Piraten - David Graeber - E-Book
SONDERANGEBOT

Piraten E-Book

David Graeber

0,0
18,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Schauspiel sagenumwobener Piraten, ihrer Königreiche, Gräueltaten und anarchistischen Utopien erregte im 18. Jahrhundert in der ganzen Welt Aufsehen. Gerüchte verbreiteten sich wie ein Lauffeuer, schockierten und inspirierten die europäischen Eliten. Piraten und Freibeuter schufen die wirklich revolutionären Ideen für eine offene Weltgemeinschaft. Dieses utopische Potential elektrisierte David Graeber und lässt seine intellektuellen Funken auf seine Leser überspringen. David Graeber, der bedeutendste Anthropologe unserer Zeit, wagt eine provokative These: Der Westen belügt sich und die Welt über seine Geschichte, seinen Eurozentrismus, seinen Rassismus und seine kapitalistische Ideologie. Wechseln wir die Perspektive, wird Geschichte mit einem Schlag wieder lebendig, denn hier geht es um Menschen, um ihre Freiheit und ihren riskanten Alltag. Mit David Graeber tauchen wir ein in die ›andere‹, anarchistische Geschichte von Magie, Lügen, Seeschlachten, Sklavenaufstände, Menschenjagden, Königreichen,  Spionen und Juwelendieben. Die Welt der Abenteuer verbindet sich mit historischen Fakten und literarischer Phantasie. Am Rand der Welt – in Madagaskar, in der Karibik oder im Orient – spüren wir dem Ursprung von Freiheit, Anarchie und Demokratie nach, die nicht im Westen entdeckt, sondern von ihm gekapert wurden. Mitreißend erzählt David Graeber diese Gegengeschichte und entdeckt souverän »nie begangene Wege« für unsere aus den Fugen geratene Welt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 285

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover for EPUB

David Graeber

Piraten

Auf der Suche nach der wahren Freiheit

Aus dem Englischen übersetzt von Werner Roller

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel »Pirate Enlightenment or The Real Libertalia: Buccaneers, Women Traders, and Mock Kingdoms in Eighteenth Century Madagascar« im Verlag Farrar, Straus and Giroux, New York, 2023

© 2019 by David Graeber

Für die deutsche Ausgabe

© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98719-5

E-Book ISBN 978-3-608-12150-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Präludium

Die (sehr) radikale Aufklärung

Erster Teil

Piraten und Schattenkönige im Nordosten Madagaskars

Piraten kommen nach Madagaskar

Das Problem mit der Beute

Die Realwirtschaft von Sainte Marie

Das wahre Libertalia I: Ambonavola

Weitere Schattenkönige: John Plantain

Einige Probleme mit der Chronologie

Zweiter Teil

Die Ankunft der Piraten aus madagassischer Sicht

Eine sexuelle Revolution gegen die Kinder Abrahams?

Frauen als politische Symbole

Händlerinnen und Zaubersprüche

Häusliche Angelegenheiten

Zum Gegensatz zwischen militärischer und sexueller Macht

Dritter Teil

Piraten-Aufklärung

Die Ausgangslage

Die anfängliche Herausforderung

Die Große Kabary

Eidesleistung

Ratsimilaho wird König

Heroische Kriegführung

Königshof und Königreich und der Aufstieg der Zana-Malata

Schluss

Das wahre Libertalia

II

: das Betsimisaraka-Bündnis

Anhang

Zeittafel

Anmerkungen

Literatur

Bildnachweis

Namen- und Sachregister

Vorwort

Dieser Essay wurde zunächst als ein Kapitel einer Sammlung von Essays zum Thema »Gottkönigtum« geschrieben, deren Co-Autor Marshall Sahlins(1) war.[1] Während meiner eigenen Feldforschungen auf Madagaskar in der Zeit von 1989 bis 1991 hörte ich nicht nur zum ersten Mal davon, dass zahlreiche Piraten aus der Karibik(1) sich einst auf Madagaskar niedergelassen hatten, ich erfuhr auch, dass ihre Nachkommen als eigenständige Bevölkerungsgruppe auf der Insel verblieben. (Diese Tatsache wurde mir durch eine kurze Liebesbeziehung zu einer Frau bewusst, deren Ahnenreihe bis zu den Bewohnern der Insel Sainte Marie(1) zurückreichte.) Später staunte ich dann darüber, dass niemand jemals systematische Feldforschung unter diesen Menschen betrieben hatte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt meines Lebens plante ich sogar, selbst ein solches Feldforschungsprojekt anzugehen – ein Plan, der durch verschiedene Zufälle, wie sie das Leben bereithält, unterlaufen und niemals verwirklicht wurde. Eines Tages gehe ich ihn vielleicht doch noch an.

Zu jener Zeit erwarb ich nach einem Besuch in der British Library eine Fotokopie des Mayeur(1)-Manuskripts,[2] die lange Zeit in einem Stapel von Büchern und Dokumenten bei einem Panoramafenster im Zimmer in meinem Apartment in New York(1), wo ich aufgewachsen war, abgelegt blieb. Es waren außerordentlich große Blätter, die mit einer kaum lesbaren Handschrift aus dem 18. Jahrhundert gefüllt waren. Über viele Jahre hinweg hatte ich oft das Gefühl, dass mich dieser Text leicht vorwurfsvoll lockte, während ich versuchte, an einem anderen Thema zu arbeiten. Als ich dann aufgrund der Machenschaften des Polizei-Nachrichtendienstes 2014 mein Zuhause verlor, ließ ich das ganze Manuskript scannen, zusammen mit verschiedenen Familienfotos und mit Dokumenten, die zu umfangreich waren, um sie mit nach London zu nehmen, und schließlich ließ ich das Manuskript transkribieren.

