer wohlriechenden Baumrinde, die mit etwas Wasser im Mörser zerrieben wird, kühlend wirkt und nach jahrtausendealter Tradition sowohl bei Königinnen als auch bei bürgerlichen Frauen beliebt ist.
Ältere Frauen kämmten ihr bis auf die Hüfte wallendes Haar mit Kokosöl, bis es weich und seidig war, bevor sie es um große hölzerne Kämme legten. Mit fein säuberlich gewickelten Sarongs warteten wir darauf, dass sich die Tore der Pagode öffneten. Es war noch sehr dunkel, kalt und still. Schimmernd reflektierende Lichter auf dem Stupa verfinsterten das Licht der Sterne.
Der Wächter stand wie angewurzelt an seinem Platz und schaute aufmerksam auf eine große Wanduhr, die nicht die einzige ihrer Art im Eingangskorridor war. Wanduhren sind beliebte Objekte für Spenden an Klöster und Pagoden. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob schon andere Uhren an derselben Wand hängen, und es stört auch niemanden, dass sie alle um einige Minuten voneinander abweichende Zeiten anzeigen.
Als der Wächter um Punkt fünf Uhr die Metallgatter seitwärts nach hinten schob, traten wir hintereinander ein und gelangten in ein hölzernes Rahmengestell, das sicherstellte, dass niemand aus der Reihe ausbrechen konnte, und geradewegs zu einem Aufzug führte, neben dem ein Kasten mit gläserner Vorderscheibe stand, in dessen hölzerner Oberseite sich ein Schlitz befand. Der Kasten war zur Hälfte mit kleinen Banknoten gefüllt – es war der Spendenkasten für die Instandhaltung des Aufzugs. Unter den stechenden Blicken des Wachhabenden stopften wir alle im Vorübergehen unterwürfig eine Kyat-Note in den Schlitz.
Der kleine Aufzug fasste höchstens acht Personen. Wir standen steif und gerade, um einander nicht zu berühren. Das Gerät knarrte mit schleifenden Geräuschen langsam nach oben und schien ein ums andere Mal ins Keuchen zu geraten.
Die Brücke zur Terrasse der Pagode war nass vor Tau und wirkte unter unseren nackten Füßen unangenehm kalt. Die Pagode erhob sich still und dunkel vor uns in den Himmel, und nur das Schimmern des Lichts der Glühbirnen, die nach oben bis hinauf zur Spitze des Stupa führten, wirkte auf uns ein. Lichter auf einer Pagode haben für Burmesen eine tiefere Bedeutung als bloße Illumination: Licht ist ebenso ein Opfer wie Blumen oder Obst, und man glaubt, dass ein Lichtopfer sogar zu besserer Einsicht und mehr Wissen führt als jene. Wenn im März die Zeit der Prüfungen naht, flammen die Terrassen der Pagoden vor Lichtern.
Einige von uns hatten bereits damit begonnen, Kerzen an den Ecken ihrer Geburts- beziehungsweise Planetenpfosten zu entzünden, die an die Wochentage gebunden sind. Es gibt deren acht, da der Mittwoch in den Morgen und Nachmittag unterteilt ist. Jeder Wochentag hat sein eigenes Tierzeichen. Die elementaren Grundlagen des Charakters und des Schicksals eines Menschen sowie der erste Konsonant seines Namens werden nach dem Tag seiner Geburt gedeutet und bestimmt.
Die goldene Spirale der Shwesandaw-Pagode schimmerte weich im Licht der langsam aufkeimenden Dämmerung. Die Flammen der Kerzen flackerten. Angeblich wird im Fundament dieser Pagode eine Haarreliquie des Buddha aufbewahrt. Die Pilger knieten zum Gebet nieder oder wandelten mit bedächtigen Schritten umher. Ich schlenderte zum Rand der Terrasse hinüber, doch es war noch sehr dunkel: Die tiefblaue Dunkelheit war mit dunstigem Nebel durchsetzt, der wie grauer Chiffon in der Luft hing – ein grandioser Anblick. Die Pagode wirkte wie ein isoliert in dunklem Raum stehender zauberhafter Goldpalast.
Als ich mit dem knarrenden Aufzug wieder zum Fuße des Hügels zurückgekehrt war, bemerkte ich, dass inzwischen mehrere kleine Garküchen geöffnet hatten, die von Öllampen beleuchtet wurden. Als ich mich hinunter zu meinen Sandalen beugte, die ich am Eingang hatte stehen lassen, gewahrte ich ein merkwürdig schlurfendes Geräusch neben mir. Mit sich mir auf der Kopfhaut sträubenden Haaren schaute ich auf und erblickte zu meiner enormen Erleichterung eine lange Reihe von Mönchen, die am Eingang vorbeikamen und mit den Händen schwarze Lackschalen umklammerten. Ihre Augen waren auf den Boden gerichtet, während sie mit weichen, jedoch schnellen Schritten barfuß an mir vorbeieilten. Offenbar war ihre Aufstellung nach dem Alter geordnet, denn am Ende der langen Schlange kamen die kleinen Novizen, die kaum zehn Jahre alt waren und ihre würdevollen Schritte fortwährend unterbrachen, um mit Hüpfern und Sprüngen Schritt zu halten. Ich blieb stehen, um alle vorbeiziehen zu lassen, denn es wäre ein fürchterliches Sakrileg gewesen, zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen. Sie waren mindestens zu hundert.
Nachdem sie im entfernten Schatten verschwunden waren, nahm ich an einem Stand Platz, um zu frühstücken. Das »Geschäft« bestand aus einer umgedrehten Lattenkiste und verkaufte Let-thoke (Fingermischmasch), ein ganztägig angebotenes Gericht, das als Haupt- oder Zwischenmahlzeit gegessen wird. Grundlage können Reis, Nudeln oder Vermicelli sein, die mit gebratenem Knoblauch, Knoblauchöl, geröstetem Bohnenpulver, gekochten Kartoffelscheiben, geschnetzeltem Kohl, fein geschnittener grüner Papaya, zerstoßenen getrockneten Garnelen, gerösteten Chilischoten, Tamarindenmus und einem Spritzer Fischsauce angereichert werden. Myanmarische Frauen lieben das Gericht, denn es vereint ihre bevorzugten Geschmacksrichtungen Würzigkeit, Salzigkeit und feurige Schärfe, die je nach Lust und Laune individuell abgestimmt werden können.