Schulden - David Graeber - E-Book

Schulden E-Book

David Graeber

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Beschreibung

Ein radikales Buch im doppelten Wortsinn, denn Graeber packt das Problem der Schulden an der Wurzel, indem er bis zu ihren Anfängen in der Geschichte zurückgeht. Das führt ihn mitten hinein in die Krisenherde unserer Zeit: Von der Antike bis in die Gegenwart sind revolutionäre Bewegungen immer in Schuldenkrisen entstanden. Graeber sprengt die moralischen Fesseln, die uns auf das Prinzip der Schulden verpflichten. Denn diese Moral ist eine Waffe in der Hand der Mächtigen. Die weltweite Schuldenwirtschaft ist eine Bankrotterklärung der Ökonomie. Der Autor enttarnt Geld- und Kredittheorien als Mythen, die die Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen vorantreiben. Im Kern ist dieses Buch ein hohes Lied auf die Freiheit: Das sumerische Wort »amargi«, das Synonym für Schuldenfreiheit, ist Graeber zufolge das erste Wort für Freiheit in menschlicher Sprache überhaupt. David Graeber ist einer der Begründer der Occupy-Bewegung.

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Seitenzahl: 1125

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David Graeber

Aus dem Amerikanischenvon Ursel SchäferHans FreundlStephan Gebauer

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Besuchen Sie uns im Internet: www.klett-cotta.de

Klett-Cotta

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Debt. The first 5,000 Years«

im Verlag Melville House, New York May 2011.

© 2011 David Graeber

Für die deutsche Ausgabe

© J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,

gegr. 1659, Stuttgart 2012

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung des Originalschutzumschlages

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94767-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10310-6

Umschlag

Impressum

Inhalt

1 Über die Erfahrung der moralischen Verwirrung

2 Der Mythos vom Tauschhandel

3 Ursprüngliche Schulden

4 Gewalt und Wiedergutmachung

5 Kurze Abhandlung über die moralischen Grundlagen ökonomischer Beziehungen

6 Spiele mit Sex und Tod

7 Ehre und Entwürdigung

8 Kredit oder Edelmetall

9 Die Achsenzeit

10 Das Mittelalter

11 Das Zeitalter der kapitalistischen Imperien

12 1971 – Der Anfang von etwas, das noch nicht bestimmt werden kann

Anmerkungen

Bibliografie

Personenregister

Sachregister

Informationen zum Autor

KAPITEL 1

ÜBER DIE ERFAHRUNG DER MORALISCHEN VERWIRRUNG

Schuld, die

Substantiv 1. Ursache von etwas Unangenehmem,

Bösem oder eines Unglücks, die Verantwortung dafür.

2. bestimmtes Verhalten, bestimmte Handlung,

womit jmd. gegen sittliche Werte, Normen

oder gegen die rechtliche Ordnung verstößt.

3. Geldbetrag, den jmd. einem anderen schuldig ist.

Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache

Wenn Sie der Bank hunderttausend Dollar

schulden, gehören Sie der Bank.

Wenn Sie der Bank hundert Millionen Dollar

schulden, gehört die Bank Ihnen.

Amerikanisches Sprichwort

VOR ZWEI JAHRENbesuchte ich infolge einiger Zufälle eine Gartenparty in der Westminster Abbey. Ich fühlte mich ein bisschen unbehaglich. Die anderen Gäste waren durchaus freundlich und nett, und Pater Graeme, der die Party organisiert hatte, war ein durch und durch liebenswürdiger und charmanter Gastgeber. Aber ich kam mir ein wenig fehl am Platz vor. Irgendwann sprach mich Pater Graeme an: Da stehe jemand gleich neben dem Brunnen, mit dem ich mich sicher gern unterhalten würde. Wie sich herausstellte, war es eine schick gekleidete junge Frau, laut Auskunft des Paters eine Anwältin – »aber eine von der engagierten Sorte. Sie arbeitet für eine Stiftung, die in London Gruppen juristisch berät, die gegen die Armut kämpfen. Sie beide haben sich wahrscheinlich viel zu erzählen.«

Wir kamen ins Gespräch. Sie berichtete von ihrer Arbeit. Ich erzählte ihr, dass ich seit vielen Jahren in der Bewegung für weltweite Gerechtigkeit aktiv war – bei den »Globalisierungsgegnern«, wie es üblicherweise in der Presse hieß. Das interessierte sie: Natürlich hatte sie viel über Seattle, Genua, über Tränengas und Straßenkämpfe gelesen, aber … hatten wir denn mit all dem etwas erreicht?

»Ja sicher, es ist sogar erstaunlich, wie viel wir in diesen ersten Jahren erreicht haben«, erwiderte ich.

»Zum Beispiel?«

»Nun, zum Beispiel haben wir es beinahe geschafft, den IWF auszuschalten.«

Zufällig wusste sie nicht, was der IWF ist, und ich erklärte ihr, dass der Internationale Währungsfonds als der Schuldeneintreiber der Welt fungiert: »Man könnte sagen, er ist in der Hochfinanz das Äquivalent zu den Jungs, die kommen und einem die Beine brechen.« Ich ließ mich über den historischen Hintergrund aus, erklärte, wie die OPEC-Staaten während der Ölkrise in den 1970er Jahren so viel von ihren neu erworbenen Reichtümern an westliche Banken überwiesen, dass die Banken gar nicht wussten, wo sie das Geld investieren sollten; wie Citibank und Chase Manhattan Bank deshalb Vertreter in alle Welt aussandten, die Politiker und Diktatoren der Dritten Welt überreden sollten, Kredite aufzunehmen (damals hieß das »Go-Go-Banking«); wie sie mit äußerst niedrigen Zinsen begannen, die aber dank der rigorosen Geldpolitik der Vereinigten Staaten in den 1980er Jahren bald auf 20 Prozent und mehr in die Höhe schossen; wie das in den 1980er und 1990er Jahren zur Schuldenkrise der Dritten Welt führte; wie sich dann der IWF einschaltete und darauf beharrte, zur Refinanzierung müssten die armen Länder gezwungen werden, die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln aufzugeben oder sogar die Politik, strategische Lebensmittelreserven anzulegen sowie freie Gesundheitsversorgung und freie Bildung bereitzustellen; wie all dies damit endete, dass die ärmsten und am meisten gefährdeten Völker der Welt die grundlegende Unterstützung verloren hatten. Ich sprach von Armut, von der Ausplünderung öffentlicher Ressourcen, vom Zusammenbruch von Gesellschaften, von endemischer Gewalt, Mangelernährung, Hoffnungslosigkeit und zerstörten Leben.

»Aber wie war Ihre Einstellung?«, fragte die Anwältin.

»Zum IWF? Wir wollten ihn abschaffen.«

»Nein, ich meine, zu den Schulden der Dritten Welt.«

»Oh, die wollten wir auch abschaffen. Zunächst einmal wollten wir den IWF daran hindern, dass er weiter Strukturanpassungsprogramme verlangte, die unmittelbaren Schaden anrichteten, und das erreichten wir überraschend schnell. Langfristiges Ziel war der Schuldenerlass. So etwas wie der vollständige Ablass in der Kirche. Nach unserer Einschätzung reichte es, dass seit 30 Jahren Geld aus den ärmsten Ländern in die reichsten geflossen war.«

»Aber«, wandte sie ein, als wäre das offensichtlich, »sie hatten sich das Geld geliehen! Schulden muss man doch zurückzahlen.«

An dieser Stelle wurde mir klar, dass das Gespräch ganz anders verlaufen würde, als ich es mir ursprünglich vorgestellt hatte.

Wo sollte ich anfangen? Ich hätte damit anfangen können zu erklären, wie diese Kredite ursprünglich von selbsternannten Diktatoren aufgenommen worden waren, die den größten Teil des Geldes direkt auf ihre Schweizer Bankkonten überwiesen, und ich hätte sie fragen können, ob sie es gerecht fand, wenn man darauf beharrte, dass die Gläubiger ihr Geld nicht von dem Diktator oder seinen Kumpanen zurückerhielten, sondern indem sie buchstäblich hungrigen Kindern das Essen wegnahmen. Oder denken wir nur daran, wie viele dieser armen Länder durch das Wunder des Zinseszinseffekts bis heute das Drei- oder Vierfache der geliehenen Summen zurückgezahlt haben, und trotzdem hat sich ihre Kreditsumme kaum verringert. Ich hatte auch beobachtet, dass es einen Unterschied zwischen der Refinanzierung von Krediten und der Forderung gab, dass Länder, um eine Refinanzierung zu bekommen, einen orthodox marktwirtschaftlichen Kurs verfolgen müssen, der in Washington oder Zürich beschlossen wurde und dem die Menschen in den betroffenen Ländern nie zugestimmt haben und nie zustimmen werden. Ebenso war es einigermaßen unehrlich, zu verlangen, dass diese Länder demokratische Institutionen bekommen sollten, und dann darauf zu beharren, dass die gewählten Politiker nicht über den politischen Kurs in den Ländern entscheiden dürften. Oder ich beobachtete, dass die vom IWF verordnete Wirtschaftspolitik nicht einmal funktionierte. Aber all dem lag ein grundsätzlicheres Problem zugrunde: die Voraussetzung, dass Schulden überhaupt zurückgezahlt werden müssen.

Das Erstaunliche an dem Satz »man muss seine Schulden zurückzahlen« ist, dass er nach der ökonomischen Standardtheorie nicht stimmt. Wer Geld verleiht, muss ein gewisses Risiko tragen. Wenn alle Kredite, egal wie idiotisch sie sind, immer einzutreiben wären – wenn es zum Beispiel kein Insolvenzrecht gäbe –, wären die Folgen katastrophal. Warum sollte ein Geldgeber nicht einen dummen Kredit vergeben?

