Planta Nubo - Andi Bottlinger - E-Book

Planta Nubo E-Book

Andi Bottlinger

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Beschreibung

Solarpunk: Ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft

In der Solarpunk-Zukunft von Overgrown kann man sich die Welt von heute kaum mehr vorstellen. Alles, was bleibt, sind die Geschichten, die die Alten erzählen: Davon, wie die Menschheit in ihrer ständigen Gier nach mehr sich beinahe selbst vernichtet hätte und wie in letzter Minute die Rettung aus einer Richtung kam, die niemand erwartet hätte: von den Pflanzen. Als das Ökosystem des Planeten schon dabei war, zusammenzubrechen, sprossen plötzlich die Arboren aus dem Boden – riesige Bäume, deren Kronen unvergifteten Lebensraum für ganz neue Arten boten. Die überlebenden Menschen verließen den Boden und bauten sich in den Baumkronen ein neues Leben auf – ein Leben im Einklang mit der Natur. Basierend auf der Welt des Brettspiels Planta Nubo erzählt diese Solarpunk-Anthologie Geschichten aus der Overgrown-Ära, der Zeit nach dem Neuanfang. Verfolgt die Held:innen der Geschichten bei der Erforschung neuer Pflanzenarten und deren Wirkungen, beim Erfinden neuer und nachhaltiger Technologien, und dabei, wie sie ihren Platz in ihrer Gemeinschaft finden. Tauchen Sie ein in die hoffnungsvollen Zukunftsvisionen von 20 Autor:innen, die sich in dem jungen Genre des Solarpunks einen Namen machen. Tauche ein in die Welt von Overgrown.

Mit Geschichten von: Christian von Aster, Anja Bagus, Tim Becker, Andi Bottlinger, Laura Dümpelfeld, Anita Gröger, Christian Gronauer, Thorsten Hanson, Christian Humberg, Vanessa Jaeckert, Lillith Korn, Diandra Linnemann, Jacqueline Mayerhofer, Tanja Meurer, Jacqueline Montemurri, Bernd Perplies, Linda Sack, Anna Schlimpen, Juliane Seidel, Phoebe Wagner

Herausgegeben von Sven Nieder und Andi Bottlinger.

Planta Nubo
Planta Nubo, das große Expert:innen-Spiel von The Game Builders wurde von Michael Keller, Uwe Rosenberg und ode. entworfen. Die Spieler:innen müssen darin energiereiche Pflanzen anbauen und sie in grüne Energie umwandeln. Nach und nach wächst damit ihr Arbor und liefert den Sauerstoff, den die Menschheit zum Überleben braucht. Als Begleitwerk verleiht die Anthologie der Welt des Spiels besondere Tiefe und richtet sich damit an diejenigen Spieler:innen, die ein besonders immersives Spielerlebnis wünschen. Aber auch Fans der Solarpunk-Genres, die mit Brettspielen nichts am Hut haben, kommen hier auf ihre Kosten und können ganz in die Overgrown-Welt mit ihren faszinierenden Geheimnissen eintauchen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 467

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Planta Nubo

EINE SOLARPUNK-ANTHOLOGIE IN DER WELT VON »OVERGROWN«

HERAUSGEGEBEN VON SVEN NIEDER UND ANDI BOTTLINGER

Impressum

Planta Nubo – Eine Solarpunk-Anthologie in der Welt von Overgrown

Herausgegeben von Sven Nieder und Andi Bottlinger

© 2023 Calderan

Ein Imprint der Kraterleuchten GmbH,

Gartenstraße 3, 54550 Daun

Verlagsleitung: Sven Nieder

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Andi Bottlinger

Korrektorat: Tim Becker

Übersetzung »Wenn das Seil reißt«: Wibke Sawatzki

Illustrationen: Lukas Siegmon

Gestaltung: Björn Pollmeyer

ISBN E-Book 978-3-98600-014-1

ISBN Print 978-3-98600-013-4

www.calderan.de

Inhalt

— Planta Nubo —

Thorsten Hanson

— Hochnase & Betongeist —

Bernd Perplies

— Baumwarzen —

Diandra Linnemann

— Pilgern zurück —

Anja Bagus

— Seeker —

Tanja Meurer

— Die Reise zur verschwundenen Stadt —

Lillith Korn

— Fliegfried —

Christian Humberg

— Sternschnuppentage —

Laura Dümpelfeld

— Feuer und Wasser —

Christian Gronauer

— Von Schienenbussen und Puddingteilchen —

Vanessa Jaeckert

— Neue Wege —

Linda Sack

— Zwischen den Wurzeln —

Christian von Aster

— Das Netzwerk —

Anita Gröger

— Otterflüsterer und Wunderheiler —

Juliane Seidel

— Ein Tropfen Hoffnung —

Jacqueline Mayerhofer

— Juna und die Störsignale —

Anna Schlimpen

— Fundstück —

Andi Bottlinger

— Wenn das Seil reißt —

Phoebe Wagner

— Fluorescella Mithra —

Jacqueline Montemurri

— Bim Bam Bensalem —

Tim Becker

Nachwort

Erfahre mehr über die Autor:innen

— Planta Nubo —

THORSTEN HANSON

Das war knapp. Jasper hörte das Schrammen von Metall auf Stein. Er sah durch das Auge des Robots, wie dessen Hand mit dem Hammer über den Felsen schrammte und dabei Funken sprühten. Mit einem Rucken kam Kuris Arm zum Halten. Er stand nun leicht schief von Kuris massigem Körper ab. Vorsichtig zog Jasper an dem Hebel, der den Arm steuerte. Widerstand. Jasper spürte tatsächlich, dass der Arm in dem Felsen klemmte, obwohl die Signale, mit denen er den Robot steuerte, natürlich per Funk übertragen wurden. Nun aber machten sich die vielen Stunden bezahlt, in denen er und Mala die Steuerungseinheit des Gartenroboters eingestellt hatten. Immer wieder waren sie zusammen die vielen Räder, Knöpfe und Hebel durchgegangen und hatten sie so fein justiert, dass Jasper manchmal das Gefühlt hatte, er säße wirklich im Inneren des Robots und nicht einige hundert Meter entfernt.

Jasper überlegte, ob er Mala rufen sollte. Sie war die beste Mechanikerin, die er zwischen den Arboren kannte. Außerdem war sie wie eine große Schwester für ihn. Jasper hatte früh seine Eltern verloren. Sie waren an einer der Krankheiten gestorben, die die erste Generation nach dem Zusammenbruch heimgesucht hatten. Jasper und Mala waren danach von Malas Mutter und ihrer Partnerin großgezogen worden. Eines der ersten Dinge, an die Jasper sich erinnerte, war Malas helle Kinderstimme, die ihm ganz aufgeregt erklärte, dass ein neuer Arbor aus der Erde emporgewachsen sei. Andererseits hatten er und Mala sich gestern ganz fürchterlich gestritten. So sehr, dass er geschworen hatte, nie wieder ein Wort mit ihr zu wechseln.

Jasper schaute noch einmal durch das Auge des Robots und stellte die Kamera so scharf, dass er Kuris Arm aus der Nähe betrachten konnte. Einige Stellen auf dem Metall hatten grün zu leuchten begonnen. Das war sehr interessant. In dem Stein mussten gepresste Reste von Oksigenema eingelagert sein. Die »Sauerstoffliebende« war eine Pflanze, die im abgestorbenen Zustand bei Kontakt mit der Luft grün zu leuchten begann. Jasper bemerkte allerdings auch, dass an Kuris Schulter einige Drähte aus dem Arm ragten. Er seufzte. Wenn Mala im Grunde Jaspers Schwester war, dann hatte der klobige, baumgroße Roboter in Jaspers Herzen in gewisser Weise den Platz als sein bester Freund eingenommen. Ohne ihn konnte er sich sein Leben nicht mehr vorstellen. Und das gab den Ausschlag für seine Entscheidung. Jasper drückte die Schalttaste, um Mala zu rufen, so dass sie gemeinsam Kuri helfen konnten.

Kuri, ein Gartenroboter. Gebaut aus den Dingen, die die Bewohner der Erde nach dem Zusammenbruch und anschließendem Neuanfang noch hatten finden können. Seine Aufgabe war es, bei der Hege und Pflege der großen Gärten zu helfen, die die Menschen auf den Arboren anlegten. Der Arbor oder Himmelsbaum war für alle, die in der heutigen Zeit lebten, das Symbol für die neue, bessere Welt, die sie nun aufbauen wollten und die sie Overgrown getauft hatten. Denn ohne die Arboren wäre dieser Neuanfang niemals möglich gewesen. Sie waren schlicht ein Wunder des Planeten.