Es war mir immer etwas rätselhaft vorgekommen, dass dieser Text noch nie veröffentlicht worden war, zumal das in der British Library aufbewahrte, in Mauritius(1) niedergeschriebene Original-Manuskript noch eine kurze Notiz enthielt, wonach eine Typoskript-Fassung des Textes in der Academie Malgache in Antananarivo(1) vorhanden sei und dass man, sofern man es zu sehen wünsche, einen gewissen M. Valette(1) konsultieren solle. Es waren verschiedene Essays französischer Autoren erschienen, die eindeutig Teile dieses Typoskripts gelesen und zusammengefasst hatten. Aber das Originalmanuskript, ein wissenschaftliches Werk, das für sich selbst stand und mit zahlreichen kritischen Fußnoten gespickt war, war niemals zum Druck befördert worden.

Mir wurde schließlich klar, dass ich genug Material zu den Piraten zusammengetragen hatte, um daraus einen eigenen, ansprechenden Essay zu machen. Der ursprüngliche Titel lautete – weil daraus ein Essay für ein Buch über Könige werden sollte – »Pirate Enlightenment: the Mock Kings of Madagascar« (»Piraten-Aufklärung – die Schattenkönige von Madagaskar«), wobei der Untertitel eine Anspielung auf ein schmales Büchlein von Daniel Defoe(1) über Henry Avery(1) war. Doch im Verlauf des Schreibprozesses wurde der Essay immer länger. Schon bald waren gut 70 mit einzeiligem Abstand beschriebene Seiten beisammen, und ich begann mich ernsthaft zu fragen, ob dadurch nicht das gesamte Kompendium zu umfangreich zu werden drohte und ob der Textinhalt nicht zu weit vom ursprünglich anvisierten Schwerpunkt auf betrügerische Könige (und umfassendere Fragen zum Thema, ob nicht alle Könige in einem gewissem Sinn Hochstapler seien, bei nur graduellen Unterschieden zwischen den einzelnen Ausprägungen) weggerückt war, um eine Aufnahme in den geplanten Band wirklich zu rechtfertigen.

Letztlich beschloss ich: Ein langer Essay ist allen Leuten verhasst, aber alle lieben ein kurzes Buch. Warum also nicht den Essay zu einem eigenständigen Werk ausarbeiten, das sich aus eigener Kraft behaupten konnte?

Und dieses Buch ist dabei herausgekommen.

*

Die Gelegenheit, das Buch bei Libertalia Press[3] zu veröffentlichen, erwies sich als unwiderstehlich (und jetzt – ab 2023 – bei Farrar, Straus und Giroux[4]). Die Idee von Libertalia(1), dem utopischen Experiment von Piraten, ist für die freiheitlich gesinnte Linke eine endlose Quelle der Inspiration geblieben; immer schon hat ein Gefühl bestanden, dass es dieses Experiment zumindest gegeben haben sollte, selbst wenn es niemals existierte; oder dass, selbst wenn es niemals in irgendeinem wörtlichen Sinn existierte, selbst wenn es also niemals eine Ansiedlung gab, die diesen Namen trug, die bloße Existenz von Piraten und Piraten-Gesellschaften für sich genommen eine Art Experiment war; und dass in den tiefsten Ursprüngen dessen, was als das Projekt der Aufklärung bekannt geworden ist – das heute in revolutionären Kreisen als falscher Traum von Befreiung angesehen wird, der stattdessen eine unaussprechliche Grausamkeit über die Welt gebracht hat –, eine Art von Erlösungsversprechen vorhanden war, das Versprechen einer echten Alternative.

Dieses kleine Buch kann als ein Beitrag zu einem umfassenderen intellektuellen Projekt angesehen werden, das ich erstmals in einem Essay mit dem Titel »There Never Was a West«[5] beschrieb (es erschien auch als eigenständige Veröffentlichung in französischer Sprache) und jetzt als Teil eines gemeinsamen Projekts mit dem britischen Archäologen David Wengrow(1) weiterverfolge. Im gegenwärtig angesagten Sprachgebrauch könnte man es als ein Projekt der »Entkolonialisierung der Aufklärung« bezeichnen. Zweifellos dienten viele der Gedanken, die wir heute als Ergebnisse der europäischen(1) Aufklärung des 18. Jahrhunderts betrachten, tatsächlich der Rechtfertigung außergewöhnlicher Grausamkeit, Ausbeutung und Zerstörung, die sich nicht nur gegen die arbeitende Bevölkerung im eigenen Land, sondern auch gegen die Bewohner anderer Kontinente richtete. Aber die pauschale Verurteilung des aufklärerischen Gedankenguts ist ihrerseits eher abwegig, wenn man bedenkt, dass es sich hierbei vielleicht um die erste historisch belegte intellektuelle Bewegung handelte, die zu großen Teilen von Frauen organisiert wurde – außerhalb offizieller Institutionen wie etwa Universitäten –, mit dem ausdrücklichen Ziel, alle bestehenden Macht- und Autoritätsstrukturen zu untergraben. Die Denker der Aufklärung machten außerdem, wie man aus vielen Originalquellen erschließen kann, sehr deutlich, dass die Quellen ihres Gedankenguts außerhalb dessen liegen, was wir heute ausschließlich als »die westliche Tradition« bezeichnen.

Hier soll nur ein Beispiel angeführt werden, das in einem anderen Buch ausführlich dargestellt werden wird.[6] Im Jahr 1690, etwa zu dem Zeitpunkt, als die Piraten sich auf Madagaskar niederließen, entwickelte sich in Montreal(1) eine Art protoaufklärerischer Salon. Baron Froberville(1), der damalige Gouverneur von Kanada, diskutierte in seinem Haus gemeinsam mit seinem Assistenten Lahontan(1) über Fragen von gesellschaftlicher Bedeutung – Christentum, Wirtschaftsthemen, Sexualmoral – mit einem Staatsmann der Huronen(1) namens Kondiaronk(1). Dieser vertrat den Standpunkt eines egalitär gesinnten und skeptischen Rationalisten und erklärte, der Strafapparat der europäischen(2) Gesetze und der Religion sei nur erforderlich aufgrund eines Wirtschaftssystems, das so gestaltet sei, dass es unweigerlich die Verhaltensweisen hervorbringe, zu deren Unterdrückung der Apparat eingerichtet wurde. Lahontan sollte im Jahr 1704 dann eine eigene Fassung seiner Aufzeichnungen zu einigen dieser Gespräche als Buch veröffentlichen, das sich rasch zu einem in ganz Europa(3) verbreiteten Bestseller entwickelte. Nahezu jede bedeutende Persönlichkeit der Aufklärung verfasste letztlich eine Imitation dieses Werks. Doch Persönlichkeiten wie Kondiaronk(2) sind irgendwie aus der Geschichte hinausgeschrieben worden.