»Nun, ich weiß, es klingt wie eine Selbstverständlichkeit«, sagte ich, »aber das Lustige ist, dass, ökonomisch gesehen, Darlehen nicht so funktionieren. Finanzinstitute sollen Ressourcen in profitable Investitionen lenken. Wenn eine Bank eine Garantie hätte, dass sie Geld plus Zinsen zurückbekommt, ganz gleich was sie tut, würde das gesamte System nicht funktionieren. Nehmen wir einmal an, ich gehe in die nächste Filiale der Royal Bank of Scotland und sage: ›Hören Sie, ich habe einen ganz tollen Tipp für das Pferderennen bekommen. Könnten Sie mir 2 Millionen Pfund leihen?‹ Natürlich würden mich die Leute dort einfach auslachen. Denn sie wissen genau, dass sie ihr Geld nie wiedersehen, wenn mein Pferd nicht gewinnt. Stellen wir uns aber einmal vor, es gäbe ein Gesetz, das der Bank garantiert, dass sie ihr Geld unter allen Umständen zurückbekommt, selbst wenn es bedeuten würde, dass ich, sagen wir einmal, meine Tochter in die Sklaverei verkaufen oder meine Organe verscherbeln müsste oder etwas in der Art. Warum sollten sie mir dann das Geld nicht geben? Und lieber warten, bis jemand hereinspaziert, der einen realistischen Plan für einen Waschsalon oder dergleichen hat? Im Grunde ist genau das die Situation, die der IWF auf globaler Ebene geschaffen hat – auf diese Weise kriegt man alle Banken dazu, dass sie einer Bande offensichtlicher Gauner Milliarden von Dollar zuschieben.«

Ich kam mit meinen Ausführungen nicht weiter, weil ungefähr an dieser Stelle ein betrunkener Banker auftauchte. Er hatte bemerkt, dass wir über Geld sprachen, und erzählte lustige Geschichten über individuelle Risikobereitschaft – und es dauerte nicht lange, bis das in eine nicht sonderlich interessante Schilderung seiner sexuellen Eroberungen überging. Ich schlenderte davon.

Doch noch Tage später ging mir der Satz nicht aus dem Kopf: »Aber man muss seine Schulden doch zurückzahlen.«

Der Satz klingt so gewichtig, weil er in Wahrheit keine ökonomische, sondern eine moralische Aussage ist. Geht es bei Moral denn nicht in erster Linie darum, seine Schulden zu begleichen? Den Menschen geben, was ihnen zusteht. Zu seiner Verantwortung stehen. Die Verpflichtungen gegenüber anderen erfüllen, genauso wie wir erwarten, dass andere ihre Verpflichtungen uns selbst gegenüber erfüllen. Gibt es ein besseres Beispiel, wie man sich vor seiner Verantwortung drückt, als ein Versprechen nicht einzulösen oder eine Schuld nicht zurückzuzahlen?

Die scheinbare Offensichtlichkeit, das wurde mir klar, machte diesen Satz so tückisch. Es war eine Aussage von der Art, bei der schreckliche Dinge ganz harmlos und unauffällig daherkommen. Es mag hart klingen, aber man kann nicht anders, als hart zu reagieren, wenn man einmal die Wirkungen erlebt hat. Ich hatte sie erlebt. Fast zwei Jahre lang hatte ich im Hochland von Madagaskar verbracht. Kurz vor meiner Ankunft hatte es einen Malaria-Ausbruch gegeben. Einen besonders schlimmen Ausbruch, denn die Malaria war schon vor vielen Jahren im Hochland von Madagaskar ausgerottet, und nach zwei Generationen waren die meisten Menschen nicht mehr immun dagegen. Das Problem war, dass das Programm zur Bekämpfung der Moskitos Geld kostete, denn man musste in regelmäßigen Abständen überprüfen, ob die Moskitos sich nicht wieder vermehrten, und Gift sprühen, wenn es so war. Es ging nicht um viel Geld. Aber da die Regierung einem Sparprogramm des IWF unterlag, hatte sie das Geld für die Überwachung der Moskitos gestrichen. Bei diesem Malaria-Ausbruch starben 10000 Menschen. Ich traf junge Mütter, die um ihre Kinder weinten. Man könnte denken, dass man schwerlich argumentieren kann, der Verlust von 10000 Menschenleben sei gerechtfertigt, damit die Citibank nur keinen unverantwortlichen Kredit abschreiben muss, der in ihrer Bilanz sowieso nicht groß ins Gewicht fällt. Aber da stand eine absolut anständige Frau vor mir – die sogar für eine wohltätige Organisation arbeitete – und setzte genau dies als selbstverständlich voraus. Schließlich schuldeten sie Geld, und natürlich muss man seine Schulden zurückzahlen. Natürlich?

Auch in den nächsten Wochen ließ mich dieser Satz nicht mehr los. Warum Schulden? Was macht diesen Begriff so seltsam mächtig? Verbraucherschulden sind der Lebenssaft unserer Wirtschaft. Alle modernen Nationalstaaten nehmen zur Finanzierung ihrer Ausgaben Schulden auf. Schulden sind mittlerweile das zentrale Thema der internationalen Politik. Aber niemand scheint genau zu wissen, was es damit auf sich hat, oder darüber nachzudenken.

Gerade weil wir nicht wissen, was Schulden sind − die Dehnbarkeit des Begriffs ist zugleich die Grundlage seiner Macht. Wenn die Geschichte etwas zeigt, dann dies, dass es keine bessere Methode gibt, auf Gewalt gegründete Beziehungen zu verteidigen und moralisch zu rechtfertigen, als sie in die Sprache von Schuld zu kleiden – vor allem, weil es dann sofort den Anschein hat, als sei das Opfer im Unrecht. Mafiosi wissen das. Auch die Kommandeure von Invasionsarmeen. Seit vielen tausend Jahren reden gewalttätige Männer ihren Opfern ein, sie würden ihnen etwas schulden. Und wenn die Opfer ihnen sonst nichts schulden, dann »verdanken sie ihnen ihr Leben« − ein vielsagender Satz−, weil sie nicht getötet wurden.

Heute ist militärische Aggression ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und wenn so etwas vor einen internationalen Gerichtshof kommt, muss der Aggressor üblicherweise eine Entschädigung leisten. Deutschland musste nach dem Ersten Weltkrieg hohe Reparationen zahlen; der Irak zahlt immer noch an Kuwait für Saddam Husseins Invasion 1990.

Aber die Schulden der Dritten Welt, die Schulden Madagaskars, Boliviens und der Philippinen etwa, funktionieren offenbar genau andersherum. Schuldnerstaaten in der Dritten Welt sind fast immer solche, die früher von europäischen Staaten angegriffen und erobert wurden – oft von denselben Staaten, denen sie heute Geld schulden.

So drang Frankreich im Jahr 1895 nach Madagaskar vor, setzte die Regierung der damaligen Königin Ranavalona III. ab und erklärte das Land zur französischen Kolonie. Als eine der ersten Maßnahmen nach der »Befriedung«, wie man gern sagte, erlegte General Gallieni der Bevölkerung von Madagaskar hohe Steuern auf, teils als Rückzahlung der Kosten, die bei der Invasion entstanden waren, teils auch, um die Kosten für den Bau von Eisenbahnlinien, Straßen, Brücken, Plantagen und so weiter, die die Franzosen errichten wollten, hereinzubekommen, denn die französischen Kolonien sollten sich selbst aus eigenen Mitteln finanzieren. Die Steuerzahler auf Madagaskar wurden nie gefragt, ob sie diese Eisenbahnen, Straßen, Brücken und Plantagen überhaupt wollten, und durften auch so gut wie nie darüber entscheiden, wo und wie sie gebaut wurden.1 Ganz im Gegenteil: In den nächsten 50 Jahren richteten die französische Armee und Polizei unter den Madagassen, die zu heftig protestiert hatten, ein Massaker an (nach einigen Berichten gab es bei einem Aufstand 1947 bis zu einer halben Million Tote). Nie hat Madagaskar Frankreich ein vergleichbares Verbrechen zugefügt. Trotzdem hörten die Madagassen vom ersten Tag an, sie schuldeten Frankreich Geld, und daran hält man bis heute fest, und der Rest der Welt findet das gerecht. Soweit die »internationale Gemeinschaft« ein moralisches Problem erkennt, ist es üblicherweise ihre Einschätzung, die Regierung von Madagaskar zahle ihre Schulden zu langsam zurück.

Aber Schulden sind nicht nur die Gerechtigkeit des Siegers. Sie können auch eine Möglichkeit sein, Sieger zu bestrafen, die nicht hätten siegen sollen. Das spektakulärste Beispiel dafür ist die Republik Haiti – das erste arme Land, das auf Dauer in Schuldknechtschaft geriet. Der Staat Haiti wurde von ehemaligen Plantagenarbeitern gegründet, Sklaven, die nicht nur die Kühnheit besaßen, sich in der Epoche der großen Menschenrechtserklärungen und universellen Freiheiten zu erheben, sondern auch noch Napoleons Armeen schlugen, die man dorthin gesandt hatte, um sie erneut zu unterwerfen. Frankreich forderte von Anfang an, dass die junge Republik 150 Millionen Franc als Entschädigung für die enteigneten Plantagen zu zahlen habe, außerdem die Kosten für die Ausstattung der gescheiterten militärischen Expeditionen tragen müsse, und alle anderen Länder einschließlich der Vereinigen Staaten stimmten der Verhängung eines Embargos gegen Haiti zu, bis die Schulden bezahlt wären. Die Summe war absichtlich unmöglich hoch festgesetzt worden (nach heutigem Geldwert 18 Milliarden Dollar), und das Embargo sorgte dafür, dass der Name »Haiti« seither ein Synonym für Schulden, Armut und menschliches Leid ist.2

Manchmal scheinen Schulden allerdings auch das genaue Gegenteil zu bedeuten. Seit den 1980er Jahren häufen die Vereinigten Staaten, die selbst auf strikten Bedingungen für die Rückzahlung der Schulden der Dritten Welt beharren, Schulden auf, die mit Leichtigkeit die Schulden der gesamten Dritten Welt in den Schatten stellen – hauptsächlich durch Rüstungsausgaben. Die Auslandsschulden der Vereinigten Staaten haben die Form von Staatsanleihen im Besitz institutioneller Anleger in Ländern (Deutschland, Japan, Südkorea, Taiwan, Thailand, den Golfstaaten), die mehrheitlich de facto militärische Protektorate der USA sind, amerikanische Militärbasen voller Waffen und Ausrüstungen beherbergen, die mit eben diesen Schulden bezahlt wurden.