Jasper blickte durch das große Fenster seines kleinen Werkhäuschens, von dem aus er den Gartenroboter steuerte. Er sah von dort aus rund ein halbes Dutzend Arboren in unterschiedlichen Stadien des Wachstums. Einer hatte gerade die allererste Stufe seines Werdens vollendet. Trotzdem maß sein knorriger Stamm bereits fast zwanzig Meter im Durchmesser. Auf seiner tellerförmigen Krone würde bald einer der Gärten angelegt werden, die von allen nur Planta Nubo, »Wolkenpflanzung«, genannt wurden. An einem anderen Arbor, dessen Höhe tatsächlich an die tiefhängenden Wolken heranreichte, die sanft über den Himmel glitten, legten gerade zwei der bienenförmigen Luftschiffe an. Sie würden nun mit den geernteten Pflanzen gefüllt werden, die nur auf den Arboren wuchsen, und diese dann zu den großen Biomassekonvertern bringen, wo aus ihnen das hochenergetische Wasserstoffgemisch gewonnen wurde, das alle nur »Grüne Energie« nannten. Jasper senkte kurz das Haupt, schloss dazu die Augen und öffnete sie dann wieder. Denn natürlich war da noch Arbor Nummer eins. Die Menschen bedachten ihn stets mit einer kleinen Geste der Ehrerbietung, wenn sie ihn sahen. Er war der erste Arbor, der nach dem Neuanfang gewachsen war. Und das sprichwörtlich über Nacht.

Die Menschen hatten damals, so hieß es, zuerst ein Summen und dann ein tiefes Raunen vernommen, bevor die Erde zu beben begann und in der stickigen, schmutzigen Luft einer lichtlosen Nacht kurz nach dem Neuanfang ein grünes Leuchten aus der Tiefe emporwuchs. Im nächsten Augenblick war er dann durch den Grund gebrochen: Arbor Nummer eins. Bereits groß und mächtig wie ein kleines Dorf. Und in den Ästen seiner Krone trug er die schwarze Erde mit sich, in deren Schoss die Keime einer neuen, hoffnungsvollen Welt für die Menschen geborgen lagen.

Diese Menschen hatten damals freilich erst lernen müssen, wie sie mit der Erde in den Baumkronen die Planta-Nubo-Gärten anlegten, um dort Blumen wie Oksigenema gedeihen zu lassen. Sie hatten auch schmerzlich erfahren, dass es besser war, Gartenroboter wie Kuri zu bauen, um mit ihnen einen Planta Nubo zu bewirtschaften; denn so schön die neuen Blumen waren, die auf den Arboren wuchsen, auf die Dauer tat ihre unmittelbare Nähe einem Menschen nicht gut. Schließlich aber durften die Menschen erleben, dass die Erde eines Planta Nubo noch ein weiteres Wunder in sich barg. Jasper sah es in diesem Augenblick sehr gut, denn zwischen den weißen Wolken hatte sich eine große Lücke aufgetan, so dass Arbor Nummer eins sich zu einem klaren, tiefblauen Himmel emporrecken konnte. Dieses Wunder waren die Wolkenwälder, die auf einem Arbor zu wachsen begannen, wenn die Erde in seinen Kronen genug mit Nährstoffen angereichert war. Auf Arbor Nummer eins schwankten die Wälder mächtig und ausladend im Wind. Einige von ihnen waren von einem dunklen Grün, andere rotgolden oder fliederfarben. Alle aber reinigten sie die Luft auf geradezu phänomenale Weise von dem Schmutz, der die Katastrophen der Vergangenheit verursacht hatte. Sie waren das Ziel, auf das auch Jasper, Mala und Kuri von Tag zu Tag hinarbeiteten, wenn sie den Garten »ihres« Arboren pflegten.

Es klopfte kurz an der Tür des Werkhäuschens. Im nächsten Moment war Mala bereits im Raum. Gut einsfünfzig, vollgepackt mit Energie. Ihr kurzes, kupferrotes Haar hatte sie wie immer leicht zerzaust, die blaue Latzhose, die beige Bluse, ihr bronzefarbenes Gesicht waren übersät von Schmutzflecken; selbst auf ihrer Nasenspitze saß ein dicker, schwarzer Klecks Maschinenfett. Anders als sonst fing Mala allerdings nicht sofort an, auf ihn einzureden. Stattdessen sah sie ihn aus ihren schmalen, leicht geschrägten Augen aufmerksam an. Die Finger ihrer linken Hand spielten nervös mit dem Set Schraubenschlüssel, das sie an einer Kette um den Hals trug, während sie in der rechten Hand eine große Flasche mit Bongusta-Limonade hielt.

Das war ein Friedensangebot. Nichts schmeckte so gut wie der Saft, der aus den Bongusta-Blumen gewonnen wurde. Belebend wie Kaffee, voller Vitamine und von einer erfrischenden Süße, die mit nichts zu vergleichen war, was es vor dem Neuanfang gegeben hatte.

»Gib mal deinen Becher!«

Mala kam zu ihm herüber, während ihr Jasper wortlos seinen Becher hinhielt. Ein ganz besonderer Becher. Sein Vater hatte ihn einst geschnitzt. Er war aus dem Totholz gemacht, das ein Arbor manchmal abwarf, wenn er in einer Wachstumsphase war. Das Holz fühlte sich überraschend geschmeidig an, stellte Jasper wieder einmal fest, während er mit dem Zeigefinger das geschwungene »K« nachzeichnete, das sein Vater kunstvoll in den Becher geschnitten hatte. »K« für Kreii, seinen Familiennamen. In Neu-Esperanto, der Sprache, die die Menschen nach dem Neunanfang gebrauchten, hieß das so viel, wie »etwas erschaffen«.

»Was ist das Problem, Kas?«, fragte Mala, während sie ihm die Bongusta-Limonade in den Becher goss. Jasper deutete wortlos mit dem Becher auf den Bildschirm, der zeigte, was Kuris Kamera-Auge sah. Dann nahm er einen tiefen Schluck, der leicht auf seiner Zunge prickelte. Mala hatte sich derweil neben ihn gesetzt und starrte auf den Bildschirm.

»Hm, das sieht gar nicht gut aus«, murmelte sie. Die junge Frau legte die Stirn in Falten und begann dann mit ihren Fingern auf Jaspers Beinprothese hin und her zu tippen. Sie tat es ganz unwillkürlich, wie so oft, wenn sie hier beieinander saßen. Jasper aber kam das Geräusch des Tippens unendlich laut vor, schließlich war es gestern in ihrem Streit gerade um die Tatsache gegangen, dass er nicht ohne Hilfe laufen konnte.

Jasper war schon ohne Beine geboren worden. Vermutlich eine Folge der massiven Umweltverschmutzung, die es auch nach dem Neuanfang zunächst noch gegeben hatte. Während Jasper aufwuchs, war seine »Behinderung« allerdings nie ein großes Thema gewesen. Vermutlich hatte sie sogar dazu beigetragen, dass sich Jasper in besondere Weise für die Roboter begeisterte, die die Menschen nach dem Neuanfang zu bauen begannen. Eine Begeisterung, die er mit Mala teilte. Gemeinsam hatten sie Jaspers Beinprothesen gebaut, die er jeden Morgen anlegte. Sie ermöglichten es ihm zwar nicht, alleine gehen zu können, aber sie verhalfen ihm dazu, die Gartenroboter auf eine Weise zu steuern, wie es kein anderer unter den Arboren vermochte. So war Jasper schließlich der jüngste Movi Roboto geworden, dem man jemals einen eigenen Gartenroboter anvertraut hatte. Voller Stolz erinnerte sich Jasper daran, wie er vor zwei Jahren »seinem« Gartenroboter einen Namen hatte geben dürfen. Er entschied sich für »Kuri«, »Laufen«.

»Ich fürchte, du hast recht, Mala. Es sieht nicht gut aus. Mit diesem Arm ist Kuri im Grunde ein riesengroßer Krüppel.«

Mala zuckte zusammen und nahm die Hand von seiner Prothese. Ganz bewusst hatte Jasper das Wort verwendet, das ihm Mala gestern ins Gesicht geschrien hatte. Krüppel. Ganz genau gesagt hatte sie: »Außerhalb dieses Häuschens bist du doch nur ein hilfloser Krüppel.« Natürlich hatte Mala sich danach mehrfach entschuldigt. Und natürlich hatte Jasper sie davor wegen ihrer Schmutzflecken verspottet und fast zur Weißglut gebracht. Aber »Krüppel« war schlimm gewesen.

»Es war unendlich dumm von mir«, sagte Mala schließlich. »Aber ich kann’s nicht mehr zurücknehmen, Kas, tut mir leid.« Jasper nickte nur. Es würde bleiben zwischen ihnen. Sie schwiegen eine Weile. Dann stand Mala auf und strich sich über die Hose, so wie sie es immer tat, wenn sie einen Entschluss gefasst hatte.