Niemand bestreitet, dass diese Debatten tatsächlich stattgefunden haben. Eher ist davon auszugehen, dass Männer wie Lahontan(2), wenn es an die Niederschrift des Geschehens ging, schlichtweg alles ignorierten, was Kondiaronk(3) tatsächlich gesagt hatte, und es durch so etwas wie »die Fantasie des edlen Wilden« ersetzten, die sich ausschließlich aus der europäischen(4) intellektuellen Tradition speiste. Mit anderen Worten: Wir haben den Gedanken, dass es eine in sich geschlossene »westliche Zivilisation« (eine Vorstellung, die erst im frühen 20. Jahrhundert auftauchte) gegeben habe, in die Vergangenheit zurückprojiziert. Verbunden mit einer zutiefst perversen Ironie, dienten Vorwürfe wegen rassistischer Arroganz, die sich gegen Menschen richteten, die wir als »Bewohner westlicher Länder« bezeichnen (was heutzutage nichts anderes als ein euphemistisches Codewort für »weiße Menschen« ist), als Vorwand, um alle anderen, auf die die Bezeichnung »weiß« nicht zutrifft, von jedem Einfluss auf den Verlauf der Geschichte auszuschließen, und ganz besonders von der Geistesgeschichte. Es sieht ganz danach aus, als sei Geschichte – und hier speziell die Geschichte des Radikalismus – zu einer Art von moralischem Spiel geworden, bei dem es ausschließlich darum geht, deutlich zu machen, dass man die Großen Männer der Geschichte nicht davonkommen lassen wird mit dem (offenkundig sehr realen) Rassismus, Sexismus und Chauvinismus, den sie an den Tag gelegt haben, wobei völlig außer Acht bleibt, dass ein 400 Seiten umfassendes Buch, mit dem Rousseau(1) attackiert wird, immer noch ein 400-Seiten-Werk über Rousseau ist.

Ich erinnere mich heute noch daran, wie sehr mich im Kindesalter ein Interview mit dem Sufi-Autor Idries Shah(1) beeindruckte, der in diesem Gespräch anmerkte, wie seltsam es ihm vorkomme, dass so viele intelligente und anständige Menschen in Europa(5) und Amerika so viel Zeit auf Protestmärschen verbringen, bei denen sie die Namen ihnen verhasster Menschen rufen und deren Porträts schwenken (»Hey hey LBJ, how many kids did you kill today?«).[7] Ob diesen Leuten denn nicht klar war, merkte er an, wie außerordentlich erfreulich das für die Politiker sei, die sie anprangerten? Ich glaube, es waren Hinweise dieser Art, die mich letztlich dazu brachten, eine Politik des Protestes abzulehnen und mich auf eine Politik der direkten Aktion zu verlegen. Ein Teil der Empörung, die in diesem Essay festzustellen ist, entstammt dieser Quelle.

Warum sehen wir Männer wie Kondiaronk(4) nicht als wichtige Denker zur Frage der Freiheit des Menschen? Das war er eindeutig. Warum sehen wir einen Mann wie Tom Tsimilaho nicht als einen der Pioniere der Demokratie? Warum sind die Beiträge der Frauen, von denen wir wissen, dass sie in der Gesellschaft der Huronen(2) und der madagassischen Betsimisaraka(1) so bedeutende Rollen spielten, deren Namen aber weitgehend in Vergessenheit geraten sind, sogar aus den Geschichten entfernt worden, die wir über solche Männer erzählen? Wie übrigens auch die Frauen, die die Salons organisierten, aus der Geschichte der Aufklärung weitgehend ausgeschlossen worden sind.

Mit diesem kleinen Experiment in Sachen Geschichtsschreibung möchte ich zumindest deutlich machen, dass die vorliegenden Erzählungen nicht nur zutiefst fehlerhaft und eurozentrisch, sondern auch unnötig ermüdend und langweilig sind. Ja, mit dem Moralismus verbindet sich ein heimliches Vergnügen, so wie auch eine mathematische Freude darin liegt, jegliches menschliche Handeln auf eine sich selbst verherrlichende Berechnung zu reduzieren. Aber diese Vergnügungen sind letztlich eher von der schäbigen Art. Die wahre Erzählung dessen, was sich in der menschlichen Geschichte zutrug, ist tausend Mal unterhaltsamer.

Lasst uns also eine Geschichte über Zauberei erzählen, über Lügen, Seeschlachten, entführte Prinzessinnen, Sklavenaufstände, Menschenjagden, Fantasiekönigreiche und betrügerische Botschafter, Spione, Juwelendiebe, Giftmischer, Teufelsanbetung und sexuelle Obsessionen, die mit dem Ursprung der modernen Freiheit verbunden sind. Ich hoffe, dass die Leserinnen und Leser dabei so viel Spaß haben, wie ich ihn hatte.

Karibische Inseln von den Jungferninseln bis Trinidad und Tobago – Nach ihrer Vertreibung aus der Karibik Ende des 17. Jahrhundert wichen etliche Piraten nach Madagaskar aus.