Inzwischen hat sich das etwas verschoben, seit China ins Spiel gekommen ist. China ist ein Sonderfall aus Gründen, die ich weiter unten erläutere. Aber das Schuldenspiel hat sich nicht sehr viel verändert, denn China fühlt sich, weil es so viele amerikanische Staatsanleihen hält, in gewisser Weise den amerikanischen Interessen verpflichtet und nicht umgekehrt.

Was ist das für ein Geld, das da kontinuierlich dem amerikanischen Finanzministerium zufließt? Sind es Kredite? Oder Tributzahlungen? In der Vergangenheit hießen Militärmächte, die außerhalb ihres Territoriums Hunderte Militärbasen unterhielten, in der Regel »Imperien«, und Imperien verlangten Tributzahlungen von unterworfenen Völkern. Die US-Regierung beharrt natürlich darauf, kein Imperium zu sein – aber man kann ohne Weiteres argumentieren, diese Zahlungen würden nur deshalb als »Darlehen« und nicht als »Tribute« bezeichnet, weil die wahre Realität verschleiert werden soll.

Nun, es stimmt, dass in der Geschichte immer bestimmte Schulden und bestimmte Schuldner ganz unterschiedlich behandelt wurden. In den 1720er Jahren war die britische Öffentlichkeit doch äußerst empört, als die Presse enthüllte, dass es in den Schuldgefängnissen zwei Abteilungen gab: Aristokratische Insassen, die einen kurzen Aufenthalt in Fleet oder Marshelsea eher schick fanden, wurden von livrierten Dienern mit Wein und Essen bewirtet und durften regelmäßig Besuch von Prostituierten empfangen. In der »gemeinen Abteilung« hockten verarmte Schuldner in kleinen Zellen zusammengepfercht, »voller Dreck und Ungeziefer«, wie es in einem Bericht heißt, »und blieben mitleidslos dem Tod durch Hunger und Fieber überlassen«.3

In gewisser Weise kann man die heutige ökonomische Situation auf der Welt als ein stark vergrößertes Abbild dieser Zustände ansehen: Die Vereinigten Staaten sind die Aristokraten unter den Schuldnern; Madagaskar ist der arme Schlucker, der in der Zelle nebenan verhungert, während ihm die Bediensteten des aristokratischen Schuldners vorhalten, er sei an seiner Lage selbst schuld, schließlich habe er verantwortungslos gehandelt.

Und hier haben wir noch etwas von grundsätzlicher Bedeutung vor uns, eine philosophische Frage, bei der wir gut daran tun, sie zu bedenken. Was ist der Unterschied, ob ein Gangster eine Waffe zieht und von Ihnen 1000 Dollar »Schutzgeld« verlangt, oder ob er fordert, dass Sie ihm 1000 Dollar »Kredit« geben? In vielerlei Hinsicht ist es kein Unterschied, aber in einem Punkt doch. Wie im Fall der amerikanischen Schulden gegenüber Südkorea oder Japan macht es einen Unterschied, wenn das Machtgleichgewicht sich verschieben sollte, wenn der Gangster seine Helfershelfer verliert oder Amerika seine militärische Vormacht; dann könnte ein »Kredit« sehr anders behandelt werden. Er könnte eine echte Verbindlichkeit werden. Aber entscheidend dabei wäre immer noch die Waffe.

Ein alter Varieté-Gag bringt das noch deutlicher zum Ausdruck – hier in der Version von Steven Wright:

Neulich war ich mit einem Freund unterwegs, und da springt ein Typ mit einer Knarre vor und ruft »Hände hoch«.

Ich greife nach meiner Brieftasche und denke, es »sollte kein Totalverlust werden«. Also hole ich einen Schein raus, drehe mich zu meinem Freund um und sage: »He, Fred, hier ist der Fünfziger, den ich dir schulde.«

Das ärgerte den Räuber so, dass er 1000 Dollar aus seiner Tasche holte, Fred mit vorgehaltener Waffe zwang, sie mir zu leihen, und sie mir dann wieder abnahm.

Letzten Endes muss der Mann mit der Waffe nichts tun, was er nicht tun will. Aber ein auf Gewalt gegründetes Regime funktioniert nur nach Regeln, die völlig willkürlich sein können. Es spielt nicht einmal eine Rolle, was für Regeln es sind, jedenfalls ist dies nicht der wichtigste Punkt. Das Problem ist, dass in dem Augenblick, da man die Dinge als Schulden darstellt, die Leute unvermeidlich zu fragen beginnen, wer tatsächlich wem was schuldet.

Streitigkeiten über Schulden gibt es seit mindestens 5000 Jahren. Den größten Teil der Geschichte der Menschheit – oder wenigstens der Geschichte von Staaten und Imperien – hat man den meisten Menschen erzählt, sie seien Schuldner.4 Historiker, vor allem jene, die sich mit Ideengeschichte befassen, waren merkwürdig zurückhaltend, die Folgen für die Menschen zu untersuchen, zumal wenn man bedenkt, wie viel Zorn und Empörung diese Situation – mehr als jede andere – verursacht hat. Wenn man den Menschen sagt, sie seien unterlegen, gefällt ihnen das wahrscheinlich nicht, führt aber erstaunlich selten zu bewaffneter Revolte. Wenn man ihnen sagt, sie seien potentiell gleichrangig, hätten aber versagt und verdienten deshalb selbst das nicht, was sie haben, es gehöre ihnen nicht rechtmäßig, löst man ziemlich sicher Wut und Empörung aus. Das lehrt uns wenigstens allem Anschein nach die Geschichte. Seit vielen tausend Jahren wird der Kampf zwischen Reichen und Armen überwiegend in Form von Konflikten zwischen Gläubigern und Schuldnern ausgetragen – mit Argumenten über Recht und Unrecht von Zinszahlungen, von Schuldknechtschaft, Schuldenerlass, Enteignung, Rückgabe, der Konfiszierung von Schafen oder Weinbergen oder dem Verkauf von Kindern in die Sklaverei. Ebenso haben in den letzten 5000 Jahren mit bemerkenswerter Regelmäßigkeit Volksaufstände auf gleiche Weise begonnen: mit der rituellen Zerstörung von Schuldverzeichnissen – Tafeln, Papyrusrollen, Kontobüchern, wo immer die Schulden zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort verzeichnet waren. (Anschließend wandten sich die Rebellen gewöhnlich den Unterlagen über Landbesitz und Steuerpflicht zu.) Wie der bedeutende Althistoriker Moses Finley immer wieder betonte, hatten alle revolutionären Bewegungen in der Antike ein einziges Programm: »Streicht alle Schulden und verteilt das Land neu.«5

Unsere Neigung, all dies zu übersehen, ist umso seltsamer, wenn wir bedenken, wie viele unserer heutigen moralischen und religiösen Begriffe auf eben diese Konflikte zurückzuführen sind. Bei Wörtern wie »Abrechnung« und »Wiedergutmachung« ist es ganz offensichtlich, sie stammen direkt aus der Sprache der alten Finanzgeschäfte. In einem weiter gefassten Sinn gilt das auch für »Schuld«, »Freiheit«, »Vergebung« und sogar »Sünde«. Auseinandersetzungen darüber, wer wem wirklich was schuldet, haben erkennbare Spuren in unserem Vokabular für Richtig und Falsch hinterlassen.

Obwohl also unsere Sprache in Auseinandersetzungen über Schuld Gestalt angenommen hat, ist das Konzept seltsam vage geblieben. Schließlich muss man, wenn man mit dem König diskutieren will, die Sprache des Königs sprechen, ob die Grundvoraussetzungen einen Sinn ergeben oder nicht.

Wirft man einen Blick auf die Geschichte der Schulden, ist der erste Eindruck der von tiefer moralischer Verwirrung. Das erste Indiz dafür ist die Feststellung, dass die Mehrheit der Menschen überall gleichzeitig die Auffassung vertritt, 1. es sei ein moralisches Gebot, geliehenes Geld zurückzuzahlen, und 2. das regelmäßige Verleihen von Geld sei verwerflich.

Die Meinungen zu dem letzten Punkt schwanken erheblich. Eine extreme Position fand der französische Anthropologe Jean-Claude Galey in einer Region im östlichen Himalaja vor, wo bis in die 1970er Jahre die niederen Kasten – man bezeichnete sie auch als »die Besiegten«, weil man glaubte, sie seien die Nachfahren von Menschen, die vor vielen Jahrhunderten von der heutigen Landbesitzerkaste besiegt wurden – in beständiger Abhängigkeit durch Schulden lebten. Ohne Land und ohne Geld mussten sie bei den Landbesitzern um Kredite betteln, einfach um essen zu können – dabei ging es ihnen nicht um das Geld, denn die Summen waren zu gering, sondern arme Schuldner bezahlten die Zinsen üblicherweise durch Arbeit ab, damit sie wenigstens zu essen und ein Dach über dem Kopf hatten, solange sie die Wirtschaftsgebäude ihrer Gläubiger putzten und ihre Scheunen neu deckten. Für die »Besiegten« – wie für die meisten Menschen weltweit – waren die wichtigsten Ausgaben im Leben Hochzeiten und Begräbnisse. Diese Ereignisse verschlangen viel Geld, das immer geliehen werden musste. In solchen Fällen war es, wie Galey darlegt, gang und gäbe, dass die Geldverleiher aus der oberen Kaste eine Tochter des Schuldners als Sicherheit verlangten. Musste ein armer Mann für die Hochzeit seiner Tochter Geld leihen, so war häufig die Braut selbst die Sicherheit für den Kredit. Es wurde erwartet, dass sie sich nach der Hochzeitsnacht im Haus den Kreditgebers einfand und dort ein paar Monate lang seine Konkubine abgab. War er seines neuen Spielzeugs überdrüssig, wurde sie ins nächste Holzfällerlager geschickt, wo sie ein oder zwei Jahre lang die Schuld ihres Vaters als Prostituierte abarbeitete. Danach kehrte sie zu ihrem Ehemann zurück und begann ihr Eheleben.6

Das klingt schockierend, sogar empörend, aber Galey spricht nicht von einem verbreiteten Bewusstsein der Ungerechtigkeit. Alle empfanden es wohl so, dass dies die Ordnung der Dinge war. Auch die lokalen Brahmanen, die höchste Instanz in moralischen Fragen, erhoben keinen Einspruch – was nicht verwunderlich ist, weil die wichtigsten Geldverleiher oft Brahmanen waren.