»Ich muss da raus. Geht nicht anders. Nur so können wir Kuri helfen.«

»Alles in Ordnung bei dir?« Jasper fragte sich immer, wie Kuris Stimme wohl klang. Laut und blechern vermutlich. Er bemühte sich deshalb, immer ein wenig gedämpft in das Mikrofon zu sprechen. Mala drehte sich zu dem Roboter um, so dass Jasper sehen konnte, wie sie den Daumen hob. Trotzdem machte er sich große Sorgen, auch wenn er immer noch wütend auf Mala war. Immer wieder hatte Jasper auf die mechanische Uhr geschaut, die in seinem Werkhäuschen hing. Unerbittlich war der große Zeiger gewandert, während Mala unterwegs zu Kuri war. Sie hatte zuerst die neuen Blumenbeete durchquert, die Kuri erst vor ein paar Tagen mit dem Schaufelwerkzeug gegraben hatte. Danach musste Mala an den Modulen und Oxyfarmen vorbeikommen. Diese befanden sich am Rand des Arbor-Gartens und waren dort an die Leitungen angeschlossen, mit denen überschüssige Grüne Energie zu ihnen transportiert wurde. Die Module waren Maschinen, mit denen man nützliche Dinge wie Kuris Werkzeuge oder Ersatzteile für die Luftschiffe herstellte. Andere funktionierten dagegen wie Batterien oder Generatoren, in denen Grüne Energie gesammelt oder Düngemittel angereichert wurden. Die Oxyfarmen schließlich produzierten Sauerstoff, so wie die Wolkenwälder, und halfen, die Atmosphäre zu reinigen. Der gefährliche Teil von Malas Weg begann dann nach den großen Werkstätten, in denen neue Module und Oxyfarmen hergestellt wurden. Hier gab es weite Beete von Blumen, die bereits seit einigen Wochen blühten: Blaue Hidrokusanto, die Wasser aus der Luft sammelten, gezwirbelte Grunda Klimatizilo, die den Boden mit Nährstoffen anreicherten, oder die reinweiße Purigado. Besonders tückisch aber waren die purpurne Bongusta floro und Oksigenema, die an eine rote Pusteblume erinnerte. Der Duft einer Bongusta löste Euphorie aus. Das war nicht schlimm, solange die Blume am Anfang ihrer Blüte stand. Im Gegenteil: Zu dieser Zeit kamen viele Besucher in den Arbor-Garten, um den Anblick der Blumen zu genießen und ihren betörenden Duft einzuatmen. Doch je länger die Blüte dauerte, desto mehr löste der Duft der Bongusta Abhängigkeit bis hin zu schwerer Sucht aus. Oksigenema dagegen wurde gefährlich, wenn Teile der Pflanze begannen abzusterben. Sie reagierten dann mit der Luft, fingen an, grün zu leuchten und verwandelten sich gewissermaßen in Grüne Energie. Das war gut, wenn man sie später in gepresster Form mit einem Roboter einsammeln konnte, aber schlecht, wenn man als Mensch damit in Kontakt kam: Schwindel und Übelkeit bis hin zur Bewusstlosigkeit und Ersticken konnten die Folge sein.

Jasper beobachtete aufmerksam, ob Mala irgendwelche Zeichen von Schwindel zeigte, doch sie bewegte sich mit dem gleichen Schwung und der Tatkraft, die er von ihr kannte. Geschickt kletterte sie an Kuris Brust empor, hakte sich an seinem Ohr ein und begann dann, den defekten Arm zu untersuchen. Jasper konnte jetzt nur noch ihren Rücken sehen, auf den sie sich einen kleinen Rucksack geschnallt hatte, der aus den Fasern der Purigado geknüpft war. Natürlich. Die Purigado wirkte wahre Wunder im Filtern unerwünschter Substanzen, alles, was Mala in dem Rucksack aufbewahrte, war also gut geschützt. Dann hörte Jasper die junge Frau leise fluchen.

»Ist schwieriger als gedacht, Kas«, sagte Mala laut, bevor sie geschickt hinter sich in den Rucksack langte und ein längliches Werkzeug herausfischte, das aussah wie eine Mischung aus Bohrer und Schraubenzieher. Bestimmt eine von Malas Spezialanfertigungen, dachte Jasper, und musste unwillkürlich grinsen. Er erinnerte sich noch gut, wie ihm Mala einmal ein handgroßes Objekt gezeigt hatte, dass ziemlich genau so aussah wie die Luftschiffe, die zwischen den Arboren hin- und herflogen. Winzige Flügel aus Sonnenglas, der Rumpf eine Art Ballon aus Purigadofasern, und ein Frachtcontainer, den Mala aus einem Aschenbecher aus der Welt vor dem Neuanfang gemacht hatte. Das Miniatur-Luftschiff hatte sogar fliegen können. Jasper war so begeistert von ihm gewesen, dass Mala es ihm kurzerhand geschenkt hatte. Jetzt stand das winzige Luftschiff auf einem Ehrenplatz, gleich neben dem kleinen Beet mit Komposterde, wo Jasper zurzeit Klimatizilo-Salat züchtete.

»Beim Klimaleugner!« Mala war jetzt bei den derben Schimpfworten angekommen. Kurz darauf hörte Jasper laute Bohrgeräusche und danach das Klirren von Metall auf Metall.

»Autsch! Dreck und Asche nochmal!«

»Was ist passiert, Mala?«

»Nichts, keine Sorge, Kas. Nur den Daumen eingeklemmt.«

Mit diesen Worten hakte sie sich aus und begann von Kuri hinunter zu klettern. Die letzten anderthalb Meter sprang sie hinab, stürzte allerdings beim Aufprall, und kam dann leicht stolpernd wieder auf die Beine.

»Pass auf, Mala, verdammt!«

»Steh schon wieder, Kas.«

Mit einem Grinsen wandte sie sich der Kamera zu, in der Hand noch den Schraubbohrer. Jasper aber meinte, ein leichtes Schwanken in ihren Bewegungen auszumachen. Das gefiel ihm gar nicht.

»Hab ihn erfolgreich operiert!«, rief Mala. »Probier mal, Kas. Müsstest seinen Arm jetzt problemlos aus dem Fels ziehen können.«

Jasper drehte an einem der Räder seines Steuerungspanels, um Kuri mit Grüner Energie aufzuladen. Dann griff er nach dem Hebel, der den Arm steuerte, bewegte den Hebel vorsichtig ein paarmal hin und her, sodass Kuris Arm langsam frei kam, und zog ihn dann mit einem Ruck heraus. Schwungvoll hob sich der Hammer, der an dem Arm befestigt war, in die Luft. Jasper sah, dass er von grünem Leuchten überzogen war.

»Probier mal aus, ob der Hammer wieder normal funktioniert!«, hörte Jasper Mala rufen.

»Ich weiß nicht, ich sollte dich jetzt besser schnell da wegbringen …«

»Ach, ich hab noch den Durchblick. Nun mach schon, Kas!«

Irgendwie schaffte es Mala immer, ihren Willen durchzusetzen, selbst wenn Jasper auf sie zugleich sauer war und sich um sie sorgte. Er brummte missmutig, richtete dann aber den Hammer an Kuris Arm auf einen der nahen Felsen aus. Wenn die Arboren aus der Erde emporwuchsen, brachten sie immer viel Gestein mit nach oben, in denen manchmal abgestorbene Pflanzen eingelagert waren. Eine von Kuris (und damit Jaspers) Hauptaufgaben war es, dieses Gestein zu zerkleinern und beiseite zu räumen, sodass dort später Blumenbeete angelegt werden konnten.

»Ok, pass auf, Mala, Hammer fällt!«, rief Jasper. Dann fuhr er sich kurz konzentriert über die Lippen und ließ den Hammer niedersausen. Mit einem Knall schlug das Metall auf das Gestein, sodass der Felsen entzwei sprang. Kurz darauf riss Jasper die Augen auf vor Erstaunen. Reines grünes Leuchten strahlte ihm entgegen. So viel eingelagerte Grüne Energie hatte er noch an keiner anderen Stelle gefunden. Es war mühsam, sie aus den Blumen zu gewinnen, die sie auf den Arboren anpflanzten. Hier aber lag eine ganze Ernte in gepresster Form vor ihm.

»Bei der reinen Luft! Siehst du das, Mala.«

Jasper wendete Kuris Kopf der Mechanikerin zu. Mala aber antwortete nicht. Sie lag gekrümmt am Boden. Ihr Körper zuckte, als würde sie sich erbrechen. Natürlich. Mit einem Schlag hatte Jasper so viele Oksigema-Faulgase freigesetzt, dass es für einen Menschen absolut lebensgefährlich war.

Alle wussten, dass die Menschen mit ihrem Handeln die Katastrophen der Vergangenheit geradezu mutwillig herbeigeführt hatten. Sie hatten die Wälder abgeholzt, die Meere versauern lassen, Tiere und Pflanzen ausgerottet. Am schlimmsten aber war es, dass sie die Atmosphäre vergiftet hatten. Am Ende war das Klima an mehreren Stellen gekippt. Die Welt danach war für die wenigen Menschen, die überlebt hatten, freudlos gewesen. Die Luft reichte kaum noch zum Atmen, und manchmal nicht mal dazu.

Dann aber waren die Arboren erschienen und mit ihnen die Blumen und Pflanzen, die die Atmosphäre reinigten und den Sauerstoff zurückbrachten. Niemand hatte bislang erklären können, was damals geschehen war, nicht mal Dr. Ayleen Espero, die führende Sauerstoffexpertin - und Malas Mutter. Wie hatten die Arboren so schnell wachsen können? Wo waren sie und die anderen neuen Pflanzen überhaupt hergekommen? Es schien eine Art Notfallprogramm des Planeten zu sein, das auf dem Höhepunkt der Katastrophe in Gang gesetzt worden war. Sicher nicht durch einen Gott oder irgendwelche übersinnlichen Kräfte, sondern durch die Natur selbst. Und zwar auf eine Weise, die Menschen erst langsam begannen zu begreifen und wissenschaftlich zu durchdringen.