Präludium

»Die ersten Griechen waren alle Seeräuber.«

Montesquieu(1), Vom Geist der Gesetze (21. Buch, 7. Kapitel)

Dieses Buch handelt von Piratenkönigreichen, von realen und der Fantasie entsprungenen. Es handelt auch von einer Zeit und einem Ort, in der und an dem die Unterscheidung zwischen Fantasie und Wirklichkeit sehr schwerfällt. Für einen Zeitraum von etwa 100 Jahren, ab dem Ende des 17. bis gegen Ende des folgenden Jahrhunderts, war die Ostküste Madagaskars der Schauplatz eines Schattenspiels von legendären Piratenkönigen, von Gräueltaten von Piraten, von Piraten-Utopien, allesamt umrankt von Gerüchten, von denen sich die Gäste in Kaffee- und Wirtshäusern der Anrainerstaaten des Nordatlantiks(1) schockieren, inspirieren und unterhalten ließen. Aus unserer heutigen Perspektive ist es absolut unmöglich, diese Berichte zu entwirren und eine definitive Erzählung zu schaffen, die klarstellt, welche Geschichten der Wirklichkeit entsprachen und welche nicht.

Manche waren eindeutig unwahr. Viele Menschen in Europa(6) waren beispielsweise im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts der Ansicht, ein Kapitän namens Henry Avery(2) habe mit 10 000 Piraten-Gefolgsleuten auf Madagaskar ein großes Königreich geschaffen, ein Königreich, das drauf und dran sei, sich zu einer der herausragenden Seemächte der Welt zu entwickeln. Doch dieses Königreich existierte nicht. Es war ein Schwindel. Die meisten Historiker sind mittlerweile überzeugt davon, dass sich dasselbe auch über die Erzählung vom großen utopischen Experiment Libertalia(2) sagen ließe. Dabei handelt es sich um eine ebenfalls in Madagaskar angesiedelte Geschichte, die in einem Kapitel des 1728 erschienenen zweiten Bandes einer angeblich von einem gewissen Captain Charles Johnson verfassten General History of the Pyrates(1)(1) berichtet wird, deren erster Band bereits 1724 publiziert wurde. Johnson beschreibt Libertalia(3) als egalitäre Republik, in der die Sklaverei abgeschafft ist, alle Dinge in Gemeinbesitz sind und alle öffentlichen Angelegenheiten demokratisch geregelt werden. Als ihr Schöpfer wird der ehemalige französische(1) Piratenkapitän Misson(1) angegeben, der unter dem philosophischen Einfluss eines früheren italienischen Priesters steht, der die Soutane für die Seefahrt aufgibt. Historikern ist es jedoch nicht gelungen, einen weiteren Beleg dafür aufzufinden, dass ein Piratenkapitän namens Misson(2) oder ein solcher säkularisierter Priester (sein Name wird mit Caraccioli(1) angegeben) tatsächlich gelebt hat – der Tatsache zum Trotz, dass fast alle anderen in dem Buch erwähnten Piraten durch Archivquellen belegt werden können. Auch der Archäologie ist es nicht gelungen, irgendeinen Nachweis für die physische Existenz von Libertalia(4) zu lokalisieren.

Als Konsequenz hieraus besteht eine allgemeine Übereinstimmung, dass die ganze Geschichte schlicht erfunden ist. Manche Menschen räumen ein, dass es sich hierbei vielleicht um ein Seemannsgarn handelte, das nach der Einschätzung des Autors der History of the Pyrates(2) einfach zu gut gesponnen war, um nicht in seine Sammlung mit aufgenommen zu werden, auch wenn er vermutlich wusste, dass es die fraglichen Ereignisse niemals gegeben hatte. Captain Johnson(2) (wer auch immer er war) dachte sich ihrer Ansicht nach die ganze Sache schlicht und einfach aus. Nur wenige Menschen scheinen dem jedoch eine – wie auch immer geartete – größere Bedeutung beizumessen, weil als einzige wichtige Frage gilt: »Gab es an der Küste Madagaskars wirklich jemals eine Libertalia(5) genannte utopische Siedlung ehemaliger Piraten?«

Für mich ist das eine eher triviale Frage. Wahrscheinlich gab es weder einen Misson(3) noch Caraccioli(2) noch eine Siedlung, die genau diesen Namen trug; aber ganz gewiss gab es Piratensiedlungen an der Küste Madagaskars, und sie waren Orte radikaler gesellschaftlicher Experimente. Piraten experimentierten tatsächlich mit neuen Formen der Regierungsführung und der Eigentumsverhältnisse; und darüber hinaus taten es ihnen Mitglieder der benachbarten madagassischen Gemeinschaften gleich, in die sie einheirateten. Viele von ihnen hatten in Piratensiedlungen gelebt, waren auf ihren Schiffen mitgefahren, hatten Blutsbrüderschaften mit ihnen geschlossen und viele Stunden lang politische Gespräche mit ihnen geführt.

Die Geschichte von Kapitän Misson(4) ist auf eine Art als Täuschung angelegt, weil sie so erzählt wird, dass die Madagassen aus ihr herausgehalten werden. Den Piraten werden schiffbrüchige ausländische Frauen zur Seite gestellt, die Menschen der Umgebung werden auf die Rolle feindseliger Stammesgesellschaften reduziert, die die Piraten schließlich überwältigen und töten. Aber das erleichtert den Historikern und Anthropologen nur das, was sie unter solchen Umständen ohnehin gerne tun: Sie behandeln die politischen Angelegenheiten der als Europäer(7) und der als Afrikaner(1) (oder als nicht weiß) identifizierten Personen als vollkommen voneinander getrennte Forschungsgebiete, als getrennte Welten, bei denen es unwahrscheinlich war, dass es zu irgendeinem ernsthaften (geschweige denn intellektuellen) und wechselseitig ausgeübten Einfluss kam.

Die Wirklichkeit war, wie wir noch sehen werden, sehr viel komplizierter. Aber zugleich auch sehr viel interessanter und hoffnungsvoller.

