Platons Ideenlehre - Paul Natorp - E-Book

Platons Ideenlehre E-Book

Paul Natorp

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Beschreibung

Die Ideenlehre ist ein Kernstück der Philosophie des antiken griechischen Philosophen Platon. Die platonische Idee bezeichnet im Unterschied zum modernen Begriff nicht etwa einen Einfall oder Gedanken. Die Idee/Form (gr. idea, eidos) ist ein wesenhaft eingestaltiges immer Seiendes, das in den vielen Einzelnen zur Darstellung kommt.

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Platons Ideenlehre

Paul Natorp

Inhalt:

Paul Natorp – Biografie und Bibliografie

Platons Ideenlehre

Vorwort zur ersten Ausgabe

Zur zweiten Auflage

Erstes Kapitel. Apologie und Krito. Protagoras. Laches. Charmides.

Einleitung.

1. Apologie und Krito.

2. Protagoras.

3. Laches.

4. Charmides.

Zweites Kapitel. Meno und Gorgias.

1. Meno.

2. Gorgias.

Drittes Kapitel. Phaedrus.8

Viertes Kapitel. Theaetet. Euthydem. Kratylus.

1. Theaetet.

2. Euthydem.

3. Kratylus.

Fünftes Kapitel. Phaedo und Gastmahl

1. Phaedo.

2. Das Gastmahl.

Sechstes Kapitel. Der Staat.

1. Dialektische Begründung der Lehre von den drei Seelenteilen (pag. 436-441)).

2. Direkte Einführung der Ideenlehre (pag. 475-486).

3. Die Idee des Guten (pag. 502-518).

4. Der Erkenntnisweg zum Unbedingten (pag. 521-534).

5. Die Ideenlehre in Buch X.

Siebentes Kapitel. Parmenides.

Einleitung.

Erster Teil. Schwierigkeiten, die Ideenlehre betreffend.

Zweiter Teil. Platos Erfahrungstheorie.

Achtes Kapitel. Der Sophist.

Einleitung.

1. Aporieen inbetreff des Nichtseins.

2. Aporieen inbetreff des Seins.

3. Fundament der Auflösung: Allgemeine Theorie der Prädikation.

4. Möglichkeit des Irrtums und Scheins.

Neuntes Kapitel. Philebus und Der Staatsmann.

1. Philebus.

2. Der Staatsmann.

Zehntes Kapitel. Timaeus und die Gesetze.

1. Timaeus.

2. Die Gesetze.

Elftes Kapitel. Aristoteles und Plato.

1. Logik und Psychologie.

2. Metaphysik.

Zwölftes Kapitel. Die aristotelische Kritik der Ideenlehre.

I. Die Ideenlehre in ihrer ursprünglichen Gestalt.

II. Die spätere Umgestaltung der Ideenlehre.

Das Groß-und-Kleine, die Idealzahlen und das Eine.

Metakritischer Anhang (1920)

Logos – Psyche – Eros

Anmerkungen

Platons Ideenlehre, P. Natorp

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849632540

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Paul Natorp – Biografie und Bibliografie

Philosoph, geb. 24. Jan. 1854 in Düsseldorf, verstorben am 17. August 1924 in Marburg. Studierte in Berlin, Bonn, Straßburg, habilitierte sich 1881 in Marburg, wurde daselbst 1885 außerordentlicher und 1892 ordentlicher Professor der Philosophie. Seiner Richtung nach gehört er zu den sogen. Neukantianern. Er hat sich auch durch seine scharfsinnigen Forschungen auf dem Gebiete der Geschichte und der Philosophie bekannt gemacht. Unter anderem veröffentlichte er: »Descartes' Erkenntnistheorie« (Marb. 1882); »Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum« (Berl. 1884); »Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode« (Freiburg 1888); »Die Ethika des Demokritos, Text und Untersuchungen« (Marb. 1893); »Religion innerhalb der Grenzen der Humanität« (das. 1894); »Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik« (Berl. 1895); »Sozialpädagogik« (Stuttg. 1898, 2. Aufl. 1904); »Herbart, Pestalozzi und die heutige Aufgabe der Erziehungslehre« (das. 1899); »Platos Ideenlehre« (Leipz. 1903). Vgl. Görland, Paul N. als Pädagoge (Leipz. 1904).

Platons Ideenlehre

Vorwort zur ersten Ausgabe

Dies Buch möchte allen denen in die Hände kommen, welchen es Bedürfnis ist, sich einen vollen Begriff davon zu verschaffen, was der Name PLATO der Menschheit bis dahin bedeutet hat und ferner bedeuten muß.

Nicht als ob alles, was PLATO denkwürdiges geäußert hat, in diesem Buche niedergelegt wäre. Aber es will den Leser in das Zentrum der platonischen Gedankenwelt versetzen, damit er fortan auch, was von ihren mehr peripherischen Gebieten ihm bekannt wird, auf dies Zentrum beziehen und so erst ganz im eignen Sinne PLATOS verstehen lerne.

Dies Zentrum ist und wird immer bleiben: die Lehre von den Ideen. Zwar sind nicht wenige heute der Meinung, daß das nicht der ewigste, vielleicht sogar der vergänglichste Teil der geistigen Hinterlassenschaft PLATOS sei. Sieht man auch von denen ganz ab, welchen die schriftstellerische Form alles, der Stoff nur dienend ist, so mögen doch auch, was diesen betrifft, manchem die ethischen und sozialpädagogischen Aufstellungen PLATOS für unsre Zeit wichtiger und anteilewürdiger erscheinen als das, was den Gegenstand dieser Darstellung fast ausschließlich bildet: die Dialektik. Am meisten aber möchte diese Begrenzung unsrer Aufgabe gegen die der Verteidigung bedürfen, welche überhaupt nicht dies oder jenes, sondern alles in allem, welche die volle Persönlichkeit PLATOS wie in einem eindrucksvollen Monument vor sich hingestellt sehen möchten; statt daß dies Buch nur Sache und immer wieder Sache bringt.

Aber nur aus der Sache und nur aus dem Zentrum der Sache ist das Verständnis einer Persönlichkeit wie die PLATOS zu gewinnen. Die Form aber – das sollte man aus PLATO selbst gelernt haben – ist nur zu begreifen und hat zuletzt nur Wert als Form ihres Inhalts. Will man, daß das Altertum uns lebe, so ist der Sachgehalt der alten Kultur unbedingt in den Mittelpunkt zu stellen; so auch, was PLATO betrifft, allem voraus die Sache, die sein Name bedeutet, zu bewältigen. Auch seine schriftstellerische oder, geradezu gesagt, dichterische Eigenart ist nur von da aus, nimmer ohne das zu verstehen.

Also zum zentralen sachlichen Verständnis der Werke PLATOS möchte dies Buch eine Hilfe bieten. Nur eine Hilfe; der beste Teil der Arbeit verbleibt dem Leser. Als ein Studienwerk will dies Buch angesehen werden. Es setzt voraus, daß man zu jedem Kapitel die darin behandelten Schriften PLATOS liest, und hauptsächlich in eigner Arbeit sie sich zum Verständnis zu bringen sucht. Aber die tiefstliegenden, die eigentlich philosophischen Schwierigkeiten will das Buch besiegen helfen, damit nicht gerade der innerste Gehalt dieser Werke unbewältigt, wohl gar unbeachtet bleibt.

Erst in letzter Stunde – das heißt vor einem Jahr, während die Materie zu dem Buche größtenteils seit fünfzehn Jahren bereit lag – habe ich zu dieser Beschränkung mich entschlossen, aber seitdem mich mehr und mehr in der Überzeugung befestigt, daß sie geboten und heilsam war; nicht bloß im Interesse der Einheit der Darstellung, die bei jedem, wie immer angestellten Versuch einer Verquickung der philologischen mit der philosophischen Aufgabe gefährdet worden wäre; sondern namentlich aus diesem Grunde: mit der philologischen Arbeit, an der ich auch diese fünfzehn Jahre hindurch mich nach meinen Kräften beteiligt habe, würde ich in absehbarer Frist nicht zu einem mich befriedigenden Abschluß gelangt sein; was dagegen das eigentümliche Werk des Philosophen an PLATO sein mußte, das ließ sich zu einem gewissen Abschluß bringen, ich sage nicht, der mich (geschweige andre) durchaus befriedigte, aber vielleicht, der im jetzigen Stadium der Platoforschung gewagt werden, und eben in dem Sinne gewagt werden mußte, wie es hier geschehen ist.