Deshalb flehte Jasper Kreii jetzt auch nicht irgendwelche höheren Wesen an, als er verzweifelt versuchte, Malas Leben zu retten. Stattdessen beugte er sich mit Kuri hinab und nahm Malas Körper auf die Arme, ganz vorsichtig - schließlich war Kuri ein baumgroßer Roboter und doch so rasch es eben ging. Mala aber zeigte kaum noch ein Anzeichen von Leben. Deshalb begannen Jasper und Kuri zu laufen. So schnell, wie sie nie zuvor gelaufen waren. Jaspers Beinprothesen, mit denen er selbst nicht einen Schritt machen konnte, waren perfekt auf die Steuerung von Kuris Metallbeinen abgestimmt. Sie liefen durch die gelb und rot leuchtenden Blumenbeete, vorbei an dem Außendock für die Luftschiffe, an dem Kuri gestern Kisten mit Blumen in große Frachtcontainer verladen hatte, entlang eines Moduls mit einer Windmühle, das gerade mit grüner Energie aufgeladen wurde. Mit einem Sirren begannen sich die Flügel zu drehen, während Kuri vorbeistampfte. Und doch waren sie zu langsam. Verzweifelt überlegte Jasper, was er noch tun konnte, während er zugleich geschickt einem Gießkannen-Roboter auswich. Grüne Energie! Natürlich. Er konnte Kuri noch einen weiteren Schub geben, wenn er ihm einen Stoß Grüner Energie aus seinem Notfalltank durch die metallenen Glieder fahren ließ. Jasper streckte sich, um an den Knopf zu gelangen, der die Grüne Energie aus dem Notfalltank freigab. Mit einem Klirren von brechendem Glas fiel dabei das Miniatur-Luftschiff zu Boden, das Mala ihm geschenkt hatte. Egal. Jasper drückte den Knopf und fast sofort spürte er, wie noch mehr Kraft durch den Gartenroboter floss.

»Lauf, Kuri!«, schrie er, »Lauf!«

Es war am Ende ganz knapp gewesen. Als Kuri mit Mala in den Armen bei der kleinen Medizin- und Forschungsstation auf dem Arboren angekommen war, hatte Jaspers Stiefschwester vielleicht noch eine halbe Minute zu leben gehabt. Zum Glück hatten die Insassen der Station Kuri kommen sehen und sein lautes »Hilfe! Oksgigenema-Vergiftung!« vernommen. Sofort hatte Mala ein Gegengift aus Purigado-Extrakt erhalten. Danach war sie zur Krankenstation auf einem der anderen Arboren gebracht worden. Jasper hatte sie dort nur einmal besucht, nicht weil er noch sauer gewesen wäre, sondern weil es so viel zu tun gab, auf »seinem« Arboren. Zumal auch Kuri nach der Rettungstat erst einmal in die Reparatur geschickt worden war. Bei seinem Besuch hatte Mala sowieso die ganze Zeit tief und fest geschlafen. Nur einmal war sie kurz aufgewacht, hatte Jasper aber kaum erkannt. Inzwischen, drei Wochen später, musste sie die Krankenstation indes längst verlassen haben. Jasper fragte sich zweifelnd, warum sie ihn noch immer nicht aufgesucht hatte.

Er überlegte gerade, sich selbst in einem Rollenstuhl zu Mala bringen zu lassen, auch wenn das einiges an Aufwand erfordern würde. Da klopfte es kräftig an der Tür seines Werkhäuschens, und schon im nächsten Augenblick stand Mala im Raum. Ihre Hose und ihre Bluse waren frisch gewaschen (auch hier half natürlich Purigadosaft), die Arme hatte sie hinter dem Rücken verschränkt. Für eine Weile sahen sie einander nur stumm an.

»Hab gerade bei Kuri vorbeigeschaut«, sagte Mala schließlich, »ist bald wieder im Einsatz.«

»War ziemlich knapp, Mala«, entgegnete Jasper nur.

Die Mechanikerin nickte. »Hab gehört, ihr beide wart ziemlich schnell.«

Jasper nickte: »Für einen Krüppel und einen kaputten Gartenbot waren wir schon ziemlich schnell.« Darauf fingen sie beide an zu grinsen und Mala holte schließlich hervor, was sie hinter ihrem Rücken verborgen hatte.

»Hier, hatte ein wenig Zeit zum Basteln, weil ich nur auf halber Schicht war.« Damit reichte ihm Mala ein handgroßes Luftschiff. Es war exakt so gebaut, wie jenes, das bei der Rettungsaktion zu Bruch gegangen war. Mit einer Ausnahme. Mala hatte ein »J« und ein »K« auf den Rumpf gemalt.

Jasper wusste gar nicht, was er sagen sollte, als er das Geschenk mit einem strahlenden Lächeln entgegennahm.

»Musst nix sagen«, nahm ihm Mala schließlich das Reden ab. »Ich dachte, wo ihr zwei so fix im Rennen seid, wäre es gut, wenn Kuri und du in Zukunft auch mal fliegen könnt.«

Ende

— Hochnase & Betongeist —

BERND PERPLIES

Oh, Mann, das ist nicht gut! Wie konnte ich nur so dumm sein? Wieso habe ich nicht auf Yakima oder Min oder den alten Aigo gehört? Oder auf irgendeinen anderen von den Erwachsenen. Die sagen alle das gleiche: »Geht nicht in die große Ruinenstadt! Die Ruinenstadt ist ein gefährlicher Ort. Da kann einen alles umbringen: die halb zerstörte Technik, die halb verfallenen Gebäude, die halb verhungerten wilden Hunde.« Und dann gibt es noch die Betongeister, von denen niemand was weiß, außer dass sie echt unheimlich sind, wie sie so einsam und verloren in den Straßenschluchten zwischen den Wolkenkratzern umherwandern. Na ja, jedenfalls würde niemand von uns, der halbwegs schlau ist, in die große Ruinenstadt gehen.

Ich bin wohl nicht halbwegs schlau. Darum hänge ich jetzt hier über dem Abgrund, mit meinem Greifer, an diesem elenden abgebrochenen Balkongeländer. Oje, geht das tief runter! Höhe macht mir ja normalerweise gar nichts aus. Ich lebe in einer Kolonie auf Old Faithful, einem Arboren, dessen Krone locker zwei Kilometer über dem Erdboden liegt. Schon als kleines Kind habe ich mit meiner Freundin Enna am Rand der Astplantagen gelegen und Kirschkerne in die Tiefe gespuckt. Und dann haben wir immer die Augen zusammengekniffen und versucht, sie zu verfolgen, bis sie ganz unten auf der Erde landen. Ist uns nie gelungen.

Aber das hier, das ist etwas anderes! Ich spüre kein festes, lebendiges Holz unter meinen Füßen, nicht mal in meinen Händen. Mein Greifer, eigentlich zum Sammeln von Bongusta-Kürbissen gedacht, hängt an diesem braunen Reststück Metall an dem Sims vor dem zerborstenen Fenster im was-weiß-ich-wievielten Stockwerk dieses furchtbaren Betonmonstrums. Und, braun, das habe ich jetzt gelernt, ist bei Metall keine gute Farbe! Braun ist eine ganz schlechte Farbe, richtig mies! Braun ist die Ich-Breche-Ab-Wenn-Du-Nicht-Aufpasst-Farbe. Und plötzlich hängt man über dem Abgrund.

Zum Glück habe ich wenigstens Handschuhe an. Meine Hände darin fühlen sich klatschnass an. Mit denen wäre ich längst abgerutscht. Aber dann wäre es wenigstens vorbei. Ich meine, am Ende zögere ich mein Schicksal doch nur hinaus. Ich kann mich nicht hochziehen. Habe ich schon versucht. Dazu fehlt mir die Kraft. Ich kann mich auch nicht hin und her schwingen, um durch ein Fenster im Geschoss unter mir zu brechen. Das macht der Greifer nicht mit. Wahrscheinlich würde ich eh nur am Fenster abprallen. Das Glas sieht ziemlich dick aus. Boing und waaah und Ende.

Und so hänge ich hier, und das einzige lebende Wesen im weiten Umkreis ist dieser Betongeist, der noch immer irgendwo im Gebäude herumspukt. Schon komisch … Ich dachte zwischendurch, der würde mich umbringen. Jetzt ist es meine eigene Dummheit, die mich tötet.

Aber ganz ehrlich, was hätte ich machen sollen? Ich konnte Twiti doch nicht im Stich lassen. Ich habe Twiti echt seit Ewigkeiten. Er ist mein bester Freund, na ja, vielleicht nicht mein bester, das klingt so verschroben, wenn man von einem kleinen, solarbetriebenen Flugbot spricht. Aber er ist immer bei mir. Ich gehe nirgendwo ohne ihn hin. Und er nicht ohne mich. Zumindest normalerweise.