Geschichten über Libertalia(6) – oder über Averys(3) Piraten-Königreich – waren deshalb in keinerlei Hinsicht isolierte Fantasien. Ihre bloße Existenz und Beliebtheit waren vielmehr ein historisches Phänomen, das für sich selbst sprach. In einem gewissen Sinn könnte man über diese Geschichten sogar sagen, dass sie – in Anlehnung an Marx(1)’ Ausdruck – zur materiellen Gewalt in der Geschichte wurden.[1] Das »Goldene Zeitalter der Piraterie«, wie es heute genannt wird, dauerte schließlich nur 40 oder 50 Jahre; es liegt nun schon lange Zeit zurück; aber Menschen in aller Welt erzählen immer noch Geschichten von Piraten und Piraten-Utopien – oder schmücken sie auf ihre Weise aus, mit der Art von kaleidoskopischen Fantasien über Zauberei, Sexualität und Tod, die, wie wir noch sehen werden, dieses Thema schon immer begleitet haben.

Man kann sich der Schlussfolgerung kaum entziehen, dass diese Geschichten sich halten, weil sie eine bestimmte Vorstellung von menschlicher Freiheit verkörpern, eine Vorstellung, die immer noch bedeutsam zu sein scheint – die aber zugleich auch eine Alternative zu den Ideen von Freiheit bietet, die in europäischen(8) Salons im Verlauf des 18. Jahrhunderts entwickelt werden sollten und bis heute dominant bleiben. Der zahnlose oder mit einem Holzbein daherkommende Bukanier, der mit seiner Flagge der ganzen Welt trotzt, der mit dem Ertrag seines Beuteguts bis zur Besinnungslosigkeit trinkt und schlemmt, aber beim ersten Anzeichen ernsthaften Widerstands flieht und dabei nur unglaubliche Geschichten und Verwirrung hinterlässt, ist vielleicht ebenso sehr eine Persönlichkeit der Aufklärung wie Voltaire(1) oder Adam Smith(1), aber er steht zugleich auch für eine zutiefst proletarische Vorstellung von Freiheit, die zwangsläufig gewalttätig und kurzlebig ist.

Die moderne Fabrikdisziplin entwickelte sich auf Schiffen und auf Plantagen. Erst später übernahmen die frühen Industriellen in Städten wie Manchester(1) und Birmingham(1) diese Techniken der Umwandlung von Menschen in Maschinen. Die Piratenlegenden könnte man dann als die wichtigste dichterische Ausdrucksform bezeichnen, die das in den Anrainerstaaten des Nordatlantiks(2) sich herausbildende Proletariat hervorgebracht hat, dessen Ausbeutung den Boden für die industrielle Revolution bereitete.[2] Solange diese Formen der Disziplin – oder ihre subtileren und heimtückischeren modernen Ausprägungen – unser Arbeitsleben bestimmen, werden wir immer über Bukanier fantasieren.

Das Hauptthema dieses Buches ist jedoch nicht der romantische Reiz, der von der Piraterie ausgeht. Es ist eine historische Arbeit, für die anthropologisches Wissen genutzt wird; es soll hier versucht werden, herauszuarbeiten, was gegen Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts an der Nordostküste Madagaskars tatsächlich geschah, als sich mehrere Tausend Piraten dort niederließen; außerdem soll in einem umfassenderen Sinn gezeigt werden, dass Libertalia(7) tatsächlich existierte, dass man es gewissermaßen als erstes politisches Experiment der Aufklärung betrachten konnte und dass viele der Männer und Frauen, die dieses Experiment verwirklichten, Malagasy(1) sprachen.

*

Es besteht kein Zweifel, dass Geschichten über Piraten-Utopien weite Verbreitung fanden und dass sie historische Wirkungen zeitigten. Die eigentliche Frage lautet, wie weit diese Wirkungen reichten und wie tiefgreifend sie ausfielen.

Meiner Ansicht nach gibt es überzeugende Argumente dafür, dass sie äußerst wichtig waren. Zunächst einmal kamen diese Geschichten schon sehr früh in Umlauf, noch zu Lebzeiten von Newton(1) und Leibniz(1) und lange vor dem Auftauchen einer politischen Theorie, die mit Montesquieu(2) und den Enzyklopädisten verbunden wurde. Montesquieu vertrat den Standpunkt, alle Nationen bildeten sich zunächst in einer Form heraus, die sehr stark an utopische Experimente erinnerte: Große Gesetzgeber setzten ihre Visionen durch, Gesetze machten den Charakter großer Nationen aus. Piratenkapitäne wie Misson(5) oder Avery(4) waren in Geschichten, die solche Männer in ihrer Kindheit und Jugend zweifellos gehört hatten, als Persönlichkeiten dargestellt worden, die genau so etwas versuchten. Daniel Defoe(2) schrieb 1707, als Montesquieu 18 Jahre alt war, in (1)England(1) einen Text, in dem er die auf Madagaskar siedelnden Piraten mit den Gründern des antiken Rom verglich, Banditen, die sich auf einem neuen Territorium niederließen, neue Gesetze schufen und sich schließlich zu einer großen Nation von Eroberern entwickelten.

Dass ein großer Teil der Aufregung, die mit solchen Erklärungen einherging, auf maßlos übertriebene Propaganda oder gar auf glatten Betrug zurückzuführen war, ist für die Rezeption solcher Dinge nicht weiter von Bedeutung. Wir wissen nicht, ob dieses eine Traktat ins Französische übersetzt wurde (vermutlich nicht), was wir aber wissen, ist, dass Männer, die sich als Repräsentanten des neuen Piratenkönigreichs ausgaben, etwa zu diesem Zeitpunkt nach Paris(1) kamen, um für ein Bündnis zu werben. Hörte der junge Montesquieu(3) davon? Auch das wissen wir nicht, aber es ist kaum vorstellbar, dass das nicht genau die Art von Neuigkeit war, über die Studenten in jener Zeit gerne Scherze machten und diskutierten, weil sie höchstwahrscheinlich die Fantasie eines ehrgeizigen jungen Intellektuellen beflügelten.