Es ist das Verständnis des Idealismus, welches unsrem Zeitalter, man muß es sagen, so gut wie abhanden gekommen ist, und welches ihm wiederzuerringen, wie ich mit wenigen glaube, eine absolute Notwendigkeit ist. Zwar sollte man denken, es müßte schon längst ihm wiedererrungen sein durch die erstaunliche Arbeit, die man seit einem Menschenalter daran gewandt hat, KANT zu verstehen. Aber es müssen wohl ganz besondere Schwierigkeiten sein, die es verschulden, daß man über ihn zu irgendwelcher Einigung, trotz so heißen Bemühens, ersichtlich nicht gelangt ist. Es mag zuletzt die hoch komplizierte historische Bedingtheit KANTS sein, welche ein reines und ganzes Verständnis seiner philosophischen Leistung zu einer so schweren Sache macht. In PLATO ist der Idealismus urwüchsig, gleichsam autochthon. Aus der schlichten sokratischen Entdeckung des Begriffs wächst er hervor mit einer inneren Notwendigkeit, der kein philosophisch gerichtetes Denken sich leicht entziehen kann. Und auf keiner Stufe verhärtet er sich zur scholastischen Formel, bis zuletzt verbleibt er in lebendigster Beweglichkeit. Darin liegt der unauslöschliche Reiz, darin der unvergängliche didaktische Wert des Platostudiums. Die Einführung in PLATO ist die Erziehung zur Philosophie; erwächst doch bei ihm zuerst ihr ganzer Begriff. Die Philosophie aber, nach diesem ihrem strengsten historischen Begriff, ist keine andre als: der Idealismus. Also ist es nicht Hineintragung eines fremden, unhistorischen Gesichtspunkts in eine doch historisch gemeinte Betrachtung, wenn die entwickelnde Darlegung der Ideenlehre PLATOS sich gestaltet zu einer Einführung in den Idealismus. PLATOS Ideenlehre, das ist die Geburt des Idealismus in der Geschichte der Menschheit; welchen richtigeren Eingang zum Idealismus könnte es also geben als durch das Nacherleben dieser seiner Geburt in der Entwicklung der Philosophie PLATOS?

Die Notwendigkeit einer genetisch von Werk zu Werk fortschreitenden Darstellung ergab sich eben hieraus. Zwar ist die Reihenfolge der platonischen Schriften immer noch viel umstritten, und nicht wenig ist der Abschluß dieses Buches durch die Sorge aufgehalten worden, ob auch die von mir angenommene Folge der Schriften fest genug begründet sei, um einer Darstellung der zentralen Lehre PLATOS zur Grundlage zu dienen. Diese Reihenfolge ergab sich mir, ebenfalls schon vor fünfzehn Jahren, aus der genauen, durchgehenden Vergleichung des gesamten Sachinhalts der platonischen Werke, wobei alle sonstigen Kriterien nur hilfsweise zur nachträglichen Kontrolle verwendet wurden. Manche meiner Annahmen sind seither durch Forschungen andrer bestätigt worden, einige sind bis heute angefochten worden, werden es vielleicht noch lange bleiben. Ich kann nur sagen: ich war in jedem Augenblick bereit, meine Hypothesen abzuändern; aber noch jedesmal, wo eigne oder fremde Forschungsergebnisse die Aufforderung zu einer Änderung zu enthalten schienen, fand sich bei näherer Prüfung die anfängliche Annahme besser begründet, nicht selten in unerwarteter Weise von neuer Seite bestätigt. Den vollständigen Beweis der Richtigkeit der somit hier zugrunde gelegten Reihenfolge der Schriften konnte freilich das Buch selbst nicht liefern, nachdem einmal die Ausscheidung alles bloß Philologischen beschlossen war. Soweit jedoch der Beweis auf der Inhaltsvergleichung allein beruht, ist er größtenteils, direkt oder indirekt, dem Buche zu entnehmen. Es mag aber auch für die chronologische Forschung selbst nicht ohne Wert sein, daß hier einmal die sachlichen Kriterien allein verwendet und von allem anderen, namentlich soweit es irgend dem Streit unterliegt, so gut wie ganz abgesehen worden ist. Im übrigen bieten manches zur Ergänzung die im Eingang des Registers genannten früheren Arbeiten, andres wurde für künftige Erörterung zurückgestellt.

Schließlich aber ist die sachliche Deutung des Inhalts der Schriften von ihrer zeitlichen Datierung nicht derart abhängig, daß, wer über die letztere andre Ansichten hegt, dadurch gehindert würde, sich die erstere anzueignen. Was nun diese Deutung betrifft, so war ich bestrebt, sie so streng als nur möglich aus den platonischen Texten allein herzuleiten; während die herrschende Darstellung der platonischen Grundlehre besonders durch die Auffassung und das Urteil des ARISTOTELES stark und, wie ich glaube, verhängnisvoll beeinflußt ist. Das machte die beiden letzten, der Vergleichung von ARISTOTELES und PLATO gewidmeten Kapitel notwendig. Zwar sind der Grundansicht: daß die Ideen Gesetze, nicht Dinge bedeuten, schon ältere Forscher nahe gekommen; so allen voraus ZELLER in einigen Stellen der »Platonischen Studien« (S. 259, 261). Aber gerade dieser einflußreiche Forscher hat sich später durch die gegenteilige Meinung des ARISTOTELES mehr und mehr gefangen nehmen lassen. Es schien zu unglaublich, daß ein Philosoph dieses Ranges, der zwanzig Jahre zu den Füßen PLATOS gesessen hat, diesen in seiner Kernlehre gänzlich falsch verstanden haben sollte. Erst die Wiedergeburt des kantischen Idealismus hat zugleich für den Idealismus PLATOS volles Verständnis gezeitigt. Ich stehe nicht an, HERMANN COHEN als den zu nennen, der uns, wie für KANT, so für PLATO die Augen geöffnet hat. Befangenheit in den Begriffen einer bestimmten philosophischen Schule wird man mir deshalb nicht vorwerfen können; man wird nicht leicht übersehen, daß in der Deutung des Einzelnen wir mehrfach, nicht bloß in Nebensachen, zu verschiedenen Schlüssen gelangen. Aber den Begriff des Idealismus haben wir gemein, und die Grundansicht, daß der Idealismus, der von den Ideen PLATOS, und nicht etwa BERKELEYS, benannt ist, auch in PLATOS Ideenlehre seine erste, ursprünglichste, fast muß man sagen unmißverständlichste Ausprägung gefunden hat. Ich habe an den Leser hier nur die Bitte: er lese so unbefangen, wie er vermag, PLATO selbst und diese Darstellung; er entschlage sich dabei womöglich jeder Erinnerung an das, was in den Büchern steht, sei es über den Idealismus PLATOS oder KANTS oder vollends seiner schlimmen Nachfolger von heute.

Eben darum mußte ich so viel als möglich PLATO selbst zu Worte kommen lassen. Um aber nicht bloß für Philologen geschrieben zu haben – für andre heißt es ja heute wieder: graeca sunt, non leguntur -, mußte ich mich entschließen, ihn deutsch reden zu lassen. Ich bin mir sehr bewußt, daß schon damit die Subjektivität beginnt; aber entgeht man ihr, wenn man die Texte in der Ursprache hinsetzt, und dann zu deutsch seine Schlüsse daraus zieht? – Der Terminologie ist besondere Aufmerksamkeit zugewandt worden. Zu den möglichst entsprechenden Terminis der heutigen philosophischen Kunstsprache ist, wo es nützlich schien, das griechische Wort in Klammern beigesetzt; in einzelnen Fällen habe ich es nicht gescheut, die Termini der Ursprache, wie Logos, Eidos, Doxa, geradezu in unsre Sprache herüberzunehmen. Genaue Auskunft über alles Terminologische gibt das Register, welches überhaupt dem Philologen wenigstens einen guten Teil dessen bieten will, was der Text, weil er nicht bloß für Philologen bestimmt war, nicht bieten durfte. Ich glaube ohne Überhebung sagen zu dürfen, daß manche Artikel des Registers Abhandlungen ersetzen.

Schließlich noch ein Wort über die Benutzung der Literatur. Sie ist äußerst sparsam zitiert und auch indirekt nicht in weitem Umfang berücksichtigt. Daß ich sie kenne und aus ihr gelernt habe, dafür brauche ich wohl nicht erst meine früheren Arbeiten als Zeugen anzurufen; Kenner werden es ohne das überall herausspüren. Die Absicht jener Sparsamkeit aber wird man ja wohl nicht verkennen; es sollte der Leser möglichst unmittelbar zu PLATO selbst geführt und mit den mancherlei Meinungen über PLATO nicht mehr als dringend notwendig behelligt werden. Ich habe geschwankt, ob ich eine Literaturübersicht vorausschicken oder anhängen solle; ich habe davon abgesehen, weil es an Hilfsmitteln zu ihrer Auffindung nicht fehlt, eine umfassende Übersicht eher verwirrt, eine beschränkte leicht zu subjektiv ausfallen oder wenigstens scheinen konnte.

Zur zweiten Auflage

Im August 1921.

Der Fortgang meiner Platoforschung seit dem ersten Erscheinen dieses Buches hat mich in wesentlichen Stücken zu neuen Auffassungen geführt. Diese in die alte Darstellung hinein zu verweben erschien mir nicht richtig. Es wäre ein Gemisch entstanden, in dem weder das Alte noch das Neue sich rein hätte ausprägen können. So entschloß ich mich an den zwölf Kapiteln des Buches (von einer erweiterten Darstellung des »Sophisten« abgesehen) nichts Wesentliches zu ändern, das Neue in strenger Absonderung in einem »Metakritischen Anhang« und einer nicht großen Zahl von Anmerkungen vorzutragen. Von der Art und Richtung meiner neuen Auffassungen gibt der Eingang des Anhangs Rechenschaft. Eine umfassende Neudarstellung des ganzen PLATO gedenke ich, wenn Zeit und Kraft bleibt, noch zu liefern. Für mich steht schon seit langem die Arbeit an PLATO in genauem Zusammenhang mit der an meiner eigenen Philosophie. Ich vermöchte nicht zu sagen, ob mehr das tiefere Durchdenken der Systemtragen mir zum reineren Verständnis PLATOS geholfen hat, oder umgekehrt. Mein Glaube aber ist, daß dies das Schicksal nicht bloß meiner, sondern der Philosophie ist.