Aber auch in diesem Fall wissen wir nicht, was die Menschen hinter verschlossenen Türen sagten. Wenn eine Gruppe maoistischer Rebellen plötzlich die Kontrolle über das Gebiet übernähme (es gibt einige in diesem Teil des ländlichen Indien) und die ortsbekannten Wucherer vor Gericht stellte, bekämen wir wohl viele unterschiedliche Ansichten zu hören.

Galey beschreibt meines Erachtens ein Extrem: Die Wucherer sind selbst die höchste moralische Instanz. Vergleichen wir dies zum Beispiel mit Frankreich im Mittelalter, wo der moralische Status der Geldverleiher sehr zweifelhaft war. Die katholische Kirche hatte die Gewohnheit schon immer verurteilt, Geld gegen Zinsen zu verleihen, aber die Regeln gerieten häufig in Vergessenheit. Daraufhin ordnete die Kirchenführung Predigtfeldzüge an, schickte Bettelmönche von Stadt zu Stadt, die Wucherer warnen sollten, sie würden in der Hölle enden, wenn sie nicht bereuten und ihren Opfern die Zinsen in voller Höhe zurückerstatteten.

In diesen Predigten lesen wir zahllose schreckliche Geschichten, wie Gott mit Geldverleihern verfährt, die nicht bereuen: Geschichten von reichen Männern, die dem Wahnsinn verfallen oder schrecklich erkranken, auf dem Sterbebett von Alpträumen geplagt werden, dass Schlangen und Dämonen sie in Stücke reißen oder bei lebendigem Leib verschlingen. Im 12. Jahrhundert, als die Predigtfeldzüge einen Höhepunkt erreichten, wurden zunehmend direkte Sanktionen eingesetzt. Der Heilige Stuhl erließ Anweisungen an einzelne Gemeinden, alle bekannten Wucherer seien zu exkommunizieren; sie durften die Sakramente nicht mehr empfangen und unter keinen Umständen in geweihter Erde bestattet werden. Der französische Kardinal Jakob von Vitry, der um 1210 schrieb, berichtet von einem besonders einflussreichen Geldverleiher, dessen Freunde versuchten, den Priester ihrer Gemeinde zu bewegen, die Regeln zu übergehen und den Mann auf dem örtlichen Friedhof zu begraben:

Da die Freunde des Wucherers sehr in ihn drangen, sprach der Priester zu ihnen, um ihrem Druck nachzugeben: »Lasst uns seinen Leichnam auf einen Esel legen und sehen, wohin Gottes Wille ihn führt: Wo der Esel den Leichnam auch hintragen mag, in eine Kirche, auf einen Friedhof oder anderswohin, dort will ich ihn begraben.« So legte man den Leichnam auf den Esel, der ihn, ohne rechts noch links abzuweichen, geraden Weges aus der Stadt trug bis zum Schindanger, wo man die Diebe henkt; da schlug der Esel aus und warf den Leichnam auf den Misthaufen unter dem Galgen.7

In der gesamten Weltliteratur finden wir kaum eine freundliche Darstellung eines Geldverleihers – oder genauer eines gewerbsmäßigen Geldverleihers, was definitionsgemäß bedeutet, dass er Zinsen nimmt. Ich bin nicht sicher, ob es eine andere Berufsgruppe (Henker vielleicht?) mit einem so konstant schlechten Image gibt. Dies ist umso bemerkenswerter, als Geldverleiher im Gegensatz zu Henkern oft zu den reichsten und mächtigsten Mitgliedern ihrer Gemeinschaft zählten. Doch allein das Wort »Zinswucherer« weckt Assoziationen von Kredithaien, Blutgeld, gnadenlosen Forderungen, Seelenverkauf und hinter all dem die Assoziation des Teufels, der selbst oft als Wucherer dargestellt wird, ein boshafter Buchhalter mit seinem Hauptbuch, oder als Gestalt, die hinter dem Wucherer lauert und wartet, bis seine Stunde kommt und er die Seele des Schurken holen kann, der durch seine Tätigkeit einen Pakt mit der Hölle geschlossen hat.

Im Lauf der Jahrhunderte gab es immer zwei Möglichkeiten, wie ein Geldverleiher versuchen konnte, sich aus der Schande herauszuwinden: entweder, indem er die Verantwortung einem Dritten zuschob, oder indem er behauptete, der Schuldner sei noch viel schlimmer. Im mittelalterlichen Europa wählten die adligen Herren oft den ersten Weg und machten die Juden zu Sündenböcken. Viele sprachen sogar von »unseren« Juden – das heißt Juden unter ihrem persönlichen Schutz –, obwohl das in der Praxis üblicherweise bedeutete, dass sie auf ihrem Territorium den Juden jede Möglichkeit verweigerten, ihren Lebensunterhalt anders zu verdienen als durch Zinswucher (weshalb ihnen allgemeine Verachtung sicher war), und die Juden dann regelmäßig attackierten mit der Begründung, sie seien verachtenswerte Kreaturen, und das Geld an sich nahmen. Die zweite Strategie ist natürlich geläufiger. Aber sie führt in der Regel zu der Schlussfolgerung, dass beide Beteiligte an einem Kreditgeschäft gleichermaßen schuldig sind; die ganze Sache ist ziemlich schäbig, und mit großer Wahrscheinlichkeit sind beide verdammt.

In anderen Weltreligionen gibt es andere Sichtweisen. Nach mittelalterlichen Hindu-Gesetzen waren nicht nur verzinste Darlehen zulässig, deren wichtigste Bestimmung lautete, dass die Zinsen das Kapital nicht übersteigen durften. Aber es wurde oft betont, ein Schuldner, der seine Schuld nicht zurückzahle, werde als Sklave im Haushalt seines Gläubigers wiedergeboren – oder, in späteren Gesetzbüchern, als sein Pferd oder Ochse. Die gleiche tolerante Haltung gegenüber Geldverleihern und Warnung vor der Rache des Karmas an denen, die sich Geld leihen, finden wir in vielen Richtungen des Buddhismus.

Entstand der Eindruck, ein Geldverleiher gehe zu weit, tauchten die gleichen Geschichten auf wie in Europa. Ein mittelalterlicher japanischer Autor berichtet – er betont ausdrücklich, die Geschichte sei wahr – vom schrecklichen Schicksal der Hiromushime, Ehefrau eines reichen Bezirksgouverneurs um das Jahr 776. Sie war eine außerordentlich habgierige Person und

goss Wasser in den Reiswein, den sie verkaufte, und machte mit dem verdünnten Sake hohen Gewinn. Wenn sie jemandem etwas lieh, verwendete sie ein kleines Messgefäß, aber wenn sie die Schuld zurückforderte, kam sie mit einem großen. Wenn sie Reis verlieh, wog ihre Waage kleine Mengen, wenn sie die Zahlung entgegennahm, waren es große Mengen. Die Zinsen, die sie erhob, waren notwendigerweise gewaltig – oft das Zehnfache oder sogar das Hundertfache der ursprünglichen Summe. Beim Eintreiben der Schulden war sie streng und ohne jedes Erbarmen. Deshalb verfielen viele Menschen in Angst; sie verließen ihre Häuser, um von ihr wegzukommen, und zogen in andere Provinzen.8

Nach ihrem Tod beteten Mönche sieben Tage lang an ihrem versiegelten Sarg. Am siebten Tag erwachte der Leichnam auf einmal wieder zum Leben:

Allen, die kamen, um zu schauen, schlug ein unbeschreiblicher Gestank entgegen. Von der Taille aufwärts war sie ein Ochse mit einem zehn Zentimeter langen Horn, das aus ihrer Stirn ragte. Ihre beiden Hände waren zu Hufen geworden, die Nägel gespalten, sodass sie dem Spann eines Ochsenhufs glichen. Von der Taille abwärts hatte sie immer noch den Körper eines Menschen. Sie mochte Reis nicht und aß lieber Gras. Ihre Art zu essen war Wiederkäuen. Nackt lag sie in ihren Exkrementen.9

Schaulustige strömten herbei. Voller Schuldgefühle und beschämt versuchte die Familie verzweifelt, Vergebung zu erkaufen. Sie erließ allen Schuldnern ihre Schulden und verschenkte einen großen Teil ihres Reichtums an kultische Einrichtungen. Schließlich starb das Monstrum gnädigerweise.