Manche Dinge wissen wir allerdings. Sie aufzulisten wäre vielleicht ein guter Ausgangspunkt:

Wir wissen, dass eine sehr große Zahl von Piraten des 17. Jahrhunderts, die aus der Karibik(2) und von anderen Orten kamen, sich an der Nordostküste von Madagaskar niederließen, wo ihre madagassischen Nachkommen (die »Zana-Malata(1)«) bis zum heutigen Tag eine eigenständige Bevölkerungsgruppe bilden. Wir wissen, dass die Ankunft der Piraten eine Reihe von gesellschaftlichen Umwälzungen auslöste, die im 18. Jahrhundert schließlich zur Gründung eines politischen Gemeinwesens führten: des Betsimisaraka(2)-Bündnisses(1). Wir wissen außerdem, dass die Menschen, die heute in dem einst von diesem Bündnis beherrschten Gebiet leben – einem fast 700 Kilometer langen Küstenstreifen –, als eine der Volksgruppen Madagaskars gelten, die am konsequentesten an egalitären Strukturen festhalten. Wir wissen, dass der Mann, der als Gründer dieses Bündnisses gilt, Ratsimilaho(1) hieß; und dass man sich damals von Ratsimilaho erzählte, er sei der Sohn eines englischen Piraten aus einer Siedlung namens Ambonavola(1) (vermutlich der Ort, der heute unter dem Namen Foulpointe(1) bekannt ist); und wir wissen, dass Ambonavola in zeitgenössischen englischen Darstellungen als eine Art utopisches Experiment geschildert wird, als ein Versuch, die für Piratenschiffe typischen demokratischen Organisationsformen auf eine feste Siedlungsgemeinschaft an Land zu übertragen. Und außerdem wissen wir auch, dass Ratsimilaho in ebenjenem Ort schließlich zum König der Betsimisaraka(3) ausgerufen wurde.

All dies können wir als einigermaßen gesichert festhalten. Darüber hinaus jedoch bieten unsere Quellen ein höchst verwirrendes Bild. Die noch in der Kolonialzeit erarbeitete anerkannte Chronologie verzeichnet, dass Ratsimilaho(2) von 1720 bis 1756 als König der Betsimisaraka(4) herrschte. Zwei Generationen später entstandene Berichte stellen ihn als eine Art Philosophen-König der Aufklärung dar, der das Betsimisaraka-Bündnis(2) aufgrund seiner ganz persönlichen Genialität schuf, dessen ehrgeizige Pläne zur Einführung der europäischen(9) Wissenschaft und Zivilisation letztlich jedoch durch die Niederlage seiner Piraten-Verbündeten und die Raubzüge französischer Sklavenhändler zunichtegemacht wurden. Dies ist jedoch nur unter größten Schwierigkeiten mit zeitgenössischen Berichten zu vereinbaren, in denen ebendiese Person – oder jemand, der jedenfalls diese Person zu sein scheint – manchmal als König, manchmal aber auch nur als einer aus einer ganzen Reihe von lokalen Anführern bezeichnet wird, in einem Fall sogar als stellvertretender Befehlshaber eines jamaikanischen Piraten-»Königs« namens John Plantain(1). Ein anderer Bericht führt ihn als Stellvertreter eines madagassischen Monarchen in einem ganz anderen Landesteil. Archäologen haben außerdem keinerlei Beleg dafür gefunden, dass es, in irgendeiner nachvollziehbaren Bedeutung des Begriffs, tatsächlich ein Betsimisaraka(5)-Königreich gab. Staaten, die zur damaligen Zeit in anderen Teilen Madagaskars geschaffen wurden, hinterließen auffällige physische Spuren, aber entlang der gesamten Nordostküste gibt es keinen Nachweis für die Errichtung von Palästen oder für staatliche Bauprojekte, die Einführung von Besteuerungssystemen, Beamtenhierarchien oder stehenden Heeren oder für irgendwelche andere auffällige Neuerungen, die überlieferte ältere Muster des Landlebens durchbrachen.

Was soll man davon halten?

In diesem kleinen Buch gelingt es mir möglicherweise nicht, die vorliegenden Belege umfassend zu erklären – das könnte ohnehin unmöglich sein –, aber ich werde versuchen, einen allgemeinen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen sie gedeutet werden könnten. Meine Analyse verwirft an verschiedenen Punkten das herkömmliche Verständnis dieser Epoche.

Zunächst einmal werde ich die Ansicht vertreten, dass die in der damaligen Zeit in Madagaskar – und vor allem die in den von Piraten beeinflussten Gebieten – entstandenen Geschichten von mächtigen Königreichen oder von der tatsächlichen Existenz von Institutionen, die wie Königshöfe anmuteten, nicht unbedingt für bare Münze genommen werden sollten. An der Küste Madagaskars waren zur damaligen Zeit alle materiellen Mittel vorhanden, die für die Errichtung potemkinscher Königshöfe benötigt wurden, um Außenstehende zu beeindrucken. Und es ist ziemlich klar, dass zumindest einige der »Könige«, die mit landfremden Beobachtern zusammentrafen, mit Hilfe der aktiven Komplizenschaft ihrer vorgeblichen madagassischen Gefolgsleute einfach nur ein Fantasiestück aufführten. Piraten verstanden sich besonders gut auf solche Spiele. Ein Grund dafür, dass das »Goldene Zeitalter der Piraterie« nach wie vor Stoff für Legenden liefert, liegt darin, dass die Piraten jenes Zeitalters so viel Geschick bei der Manipulation von Legenden zeigten; sie setzten wundersame Geschichten – ob es dabei nun um furchterregende Gewalt oder um inspirierende Ideale ging – auf eine Art ein, die Kriegswaffen sehr nahe kam, auch wenn der Krieg, um den es dabei ging, der verzweifelte und letztlich zum Scheitern verurteilte Kampf eines bunt zusammengewürfelten Haufens von Gesetzlosen gegen die gesamte sich in der damaligen Zeit entwickelnde Struktur weltweiter Amtsgewalt war.