Und nun denn – in medias res!

Erstes Kapitel. Apologie und Krito. Protagoras. Laches. Charmides.

Einleitung.

Das Wort idea, Idee, begegnet als fest geprägter Terminus der philosophischen Kunstsprache PLATOS nicht in dessen frühesten Schriften. In diesen fehlt das Wort entweder ganz, oder es findet sich nur in loserer, mehr dem gemeinen Sprachgebrauch sich anschließender Verwendung. Als Abstraktum vom Verbalstamm id-(vid-), sehen, abgeleitet, bedeutet es, gleich dem ebendaher stammenden eidos, für gewöhnlich die Gestalt, in der eine Sache sich dem Betrachtenden darstellt, das Ansehen, den Anblick, den sie ihm bietet. Von der äußeren, sinnlichen Gestalt überträgt sich der Gebrauch beider Wörter auf die innere, dem geistigen Auge sich darstellende: die Artung, Qualität im weitesten Sinn; wenn von Übertragung überhaupt zu reden ist, und nicht vielmehr, wie der Zusammenhang mit eidenai, wissen, und Ableitungen aus derselben Wurzel in verwandten Sprachen nahe legen, das Wort schon von seinem Ursprung her ebenso gut, ja mehr das innere Bild einer Sache, als ihren äußeren Anblick bedeutet hat. Die Erinnerung an die verbale Herkunft ist aber gerade im platonischen Gebrauch von idea noch kräftig. Sehr oft ist bei diesem Wort, im Unterschied von eidos, nicht bloß passivisch an das Gesehene, den Anblick, den die Sache bietet, sondern mindestens zugleich aktivisch an das Sehen, die Sicht oder Hinsicht, den Anblick als Tätigkeit des Blickenden zu denken. So war dies Wort wie ausersehen, um die Entdeckung des Logischen, d.i. der eigenen Gesetzlichkeit, kraft deren das Denken sich seinen Gegenstand gleichsam hinschauend gestaltet, nicht als gegebenen bloß hinnimmt, in ihrer ganzen Ursprünglichkeit und lebendigen Triebkraft auszudrücken und dem Bewußtsein festzuhalten.

Diese Entdeckung aber, PLATOS unvergeßliche Tat, deren, wenn es sein könnte, erschöpfende Darstellung dies Buch sich zur Aufgabe stellt, war hauptsächlich vorbereitet durch die große Neuerung des SOKRATES: in allem nach dem Begriff zu fragen.

Das mußte wohl als das Nächstliegende sich der erst erwachenden logischen Reflexion aufdrängen: wie viele oft weit verstreute Dinge dieselbe Benennung, z.B. schön, tragen. Diese selbige Benennung muß doch etwas Selbiges, auf alle diese sonst verschiedenen Dinge identisch Zutreffendes besagen; etwas, worin sie unbeschadet ihrer sonstigen Verschiedenheit, von einer bestimmten Seite gleichsam angesehen, in einer bestimmten »Hinsicht« dasselbe sind. Für den identischen Sinn also des gemeinsamen Prädikats, das verschiedenen Dingen als Subjekten in unseren Aussagen beigelegt wird, galt es den allgemeinen Ausdruck zu schaffen. Als solcher bot sich zunächst dar die identische »Gestalt« der Sache, der eine und selbige »Anblick«, den die vielen, verschiedenen Gegenstände einer bestimmten Art, sie anzusehen, bieten: das Eidos. ARISTOTELES hat dafür den barbarischen, in einer entsprechenden deutschen Wendung nicht möglichen Ausdruck geprägt: to ti ên einai, annähernd genau: »das was es war sein«, das will sagen: was es für das jedesmalige Subjekt in allen vorkommenden Fällen Identisches »war« oder bedeutete, wenn ihm das und das als Prädikat beigelegt wurde. Es ist möglich, daß in dem Präteritum »war« sich noch etwas Tieferes birgt, zunächst aber sagt es nichts Tieferes, als daß der Terminus, dessen Definition gegeben werden soll, durch den Gebrauch schon bekannt, und auch seine Bedeutung als tatsächlich identisch vorausgesetzt ist, und daß jetzt diese Identität seiner Bedeutung besonders herausgehoben und zum Bewußtsein gebracht werden soll. PLATO hat dafür die schlichtere, aber wesentlich gleichsinnige Formel: »das was es ist, das Schöne, Gute u.s.f.« (ho estin), oder »es selbst, was es ist« (auto ho estin), das heißt: nicht, welche Gegenstände schön, gut u.s.w. sind, welchen Subjekten das betreffende Prädikat beizulegen ist, sondern was es, das Schönsein, das Gutsein selbst, was allgemein der Sinn dieser Prädikation ist. Das also ist der genaue Gehalt des als Eidos kurz Bezeichneten. Man kann es einfach durch Begriff wiedergeben. Eben dies bildet aber auch den ersten Ausgangspunkt für die »Idee«. Oft genug wechseln beide Ausdrücke, immerhin mit dem spürbaren Unterschied, daß durch das Eidos der Begriff mehr dem Umfang, durch die Idee mehr dem Inhalt nach bezeichnet wird. So wird bei der Einteilung der Begriffe, die zunächst den Umfang anzugehen scheint, fast stets eidos, nur ausnahmsweise, etwa Abwechselung halber, idea gebraucht, während die Einheit des Begriffsinhalts regelmäßig als die »eine Idee« (mia oder mia tis idea), viel seltener als das eine Eidos bezeichnet wird. Auch wird diese Einheit wiederholt beschrieben als in dem zusammenfassenden Blick, in der »Zusammenschau« des Geistes erst entstehend. Die Erzeugung der Gedankeneinheit also ist in diesem Wort noch lebendig, während das Eidos mehr das fertige Erzeugnis, die schon gegebene, feststehende innere Gestalt des Gegenstandes ausdrückt.

Von dieser bescheidenen Frage nach dem Begriff also ist die logische Forschung PLATOS ausgegangen. Und auf sie scheint sie in den mutmaßlich frühesten Schritten beinahe beschränkt. Darin besonders bewahren diese Schriften getreu den Charakter der sokratischen  Unterredungen. Das nämlich war nach diesen schlichtesten Darstellungen sokratischer Gespräche der regelmäßige Gang der Erörterung, in welche der sonderbare Mann jeden, den er gerade vor sich hatte, mit ihm einzutreten zwang: Du rühmst gewisse Gegenstände als schön, lobst gewisse Taten als tapfer, eine gewisse Haltung als besonnen, du preisest den PROTAGORAS und andere als hervorragend Gebildete und Meister der Bildung, du nennst als Objekt der Redekunst: Entscheidung über Recht und Unrecht, und so fort. Nun denn, so lehre mich – du scheinst doch, und dünkest dir und anderen es zu wissen –: was ist »das« Schöne, »das« Tapfre, »das« Besonnene, oder Schönheit, Tapferkeit, Besonnenheit; was ist Bildung, was Recht, Gerechtigkeit und das Gegenteil? Regelmäßig erweist sich dann, daß der Gefragte davon nicht Rechenschaft geben kann, sondern beschämt gestehen muß, daß er nicht wußte, was er damit eigentlich sagte, wenn er diese, im allgemeinen also aufs Praktische bezüglichen Prädikate zuversichtlich austeilte. Man spürt es aber bei diesen platonischen Darstellungen sehr bald, daß zwar auch am Inhalt der verhandelten Fragen, an den Problemen des Sittlichen, des praktisch Gesetzlichen, für den Darsteller ein starkes Interesse hängt, daß aber stets daneben auch, oft geradezu an erster Stelle das Formale: die allgemeinen Erfordernisse einer haltbaren Begriffsbestimmung  und die Gesetze einer logischen Erörterung, einer zulänglichen Beweisführung, den Gegenstand seiner Aufmerksamkeit bilden. Es ist die Entdeckung, es ist geradezu die Geburt des Begriffs des Logischen, die man in diesen Gesprächen belauscht, vielmehr in ihren Schmerzen und Wonnen selber miterlebt. Darin liegt ihre unverwelkliche, zum logischen Bewußtsein erziehende Bedeutung.

Auch dieser Ausdruck wieder, des Logischen, gibt zu sprachlichen Erwägungen Anlaß. Logos, von legein, sagen, reden, bedeutet im gewöhnlichen Leben entweder die (einzelne) Aussage oder die (zusammenhängende) Rede, die Aussage stets in Hinsicht ihres vernünftigen Sinns, die Rede in Hinsicht ihres vernünftigen Zusammenhangs, des Zusammenhangs, in welchem der Sinn einer Aussage aus dem einer anderen hervorgeht oder auf ihn hinleitet, des Denkzusammenhangs also, in dem sie entsteht und fortwirkt, erzeugt wurde und erzeugt. Dazu ist ein erstes Erfordernis eben die genaue Abgrenzung und streng identische Festhaltung des Begriffs, d.i. des Sinnes der Prädikation, denn das ist das in jedem »Satze« neu Gesetzte. Weiter gehört dazu die hierdurch zuerst bedingte, dann aber noch eigenen Bedingungen unterliegende Einstimmigkeit, Wahrung der Einheit, der gedanklichen Verknüpfung aller solcher Setzungen mit einander; Verknüpfung zunächst zweier Denksetzungen, als Voraussetzung und Folge. Die Einheit, Einstimmigkeit des Denkens mit sich selbst, in der allein das Gedachte besteht oder »ist«, stattfindet, wahr ist, die, als wenigstens angestrebt, überhaupt Denken von schweifendem Vorstellen unterscheidet, ist das regierende Prinzip für beides, die Einheit des Begriffs und die Einheit des Denkzusammenhangs.