Der Verfasser, selbst Mönch, befand, die Geschichte sei ein klarer Fall von vorzeitiger Reinkarnation: Die Frau wurde vom Gesetz des Karmas dafür bestraft, dass sie gegen das verstoßen hatte, »was sowohl vernünftig als auch gerecht ist«. Die buddhistischen Schriften lieferten, soweit sie zu der Angelegenheit etwas zu sagen hatten, jedoch keinen Präzedenzfall. Normalerweise glaubte man, Schuldner würden als Ochsen wiedergeboren, nicht Gläubiger. Deshalb wurden seine Ausführungen ziemlich konfus, als er daran ging, die Moral der Geschichte darzulegen:

Es ist, wie es in einer Sutra heißt: »Wenn wir die Dinge nicht zurückzahlen, die wir geliehen haben, besteht unsere Rückzahlung darin, als Pferd oder Ochse wiedergeboren zu werden.« Oder auch: »Ein Schuldner ist ein Fasan, und sein Gläubiger ist ein Falke.« Oder: »Der Schuldner ist wie ein Sklave, der Gläubiger wie ein Herr.« Wenn du in der Situation bist, einen Kredit gewährt zu haben, übe nicht unvernünftigen Druck hinsichtlich der Rückzahlung auf deinen Schuldner aus. Wenn du es tust, wirst du als Pferd oder Ochse wiedergeboren werden und wirst für den, der in deiner Schuld stand, arbeiten müssen, und dann wirst du die Schuld viele Male zurückzahlen.10

Wer wird nun was sein? Sie können nicht beide als Nutztiere im Stall des jeweils anderen enden.

Allem Anschein nach stoßen sich alle Weltreligionen an diesem Dilemma. Einerseits sind alle moralisch kompromittiert, soweit bei Schulden zwischenmenschliche Beziehungen ins Spiel kommen. Beide Beteiligte sind wahrscheinlich schon, allein dadurch, dass sie in Beziehung treten, schuldig; zumindest laufen sie erheblich Gefahr, schuldig zu werden, wenn die Rückzahlung verschoben wird. Andererseits beschreiben wir jemanden nicht gerade als Inbegriff von Tugend, wenn wir von ihm sagen, er »sei er niemandem etwas schuldig«. In der säkularen Welt besteht Moral wesentlich darin, seinen Verpflichtungen gegenüber anderen nachzukommen. Hartnäckig neigen wir dazu, uns diese Verpflichtungen als Schulden vorzustellen. Mönche können diesem Dilemma vielleicht entgehen, indem sie sich ganz aus dem weltlichen Getriebe zurückziehen, aber wir hier draußen sind, wie es scheint, dazu verurteilt, in einem Universum zu leben, das nicht unbedingt Sinn ergibt.

Die Geschichte von Hiromushime ist eine perfekte Illustration des Impulses, die Anklage gegen den Ankläger zu wenden – genau wie in der Geschichte über den toten Wucherer, der auf den Esel gesetzt wird, ist die Hervorhebung von Exkrementen, Tieren und Demütigung als dichterische Form der Gerechtigkeit zu verstehen: Der Gläubiger soll die gleichen Gefühle von Schande und Demütigung empfinden, die üblicherweise beim Schuldner verursacht werden. Alles in allem ist es eine direktere, anschaulichere Art zu fragen: »Wer schuldet wem wirklich was?«

Es ist auch eine perfekte Illustration, wenn wir in dem Augenblick beginnen, da wir die Frage stellen: »Wer schuldet wem wirklich was?«, die Sprache des Gläubigers zu sprechen. Wenn wir unsere Schulden nicht zurückzahlen, »wird unsere Zahlung darin bestehen, als Pferd oder Ochse wiedergeboren zu werden«; wenn Sie ein unvernünftiger Gläubiger sind, werden Sie genauso »zurückzahlen« müssen. Selbst die Gerechtigkeit des Karmas kann so auf die Sprache eines Geschäfts reduziert werden.

Und damit kommen wir zur zentralen Fragestellung dieses Buches: Was heißt es genau, zu sagen, unser Gefühl für Moral und Gerechtigkeit werde auf die Sprache eines Geschäfts reduziert? Was bedeutet es, wenn wir moralische Verpflichtungen auf Schulden reduzieren? Was ändert sich, wenn das eine zum anderen wird? Und wie sprechen wir darüber, wenn unsere Sprache so sehr vom Markt bestimmt wurde? Auf einer Ebene ist der Unterschied zwischen Verpflichtung und Schuld einfach und offensichtlich. Eine Schuld ist die Verpflichtung, eine bestimmte Geldsumme zu zahlen. Folglich lässt sich eine Schuld anders als jede andere Form der Verpflichtung genau quantifizieren. Dadurch werden Schulden einfach, kalt und unpersönlich – und das macht sie wiederum übertragbar. Wenn man jemandem einen Gefallen schuldet oder sein Leben verdankt, ist man dieser bestimmten Person verpflichtet.

Aber wenn man 40000 Dollar zu 12 Prozent Zinsen schuldet, kommt es nicht wirklich darauf an, wer der Gläubiger ist, und die beiden Beteiligten denken auch nicht groß darüber nach, was der andere braucht, will, tun kann – wie sie es sicher tun würden, wenn es um einen Gefallen, um Respekt oder Dankbarkeit ginge. Man muss die menschlichen Auswirkungen nicht kalkulieren, nur das Kapital, Salden, Sanktionen und Zinssätze. Wenn Sie zuletzt Ihr Heim aufgeben und in andere Provinzen abwandern müssen, wenn Ihre Tochter als Prostituierte im Holzfällerlager endet – nun, dann ist das beklagenswert, aber unerheblich für den Gläubiger. Geld ist Geld, und Geschäft ist Geschäft.

Aus dieser Perspektive ist der entscheidende Faktor (und ein Thema, das ich in diesem Buch ausführlich behandeln werde) die Fähigkeit des Geldes, Moral in eine Sache unpersönlicher Arithmetik zu verwandeln – und dabei Dinge zu rechtfertigen, die ansonsten empörend oder obszön erscheinen würden.

Der Faktor Gewalt, den ich bisher betont habe, mag dann zweitrangig erscheinen. Der Unterschied zwischen einer »Schuld« und einer rein moralischen Verpflichtung ist nicht die Anwesenheit oder Abwesenheit von bewaffneten Männern, die die Schuld durchsetzen können, indem sie den Besitz des Schuldners beschlagnahmen oder damit drohen, ihm die Beine zu brechen. Der Unterschied besteht einfach darin, dass der Gläubiger die Mittel besitzt, genau zu beziffern, wie viel ihm der Schuldner schuldet.

Schauen wir noch genauer hin, erkennen wir, dass die beiden Elemente – die Gewalt und die Quantifizierung – eng miteinander verwoben sind. Es ist sogar fast unmöglich, das eine ohne das andere vorzufinden. Französische Wucherer hatten mächtige Freunde und Vollstrecker, die sogar Kirchenvertreter unter Druck setzen konnten. Wie sonst hätten sie Schulden eintreiben können, die eigentlich illegal waren? Hiromushime verfuhr knallhart mit ihren Schuldnern – »ohne jedes Erbarmen« –, aber schließlich war ihr Ehemann der Gouverneur. Sie musste kein Erbarmen zeigen. Wer nicht auf bewaffnete Männer zurückgreifen kann, kann es sich nicht leisten, seine Forderung so einzutreiben.

Die Frage, wie Gewalt oder die Drohung mit Gewalt menschliche Beziehungen in eine mathematische Gleichung verwandelt, wird im Lauf dieses Buches immer wieder auftauchen. Sie ist letztlich die Quelle der moralischen Verwirrung, die offenbar alles umgibt, was mit dem Thema Schulden zusammenhängt. Die Zwangslagen, die sich daraus ergeben, sind allem Anschein nach so alt wie die Zivilisation. Wir können den Vorgang schon in den frühesten Aufzeichnungen aus dem alten Mesopotamien beobachten; er findet seinen ersten philosophischen Ausdruck in den Veden, durchzieht in vielfältigen Formen sämtliche historischen Aufzeichnungen und liegt bis heute der Struktur unserer Institutionen zugrunde – Staat und Markt, unseren grundlegenden Vorstellungen, was Freiheit, Moral und Zusammenleben in einer Gesellschaft bedeuten. All das wurde durch eine Geschichte voller Krieg, Eroberungen und Sklaverei geprägt in einer Weise, die wir nicht einmal mehr wahrnehmen, weil wir uns die Dinge gar nicht mehr anders vorstellen können.

Es gibt offensichtliche Gründe, warum es heute besonders wichtig ist, die Geschichte der Schulden neu zu untersuchen. Im September 2008 setzte eine Finanzkrise ein, die beinahe die gesamte Weltwirtschaft knirschend zum Stehen gebracht hätte. Vieles stand tatsächlich still: Schiffe fuhren nicht mehr über die Meere, Tausende landeten im Trockendock. Kräne wurden abgebaut, weil kein Gebäude mehr errichtet wurde. Banken vergaben so gut wie keine Kredite mehr. Im Gefolge dieser Vorgänge gab es nicht nur öffentliche Wut und Verwirrung, sondern es setzte auch eine echte öffentliche Diskussion ein über die Natur von Schulden, des Geldes und der Finanzinstitutionen, die das Schicksal ganzer Staaten fest im Griff hatten.

Aber das war nur ein Augenblick. Die Diskussion wurde nie richtig geführt. Die Menschen waren für eine solche Diskussion bereit, weil die Geschichte, die alle seit mindestens zehn Jahren gehört hatten, sich als eine gigantische Lüge entpuppte. Man kann es einfach nicht freundlicher ausdrücken. Seit Jahren war die Rede von immer neuen, höchst raffinierten Finanzinnovationen: von Kredit- und Warenderivaten, hypothekenbesicherten Schuldderivaten, Hybridanleihen, Kreditausfallswaps und so weiter. Die Märkte für diese neuen Derivate waren so unglaublich raffiniert, dass – so ging ein hartnäckiges Gerücht – eine bekannte Investmentfirma Astrophysiker für die Abwicklung von Handelsprogrammen einstellte, die so komplex waren, dass die Banker sie nicht einmal ansatzweise verstanden. Die Botschaft ist klar: Überlasst diese Dinge den Leuten, die sich damit auskennen. Ihr versteht sie ja doch nicht. Selbst wenn ihr Finanzkapitalisten nicht besonders mögt (und es gab offensichtlich nur wenige, die Liebenswürdiges an ihnen fanden), waren sie jedenfalls fähig, tatsächlich so übermenschlich fähig, dass eine demokratische Kontrolle der Finanzmärkte einfach nicht in Frage kam. (Selbst viele Wissenschaftler fielen darauf herein. Ich erinnere mich an Vorträge aus den Jahren 2006 und 2007, in denen Gesellschaftstheoretiker auf der Höhe ihrer Zeit darlegten, dass diese neuen Formen der Verbriefung in Verbindung mit den neuen Informationstechnologien eine bevorstehende Transformation der Natur von Zeit und Möglichkeit – ja der Realität ankündigten. Ich weiß noch, dass ich dachte: »Blödmänner!« Und das waren sie wirklich.)