Ich weiß auch wirklich nicht, was bei ihm kaputtgegangen ist, als ihn der Vogel erwischt hat. Wir haben an einer super Stelle außen an der Krone Beeren gesammelt – die letzten in diesem Herbst, nehme ich an –, als dieses unselige Vieh auf einmal aufgetaucht ist. Bin mir nicht mal sicher, was es war, so schnell ging das alles. Ich habe nur diesen braunschwarzen Schatten gesehen, der auf Twiti herabgeschossen ist, dann hat es gescheppert und der Vogel ist abgedreht und irgendwo in der Krone verschwunden. Vermutlich musste er sich erstmal den Schnabel reiben. Der dürfte ganz schön überrascht gewesen sein, wie hart Twitis Oberschale ist. Schien also erstmal alles wieder gut zu sein. Ich wäre zwar vor Schreck fast vom Ast gefallen – ich meine, hey, der war groß wie ein Huhn und hatte bestimmt fast zwei Meter Spannweite; könnte ein Adler gewesen sein –, aber ansonsten ist nichts passiert. Dachte ich zumindest.

Und dann ist Twiti einfach weggeflogen! Mein lieber Twiti! Ich habe ihm nachgerufen, habe mit den Armen gewedelt, alles, aber er hat nur komische Piepsgeräusche von sich gegeben, hat sich im Kreis gedreht und ist dann weiter raus, schnurstracks in Richtung Horizont – auf die große Ruinenstadt zu. Oh, Leute, ich sage euch, ich war völlig verzweifelt. Wenn seine Rotoren ausgefallen und er in die Tiefe gestürzt wäre, kein Problem, dann wäre ich ihm nachgeklettert oder hätte einen der Seilaufzüge genommen – auch wenn ich die gar nicht mag, die knarren immer so, als würden sie gleich durchbrechen – und dann hätte ich Twiti geholt. Aber so! Schnurstracks zur großen Ruinenstadt ist er geflogen, und ich konnte ihm nicht folgen. Ich bin nur dagestanden, völlig fassungslos, und habe um meinen Freund geweint.

Puh. Nicht dran denken, nicht dran denken. Mir kommen schon wieder die Tränen. Dabei ist Twiti im Moment wirklich mein geringstes Problem. Er liegt da oben auf dem Balkon. Zumindest habe ich ihn erwischt – bevor es mich erwischt hat. Oh, Mann, was mache ich denn jetzt nur? Vielleicht sollte ich um Hilfe rufen. Aber wer könnte mich hören? Nur dieser Betongeist. Davor habe ich fast noch mehr Angst, als hier zu hängen. Vielleicht könnte ich doch … Ach, verdammt! Ich bin einfach nicht stark genug. Meine Arme fangen an zu zittern. Ich kann mich nicht mehr lange halten.

»Hilfe!«

Oh, jetzt habe ich doch gerufen. Wie leichtsinnig von mir. Hoffentlich hat er mich nicht gehört. Diese Betongeister sind total unheimlich – also, wurde mir erzählt. Dom sagt, sie haben keine Gesichter und würden wie Bots klingen, als wären sie lebende Maschinen. Er sagt auch, sie haben keine Gefühle. Ich weiß nicht, ob ich ihm glauben soll. Dom ist ein guter Sammler, der sich in der Wildnis am Boden auskennt wie kein zweiter, aber er erzählt manchmal echt Unsinn, nur um Eindruck zu schinden. Wie seine Abenteuer in der großen Ruinenstadt. Na, immerhin ist er zurückgekehrt, um von dort zu erzählen. Ich hoffe wirklich, wirklich, dass es mir genauso geht. Dann erzähle ich danach auch gern den größten Unsinn! Oje, ich fange schon damit an! Ich glaube, ich drehe langsam durch.

In was hat mich Twiti da nur reingeritten? Ich weiß, ich hätte ihm nicht folgen müssen. Yakima hat mir gestern Abend sogar ganz deutlich gesagt, dass ich ihm auf keinen Fall folgen solle. Dass ich mich von der großen Ruinenstadt fernhalten solle. Viel zu gefährlich, blablabla … Und er sei doch nur ein Flugbot. Nur ein Flugbot? Ich liebe Yakima ja total, aber manchmal hat sie keine Ahnung. Eigentlich hätte sie mich ruhig ein wenig unterstützen können. Dann wäre ich vielleicht nicht heute im Morgengrauen heimlich mit dem Seilaufzug nach unten gefahren, um mich alleine auf die Suche zu machen.

Ich meine, gute Ausrüstung dabei zu haben, ist eine Sache. Ich bin ja weder blöd noch leichtsinnig, sonst hätte ich meine robuste Arbeitskleidung nicht angezogen und auch den Helm und den Greifer nicht mitgenommen. Aber Gesellschaft wäre natürlich noch besser gewesen. Ich hätte Enna fragen können, ob sie mitkommt. Früher sind wir durch dick und dünn gegangen. Aber in letzter Zeit ist sie ständig mit Joren zusammen, der oben an der Spitze der Krone die Windkraftanlagen wartet. Ich glaube, sie ist heimlich in ihn verschossen – obwohl er sie doch bloß für ein kleines Mädchen hält. Ach, Ennas Probleme hätte ich jetzt gerne!

Was war das? Da hat doch was geknirscht. War das der Balkon? Bitte, lass es nicht der Balkon gewesen sein. Das würde mir gerade noch fehlen, dass der auch abbricht. Aber vielleicht kam es auch oben aus dem Zimmer. Da lag so viel Dreck auf dem Fliesenboden, das Geräusch könnte von jemandem stammen, der darüber läuft. Oje, der Betongeist!

Ich meine, was hatte ich denn erwartet? Natürlich bestand die Gefahr, dass ich einem von denen begegne, wenn ich in die große Ruinenstadt gehe. Neben all den anderen Gefahren. Wobei ich zugeben muss, dass ich am Anfang echt enttäuscht war. Nee, »enttäuscht« ist das falsche Wort. Ich war … überrascht und vielleicht ein bisschen erleichtert. Denn aus der Nähe wirkte die Stadt gar nicht so düster, wie sie von Ferne aussah, eher hell und sehr leer und vielleicht ein bisschen traurig. Vor allem aber ist sie natürlich riesig und damit meine ich wirklich riesig! Die Gebäude mögen nicht so hoch wie Old Faithful sein, aber es gibt so unglaublich viele davon. Und die Menschen haben früher überall in ihnen gewohnt, nicht bloß oben an der Spitze, sondern auch in der Mitte und unten. Wie viele von ihnen muss es gegeben haben? Mir ist echt ganz schwindelig geworden bei dem Gedanken.

Die Sache hatte allerdings auch einen üblen Nachteil. Die Stadt war riesig – ich weiß, ich wiederhole mich hier, aber man kann das gar nicht oft genug sagen. Wie sollte ich zwischen all diesen Hochhäusern, in all diesem Durcheinander aus Beton und Metall und Gestrüpp und Ranken – ist ja klar, seit fast niemand mehr hier lebte, hat sich die Natur überall ausbreitet – Twiti finden? Ich dachte schon, ich müsse wochenlang nach ihm suchen, und obwohl ich gewöhnlich wirklich nicht viel heule, war mir doch echt schon wieder danach zumute.

Aber ich bin ja tapfer! Und schlau! Also, meistens. Das hier mit dem Balkon war nicht schlau, ganz klar. Autsch, meine Arme. Ich halte es bald wirklich nicht mehr aus. Vielleicht sollte ich doch? Ach, verdammt nochmal!

»Hilfe!«

Warum musste Twiti so weit oben landen? Okay, blöde Frage, er ist weit oben gestartet und dann einfach geradeaus geflogen. Ich kann wohl dankbar sein, dass er ein wenig mit gesenkter Nase losgezogen ist, sonst wäre er über all diese Häuser glatt hinweg geschwirrt – und dann weiter bis ans Ende der Welt. Nee, Schwachsinn. Er musste ja hier irgendwo abstürzen. In der Nacht, wenn er nicht mehr nachgeladen wird, geht seinem Akku ziemlich schnell die Puste aus.

Na, wie auch immer, ich war jedenfalls so schlau, Yakimas Fernglas mitzubringen, mit dem ich die Gegend absuchen konnte, und ich hatte wohl Glück im Unglück, dass ich Twiti so schnell gefunden habe. Oben an einer Hochhausfassade. Da hing er an diesem blöden Gitter oberhalb des Balkons, vielleicht fünfzig Meter über dem Boden. Aus Arborenperspektive natürlich lächerlich niedrig – aber echt ziemlich unerreichbar, wenn man unten steht und vor sich bloß eine glatte Betonwand mit ein paar ebenso glatten Fenstern aufragt. Ich kann ganz gut klettern, wenn ich dicke Borke unter den Fingern und Zehen habe. Aber das da? Unmöglich!

Was blieb mir also, als durch das Innere des Gebäudes nach oben zu gelangen. Ich weiß natürlich, was ein Haus ist. Wir leben schließlich nicht in Astlöchern auf Old Faithful! Aber ganz ehrlich: sowas habe ich noch nie gesehen! Wie viele Zimmer und Gänge und Treppen es in so einem Koloss gibt! Da findet sich doch kein Mensch zurecht! Und wie weitläufig alles ist. Unsere ganze Kolonie hätte in das eine Haus gepasst. Was für eine Verschwendung von Platz. Die Menschen früher lebten so ganz anders als wir heute!