Dies hauptsächlich ist es, was in steigender Deutlichkeit, in immer bestimmterer Heraushebung zu Tage kommt in den im engern Sinne sokratischen Gesprächen PLATOS, das heißt denen, die nicht bloß die äußere Form der sokratischen Unterredung am treuesten festhalten, sondern überhaupt von der sokratischen Weise des Philosophierens, auch von seinem Stoff, den sittlichen Fragen, sich am wenigsten entfernen. Diese sind daher, obgleich an logischem Gehalt nicht sehr vielumfassend, doch für das Verständnis der Genesis der platonischen Lehre von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Zugleich wird sich zeigen, daß schon in ihnen frühzeitig eine über diese schlichten Grenzen weit hinausführende Wendung der logischen Untersuchung sich ankündigt.

1. Apologie und Krito.

Es darf hier ganz davon abgesehen werden, ob die stark panegyrische, trotz ausgesprochener Verachtung rednerischer Künste rhetorisch genug gehaltene Darstellung, welche die »Verteidigung des SOKRATES« von ihrem Helden liefert, dessen geschichtliche Persönlichkeit in jedem Zug getreu wiedergibt1. Denn es genügt für unsere Absicht, daß dies jedenfalls die Gestalt des SOKRATES ist, wie sie in der Seele ihres begeisterten Schülers, der im Begriff steht, sein Nachfolger zu werden (39 CD), sich gezeichnet hat, und die Gestalt seiner Lehre, in der sie die Voraussetzung seiner eigenen philosophischen Entwicklung bildet.

Nach dieser Darstellung wollte SOKRATES schlechterdings in nichts als Wissender gelten, außer in dem Einen, daß er eben dies, sein Nichtwissen, wisse. Er bekennt vor allem sein gänzliches Nichtwissen gerade über den zentralen Gegenstand seiner Nachforschung, über die sittlichen Begriffe; er glaubt ein Wissen darüber sogar dem Menschen überhaupt unerreichbar. Dagegen behauptet er zu besitzen und fordert unbedingt von jedem das einzige Wissen, ob man weiß oder nicht. Es ist schimpflichste Unwissenheit, sich dünken zu wissen, was man in der Tat nicht weiß (29 A).

SOKRATES sagt demnach nicht: ich weiß nichts von den und den Gegenständen, z.B. was »am Himmel und unter der Erde« ist (19 B, 23 D), aber wohl von dem, was in unserem Bereich; wie XENOPHON sich des Meisters Meinung zurechtgelegt hat; auch nicht: ich weiß allgemein nichts von den Zusammenhängen der äußeren Natur, wohl aber vom Sittlichen, von »menschlicher und bürgerlicher Tugend« (20 B); sondern rundweg erklärt er von dieser wie jener Wissenschaft nichts zu verstehen, also auch niemanden darüber etwas lehren, ihn darin »bessern« d.h. fördern, oder Menschen »erziehen« zu können. Es mag das wohl eine schöne Kunst sein, erklärt er, aber »ich verstehe sie nicht« (20 C); wer das von mir behauptet, daß ich dergleichen beanspruche, »der lügt es und sagt es zu meiner Verleumdung« (20 E, vgl. 33 A). Ausdrücklich weist er das vielverbreitete Mißverständnis zurück, als ob sein Nichtwissen bloß ironisches Vorgeben sei, und er in der Tat selber glaube und auch von Anderen dafür angesehen sein wolle zu wissen, worüber er sich unwissend stelle.

Wie soll man diese seltsame Wissenschaft des Nichtwissens sich deuten? SCHLEIERMACHER hat sie überzeugend aufgeklärt durch die Unterscheidung zwischen Form und Materie des Wissens. Die ganz neue Besinnung auf die Form des Wissens mußte, in zunächst ausschließlich kritischer Anwendung auf die Prüfung des vorliegenden, geltenden Wissens, zu dem rein negativen Ergebnis führen, daß dies geltende Wissen ein wahres nicht sei, weil es die formalen Erfordernisse eines solchen nicht erfüllt. Und über diese bloß kritische Anwendung ist SOKRATES, nach PLATOS Darstellung, nicht hinausgegangen. Daher ging seine Philosophie gänzlich auf in Kritik: im Suchen, Prüfen, Oberführen, im Sichbesinnen und Erwecken zur Selbstbesinnung. Ihre ausschließliche Methode war Unterredung, Frage und Antwort, regelmäßig mit negativem Ausgang. Vom Nahen, Alltäglichen, vermeintlich Gewußten hebt die Untersuchung an, aber nur um von da zurück zu fragen nach dem allgemeinen, gesetzmäßigen Grund, nach den logischen Voraussetzungen der auf Grund der Erfahrung zuversichtlich, aber ohne logische Besinnung abgegebenen Urteile. Es erweist sich stets, daß man von diesen nicht befriedigende Rechenschaft zu geben vermag, sondern sich über sie alsbald in Widerspruch mit sich selbst verstrickt findet. Das sokratische Nichtwissen besagt also Nichtverstehen des empirisch zwar Bewußten, das aber, nach dem nun erreichten strengeren Begriff des Wissens, nicht gewußt heißen darf.

Immerhin erfährt das sokratische Nichtwissen mehr als eine Einschränkung. Erstens wird ein positives Wissen im empirisch-technischen Bereich von SOKRATES so wenig geleugnet, daß seine Anerkennung vielmehr die Voraussetzung seiner ganzen Reflexion ist. Er hatte beobachtet, daß die technische Richtigkeit in allem und jedem, wovon es nur eine Technik gibt – und er verstand diesen Begriff so weit, daß er die theoretische Kunde eines jeden bestimmt begrenzten Tuns umfaßt – auf Einem allein beruht, nämlich dem Verstehen. Das Gesetz der Technik, daß das Können sich im Wissen gründet (uns besagt ja das Verstehen beides in Einem), übertrug er, als Forderung, auf das gesamte menschliche Tun, insbesondere auf die allgemein und eigentümlich »menschliche« d.i. sittliche »Tugend«. Dabei aber stieß er auf einen sonderbaren Kontrast. Im ganzen Gebiete der Technik ist das Verstehen (d.h. Wissen und also Können) erreichbar, übt daher der Verstand eine unbestrittene Herrschaft; im Sittlichen, wozu auch das Politische gehört, im Gebiete nicht des Machens oder bloß äußeren Tuns, sondern des Handelns, sollte es erst recht so sein, denn es betrifft am allernächsten »uns selbst«, unser praktisches Bewußtsein, und nicht bloß »das Unsrige« d.h. was uns äußerlich bleibt, für ans bloß den Wert des Mittels zu anderweitigem Zweck hat; es sollte also vor allem der Herrschaft des Bewußtseins unterstehen. Aber es ist offenbar da nicht herrschend, denn die Prüfung ergibt, daß keiner, wie hohen Ruf überlegenen Verstehens er auch genieße, ernstlich befragt, von den Gründen seines Urteilens und Handelns auf diesem Felde befriedigende Rechenschaft zu geben vermag. Jede Kunsttätigkeit, jedes gemeinste Handwerk oder Geschäft hat seine bestimmt definierbare Tüchtigkeit, Tugend oder Güte (aretê, durchaus als Abstraktum zu agathon, gut d.h. tüchtig zu verstehen); so auch der Mensch seinem leiblichen Wesen nach: Gesundheit; für jedes dieser Gebiete gibt es den »Sachverständigen«, an den ein jeder, der selber der Sache nicht kundig ist, sich wenden kann; jedes von diesen Dingen ist demgemäß auch lehr- und lernbar; in keinem hält sich leicht einer für sachkundig oder wird von andern dafür gehalten, der es nicht ist, denn die sichere Probe ist das Werk, das man als Leistung seiner Kunst aufweisen kann, oder der Lehrerfolg, der wiederum in den Leistungen der Schüler sich zweifellos bekundet. Nur gerade in dem Wichtigsten von allem, der eigentlich menschlichen, nämlich sittlichen »Tugend«, vermag keiner sich unanfechtbar als sachverständig zu beweisen. Was ist der Grund dieses seltsam verschiedenen Verhaltens? Ersichtlich kein andrer als dieser: Im Technischen handelt es sich nur um die Tauglichkeit des Mittels zum schon vorausgesetzten Zweck, im Sittlichen um die Begründung der Zwecksetzung selbst, um das Prinzip des Handelns. Nach dem Prinzip zurückzufragen, das war die große, neue Sache, die SOKRATES anbahnte. Ohne das Prinzip steht aber auch die technische Kunde wie in der Luft. Dies Wissen ist, um es vorgreifend in dem Terminus der entwickelten Wissenschaftslehre PLATOS auszudrücken, nur ein hypothetisches, ein Wissen aus Voraussetzungen, von denen selber nicht ferner Rechenschaft gegeben oder innerhalb der fraglichen Erwägung überhaupt verlangt wird. Solch bedingtes Wissen ist ohne Zweifel auf dem Grunde der Erfahrung möglich und wird erreicht. Aber es bildet nicht den eigentlichen Fragepunkt für SOKRATES, der vielmehr auf eine radikale Begründung des menschlichen Wollens und Handelns ausging. Zu solcher konnte ihm das bloß technische Verstehen, so sehr er es in seinem Bereich hochhielt, nicht taugen. Daher dient ihm die »Induktion«, die vom empirisch Bekannten und Unstreitigen ausgeht, niemals zur Lösung der aufgeworfenen Frage, sondern stets nur als Mittel zu einer fortschreitenden Vertiefung der Fragestellung selbst, die dann sehr bald den Punkt erreicht, wo keine Induktion mehr Antwort zu geben vermag. Es ist der seltsamste Mißverstand, daß SOKRATES auf dem Wege der Induktion die Definition finden gelehrt habe. Wenn das Zeugnis PLATOS irgend gelten soll, lehrte er sie suchen und nicht finden. Das war seine Wissenschaft des Nichtwissens.