Als sich die Aufregung gelegt hatte, stellte sich heraus, dass viele oder sogar die meisten nur sehr raffinierte Betrugsmanöver gewesen waren. Man hatte armen Familien Hypotheken verkauft, bei denen der Ausfall von vornherein unvermeidlich war, und Wetten abgeschlossen, wie lange es dauern würde, bis die Kreditnehmer nicht mehr zahlen konnten. Die Hypotheken und Wetten hatte man dann zu Paketen verschnürt und an institutionelle Investoren verkauft (zum Beispiel die Pensionskasse des Hypothekenschuldners konnte auch dabei sein) mit der Behauptung, das Paket werde Geld einbringen, ganz gleich, was passieren sollte, und besagte Investoren konnten die Pakete weiterreichen, als wären sie Geld. Die Verantwortung für die Auszahlung der Wette wurde einem gigantischen Versicherungskonzern übertragen, der, falls er unter dem Gewicht der daraus resultierenden Schulden zusammenbrechen sollte (was unweigerlich passieren würde), von den Steuerzahlern gerettet werden müsste (und tatsächlich wurden solche Konzerne mit Steuergeld gerettet).11 Mit anderen Worten: All das sah aus wie eine ungewöhnlich raffinierte Version dessen, was die Banken getan hatten, als sie Ende der 1970er Jahre den Diktatoren in Bolivien und Gabun Geld liehen: Sie vergaben schlichtweg unverantwortliche Kredite in dem vollen Wissen, dass Politiker und Bürokraten alles daransetzen würden, sobald es bekannt wurde, ihnen wieder zu ihrem Geld zu verhelfen, unabhängig davon, wie viele Menschenleben das kostete.

Doch diesmal trieben die Banker ihr Spiel in unvorstellbar großem Stil: Die Gesamtsumme der Schulden, die sie aufgetürmt hatten, überstieg das Bruttoinlandsprodukt aller Länder der Welt zusammen – brachte die Welt ins Trudeln und hätte das System beinahe zerstört.

Militär und Polizei rüsteten sich für den Kampf gegen erwartete Unruhen und Aufstände, aber bisher ist es noch nicht dazu gekommen. Andererseits sind auch keine signifikanten Verhaltensänderungen zu erkennen. Alle erwarteten doch, nachdem Institutionen ins Wanken geraten waren, die als Ikonen des Kapitalismus galten (Lehman Brothers, Citibank, General Motors), und alle Behauptungen, über den Stein der Weisen zu verfügen, sich als falsch erwiesen, dass wir zumindest eine breite Diskussion über die Natur von Schulden und Kreditinstituten beginnen. Und dass wir nicht nur darüber diskutieren würden.

Allem Anschein nach waren die meisten Amerikaner offen für radikale Lösungen. Umfragen ergaben, dass eine überwältigende Mehrheit meinte, die Banken sollten unabhängig von den möglichen wirtschaftlichen Konsequenzen nicht gerettet werden, aber einfache Bürger, die mit faulen Hypotheken dastanden, sollten Hilfe bekommen. Seit der Kolonialzeit waren die Amerikaner immer das Volk, das besonders wenig Mitleid mit Schuldnern hatte. In gewisser Weise ist das seltsam, denn Amerika wurde großenteils von Schuldnern auf der Flucht besiedelt. Aber in Amerika ist der Gedanke, dass Moral damit zu tun hat, seine Schulden zu bezahlen, tiefer verwurzelt als irgendwo sonst. In der Kolonialzeit war es üblich, einen zahlungsunfähigen Schuldner mit den Ohren an einen Pfosten zu nageln. Die Vereinigten Staaten bekamen als eines der letzten Länder weltweit ein Insolvenzgesetz: Obwohl die Verfassung von 1787 die neue Regierung ausdrücklich mit der Ausarbeitung eines solchen Gesetzes beauftragte, wurden alle entsprechenden Vorstöße bis 1898 aus »moralischen Gründen« abgewiesen.12

Die Veränderung war epochal. Vielleicht hielten eben darum diejenigen, die dafür zuständig waren, die Debatte in den Medien und gesetzgebenden Körperschaften zu steuern, den Zeitpunkt für die Diskussion ungeeignet. Die Regierung der Vereinigten Staaten klebte ein Drei-Billionen-Dollar-Heftpflaster auf das Problem und veränderte nichts. Die Banker wurden gerettet, kleine Schuldner – mit ein paar kümmerlichen Ausnahmen – nicht.13 Im Gegenteil, mitten in der größten Rezession seit den 1930er Jahren beobachten wir bereits, wie das Pendel gegen sie ausschlägt – angestoßen von Finanzkonzernen, die von derselben Regierung, die sie gerettet hat, fordern, gegenüber Bürgern in finanziellen Nöten mit der ganzen Härte des Gesetzes vorzugehen. »Geld zu schulden ist kein Verbrechen«, stand in der StarTribune von Minneapolis-St. Paul zu lesen, »aber die Leute werden reihenweise ins Gefängnis geworfen, weil sie ihre Schulden nicht bezahlen können.« In Minnesota »ist die Zahl der Haftbefehle gegen Schuldner in den letzten vier Jahren um 60 Prozent gestiegen; im Jahr 2009 gab es 845 Fälle … In Illinois und im südwestlichen Indiana verurteilen manche Richter Schuldner zu Gefängnisstrafen, weil sie gerichtlich angeordnete Zahlungsverpflichtungen nicht erfüllt haben. In Extremfällen sitzen die Leute so lange im Gefängnis, bis sie eine Mindestzahlung geleistet haben. Im Januar [2010] verurteilte ein Gericht einen Mann aus Kenney, Illinois zu ›unbegrenzter Haft‹, bis er 300 Dollar Schulden gegenüber einem Holzhändler beglichen hätte.«14

Mit anderen Worten: Wir steuern auf die Errichtung einer modernen Version von Schuldtürmen zu. Unterdessen ist das Gespräch verebbt, die allgemeine Empörung gegen Rettungsprogramme versandet, und wie es aussieht, taumeln wir unausweichlich auf die nächste große Finanzkatastrophe zu – bleibt als einzige Frage, wie lange es dauern wird.

Wir haben einen Punkt erreicht, an dem der IWF, der versucht, sich als Gewissen des globalen Kapitalismus neu zu etablieren, davor warnt, dass es, wenn wir so weitermachen wie bisher, beim nächsten Mal keine Rettungsaktion geben werde. Die Allgemeinheit werde das einfach nicht mitmachen, und dann werde wirklich alles auseinanderbrechen. »IWF warnt: Zweite Rettung wäre eine ›Gefährdung der Demokratie‹«, lautete eine Schlagzeile.15 (Natürlich meinen sie »Kapitalismus«, wenn sie »Demokratie« sagen.) Gewiss hat es etwas zu bedeuten, wenn selbst diejenigen, die sich dafür verantwortlich fühlen, das gegenwärtige globale Wirtschaftssystem am Laufen zu halten, und die vor wenigen Jahren so taten, als könne man einfach davon ausgehen, dass das heutige System ewig Bestand haben werde, nun überall den Weltuntergang kommen sehen.

In diesem Fall hat der IWF recht. Wir haben allen Grund anzunehmen, dass wir tatsächlich an der Schwelle zu epochalen Veränderungen stehen. Zugegeben, es ist ein gängiger Impuls, alles um uns herum für vollkommen neu zu halten. Nirgends gilt das so umfassend wie beim Geld. Wie oft haben wir gehört, dass das Aufkommen von virtuellem Geld, die Dematerialisierung von Bargeld zu Plastik und von Geldscheinen zu blinkender elektronischer Information, uns in eine gänzlich unbekannte neue Finanzwelt katapultiert hat? Die Behauptung, wir bewegten uns auf unerforschtem Gelände, machte es natürlich Goldman Sachs, AIG und ihresgleichen leicht, die Menschen zu überzeugen, ihre einschüchternden neuen Finanzprodukte könne niemand richtig verstehen.

Doch wenn wir die Dinge in einen größeren historischen Zusammenhang einordnen, erkennen wir als Erstes, dass virtuelles Geld gar nichts Neues ist. Es war sogar die Urform von Geld. Kreditsysteme, Anschreiben, auch Ausgabenkonten gab es lange bevor es Bargeld gab. Diese Dinge sind so alt wie die Zivilisation. Es stimmt auch, dass die Geschichte häufig zwischen Phasen, in denen Edelmetall dominiert – man nahm an, Gold und Silber seien Geld –, und Phasen pendelt, in denen man Geld als etwas Abstraktes, Virtuelles betrachtet. Aber in der Geschichte war das Kreditgeld zuerst da, und was wir heute erleben, ist die Rückkehr von Annahmen, die, sagen wir, im Mittelalter oder sogar im alten Mesopotamien als selbstverständlich gegolten hätten.