Zweitens möchte ich betonen, dass diese Geschichten, wie alle erfolgreichen Spielarten von Propaganda, tatsächlich auch einige Körnchen Wahrheit enthielten. Die Republik Libertalia(8) mag vielleicht nicht existiert haben, zumindest nicht im Wortsinn, aber Piratenschiffe, Piratensiedlungen wie Ambonavola(2) und, so würde ich sagen, das Betsimisaraka(6)-Bündnis(3) selbst, das von madagassischen Politikern in enger Zusammenarbeit mit den Piraten ins Leben gerufen wurde, waren in vielerlei Hinsicht bewusste Experimente in Sachen einer radikalen Demokratie. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass sie tatsächlich einige der ersten Ansätze des politischen Denkens der Aufklärung darstellen. Sie erkundeten Gedanken und Grundsätze, die letztlich von politischen Philosophen entwickelt und von revolutionären Regimen ein Jahrhundert später in die Praxis umgesetzt wurden. Dies würde auch das offensichtliche Paradoxon der Betsimisaraka(7) erklären: Als gesellschaftliche Gruppe mutmaßlich von einem gescheiterten Philosophenkönig geschaffen, bleiben sie bis zum heutigen Tag ein hartnäckig am Gleichheitsgrundsatz festhaltendes Volk, das für seine Weigerung bekannt ist, die Amtsgewalt von Oberherren gleich welcher Art zu akzeptieren.

Die (sehr) radikale Aufklärung

Der englische Buchtitel »Pirate Enlightenment« (»Piraten-Aufklärung«) bedeutet offensichtlich eine gewisse Provokation. Das gilt umso mehr, weil der Begriff der Aufklärung mittlerweile in Verruf geraten ist. Während die Aufklärer des 18. Jahrhunderts sich selbst für Radikale hielten, die den Versuch unternahmen, die Ketten aller überkommenen Autoritäten zu sprengen, um die Grundlagen für eine universelle Theorie der menschlichen Freiheit zu schaffen, neigen zeitgenössische radikale Denker eher zu einer anderen Sicht: Das Denken der Aufklärung gilt ihnen als die höchste Steigerungsstufe der überkommenen Autorität, als eine intellektuelle Bewegung, deren Hauptleistung darin bestand, die Grundlagen für eine besonders moderne Spielart des rationalen Individualismus zu errichten, die zur Ausgangsbasis für »wissenschaftlichen« Rassismus, modernen Imperialismus, Ausbeutung und Völkermord wurde. Es kann nicht bezweifelt werden, dass genau dies geschah, als europäische(10) Imperialisten, Kolonialisten und Sklavenbesitzer, die mit dem Gedankengut der Aufklärung aufgewachsen waren, auf die Welt losgelassen wurden.

Natürlich könnte man sich an dieser Stelle auch über die kausalen Zusammenhänge streiten. Hätten solche Männer sich anders verhalten, wenn sie ihr eigenes Vorgehen (wie noch in den vorhergehenden Jahrhunderten) mit dem religiösen Glauben gerechtfertigt hätten? Höchstwahrscheinlich nicht. Aber mir scheint (und ich habe das bereits an anderer Stelle vorgebracht),[3] dass ein großer Teil der darauf folgenden Debatte uns von einer sehr viel grundsätzlicheren Frage ablenkt: von der Frage, ob die Ideale der Aufklärung, und hier ganz besonders die Ideale der Aufklärung hinsichtlich der Befreiung des Menschen, überhaupt auf eine nachvollziehbare Art und Weise als »westlich« bezeichnet werden können. Ich hege den starken Verdacht, dass künftige Historiker bei der Rückschau auf solche Fragen vermutlich zu dem Schluss kommen werden, dass dies auf die meisten dieser Ideale nicht zutraf.

Die europäische(11) Aufklärung war zunächst einmal ein Zeitalter der intellektuellen Synthese, in der vormals intellektuell rückständige Länder wie England(2) und Frankreich(2) plötzlich zu Zentren von Weltreichen wurden und sich (für sie selbst) verblüffenden neuen Gedanken ausgesetzt sahen. Sie versuchten daraufhin zum Beispiel die vom amerikanischen Doppelkontinent stammenden Ideale des Individualismus und der Freiheit in ihr Denken mit einzubeziehen, ebenso wie ein weitgehend von China inspiriertes neues Konzept des bürokratischen Nationalstaats, afrikanische(2) Vertragstheorien und Wirtschafts- und Gesellschaftstheorien, die ursprünglich vom mittelalterlichen Islam entwickelt worden waren.

Sofern es dabei zu einer praktischen Synthese kam – das heißt: sofern irgendjemand, vor allem in der Frühzeit der Aufklärung, im Licht all dieser Gedanken mit neuen Organisationsformen gesellschaftlicher Beziehungen experimentierte –, geschah dies aus nachvollziehbaren Gründen nicht in den großen Städten Europas, die immer noch von verschiedenen absolutistischen Regimen beherrscht wurden, sondern in den Randbereichen des sich entwickelnden weltweiten Systems und ganz besonders in den relativ freien Räumen, die sich oft im Gefolge imperialer Abenteuer auftaten, mit all den damit verbundenen Bevölkerungsverschiebungen, die sie in vielen Fällen nach sich zogen. Diese waren oft Begleiterscheinungen furchtbarer Gewalt, der Vernichtung bestehender Völker und Kulturen.

Aber es ist wichtig, daran zu erinnern, dass diese Aufzählung nicht vollständig ist. Ich habe bereits, wenn auch etwas beiläufig,[4] auf die Bedeutung hingewiesen, die Piraten in diesen Zusammenhängen erlangten, vor allem als Vorreiter bei der Entwicklung neuer Formen demokratischer Regierungsführung. Und dabei habe ich festgehalten, dass Besatzungen von Piratenschiffen oft aus sehr vielen unterschiedlichen Arten von Menschen bestanden, die Erfahrungen mit einer großen Zahl verschiedener Gesellschaftsordnungen mitbrachten, denn auf ein und demselben Schiff konnten sich Engländer(3), Schweden(1), geflohene afrikanische(3) Sklaven, Kreolen aus der Karibik(3), indigene Amerikaner und Araber befinden, und auch diese Aufzählung ließe sich erweitern. Sie waren also einem gewissen, der Not gehorchenden Egalitarismus verpflichtet. Solche Besatzungen wurden in Situationen zusammengewürfelt, in denen die schnelle Schaffung neuer institutioneller Strukturen eine absolute Notwendigkeit war, so dass sie in einem gewissen Sinn perfekte Laboratorien für demokratische Experimente abgaben.