Dabei wird nun aber niemals etwa das zweifelhaft, daß die Tüchtigkeit des menschlichen Handelns, ebenso wie die einer jeden Technik, auf Begriff beruhen, daß sie vom Wissen, vom Verstehen schlechthin abhängen müsse; daß auf dem Gebiete des Handelns (der Zweckwahl) nicht anders als auf dem des Machens, Vollführens (der Mittelwahl) das Gesetz regieren muß. Besinnung, Bewußtsein muß hier wie dort im Menschen die Herrschaft führen. Sein Tun ist gut, sofern es dem Gesetz, der ratio (dem Logos, Krito 46 B, 48 C etc., gleichbedeutend: »die Wahrheit selbst«, 48A) gemäß ist, anders nicht. Zwar weiß SOKRATES dies geforderte Gesetz auf keine Weise näher zu bestimmen, insofern ist sein Bekenntnis des Nichtwissens ganz streng zu nehmen. Er gelangt über das lediglich Formale, daß Tugend im Begriff, im Gesetz bestehen müsse, nicht hinaus, nicht als ob er dadurch schon befriedigt wäre, sondern weil er hier in der Tat nicht weiter zu kommen weiß. Aber auch so liegt darin eine doppelte Positivität. Erstens das Formale des Erkennens gelangte auf diesem Wege zuerst zu reiner Ablösung. Daher hat die Entwicklung des logischen Bewußtseins, d.h. des Wissenschaftsbewußtseins, seiner Form nach, von SOKRATES den für immer entscheidenden Anstoß erhalten. Man muß die Trias SOKRATES-PLATO-ARISTOTELES würdigen als die Geburt des Geistes und der Form abendländischer Wissenschaft. Aber zweitens, auch bloß als Ethik angesehen, ist die Philosophie des SOKRATES wahrlich nicht ohne positiven Gehalt und Wirkungskraft geblieben. Zwar, was zuletzt das Gute sei, weiß SOKRATES uns nicht zu sagen; aber, daß es unbedingt des Menschen Heil ist, daß gegen die bedingungslose Forderung der Gesetzlichkeit keine Klugheitserwägung aufkommen darf, daß diesem Einen alles andre, das »Leben« mit allem, was es bieten mag, auch die Hoffnung eines andern Lebens, willig zu opfern ist, das tritt in der Apologie und dem zugehörigen kleinen Dialog Krito erhaben genug, und wahrlich nicht bloß rednerisch wirksam, heraus. Dieser Gegensatz ist dem SOKRATES bestimmt bewußt als der des Seelischen und Leiblichen, des Selbst und dessen, was nur des Selbst (ta heautou) ist. Wir erkennen darin den Hinweis auf das praktische Selbstbewußtsein als den Quell des Wissens, in dem das Sittliche beruhe. Aufs Bewußtsein kommt alles an: auf Besinnung (phronêsis), Wahrheit (alêtheia) und, damit gleichbedeutend (Ap. 29E), auf die Seele, daß sie so gut als möglich sei. »Seele« wird hier fast identisch mit Begriff und Wahrheit, weil mit Bewußtsein. Die Einheit des praktischen Bewußtseins zu wahren, daran hängt alles für den Menschen (Ap. a. a. O.; Krito 47 E; Prot. 313 A; Men. 88 C), darum hat man zu allererst und zu allermeist zu sorgen. Das heißt um »sich« sorgen mehr als um »das Seine«. In diesem Punkte ist SOKRATES so positiv wie nur denkbar. Aber diese Positivität ist allerdings nur die einer Forderung, und darum bleibt SOKRATES dabei, daß sie ein Wissen, eine abgeschlossene Erkenntnis nicht sei.

Deutlich schimmert durch die platonische Darstellung der überempirische Charakter des Sittlichen durch. Und darin liegt endlich der Zusammenhang der sokratischen Ethik mit einer höchst gereinigten, ausschließlich auf sittlichen Grund gestellten Religion. »Ich glaube an Götter wie keiner meiner Ankläger«, darf SOKRATES erklären. Nämlich er glaubt an die Gottheit als den Ausdruck für die Realität des Sittlichen, für die warm und stark von ihm ausgesprochene Überzeugung, daß dem Guten niemand und nichts schaden kann weder in diesem Leben noch in einem andern, wenn es eines gibt: Gott wird den Gerechten nicht verlassen. Eine positivere, eine praktisch wirksamere Ethik als diese gibt es nicht. Der Zusammenhang aber des sittlichen Endziels mit diesem menschlichen Leben und seinen irdischen Aufgaben braucht dabei nicht verloren zu gehen. Stand einmal das Ziel, nämlich das Grundgesetz der Gesetzlichkeit selbst, unerschütterlich fest, so mußte sich im beständigen Hinblick auf dies ewige Ziel auch das irdische Tun des Menschen berichtigen. Ein vielseitig ausgebildetes System technischer Kenntnisse stand zu Gebote, jede wohlgegründet auf ihr eigentümliches Gesetz, dadurch zugleich in ihre bestimmten Schranken eingeschlossen; somit alle wenigstens formal geeint durch den gleichen, allbeherrschenden Gesichtspunkt des Begriffs, des Gesetzes selbst. Es bedurfte nur der bestimmteren Herausarbeitung jener letzten, Richtung gebenden Einsicht: der ausdrücklichen Erhöhung jenes selbigen Gesichtspunktes des Gesetzlichen von der Stufe der bloßen Mittelwahl zu der der Zweckwahl, um nach dieser obersten Norm das ganze menschliche Tun und Treiben zu organisieren. Ganz diesen Weg nimmt die Ethik bei PLATO, und so wird deren völlig positive Wendung verständlich als gerade Fortsetzung und innere Fortwirkung der Sokratik, als die sie jedenfalls PLATO selbst bis zu seinen spätesten aufs ethische Gebiet bezüglichen Untersuchungen bewußt geblieben ist.

Es ist wohl möglich, daß auf diese scharf umrissene Zeichnung des Gesamtbildes des SOKRATES bereits eigentümlich platonische Motive in gewissem Maße eingeflossen sind; naturgemäß wird PLATO in SOKRATES die Züge bevorzugt haben, die ihm die zugänglichsten waren, in ihm am kräftigsten weiterarbeiteten. Aber jedenfalls mit Grund ist PLATO sich bewußt, daß er diese ganze Art, die Probleme zu sehen, insbesondere diese engste Zusammenfassung der sittlichen mit der logischen Frage, dem Meister verdankte. Aus ihr aber versteht sich nunmehr seine eigene Entwicklung in den zunächst folgenden, vorzugsweise bei den ethischen Fragen und bei der bestimmten, sokratischen Behandlungsart dieser Fragen stehen bleibenden Schriften vom Protagoras bis zum Gorgias. In der immer tiefer dringenden Untersuchung des Begriffs derjenigen Erkenntnis, in der, nach SOKRATES, die Tugend bestehen sollte, werden wir den eigentümlich platonischen Erkenntnisbegriff sich Schritt um Schritt entfalten sehen.

2. Protagoras.

Dieser erste größere Dialog PLATOS baut sich fast ganz aus den Gedankenmotiven auf, die wir in der Apologie als die Grundmotive der Sokratik kennen gelernt haben. PLATOS Interesse ist in dieser Zeit ganz besonders gerichtet auf den Begriff der wesentlich sittlich verstandenen Lehre oder Erziehung.