Die Geschichte liefert spannende Hinweise, was wir erwarten können. So wurden zum Beispiel in Zeitaltern von virtuellem Kreditgeld fast immer auch Institutionen geschaffen, die verhindern sollten, dass alles außer Kontrolle geriet – sie sollten die Geldverleiher daran hindern, sich mit Bürokraten und Politikern zu verbünden, um die Menschen auszupressen, wie sie es offensichtlich heute tun. Institutionen entstanden, die Schuldner schützen sollten. In diesem neuen Zeitalter des Kreditgelds, in dem wir heute leben, läuft die Entwicklung offenbar rückwärts. Erst wurden globale Institutionen wie der IWF geschaffen, die schützen sollten – aber nicht die Schuldner, sondern die Gläubiger. Gleichzeitig bedeuten auf der historischen Ebene, über die wir hier sprechen, ein oder zwei Jahrzehnte nichts. Wir haben sehr wenig Ahnung, was uns erwartet.

Das vorliegende Buch ist also eine Geschichte der Schulden, aber ich verwende die Geschichte auch als Ansatz, um grundlegende Fragen zu stellen, wie die Menschen und die menschliche Gesellschaft sind oder sein könnten – was wir tatsächlich einander schulden und was es überhaupt bedeutet, danach zu fragen. Folglich beginnt das Buch mit einigen Mythen – nicht nur dem Mythos vom Tauschhandel, den ich im 1. Kapitel aufgreife, sondern auch bei konkurrierenden Mythen über ursprüngliche Schulden gegenüber den Göttern oder dem Staat –, die in der einen oder anderen Weise die Basis unserer selbstverständlichen Annahmen über das Wesen von Wirtschaft und Gesellschaft abgeben. Nach diesen selbstverständlichen Annahmen thronen der Staat und der Markt als diametral entgegengesetzte Prinzipien über allem anderen. Aber die historische Realität zeigt, dass sie gemeinsam entstanden und seit jeher miteinander verwoben sind. Ich werde erklären, dass all diese Fehlwahrnehmungen eines gemeinsam haben: die Neigung, alle menschlichen Beziehungen auf Tausch zu reduzieren, als könnten wir unsere Verbindungen zur Gesellschaft oder sogar zum Kosmos in denselben Begriffen fassen wie ein Geschäft. Das führt zur nächsten Frage: Wenn es nicht Tausch ist, was ist es dann? Im 5. Kapitel werde ich versuchen, eine Antwort auf die Frage zu geben, indem ich auf Erkenntnisse der Anthropologie zurückgreife, um eine Sicht der moralischen Basis des Wirtschaftslebens zu erläutern. Dann kehre ich zu der Frage nach den Ursprüngen des Geldes zurück und lege dar, wie das Tauschprinzip weitgehend als eine Folge von Gewalt entstanden ist – mit anderen Worten, dass die wahren Ursprünge des Geldes bei Verbrechen und Vergeltung zu finden sind, bei Krieg und Sklaverei, Ehre, Schuld und Sühne. Das eröffnet dann die Möglichkeit, im 8. Kapitel die Geschichte von Schulden und Kreditwesen in den letzten 5000 Jahren nachzuzeichnen mit den großen Pendelausschlägen zwischen virtuellem Geld und materiellem Geld. Viele Entdeckungen in diesem Zusammenhang kommen ganz unerwartet: etwa, dass unsere modernen Vorstellungen von Rechten und Freiheiten auf alte Sklavengesetze zurückgehen, über die Ursprünge von Investitionskapital beim mittelalterlichen chinesischen Buddhismus bis zu der Tatsache, dass viele von Adam Smith’ berühmtesten Argumenten so klingen, als wären sie aus den Werken von Theoretikern des freien Marktes im mittelalterlichen Persien abgeschrieben (das hat, nebenbei bemerkt, interessante Implikationen für das Verständnis, warum der politische Islam derzeit eine solche Faszination ausübt). All dies bereitet die Bühne für einen neuen Blick auf die letzten 500 Jahre, in denen die kapitalistischen Großreiche dominierten, und erlaubt uns endlich zu fragen, was heute tatsächlich auf dem Spiel stehen könnte.

Über eine sehr lange Zeit war es gelehrter Konsens, dass wir keine großen Fragen mehr stellen können. Zunehmend sieht es danach aus, als hätten wir gar keine andere Wahl.

KAPITEL 2

DER MYTHOS VOM TAUSCHHANDEL

Auf jede heikle und komplizierte Frage gibt es

eine ganz einfache, klare Antwort, die falsch ist.

Henry Louis Mencken

WAS IST DER UNTERSCHIEDzwischen einer grundsätzlichen Verpflichtung, dem Gefühl, dass wir uns in einer bestimmten Weise verhalten sollten, oder sogar, dass wir jemandem etwas schuldig sind, und Schulden im eigentlichen Sinn? Der Unterschied zwischen Schulden und Verpflichtung ist die Möglichkeit, Schulden präzise zu quantifizieren. Dazu ist Geld erforderlich.

Geld macht nicht nur Schulden überhaupt möglich; Geld und Schulden tauchen im selben Augenblick auf der Bühne auf. Zu den ganz frühen Schriften, die uns überliefert sind, gehören Lehmtafeln aus Mesopotamien, auf denen Kredite und Schulden verzeichnet sind; Rationen, die von Tempeln ausgegeben wurden; Geld, das als Pacht für Land im Besitz eines Tempels zu entrichten war – jeweils genau als Gegenwert in Korn und Silber ausgedrückt. Einige der frühesten Werke der Moralphilosophie wiederum sind Reflexionen darüber, was es bedeutet, Moral als Schuldverhältnis zu verstehen – das heißt in Geld auszudrücken.

Eine Geschichte der Schulden ist deshalb zwangsläufig eine Geschichte des Geldes. Welche Rolle Schulden in der menschlichen Gesellschaft gespielt haben, verstehen wir am besten, wenn wir einfach den Formen folgen, die das Geld annahm, und beobachten, wie Geld im Lauf der Jahrhunderte verwendet wurde – und die unvermeidlichen Auseinandersetzungen darüber, was das alles bedeutete. Allerdings ergibt das eine ganz andere Geschichte des Geldes, als wir sie kennen. Wenn zum Beispiel Ökonomen von den Ursprüngen des Geldes sprechen, sind Schulden immer so etwas wie ein nachträglicher Gedanke. Erst kommt das Tauschgeschäft, dann das Geld; der Kredit taucht erst später auf. Sogar in Büchern über die Geschichte des Geldes etwa in Frankreich, Indien oder China lesen wir üblicherweise eine Geschichte des Münzwesens, aber von Kreditvereinbarungen ist so gut wie nicht die Rede. Seit fast 100 Jahren weisen Anthropologen, wie ich ja auch einer bin, darauf hin, dass an diesem Bild etwas nicht stimmt. Die Standardversion der Wirtschaftsgeschichte hat wenig mit dem zu tun, was wir sehen, wenn wir betrachten, wie das Wirtschaftsleben tatsächlich abläuft, in realen menschlichen Gemeinschaften und auf realen Märkten fast überall. In der realen Welt hat jeder in zahlreichen unterschiedlichen Formen bei allen anderen (Mit-)Menschen Schulden, und die meisten Transaktionen finden ohne Verwendung einer Währung statt.

Wie kommt es zu dieser Diskrepanz?

Zum Teil liegt das in der Natur der Sache: Münzen bleiben als archäologische Fundstücke erhalten, Kreditvereinbarungen in der Regel nicht. Aber das Problem reicht tiefer. Die Existenz von Darlehen und Schulden war für die Ökonomen schon immer so etwas wie ein Skandal, weil es nahezu unmöglich ist zu behaupten, dass die Menschen, die Geld leihen und verleihen, aus rein »ökonomischen« Motiven handeln (zum Beispiel ein Darlehen an einen Fremden sei das Gleiche wie ein Kredit an den eigenen Vetter). Deshalb ist es so wichtig, die Geschichte des Geldes in einer imaginären Welt beginnen zu lassen, aus der Darlehen wie Schulden komplett verbannt sind. Bevor wir die Instrumente der Anthropologie anwenden können, um die reale Geschichte des Geldes zu rekonstruieren, müssen wir begreifen, was an der konventionellen Darstellung falsch ist.

Ökonomen nennen üblicherweise drei Funktionen des Geldes: Tauschmittel, Rechnungseinheit und Wertaufbewahrungsmittel. Alle ökonomischen Lehrbücher behandeln die erste Funktion als die wichtigste. Hier ein sehr typischer Auszug aus Economics von Case, Fair, Gärtner und Heather (1996):

Geld ist entscheidend wichtig für das Funktionieren einer Marktwirtschaft. Stellen Sie sich vor, wie das Leben ohne Geld wäre. Die Alternative zur Geldwirtschaft ist Tausch, Menschen, die Güter und Dienstleistungen direkt, ohne Umweg über das Medium Geld, gegen andere Güter und Dienstleistungen tauschen.

Wie funktioniert ein Tauschsystem? Nehmen wir an, Sie möchten Croissants, Eier und Orangensaft zum Frühstück. Statt zum Lebensmittelladen zu gehen und all das mit Geld zu kaufen, müssten Sie Personen finden, die diese Dinge haben und bereit sind, damit zu handeln. Außerdem müssten Sie etwas besitzen, das der Bäcker, der Orangensaftlieferant und der Eierverkäufer haben wollen. Wenn Sie Stifte im Angebot haben, wird es Ihnen nichts nützen, wenn der Bäcker, der Orangensaftlieferant und der Eierverkäufer keinen Stift haben wollen.

Ein Tauschsystem erfordert eine doppelte Koinzidenz, damit ein Geschäft überhaupt zustande kommt. Das heißt: Um ein Geschäft zu machen, muss ich nicht nur jemanden finden, der hat, was ich haben möchte, sondern derjenige muss auch das wollen, was ich habe. Wenn die Auswahl gehandelter Güter klein ist wie in einer relativ wenig entwickelten Volkswirtschaft, ist es nicht schwierig, jemanden zu finden, mit dem man ins Geschäft kommen kann, und Tauschhandel findet häufig statt.1

Der letzte Punkt ist fragwürdig, aber die Formulierung ist so vage, dass man kaum widersprechen kann.