Zum Glück war ja Tag, also fiel überall Licht ins Innere. Nachts im Dunkeln, das schwöre ich euch, hätte ich mich heillos verirrt – und vermutlich zu Tode geängstigt. Aber auch so hatte ich leichtes Magengrummeln, als ich mir meinen Weg nach oben gesucht habe. Es ist alles so leer, so einsam hier überall, und trotzdem fühlt man sich irgendwie ständig von fremden Augen heimlich beobachtet.

Tja, und wie ich dann festgestellt habe, war ich wirklich nicht allein. Außer mir war noch jemand im Haus. Ich hörte ganz eindeutig Geräusche, vor allem, als ich einen gewaltigen Treppenschacht hochgestiegen bin. Und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass eine dunkle Gestalt irgendwo unter mir umhergehuscht ist. Ganz verstohlen natürlich. Aber ich kann gut sehen, selbst wenn ich den Helm aufhabe. Das musste einer der Betongeister sein.

Ich bin mir nicht mal sicher, ob er mich wirklich gesehen hat oder ob er nur meine Schritte durch die Korridore und Räume hat hallen hören. Er war jedenfalls sehr vorsichtig, so als wisse er gar nicht genau, wo ich bin. Vorhin war ich ganz froh darüber. Aber jetzt …

Da! Da war doch wieder so ein Knirschgeräusch! Ein Schritt. Jemand schleicht näher. Das kann doch nur der Betongeist sein. Oder vielleicht ein wilder Hund? Oje, ein wilder Hund, der würde mir jetzt gerade noch fehlen.

Hätte dieses vermaledeite Balkongeländer nicht noch eine Minute durchhalten können? Ich hatte Twiti doch schon. Und so schwer bin ich nun auch nicht. Ja, ja, ich weiß, was Yakima zu der Aktion gesagt hätte: »Man steigt nicht auf Balkongeländer! Da kann man runterfallen, und die wurden extra angebracht, damit man nicht runterfällt.« Schon klar! Aber ich habe nun mal keinen Teleskopgreifer, sondern nur einen ganz normalen, und Twiti war einen halben Meter zu weit oben. Wer hätte ahnen können, dass das Metall der früheren Menschen so unzuverlässig ist? Wenigstens Twiti ist bei meinem Sturz auf dem Sims gelandet. Aber ich? Oh, Mann, ich kann nicht mehr. Mir wird schon ganz komisch zumute.

»Hil…!«

Ach, du Scheiße!

Der Betongeist. Da … da ist er wirklich. Wie sieht der denn aus? Das ist eine Maske unter seiner Kapuze, oder? Schutzbrille und Maske. Vielleicht gegen den Staub, der hier durch alle Straßen geblasen wird. Aber, brrr, das hat was Gruseliges. Kein Wunder, dass Dom dachte, die hätten kein Gesicht. Wobei … ich habe gut reden. Ich trage einen Visierhelm. Wirkt vermutlich auch nicht freundlicher. Immerhin kann man meinen Mund sehen. Also, wie wär’s mit einem Lächeln? Lächeln ist immer gut, um Freundschaft zu schließen. Auch wenn’s in meinem Fall etwas verkrampft wirken könnte.

»Äh … hi.« Mann, wie dämlich. Fällt mir echt nichts Besseres ein? Okay, ich hänge fünfzig Meter über einem Abgrund an einem Greifer, der an einem abgebrochenen Balkongeländer klemmt. Das stresst ziemlich, und wenn ich gestresst bin …

Whoa, halt, was wird das? »He, was machst du da? Bitte, nein, tu das nicht.« Meine Stimme klingt ziemlich schrill, selbst durch den Helm hindurch. Aber so wie es aussieht, will er die Klammer des Greifers lösen, da darf man schon mal panisch werden. Nicht, dass er das schaffen würde. Die Klammern halten bombenfest, wenn der Griff arretiert ist. Hoffe ich.

»Lass los.« Seine Stimme klingt echt total blechern. Das muss an der Maske liegen. Ist doch so, oder?

»Was?«

Er deutet auf die Klammer. »Mach die Klammer auf.«

»Dann stürze ich ab!« Logische Konsequenz. Das dürfte jedem klar sein, der mich hier baumeln sieht.

Die behandschuhte Rechte des Betongeists schließt sich um die Stange des Greifers. Mit der anderen hält er sich am Fensterrahmen fest. »Nein, ich ziehe dich hoch, aber du musst die Klammer deiner Greifstange lösen, sonst geht das nicht.«

Ich starre ihn an. Ich wünschte, ich könnte seine Augen sehen oder auch nur irgendeinen Teil seines Gesichts, aber da sind nur die Schutzbrille und die Staubmaske. Ich habe keine Ahnung, wie ich ihn einschätzen soll. Hat er ein freundliches Gesicht oder ein fieses? Will er mich töten – so wie alles hier in der großen Ruinenstadt, wenn man Doms Worten Glauben schenkt – oder mich retten?

Unwillkürlich denke ich an unsere Kolonie zu Hause. Dort vertrauen wir einander blind. Wenn mir jemand sagt, dass er mich auffängt, dann lasse ich mich nach hinten fallen. Und wenn mir jemand die Hand hinhält, ergreife ich sie.

Warum sollte es hier eigentlich anders sein? Ich meine, dieser »Geist« ist doch auch ein Mensch, oder? Oder? Einen irrsinnigen Moment lang frage ich mich, was ich machen würde, wenn er sich doch als Maschine entpuppt, oder als Außerirdischer. Nein, nein, er ist ein Mensch, und er ist mir bis hier oben gefolgt. Er hat mich nicht angeknurrt und nach mir getreten, sondern sich hingehockt und die Stange meines Greifers gepackt. Das muss doch etwas Gutes bedeuten.

Am Ende ist es einen Frage des Vertrauens, fünfzig Meter über dem Erdboden. Aber welche Wahl habe ich schon? Allein schaffe ich es nicht nach oben, das habe ich schon festgestellt. Meine Kräfte werden eher früher als später vollends versagen. Und dass Enna oder Dom oder sonstwer aus der Kolonie auf einem weißen Pferd heranprescht, um mich in letzter Sekunde zu retten, darauf sollte ich lieber nicht hoffen. Das hier ist keine Märchengeschichte. Nur meine eigene.

»Na los.« Der Betongeist nickt leicht mit dem Kopf, scheint mich auffordernd anzustarren. »Mach schon. Ich kann dir sonst nicht helfen.«

»Wenn du mich fallen lässt, schreie ich den ganzen Weg nach unten«, lasse ich ihn wissen.

»Ich auch«, erwidert er, »denn entweder fallen wir beide oder keiner.«

Das klang fast wie ein Witz. Wie nett. Ich würde ja lachen, aber meine Arme schmerzen zu sehr. Genau genommen schmerzt mein ganzer verkrampfter Körper. Aber so viel steht fest: Monster reißen keine Witze.

Ach, verdammt!

Ich löse die Klammer des Greifers …

… und mit einem Ächzen zieht mich der Betongeist langsam nach oben. Dabei macht er einen Schritt rückwärts, stolpert über die Balkontürschwelle und wir beide fallen in den Raum dahinter, ein Knäuel aus Armen und Beinen. Ich lande auf ihm, rolle aber sofort zur Seite und gewinne zwei Schritte Abstand. Rettung hin oder her, ganz sicher bin ich mir nicht, was ich von der maskierten Gestalt halten soll.

Einen Moment lang starren wir uns beide schweigend an. Ich kauere am Boden und reibe mir die brennenden Arme. Er sitzt auf dem Hintern und atmet schwer.

»Geht doch«, sagt er blechern. Dann hebt er die Hände und löst die Maske, streift die Schutzbrille ab und zieht die Kapuze vom Kopf. Kein Scherz, mir fällt vor Erleichterung ein Stein vom Herzen, als darunter einfach ein Junge zum Vorschein kommt, mit brauner Haut und schwarzen Lockenhaaren. Er muss ein bisschen älter sein als ich, und sieht eigentlich ganz okay aus. »Ich bin Erim«, sagt er und lächelt ein wenig unsicher. »Willst du nicht auch mal deinen Helm absetzen?«

»Was? Oh, ja klar.« Ich ziehe den Schutzhelm aus. Ich will gar nicht wissen, wie ich darunter aussehe. Wahrscheinlich knallrot und verschwitzt. Mein Haar fühlt sich total nass an der Stirn und im Nacken an. Ich will mir eine Strähne aus dem Gesicht pusten, aber das klappt nicht. Dann breitet sich ein Lächeln auf meinem Gesicht aus, als endlich sackt, dass ich noch am Leben bin. »Hi, ich bin Jayce.«

Erim kommt auf die Beine und tritt langsam näher, während er mich prüfend mustert. Ich rappele mich ebenfalls auf, unsicher, was als Nächstes kommen wird.

»So sieht also eine Hochnase aus«, sagt er.