Der Grund liegt nicht fern. Als berufener Nachfolger des SOKRATES trat er auf; es galt, sich und anderen Rechenschaft zu geben von der Absicht seines Wirkens. Diese Absicht war unzweifelhaft eine erzieherische; so konnte er gerade im Beginn seiner Wirksamkeit der Frage nicht aus dem Wege gehen: wie steht es denn angesichts der sokratischen Warnungen mit diesem ganzen Anspruch der Menschenbildung, der Erziehung? Genau mit diesem Anspruch waren eine Generation früher zu Athen und allerwärts in der griechischen Welt die »Sophisten« aufgetreten. Ihr aufklärerisches Treiben hatte schweren Anstoß, ja Haß und Verfolgung erregt; ihnen wurde das Unglück Griechenlands und besonders Athens aufs Schuldkonto geschrieben. Und man hatte SOKRATES ihnen gleichgerechnet, man hatte ihn, als Erzsophisten, büßen lassen, was in den Augen der guten Patrioten diese ganze Sippe verschuldete. Darum hatte PLATO schon in der Apologie den stärksten Anlaß, der Verwechselung des SOKRATES mit den Sophisten entgegenzutreten (19 ff). Jetzt aber galt es sein eigenes Wirken, welches ja das des SOKRATES unmittelbar fortsetzen wollte, nach derselben Seite zu sichern. Und bei der fortdauernd erbitterten Stimmung gegen die Bildungsmeister und Bildungskrämer – diesen verächtlichen Nebensinn hat das Wort »Sophist«, das an sich nur die Berufsklasse bedeutet, gerade aus dieser Zeitstimmung erhalten, so z.B. Prot. 313 CD – mußte dies sein erstes Anliegen sein, wollte er sich überhaupt ein Wirken in Athen, wenn auch nicht unmittelbar nach dem Tode des SOKRATES, (wie es in der Apologie noch seine Absicht ist, 39 C,) doch, wie wir annehmen dürfen, nur kurze Zeit nachher, ermöglichen.

Aber vor allem unter rein sachlichem Gesichtspunkt mußte ein Nachfolger des SOKRATES in der Lehrbarkeit der Tugend ein schweres Problem erkennen. SOKRATES hatte behauptet, Tugend sei Erkenntnis; also sollte sie freilich auch lehrbar sein. Allein derselbe SOKRATES hatte, nach dem unzweideutigen Zeugnis PLATOS in der Apologie, ihre Lehrbarkeit bestimmt verneint. Nicht nur die Sophisten und SOKRATES selbst sind nicht im Besitze der Wissenschaft der Menschenerziehung, sondern sie geht, nach seiner schroffen und deutlichen Erklärung, überhaupt über Menschenwitz hinaus (Apol. 19D, 20D). In voller Übereinstimmung damit erklärt SOKRATES im Protagoras (319 in.): bis dahin, d.h. vor der Belehrung, die er soeben durch – PROTAGORAS erhalten, habe er nicht geglaubt, daß Tugend lehrbar sei oder Menschen durch Menschen beigebracht werden könne; oder (328 E) es sei nicht menschliches Bemühen, wodurch die Tüchtigen tüchtig werden. Dagegen verficht das Haupt der Sophisten, PROTAGORAS, im Einvernehmen mit seinen Genossen und unter dem tosenden Beifall der Zuhörer, die These der Lehrbarkeit, und zwar aus keiner anderen Anschauung als die in der Apologie, ganz naiv, der Ankläger des SOKRATES, MELETUS, vertritt (Apol. 24 D – 26 A): Alle helfen zur Tugendlehre mit, die Gesetze, die Richter, das ganze Volk; nur darum will sich nicht ein Einzelner als Sachverständiger dafür angeben lassen, weil alle es sind (dagegen der eine Sachverständige: Krito 47 BD, 48 A, Prot. 314 A u. ö.). Und wiederum im Meno führt PLATO, sichtlich in Verteidigung des im Protagoras von ihm Behaupteten, aus: SOKRATES habe (nämlich im Protagoras) keineswegs PERIKLES und den übrigen Staatslenkern einen Schimpf anheften, sondern nur an ihrem Beispiel beweisen wollen, daß Tugend überhaupt nicht lehrbar, daß sie nicht etwas sei, das ein Mensch dem andern mitteilen, oder einer vom andern empfangen könne (Men. 93 B, ganz wie Prot. 319 B). Der Bestreitende aber ist diesmal der andere Ankläger des SOKRATES, ANYTUS. Auch er ist der Meinung: überhaupt jeder anständige Athener macht einen besser; was braucht man nach dem Einen zu fragen, der es versteht, da alle es verstehen! Angesichts dieser klaren Übereinstimmung dessen, was SOKRATES, und andrerseits, was seine Gegner in den drei zusammengehörigen, sich genau auf einander beziehenden Schriften Apologie, Protagoras und Meno behaupten, ist es eine bare Unmöglichkeit, die These des SOKRATES im Protagoras: Tugend sei nicht lehrbar, für seine gewohnte »Ironie« zu erklären, und anzunehmen, SOKRATES wolle in der Tat nur sagen: die Sophisten sind keine Tugendlehrer, die athenischen Staatsmänner, die braven Patrioten sind es nicht, aber überhaupt ist Tugend lehrbar, und es gibt wenigstens einen Lehrer in ihr: SOKRATES.

Nicht minder fest aber bleibt der andere Hauptsatz der Sokratik: Tugend ist Erkenntnis. Dieser nämlich bildet den Kern der andern These, die SOKRATES gegen PROTAGORAS durchficht: von der Einheit der Tugend. Erkenntnis erweist sich zuletzt als der Einheitspunkt, in dem alle sogenannten Tugenden schließlich zusammenlaufen. Es gibt zuletzt keine Tugend als Erkenntnis. Es ist aber sehr zu beachten, wie die beiden Themata: die Lehrbarkeit und die Einheit der Tugend, durch den ganzen Dialog hindurch zu einander in Beziehung gesetzt werden. Sie treten erst scheinbar zusammenhanglos auf. Die Frage der Lehrbarkeit, auf die schon in der breit angelegten Einleitung sich alles zuspitzte, wird dann plötzlich ganz bei Seite gestellt, als sei sie durch den für alle Anwesenden und – bis auf ein kleines – selbst für SOKRATES überzeugenden Vortrag des Sophisten erledigt; und die Erörterung wendet sich nun ausschließlich der andern Frage, nach der Einheit der Tugenden, zu, die, wie gesagt, auf die Identität der Tugend mit der Erkenntnis zielt. Erst ganz zum Schluß tritt die erste Frage und tritt nun auch der bisher bloß zu erratende logische Zusammenhang beider offen hervor, indem als das lächerliche Ergebnis der ganzen Verhandlung festgestellt wird: SOKRATES wollte behaupten, Tugend sei nicht lehrbar, und doch suchte er auf alle Weise gegen PROTAGORAS durchzusetzen, daß sie Erkenntnis sei, in welchem Falle sie doch notwendig lehrbar sei; PROTAGORAS, der ihre Lehrbarkeit voraussetzte, schien im Gegenteil alles aufzubieten, sie als alles eher denn Erkentnis erscheinen zu lassen, in welchem Falle sie doch sicher nicht lehrbar wäre (361 A – C). Und nach der Herausstellung dieses seltsamen Doppelwiderspruchs, auf Seiten des SOKRATES wie seines Gegners, läßt PLATO seine Leser stehen und überläßt ihnen, des Rätsels Lösung zu finden.

Die Interpreten meinen sie gefunden zu haben. SOKRATES erkläre doch hier ganz deutlich, wenn Tugend Erkenntnis sei. so sei sie notwendig lehrbar; er habe ja aber siegreich verfochten, daß sie Erkenntnis sei. Also habe er uns nur zum besten gehabt, wenn er zu Anfang gegen ihre Lehrbarkeit noch Zweifel zu hegen vorgab. Allein diese Deutung hat sich uns schon unhaltbar erwiesen angesichts der Apologie, des Meno und auch des Protagoras selbst. Es hilft kein Sträuben, beide Thesen gehören dem SOKRATES: Tugend ist Erkenntnis, und dennoch ist sie nicht lehrbar. Beide stehen ja ebenso in der Apologie. Aber mit einem Unterschied: der Kontrast zwischen beiden Motiven ist auch dort fühlbar vorhanden, aber er ist nicht ausdrücklich hervorgekehrt; der Protagoras legt den Finger darauf und bringt daran – das Problematische der Sokratik selbst zum Bewußtsein. Die Antithese dieser beiden Leitmotive der Sokratik wird daher mit gutem Grunde als das eigentliche Ergebnis der ganzen verwickelten Erörterung zum Schluß herausgestellt. Den Konflikt dadurch wegbringen, daß man die These der Nichtlehrbarkeit als Ironie deutet, heißt dem Dialog das Rückgrat ausbrechen. Dieser Konflikt war gegeben durch den Bestand der sokratischen Philosophie, wie wenigstens PLATO, nach dem hierüber ganz einhelligen Zeugnis der genannten drei Schriften, sie aufgefaßt hat. Aber eben damit wird nun für PLATO die sokratische Philosophie selbst zum Problem. Wie konnte doch SOKRATES es meinen, daß Tugend Erkenntnis und daß sie gleichwohl nicht lehrbar sei? An dem Gegensatz der sophistischen Tugendlehre wurde es ihm klar. Was SOKRATES suchte, war eine Einsicht, ein Verstehen, aus dem Quell des Selbstbewußtseins zu schöpfen; was die Sophisten wollten, vielleicht auch leisteten, war ein äußeres Beibringen nicht von Erkenntnis, sondern von geltenden Meinungen über die Sache. Und dem entsprach, daß Erkenntnis für sie überhaupt nicht das letzte, in sich genügende Ziel, nicht die alles beherrschende Kraft der Seele war, die keiner andern sich beugen, oder zum dienenden Mittel herabgesetzt werden darf, um andre Güter oder Annehmlichkeiten bloß sich verschaffen zu helfen; sondern das »Leben« und seine Annehmlichkeiten und sehr relativen Nützlichkeiten war alles, was sie im Sinne hatten, und Erkenntnis oder was sie dafür ausgaben, sollte nur als Mittel dienen, um solche sich zu verschaffen; während SOKRATES mit äußerster Entschiedenheit die Selbstgenügsamkeit und das Herrscherrecht der Erkenntnis behauptete. Noch tiefer führte die Ergründung des sokratischen Satzes von der Einheit der Tugenden. So wie er durch PLATOS dialektische Behandlung sich erschließt, birgt er in sich die Entgegensetzung des einen, identischen, mithin absoluten Guten, welches SOKRATES vor Augen stand als seelische Tüchtigkeit, als Besinnung, Begriff, Erkenntnis, als die Einheit des praktischen Bewußtseins, gegen die vielgestaltigen, bloß relativen Güter der niederen Lebenskunst, die den Sophisten allein galten und zu denen sie zu verhelfen sich anheischig machten. In solchem Sinne darf man in der Betonung des notwendig einheitlichen Wesens der Tugend die erste, wiewohl entfernte Hindeutung auf die »Idee« des Guten finden.