In einer komplexen Gesellschaft mit vielen Gütern erfordert Tauschhandel einen unvertretbar hohen Aufwand. Stellen Sie sich vor, Sie müssten Personen finden, die all die Dinge zum Verkauf anbieten, die Sie bei einem typischen Einkauf beim Lebensmittelhändler erwerben, und die dann auch noch bereit sind, die Güter zu nehmen, die Sie im Austausch für ihre Waren anbieten.

Wenn es ein Austauschmittel (oder Zahlungsmittel) gibt, auf das man sich geeinigt hat, ist das Problem der doppelten Koinzidenz der Wünsche perfekt gelöst.2

Hier muss man betonen, dass dies nicht als Szenario präsentiert wird, das sich tatsächlich ereignet hat, sondern als reines Gedankenspiel. »Um zu erkennen, dass eine Gesellschaft von einem Tauschmittel profitiert«, liest man bei Begg, Fischer und Dornbusch (Economics, 2005), »stellen Sie sich eine Tauschwirtschaft vor.« Bei Maunder, Myers, Wall und Miller (Economics Explained, 1991) heißt es: »Stellen Sie sich die Schwierigkeiten vor, die Sie heute hätten, wenn Sie Ihre Arbeitskraft direkt gegen die Früchte der Arbeit von einem anderen eintauschen müssten.« Parkin und King (Economics, 1995) fordern: »Stellen Sie sich vor, Sie haben Hühner, wollen aber Rosen.«3 Die Liste der Beispiele ließe sich endlos fortsetzen. Fast jedes wirtschaftswissenschaftliche Lehrbuch, das heute verwendet wird, präsentiert das Problem auf diese Weise. Wir wissen, steht da zu lesen, dass es in der Geschichte einmal eine Zeit gab, in der Geld nicht existierte. Wie muss das damals gewesen sein? Nun, stellen wir uns ein Wirtschaftssystem vor ähnlich wie unser heutiges, nur ohne Geld. Das muss sehr unpraktisch gewesen sein! Ganz sicher haben die Leute das Geld erfunden, weil es praktischer war.

Für Ökonomen beginnt die Geschichte des Geldes immer mit einer Fantasievorstellung einer Welt mit Tauschhandel. Das Problem ist, wo wir diese Fantasievorstellung räumlich und zeitlich unterbringen sollen: Sprechen wir von Höhlenmenschen, Bewohnern von Pazifikinseln, den amerikanischen Pionieren? Das Lehrbuch von Joseph Stiglitz und John Driffill führt uns in eine Fantasiewelt, die eine Stadt in Neuengland oder im Mittleren Westen sein könnte:

Wir können uns einen altmodischen Farmer vorstellen, der in seiner Stadt mit dem Schmied, dem Schneider, dem Lebensmittelhändler und dem Arzt Tauschhandel betreibt. Doch damit ein einfacher Tauschhandel funktioniert, muss es eine doppelte Koinzidenz der Wünsche geben … Henry hat Kartoffeln und möchte Schuhe, Joshua hat ein Paar Schuhe übrig und möchte Kartoffeln. Ein Tauschgeschäft kann beide glücklich machen. Aber wenn Henry Feuerholz hat und Joshua kein Feuerholz braucht, dann muss einer von beiden oder müssen beide, damit Joshua seine Schuhe an den Mann bringen kann, mehr Leute suchen in der Hoffnung, dass ein Tausch über mehrere Ecken zustande kommt. Geld ist eine Möglichkeit, den multilateralen Austausch zu vereinfachen. Henry verkauft sein Feuerholz gegen Geld an jemand anderen und kauft mit dem Geld Joshuas Schuhe.4

Wieder ist es ein ausgedachtes Land, ähnlich unserer Gegenwart, nur wurde das Geld irgendwie weggezaubert. Was herauskommt, ergibt keinen Sinn: Welcher Mensch, der bei Verstand ist, würde an einem solchen Ort einen Lebensmittelladen eröffnen? Und woher würde er seine Waren bekommen? Aber lassen wir das einmal beiseite. Es gibt einen einfachen Grund, warum alle Autoren wirtschaftswissenschaftlicher Lehrbücher meinen, sie müssten uns die gleiche Geschichte erzählen. Für Ökonomen ist es, bezogen auf die Wirklichkeit, die wichtigste Geschichte, die jemals erzählt wurde. Als Adam Smith, Professor für Moralphilosophie an der Universität Glasgow, diese Geschichte in dem bedeutsamen Jahr 1776 vortrug, rief er damit die Disziplin der Wirtschaftswissenschaften ins Leben.

Er hatte die Geschichte nicht einfach erfunden. Schon um 330 v. Chr. stellte Aristoteles vage ähnliche Spekulationen in seiner Abhandlung über Politik an. Zu Anfang, so meinte er, hätten die Familien wohl alles, was sie brauchten, selbst produziert. Nach und nach spezialisierten sich einige, manche produzierten Getreide, andere Wein, und man tauschte das eine gegen das andere.5 Im Verlauf dieses Prozesses müsse wohl das Geld entstanden sein. Aber genauso wie die mittelalterlichen Scholastiker, die gelegentlich diese Geschichte wiederholten, ließ sich Aristoteles nicht darüber aus, wie das im Einzelnen vor sich ging.6

In den Jahren nach Columbus, als spanische und portugiesische Entdecker die Welt durchstreiften auf der Suche nach neuen Quellen für Gold und Silber, verschwanden diese vagen Geschichten. Niemand berichtete von der Entdeckung eines Landes, in dem Tauschhandel betrieben wurde. Die meisten Reisenden, die im 16. und 17. Jahrhundert nach Westindien oder Afrika kamen, nahmen ganz selbstverständlich an, dass alle Gesellschaften ihre eigenen Formen von Geld haben müssten, weil alle Gesellschaften Regierungen besaßen und alle Regierungen Geld in Umlauf brachten.7

Adam Smith dagegen war entschlossen, die geläufige Ansicht seiner Zeit über den Haufen zu werfen. Vor allem wies er die Vorstellung zurück, Geld sei eine Schöpfung der Herrschenden. In diesem Punkt war Smith der geistige Erbe von Philosophen der liberalen Tradition wie John Locke, der meinte, der Ursprung der Regierung sei das Bedürfnis, Privateigentum zu schützen, und eine Regierung handle dann am besten, wenn sie versuche, sich auf diese Funktion zu beschränken. Smith erweiterte das Argument und betonte, Eigentum, Geld und Märkte hätten nicht nur vor den politischen Institutionen existiert, sondern seien die Grundlage der menschlichen Gesellschaft. Daraus folgte, dass die Regierung, soweit sie in Geldangelegenheiten eine Rolle spielte, sich darauf beschränken sollte, die Stärke der Währung zu garantieren. Nur durch diese Argumentation konnte er begründen, dass die Wirtschaft selbst ein Feld für menschliche Forschung mit eigenen Prinzipien und Gesetzen ist – das heißt ein eigener Bereich neben Ethik und Politik beispielsweise.

Smith’ Argumentation verdient es, im Detail dargelegt zu werden, weil sie der große Gründungsmythos der Wirtschaftswissenschaften ist, wie ich es nenne.

Er beginnt mit der Frage, was die Grundlage des wirtschaftlichen Lebens im eigentlichen Sinn ist, und spricht von der »natürlichen Neigung des Menschen, zu handeln und Dinge gegeneinander auszutauschen«. Tiere tun das nicht. »Niemand hat je erlebt, dass ein Hund mit einem anderen einen Knochen redlich und mit Bedacht gegen einen anderen Knochen ausgetauscht hätte.«8 Dagegen werden Menschen, wenn sie auf sich selbst gestellt sind, unweigerlich anfangen, Dinge zu tauschen und zu vergleichen. Menschen verhalten sich nun einmal so. Selbst Logik und Gespräche sind in Wahrheit Formen des Handels, und wie in allen anderen Dingen werden die Menschen immer nach ihrem größtmöglichen Vorteil Ausschau halten, nach dem größtmöglichen Profit streben, den sie aus einem Tauschgeschäft ziehen können.9

Der Drang zum Tauschhandel schafft wiederum die Arbeitsteilung, die am Anfang aller menschlicher Leistungen und Kultur steht. Hier wechselt die Szene in ein anderes bei Ökonomen beliebtes fernes Märchenland – anscheinend eine Mischung aus nordamerikanischen Indianern und zentralasiatischen Hirtennomaden.10

Unter Jägern und Hirten stellt beispielsweise ein Mitglied des Stammes besonders leicht und geschickt Pfeil und Bogen her. Häufig tauscht er sie bei seinen Gefährten gegen Vieh oder Wildbret ein, und er findet schließlich, dass er auf diese Weise mehr davon bekommen kann, als wenn er selbst hinausgeht, um es zu jagen. Es liegt deshalb in seinem Interesse, dass er das Anfertigen von Pfeil und Bogen zur Hauptbeschäftigung macht und somit gleichsam zum Büchsenmacher wird. Ein anderer zeichnet sich beim Bau der Gestänge und Verkleidung der einfachen Hütten oder Zelte aus. Es wird allmählich für ihn zur Gewohnheit, seinen Nachbarn auf diese Weise zu nützen, die ihn dafür mit Vieh und Wildbret entlohnen, bis auch er schließlich findet, dass es im eigenen Interesse liegt, sich nur noch dieser Beschäftigung zu widmen, und er wird so etwas wie ein Zimmermann. Auf gleiche Art wird ein dritter Fein- oder Kupferschmied, ein vierter Gerber oder Zuschneider von Häuten und Fellen, aus welchen die Bekleidung in primitiven Völkern hauptsächlich gefertigt ist …

Aber wenn es dann Experten für das Schnitzen von Pfeilen, den Bau von Wigwams und so weiter gibt, erkennen die Menschen, dass sie ein Problem haben. Beachten Sie, wie wir hier genauso wie bei vielen anderen Beispielen dazu neigen, von den vorgestellten Wilden in der Fantasiewelt zu wirklichen Ladenbetreibern in Kleinstädten überzugehen.