Mindestens ein prominenter Historiker des europäischen(12) politischen Denkens hat in der Tat behauptet, dass einige Formen der Demokratie, die von Staatsmännern der Aufklärung in der Hemisphäre des Nordatlantiks(3) entwickelt wurden, ihre Premiere höchstwahrscheinlich in den 1680er und 1690er Jahren auf Piratenschiffen erlebten; dass die Führungsrolle sich eher aus der Zustimmung der Geführten herleiten konnte als auf die Verleihung durch Höhergestellte, sei mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Erfahrung der Mannschaften von Piratenschiffen in der frühmodernen Welt des nördlichen Atlantiks gewesen. Piratenmannschaften wählten nicht nur ihre Kapitäne, sondern waren auch vertraut mit ausgleichenden Gegenkräften (in der Gestalt des Quartiermeisters und des Schiffsrats) und vertraglich geregelten Beziehungen von Individuum und Kollektiv (in der Gestalt von schriftlich niedergelegten Schiffssatzungen, in denen etwa die Anteile an der Beute und die Entschädigung bei Verwundungen im Kampf festgelegt wurden).[5]

Britische und französische(3) Autoren ließen sich zweifellos von der Neuartigkeit solcher Vereinbarungen über Formen des Zusammenlebens zu Fantasien über Piraten-Utopien inspirieren wie etwa über Libertalia(9). Aber die Hauptakteure bei diesen Darstellungen waren immer Europäer(13).

Die Geschichte von Libertalia ist ein typisches Beispiel. Wir kennen sie nur durch das erwähnte Buch mit dem Titel A General History of the Pyrates(3), dessen erster Band 1724 – und der zweite Teil, mit der Geschichte Missons(6), 1728 – unter dem Namen eines Captain Charles Johnson(3) erschien und das möglicherweise (vielleicht aber auch nicht) aus der Feder von Daniel Defoe(3) stammte. Die Siedler von Libertalia(10), allesamt europäischer Herkunft, machten sich an die Schaffung einer Art von freiheitlichem Experiment, das auf Mehrheitsentscheidungen und Privateigentum beruhte, aber auch auf der Abschaffung der Sklaverei, der Rassentrennung und der organisierten Religion; nahezu jedem wahrhaft berühmten Piraten (Tom Tew(1), Henry Avery(5) …) wurde im Buch die Beteiligung an diesem Versuch nachgesagt; die Geschichte endet mit dem Angriff der ruhelosen Einheimischen auf die Piraten und mit deren Überwältigung, bei der sie aus keinem erkennbaren Grund vernichtet werden.

Die Madagassen sind also, obwohl von der Gleichberechtigung der Ethnien geredet wird, nicht am gesellschaftlichen Versuch beteiligt. Die einheimische Bevölkerung tritt in solchen Darstellungen niemals als die Art von Menschen auf, die sich selbst an politischen Experimenten beteiligen würden. Und diese (letztlich rassistische) Voreingenommenheit setzt sich in der kolonialen und sogar bis in die aktuelle zeitgenössische Geschichtsschreibung fort. Politische Experimente, die von Sprechern europäischer Sprachen durchgeführt werden, stehen in keinerlei Beziehung zu politischen Experimenten von Sprechern des Madagassischen (Malagasy(2)), selbst wenn sie sich nahezu am gleichen Ort und zur gleichen Zeit entwickelten, unter Beteiligung von Akteuren, die täglichen Kontakt zueinander hatten.

Sofern die landläufige Geschichtsschreibung den Piraten überhaupt irgendeinen Einfluss auf die Gründung des Betsimisaraka(8)-Bündnisses(4) zugesteht, geht man davon aus, dass dieser buchstäblich genetisch verankert ist. Das Reich der Betsimisaraka (»die vielen, die man nicht trennen kann«), so lautet die übliche Geschichtserzählung, ist eine Schöpfung der Kinder von europäischen(14) Piraten und madagassischen Müttern unter der genialen Führerschaft eines einzigen, besonders charismatischen (1)Malata(2) namens Ratsimilaho(3), die den passiven einheimischen Madagassen auferlegt wurde, die nichts weiter taten, als seinem Ruf zu folgen. Ratsimilaho wird außerdem immer so dargestellt, als importierte er lediglich bereits bestehende europäische(15) Neuerungen – beispielsweise den Nationalstaat – und würde niemals einen eigenständigen politischen Beitrag leisten. Der französische(4) Historiker Hubert Deschamps(1) referiert die zur Kolonialzeit herrschende Meinung, die mehr oder weniger bis zum heutigen Tag die herrschende Meinung geblieben ist:

»So war der große Mann, das Kind eines Piraten, das sich selbst durch seine Intelligenz und seinen Charakter zum Herrscher machte. Ihm gelang es, die verstreut siedelnden Stämme, die in Anarchie, Krieg und Elend gelebt hatten, zusammenzufassen. Er formte aus ihnen einen mächtigen und blühenden Staat und sicherte dessen Dauerhaftigkeit und Zusammenhalt. […]

Er war der Erste, der auf der Großen Insel das territoriale Gefühl eines Staates einführte, für das ihm die europäischen(16) Länder zweifellos ein Beispiel lieferten. […] Aber nach ihm zerfiel sein Königreich Stück für Stück.«[6]

So gut wie keine der gängigen Darstellungen hält jedoch einer genauen Überprüfung stand. Zunächst einmal hat, wie wir noch sehen werden, Ratsimilaho(4) zwar eindeutig gelebt und war wohl der Sohn einer einheimischen madagassischen Frau namens Rahena(1) und eines englischen Piraten namens Thamo oder Tom, aber die übrigen (2)Malata(3)