Aus diesen Voraussetzungen begreift sich ganz die Schwere des Konflikts, den SOKRATES nicht überwand; es begreift sich das Verzagen an der ungeheuren Aufgabe, Erkenntnis in diesem höchsten Sinne sicher zu erreichen und andern mitzuteilen. Daran durfte, wem dieser Sinn der »Erkenntnis« in seiner Tiefe sich erstmals erschloß, wohl verzweifeln. Und doch liegt in denselben Voraussetzungen schon der Keim zur Lösung des Konflikts. Zwar das Wort der Lösung darf der Protagoras noch nicht aussprechen. Aber der Meno hat es gesprochen. Hier wird wiederholt: Wenn Tugend Erkenntnis ist, so muß sie lehrbar sein; es wird der Beweis wiederholt, daß sie Erkenntnis ist; und es wird dann doch, mit denselben Argumenten, unter deutlicher Verteidigung der fast wörtlich angeführten Thesen aus dem Protagoras, der alte Skrupel dagegen gestellt, daß die Tugend tatsächlich doch nicht mitteilbar oder übertragbar zu sein scheint. Sondern – dieser positive Gegensatz wird hier zuerst klar: sie hat ihren Quell im Selbstbewußtsein; was wir Lernen nennen, ist nur »Erinnern« d.h. es ist Selbstbesinnung. Es ist also kein Lernen, wenn man darunter ein Empfangen von außen versteht; was man Lehren nennt, ist bloß Erwecken zur Selbstbesinnung, ein bloßes Hinlenken darauf, den Grund der Einsicht in sich selber, im Schachte des eigenen Bewußtseins zu suchen; wozu das sokratische Verfahren der Unterredung, des Wahrheitsuchens in gemeinsamer Verständigung, im Fragen und Antworten, Rechenschaft geben und abverlangen, der geeignete Weg ist. Nach dieser neuen Deutung der Begriffe Lehren und Lernen ist Tugend lehrbar, wie PLATO fortan stets festgehalten und gegen oftmalige Angriffe nachdrücklich verteidigt hat. Dabei bleibt aber völlig das bestehen, was der Satz der Nichtlehrbarkeit im Protagoras besagte: Tugend und Erkenntnis ist nicht von außen beizubringen, nicht der Seele »einzusetzen«, wie wenn man (heißt es später im Staat) dem blinden Auge die Sehkraft einsetzen wollte. Wirklich war SOKRATES nach jenem echten Begriff der Lehre verfahren; er war also wirklich ein Tugendlehrer, wie ebenfalls später PLATO stets behauptet. Aber dieser neue Begriff vom Lehren und Lernen war ihm noch unentdeckt, wenn er doch so bestimmt und ohne alle Ironie behauptete, nicht nur er sei kein Lehrer der Tugend, sondern überhaupt sei Tugend nicht lehrbar. Im Protagoras fehlt in der Tat jeder deutliche Hinweis auf diesen neuen Begriff des Lehrens und Lernens, und demgemäß wird die negative Entscheidung in der Frage der Lehrbarkeit von Anfang bis zuletzt festgehalten, obgleich als problematisch empfunden.

Hierdurch besonders ist uns die zeitliche Stelle des Protagoras fraglos bestimmt. Er liegt voraus dem Meno und überhaupt allen übrigen Schriften außer der Apologie und allenfalls dem Krito, den man von der Apologie ungern trennt. Denn er ist die einzige Schrift, welche die in der Frage der Lehrbarkeit der Tugend schroff verneinende Haltung der Apologie festhält, wenngleich schon zum Problem macht. Das Thema selbst aber legt die Vermutung nahe, daß die Schrift mit der Eröffnung des platonischen Wirkens in Athen ungefähr zusammentrifft. Daß PLATO die Lehrtätigkeit in seiner Heimatstadt, wenn auch nicht unmittelbar nach dem Tode des SOKRATES, wie es nach Apol. 39 C unbedingt seine Absicht war, doch so bald nachher, als irgend die äußeren Verhältnisse es zuließen, begonnen habe, hat alles für sich. Sind nun Apologie und Krito, als Denkschriften, die auf die Ereignisse des Jahres 399 den unmittelbarsten Bezug haben, jedenfalls diesen Ereignissen so nahe wie möglich zu rücken; ist andrerseits für den Meno, dem der Protagoras jedenfalls vorhergeht, an dem meist angenommenen, ganz wohl haltbaren Termin, 395, festzuhalten; so darf man den Protagoras füglich als die Schrift ansehen, mit der sich PLATO, nach nicht zu langer Abwesenheit 398 oder 397 heimkehrend, in seiner Vaterstadt wieder einführte und sein Wirken daselbst eröffnete.

Jedenfalls passen in dies Stadium die unscheinbaren Ansätze des Protagoras zur eigentlich logischen Forschung. Es ist nicht gerade die Hauptabsicht, aber gewiß einer der wichtigsten Nebenzwecke des Dialogs, in schärfsten Umrissen und lebhaftestem Farbenkontrast gegenüberzuhalten die »strenge« (338 in.), nämlich logische Strenge wenigstens anstrebende Art der sokratischen Unterredung, und die logisch nachgiebige, jeder genauen Rechenschaft vorsichtig ausweichende Redefertigkeit der damaligen Bildungsmeister, der Sophisten. Man sieht jetzt schon, wie dies Formale mit dem sachlichen Kern der Erörterung zusammenhängt; die Nichtigkeit der sophistischen Lehre wird bestätigt durch den praktischen Erweis ihrer gänzlichen Hilflosigkeit gegenüber den ernsteren Forderungen der sokratischen Dialektik, in formaler ebenso wie in sachlicher Hinsicht. Diese aber entfaltet sich hier noch ganz einseitig in ausschließlich negativer Kritik. Auch das weist auf die Absicht, die Sokratik nicht als etwas Endgültiges, nicht als letztes Wort der Philosophie, sondern als selbst problematisch, über sich hinausdrängend zu erweisen. Der nur negativ kritische Charakter des sokratischen Philosophierens soll als unbefriedigend empfunden, das Verlangen, die Untersuchung von neuem aufzunehmen und zu einem befriedigenderen Ergebnis durchzuführen, soll im Leser ebenso geweckt werden, wie SOKRATES in Person es zum Schluß (361 CD) einfach und in aufrichtiger Meinung ausspricht.

Doch sind in formaler Hinsicht wichtige Positionen schon jetzt errungen. Die Bedeutung der Begriffsbestimmung ist sicher erfaßt und klar zum Ausdruck gebracht. Der Sophist hat eine Reihe von Tugenden aufgezählt, und sich in längerer Rede über die Lehrbarkeit der Tagend verbreitet; es hätte erst festgestellt werden müssen, was »es selbst, die Tugend, ist« (360 E). Ist »ein Eines« die Tugend, und unterschiedliche Teile von ihr Gerechtigkeit, Besonnenheit und was sonst genannt wurde, oder sind dies nur ebenso viele verschiedene Namen »desselbigen, welches eines ist« (329 C)? Sind es nur verschiedene Namen »einer Sache«, oder liegt jedem von ihnen eine eigene Wesenheit (ousia, »Sein«, 349 B, das heißt nicht, etwas, das ist, sondern etwas, das es ist, s. o. S. 2 das o estn) zu Grunde, eine Sache (pragma), die jede eine ihr eigene Kraft oder Bedeutung (dynamis) hat, so daß jedes von ihnen nicht »ein solches wie das andere« (jedes qualitativ vom andern verschieden) ist? – Man empfindet in diesem vielfältigen Ausdruck derselben einfachen methodologischen Besinnung die Mühe, die es noch macht, eine genügend scharfe und doch dem beim Leser vorauszusetzenden Verständnis genügend angepaßte Bezeichnung zu finden für das uns so Geläufige, die Einheit, die Identität des Begriffsinhalts.