»Was?«

»Eine Hochnase.« Er deutet aus dem Fenster. »Du stammst doch von diesen Leuten ab, die da draußen auf dem Riesenbaum leben, oder?«

»Wie kommst du darauf?«

Er deutet auf meine Sachen. »Deine Klamotten. Außerdem wäre keiner aus der Stadt so dumm, auf morschen Balkonen herumzuturnen.«

»Ich musste … ich musste meinen Flugbot holen.« Das erinnert mich daran, dass Twiti immer noch auf dem Sims liegt. Rasch sammle ich ihn ein und drücke ihn an meine Brust. »Er war mir davongeflogen. Ein Unfall. Ich musste ihn suchen. Er ist doch mein Freund.«

Erim zieht die Augenbrauen hoch. »Du bist ein bisschen seltsam, aber auf eine gute Art, denke ich. Jedenfalls ganz anders, als die Alten bei uns sagen.«

»Was sagen die denn?«

»Dass die Hochnasen sich nicht für uns Stadtbewohner interessieren. Dass ihr euch da oben für etwas Besseres haltet und darum auch niemals zu uns nach unten kommt. Wir sind ja nur die Bodenkrabbler.«

»Betongeister«, verbessere ich ihn.

»Hä?«

Ich zucke verlegen mit den Schultern. »Bei uns heißt ihr Betongeister. Zumindest bei einigen von uns. Und die haben Angst vor euch. Weil ihr in diesen gewaltigen Ruinen lebt und dort einsam und stumm wie Geister herumstreift.«

Ungläubig lacht Erim auf. »Was ist das denn für ein Unsinn?«

»Ja, nicht wahr? Wenn man sich so direkt gegenübersteht, klingt es ziemlich dumm.«

»Einsam und stumm …« Erim schüttelt den Kopf. »Wir haben eine ganze Siedlung rund um den alten Marktplatz und den Stadtpark. Da leben fast fünfhundert Leute.«

Ich reiße die Augen auf. Davon hat Dom nichts erzählt. »Fünfhundert? Aber warum sieht man dann nie was von euch? Wir dachten, es gäbe nur eine Handvoll von euch.«

»Na ja.« Erim zuckt mit den Schultern. »Die Siedlung liegt ungefähr eine Dreiviertelstunde Weg weiter nach Norden. Und in diesem Teil der Stadt gibt es nicht viel für uns zu tun. Raus in die Wildnis gehen wir sowieso nicht. Da leben doch bloß die Hochnasen auf ihrem Baum. Also … so heißt es eben.« Er schenkt mir ein verlegenes Lächeln.

Langsam dämmert mir etwas ziemlich Bedeutungsvolles. »Ich habe das Gefühl, es gibt eine Menge, was wir nicht voneinander wissen. Was wir übereinander lernen könnten – und sollten. Und voneinander.«

Er nickt bedächtig. »Ja, scheint so.« Seine Miene hellt sich auf. »He, was hältst du davon, wenn wir gleich damit anfangen? Komm doch mit zu mir. Ich zeige dir die Siedlung und die Leute dort. Danach wirst du uns ganz sicher nie mehr für Betongeister halten.« Er grinst vielsagend.

Ich schaue durch das zerborstene Fenster und über den Balkon hinweg, der mir beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Zwischen den Hochhausruinen steht die Sonne schon schräg am Himmel. Der Weg hierher, die Suche nach Twiti, das alles hat Zeit gekostet. (Mein Rumhängen über dem Abgrund nicht so sehr, obwohl mir das auch wie eine Ewigkeit vorgekommen ist.) Und ich muss noch zurück zum Old Faithful, möglichst, bevor es dunkel wird, was um diese Jahreszeit eher früher als später passiert. »Heute nicht«, sage ich. »Es ist schon zu spät, und ich muss nach Hause.« Ich sehe die Enttäuschung auf seinen Zügen und schiebe schnell hinterher: »Aber wie wäre es morgen? Wir treffen uns um elf Uhr am südlichen Stadtrand, dort, wo dieser riesige Parkplatz mit den ganzen kaputten Autos ist, neben dem hohen Schild mit dem gelben M. Kennst du den?«

»Ja, da war ich schon mal.« Erim nickt eifrig. »Morgen um elf sagst du?«

»Ja. Habt ihr Uhren?«

»Ernsthaft?« Er schaut mich an, als hätte ich eine selten dämliche Frage gestellt – und, ja, okay, zugegeben, vielleicht war sie auch ein bisschen blöd. Aber dass es keine drei Wegstunden vom Old Faithful entfernt eine zweite große, zivilisierte Siedlung gibt, muss erstmal sacken.

»Entschuldige. Ja, klar habt ihr Uhren.«

»Wir haben sogar einen Computer!«, erklärt Erim hörbar stolz. Jetzt gibt er an, aber ich lasse es ihm durchgehen.

Während wir so reden, gehen wir durch das leere Hochhaus nach unten. Als wir wieder auf der Straße stehen, schauen wir uns ein letztes Mal lange an. Mir wird seltsam warm in der Brust. Er ist echt nett.

Erim tritt von einem Bein auf das andere. Er scheint auch nicht so recht zu wissen, wie wir uns verabschieden sollen. »Also, äh, bis morgen dann, okay?«

»Ja, genau. Bis morgen.« Ich drehe mich halb um und dann wieder zurück. »Und danke.« Vage deute ich in die Höhe zu dem kaputten Balkon. »Dass du mich nicht hast fallen lassen.«

Er schenkt mir ein schiefes Grinsen. »Ich hab nur ganz kurz darüber nachgedacht.«

»Wie bitte?« Gespielt erbost funkele ich ihn an, und Erim lacht.

»Nee, nur Spaß.« Dann wird er wieder ernst. »War auf jeden Fall die richtige Entscheidung. Also … mach’s gut, Jayce.«

»Bis morgen, Erim.«

So gehen wir auseinander, Hochnase und Betongeist. Ich nehme an, diese »Spitznamen« bleiben uns noch eine Weile erhalten, aber sie sind nicht mehr mit Angst oder Abneigung verbunden, sondern bloß noch Spaß. Und dann, irgendwann, werden wir sie vermutlich einfach vergessen. Ich lächle bei dem Gedanken, was es alles in der großen Ruinenstadt zu entdecken gibt, fühle mich voller Eifer und Tatendrang. Oh, Mann, das wird gut!

Ende

— Baumwarzen —

DIANDRA LINNEMANN

Draußen geigten die Grillen, die Sonne war endlich untergegangen und Rhasa konnte noch nicht schlafen. Nach zwei Jahren auf der Walz sollte sie nicht mehr so aufgeregt sein, fand sie. Aber all die Eindrücke der ersten Tage, wenn sie sich einer neuen Gemeinschaft anschloss, wirbelten auch heute in ihrem Kopf herum und hielten sie wach. Gut, die neue Hängematte mochte ihren Teil dazu beitragen, oder die Geräusche in den fremden Baumwipfeln. Rhasa wunderte sich schon lange nicht mehr darüber, wie sehr die Art des Laubes den Wind verändern konnte, aber an jedem Ort brauchte sie eine Weile, um sich an die neue Hintergrundmelodie zu gewöhnen. Hier waren die Wände dünner als in ihrer Heimatstadt, sie hörte die Schritte einer vorbeigehenden Person auf dem Steg vor der Tür. Ein exotischer Vogel rief. Die Grillen verstummten kurz, als müssten sie sich erst absprechen, und setzten dann wieder ein.

Noch ein Jahr, ehe Rhasa sich niederlassen konnte. Allmählich wurde es Zeit für eine Entscheidung – würde sie zurück in ihre Heimatstadt gehen und ihre Erfahrungen dort mit den Leuten teilen, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannte? Oder wollte sie lieber weiterreisen, bis sie die perfekte neue Heimat gefunden hatte? An manchen Tagen dachte sie so, an anderen so. Sie hatte in ihrer Zeit als Wandergesellin so viele spannende Dinge gelernt und so viel gesehen! Kaum vorstellbar, dass die Begeisterung für Neues jemals abflauen würde. Und jedes Mal, wenn sie einen neuen Arboren erreichte, flatterte ihr Herz vor Aufregung wie ein Schmetterling.

Es gab jedoch auch die Tage, an denen der Regen wie aus Kübeln auf sie herabprasselte, ihre Vorräte muffig schmeckten und ihr Gehirn ihr einflüsterte, sie werde nie wieder trockene Socken haben. Dann wünschte sie sich einen Ort, an den sie zurückkehren konnte, an dem jemand auf sie wartete – am liebsten mit einer heißen Tasse Tee und einer Umarmung. Und dieser Widerspruch ließ sie zögern. Was, wenn sie nie wieder etwas von der Welt sah und ihre Gemeinschaft dafür hassen lernte? Und was, wenn sie den Rest ihres Lebens auf der Suche nach dem perfekten Zuhause von Landungssteg zu Landungssteg irrte?

In solchen Momenten wünschte sie sich eine Kristallkugel, um in die Zukunft zu gucken. Oder wenigstens einen leistungsfähigen Computer. Wobei, was hatte das den Leuten früher gebracht? Dutzende Berechnungen hatten diese Dinger angeblich darüber ausgespuckt, was passieren würde, wenn sie ihr Verhalten nicht änderten. Hatte irgendwer darauf gehört? Auf jeden Fall nicht genug, denn jetzt waren sie hier. Ein Computer war also auch keine Lösung, und eine Kristallkugel viel zu schwer für ihren Rucksack.

Rhasa drehte sich auf den Rücken, zog die Beine an die Brust und machte ihren Rücken möglichst rund. Dann streckte sie sich wieder aus. Sie zwinkerte mehrere Male so schnell hintereinander, wie ihre Augen es schafften. Das sollte sie müde machen. Das Gedankenkarussell ließ sie vor ihrem inneren Auge langsam auslaufen und stellte sich vor, wie sie die Lichter eines nach dem anderen ausknipste. Noch drei tiefe Atemzüge, und endlich schlief sie ein.

Ihr neuer Einsatzort lag in der Wildnis, sozusagen – dort, wo die Natur nur langsam wieder bewohnbar wurde und Menschen sich noch nicht lange aufs Neue angesiedelt hatten. Rhasa hatte ihre Gesellinnenroute mit Bedacht so gewählt, dass sie erst im Sommer so weit in den Norden wandern würde, wenn es hier am wärmsten war. Damit, dass es dann schon lange vor dem Frühstück hell würde, hatte sie nicht gerechnet. Sobald der erste Sonnenstrahl durch die Fenster fiel, war sie wach. Die unfreiwillig gewonnenen Stunden nutzte sie dafür, auf dem Steg vor ihrer Hütte zu sitzen und zu beobachten, wie die Gemeinschaft langsam zum Leben erwachte. Unter ihr ging es etliche Meter in die Tiefe, sie konnte den Boden zwischen Ästen und Laub nicht erkennen. Irgendwo in der Nähe summte ein Bienenstock. Niemand hatte ihr bis jetzt erklären können, wie die Bienen die katastrophalen Jahre überlebt hatten. Zähe kleine Biester.

Heute Vormittag würde sie die Nachrichten, die man ihr mitgegeben hatte, bei den Ältesten abgeben. Nicht jede Gemeinschaft hatte Gesell:innen – manche schickten ihre jungen Leute auf Pilgerreise oder koordinierten Austauschprogramme mit bestimmten anderen Gemeinschaften – aber alle, die reisten, brachten Neuigkeiten mit. Das gehörte sich einfach so. Danach sollte sie sich bei der Gruppe vorstellen, die die Arborpflege koordinierte. Deswegen hatte sie sich diese Gemeinschaft ausgesucht. Arboren, die in den stärker belasteten Gegenden wuchsen, hatten mit einer Vielzahl von Problemen zu kämpfen. Wie man sie unterstützte, pflegte und gesund hielt, war ein wichtiger Wissenszweig. Schließlich trugen die Arboren das gesamte menschliche Leben auf ihren Zweigen.

Rhasa zapfte noch etwas Wasser aus der Leitung, die von der Baumkrone am Stamm entlang verlief, um ihr Frühstück darin einzuweichen: getrocknete Beeren und fein gemahlene Nüsse. Das ergab einen nahrhaften Brei, dessen sie immer noch nicht überdrüssig geworden war. Sie bemerkte ein Kind von vielleicht fünf Jahren, das sie aus sicherer Entfernung beobachtete, und bot ihm ein paar getrocknete Kirschen an. Die waren selten und überwiegend heißgeliebt. Es dauerte auch nur einen Moment, ehe das Kleine das Angebot mit spitzen Fingern annahm. Dann ergriff es sofort die Flucht. Rhasa sah ihm lächelnd hinterher, während sie ihr Frühstück löffelte. Wie ein Frettchen! Nur das zitternde Laub verriet noch, wo es verschwunden war.

Wenig später hörten die Ältesten interessiert zu, während Rhasa die Nachrichten und Neuigkeiten ihrer Reise aus dem Gedächtnis wiederholte. Auf diese Fähigkeit war sie besonders stolz, und sie hatte sich als sehr nützlich erwiesen. Einiges hatten sie schon von anderen gehört, und die Nachricht über wilde Hunde im Westen stellte sich als veraltet heraus. »Hast du auch etwas über Parasiten gehört?«, fragte ein nussbraun gebrannter Mann mit kurzem weißem Haar.

»Parasiten?« Rhasa überlegte. »Nur über die Würmerplage südlich der Berge, die hatte ich ja schon erwähnt.«

»Nichts über Probleme bei den Pflanzen?«

Sie schüttelte den Kopf.

Die Ältesten tauschten bedeutungsschwere Blicke. »Na ja, du willst ja sowieso in die Baumpflege einsteigen«, sagte der Alte. Dann rief er: »Luca!«

Der Vorhang vor der Versammlungshütte direkt am Stamm bewegte sich, und eine junge Person mit bucheckernfarbener Haut und deutlich hellerem Zopf erschien in der Öffnung. Sie trug praktische, sorgfältig geflickte Kleidung und ein langes Messer am Gürtel.

Der Älteste wandte sich an Rhasa. »Das ist Luca, xier wird dich während deines Aufenthaltes betreuen.«

Luca war freundlich, aber eher wortkarg. Nach einer kurzen Begrüßung nahm xier Rhasa mit in die Baumkrone. Zum Glück war es beinahe windstill, denn dieser Arbor hatte lange, elastische Äste, die unter ihrem Gewicht tanzten. Sie passierten einige Leute, die Regenauffangbehälter installierten. In der Ferne sah sie merkwürdige Spiegel glänzen. Das Klettern hielt sie allerdings so auf Trab, dass sie lieber keine Fragen stellte. Sie wollte nicht, dass der erste Eindruck, den die Leute von ihr bekamen, ein »Was ist denn das da hintaaaaaaah, ich falle!« wäre. Einige Wissenschaftler vermuteten, dass Arboren stabiler wurden, wenn man sie physisch belastete. In ein paar Jahren wäre das hier in dem Fall ein Kinderspiel. Aktuell … glücklicherweise war Rhasa schwindelfrei.

Luca sprach erst, als sie die oberste Ebene erreicht hatten. Xieres Stimme war kupfrig-warm und über dem Wind gut zu verstehen. »Ich habe gehört, du interessierst dich für Arborpflege«, sagte xier. »Ich soll dir unser aktuelles Problem zeigen.« Und xier wies auf einen Ast.

Die Höhe war vergessen. So etwas hatte Rhasa noch nie gesehen. Der Ast wirkte schwächer als seine Wachstumsgenossen, die Blätter hingen schlapp herab. Am auffälligsten waren allerdings große grünliche Flecken, die sich auf der Borke des Astes ausbreiteten. Aus der Mitte eines jeden Flecks erhob sich ein warzenartiger, etwas dunklerer Knubbel mit ledriger Haut. »Was ist das?«

»Wir wissen es nicht«, antwortete Luca. »Keine der umliegenden Gemeinschaften kennt diese Art von Parasit. Von den Reisenden, die es hierher schaffen, hat auch niemand etwas Ähnliches erzählt. Bis jetzt scheinen nur dieser Arbor und einer der benachbarten Arboren befallen zu sein.«

»Und was macht ihr dagegen?«

»Das hier.« Luca zog das Messer, das xier an der Hüfte trug, und trennte den Ast direkt dicht an der Verzweigung ab. »Pass auf, dass er keinen der anderen berührt, das überträgt die Baumwarzen.«

Was für ein passender Name. Vorsichtig nahm Rhasa den Ast entgegen.

»Hier ist eine Machete, schneid ihn in Stücke und steck ihn dort drüben in den Sack.«

Rhasa sah sich um und entdeckte eine große, stabile Plane, die mit Hilfe eines Seilzugsystems in den Baum gehängt worden war. Sie tat, worum Luca sie gebeten hatte, und gab sich größte Mühe, die merkwürdigen Dinger nicht zu berühren. »Ist das die einzige Möglichkeit?«

»Wenn ein Ast nur leicht befallen ist, schälen wir die Baumwarzen ab, manchmal funktioniert das. So ungefähr.« Luca schob die Messerklinge unter eine daumengroße grüne Fläche und hob die Pflanze geschickt von der Borke. Zurück blieb eine helle Stelle. Xier stopfte den abgeschnittenen Parasiten in den Sack zu den anderen. »Glaubst du, du kannst das?«

»Ich kann es lernen«, antwortete Rhasa.

Gemeinsam arbeiteten sie den ganzen Vormittag über in diesem Bereich der Baumkrone. Schnell hatte Rhasa den Dreh raus. Es war schwierig, die Pflanzen komplett zu entfernen, ohne die ganze Borke abzuschälen. Zum Glück war sie immer schon geschickt mit dem Messer gewesen. Ihre Großmutter hatte ihr das Schnitzen beigebracht, als sie kaum klettern konnte. Nach jeder Operation wischte sie sich die Hände an einem Lumpen ab, der mit einer stechend riechenden Flüssigkeit getränkt war.

»So verhindern wir, dass wir die Parasiten auf neue Stellen übertragen.«

»Kann man die Äste nicht mit dieser Flüssigkeit einreiben?«

»Leider nicht – in hoher Konzentration greift sie auch die Borke an, und der Ast geht trotzdem ein.« Luca reckte sich und sah nach der Plane. »Ich denke, die ist voll. Wenn wir sie weiter ausstopfen, kriegen wir sie nicht mehr durch die verschiedenen Ebenen. Kurze Pause, dann zeig ich dir, was wir mit den Abschnitten machen.«