Ihre Bedeutung aber ist, daß sie Erkenntnis begründet. Auf die Wichtigkeit dieses Begriffs, Erkenntnis, drängt alles hin. Die Frage der Lehrbarkeit führt sich zurück auf die andere, wer in einer jeden Sache der Erkennende (epistêmôn) ist; und Erkenntnis stellt sich heraus als der Einheitsgrund der Tugend. So hängen in diesem Begriff alle wesentlichen Motive des Dialogs, die formalen und die sachlichen, zusammen. Daß für den Menschen alles Heil in der Erkenntnis liegt, wird aufs stärkste ausgesprochen (345 A B): der einzige wahre Schade ist, der Erkenntnis verlustig gehen; die alleinige »Rettung des Lebens« ist Wahrheit der Erkenntnis (356 D. u. ff., vgl. 352 C); Rettung nämlich von der »Gewalt des Scheins«, der uns in die Irre treibt, uns zwingt immer das unterste zu oberst zu kehren und in unsern Handlungen und Entscheidungen uns mit uns selbst in Widerspruch zu setzen; wogegen Erkenntnis den Schein um seine Geltung bringt (akyron epoiêse), das Wahre enthüllt, der Seele Ruhe schafft, indem sie beim Wahren verharrt, und so »das Leben rettet«. Das ist das Ziel auch all des heißen Bemühens um den Begriff: bestandhafte Wahrheit sicher unterscheiden zu lernen vom ungewissen, durch Selbstwiderspruch sich immer wieder selbst vernichtenden Schein, so die Einheit des Bewußtseins und in ihr das »Leben«, das allein lebenswerte Leben in reiner Bewußtheit, zu wahren. Das ist die große Leidenschaft des »Philosophen«, der sokratische »Eros«.

Auf welche Erkenntnis es aber ankommt, das bleibt hier noch ganz unbestimmt. Nur aus Voraussetzungen des Gegners, die denen des SOKRATES selbst (352 B u. ff.) schnurstracks entgegengesetzt sind, wird die Folgerung hergeleitet, daß es die messende Erkenntnis der größeren und kleineren, näheren und entfernteren – Lust und Unlust sei. Darin mag ein immerhin beachtenswerter Hinweis auf die Bedeutung der Meßkunst in empirischer Erkenntnis gefunden werden; endgültig aber soll unbedingt nicht diese Erkenntnis es sein, mit der die Tugend eins ist, sondern es wird die Frage, welche Erkenntnis sie sei, ausdrücklich als noch offen bezeichnet (357 B), und jene Folgerung fort und fort nur auf die Voraussetzungen des Gegners gestützt, der dadurch genötigt wird, sogar von seinen eigenen Prämissen aus zuzugeben, daß Tugend Erkenntnis ist. Die Erkenntnis, auf die es ankommt, wird wohl sein müssen: die Erkenntnis des Guten, und zwar des Guten der »Seele«. Aber das Gute der Seele sollte ja eben – die Erkenntnis sein; also dreht sich diese Erklärung im Kreise, wie PLATO bald selbst klarstellen wird. Auch hier also treibt die Sokratik über sich selbst hinaus. Was dem SOKRATES vorschwebt, ist nichts Geringeres, als die Transzendenz des Guten. Das Gute ist eine bloße Idee, die durch nichts Empirisches erfüllt wird. Deshalb ist Tugend, so gewiß sie Erkenntnis ist, doch nicht »lehrbar«, d.h. als gegebener Gegenstand mitteilbar. Es ist der Gegensatz von Idee und Erfahrung, der sich schon hier vorbereitet.

3. Laches.

Der Eingang der Schrift versetzt uns völlig wieder in den Gedankenkreis des Protagoras. Zwei Söhne berühmter athenischer Staatsmänner treten auf, beklagen sich über Vernachlässigung ihrer Erziehung seitens ihrer Väter (vgl. Prot. 319 E); sie möchten umsomehr das an ihnen Versäumte an ihren Söhnen gutmachen. SOKRATES, zur Beratung zugezogen, benutzt den Anlaß, seine beständige Frage nach dem Sachkundigen für die Behandlung der Seele, nach der Bedeutung der rechten Erziehung wiederum anzuregen. Er bekennt, wie bisher stets, sich selbst dazu unfähig, die Sophisten aber und wer sonst sich darauf zu verstehen vorgab, werden mit schneidender Ironie abgefertigt. Ganz im Einklang mit dem Schluß des Protagoras wird dann die Frage der Tugendlehre zurückgeführt auf die radikalere, was Tugend ist. Auch das andere Hauptmotiv des vorigen Dialogs, die Einheit der Tugend, taucht wieder auf. Zwar könnte sie vergessen scheinen, wenn die Erörterung, die nach der Einleitung sich auf den Begriff und die Lehrbarkeit der Tugend überhaupt lenken müßte, dann, weil das für jetzt eine zu große Aufgabe sei, auf die Tapferkeit als einen »Teil« der Tugend eingeschränkt wird. Allein das Ergebnis der Untersuchung hebt diese Einschränkung von selbst wieder auf, indem eben diese angenommene Teilung der Tugend sich als unhaltbar erweist. Tapferkeit nämlich soll sein: Erkenntnis, was zu fürchten sei und was nicht (so wurde sie auch im Protagoras definiert), mithin des künftigen Guten und Schlimmen (auch dies schon angedeutet Prot. 358 D). Aber die Erkenntnis des künftigen Guten und Schlimmen kann nicht getrennt werden von der Erkenntnis des Guten und Schlimmen überhaupt; diese aber ist vielmehr identisch mit der ganzen, einen und unteilbaren Tugend, womit die Voraussetzung der Tapferkeit als eines Teiles der Tugend hinfällig wird. Die Einheit der Tugend auf Grund der Erkenntnis und zwar des Guten wird also festgehalten, und nicht bloß festgehalten, sondern tiefer begründet: weil das Gute und seine Erkenntnis Eins und unteilbar ist, nicht etwa je ein Andres für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, so ist es auch die Tugend, die ja einzig in dieser Erkenntnis besteht.

Insoweit baut sich der Laches ganz aus den Motiven des Protagoras auf. Dagegen geht er in einem wichtigen Punkte über diesen, wenngleich in wesentlich ungeänderter Richtung, hinaus; mehr, er berichtigt ihn oder klärt wenigstens auf, was dort dunkel geblieben war, ja ernstlich mißverstanden werden konnte. Auf Grund der Voraussetzung nämlich, die gar nicht sokratisch, sondern dem Gegner als das geheime, nicht offen eingestandene Prinzip seiner ganzen Denkart erst listig abgelockt war: daß das Gute zuletzt nichts andres als die Lust sei, war dort abgeleitet worden, daß selbst so die Tugend (und gerade an der Tapferkeit wurde der Beweis geführt) identisch sein würde mit einer Erkenntnis, nämlich der richtigen empirischen, aber auf die Meßkunst gestützten Berechnung der Lust- und Unlustfolgen der Handlung. Eben dies wird jetzt richtig gestellt: nicht die glückliche Vorausberechnung der zeitlichen, empirischen Folgen unserer Handlungen ist die Erkenntnis, in der die Tugend besteht, sondern die Erkenntnis des einen, für alle Zeiten identischen, vom Zeitunterschied unabhängigen, unwandelbar Guten. Diese zugleich den Begriff der Erkenntnis überhaupt betreffende Klarstellung ist zwar ganz im Sinne dessen, was der Protagoras sogar mitten in jener Erörterung andeutete: daß Erkenntnis aufs unwandelbar Wahre gehe, um in ihm der Seele Ruhe zu verschaffen. Aber die Erörterung wurde dennoch dort nicht zu dem dadurch eigentlich vorgeschriebenen Ziele geführt, und konnte nicht dahin geführt werden, weil sie vielmehr den Gegner aus seinen eigenen Voraussetzungen überführen sollte. Im Laches fällt dieser wenigstens scheinbare Widerspruch weg, indem jene Einsicht das von Anfang an erstrebte und schließlich bestimmt erreichte positive Ziel der Erörterung bildet. Daß aber dadurch der Protagoras nicht bloß tatsächlich, sondern mit bewußter Absicht berichtigt ist, bestätigt, abgesehen von der ausdrücklichen Richtigstellung einer einzelnen die Tapferkeit betreffenden These (Lach. 192 D – 193 D, Prot. 349E – 350C), auch der Umstand, daß dieselbe allgemeine Berichtigung oder Klarstellung sich nochmals und in wiederum vertiefter Ausführung im Charmides findet; ein Beweis zugleich, wie wichtig PLATO dieser Punkt erschienen ist Begreiflich, denn in dieser Einsicht lag wiederum ein Keim der Idee.

Sonst ist der Hauptunterschied gegenüber dem Protagoras dieser: Dort war die Entgegenstellung der Sokratik gegen die in der Sophistik verkörperte Zeitmeinung und der Erweis der Überlegenheit jener über diese das Hauptabsehen; die inneren Schwierigkeiten, welche die Sokratik selbst drücken, wurden zwar am Schluß zugleich herausgestellt, aber nicht eigentlich zum Gegenstand der Erörterung gemacht, geschweige zum Austrag gebracht. Der Laches geht zum erstenmal diesen Schwierigkeiten direkt zu Leibe – man beachte, wie NIKIAS ganz als Sokratiker auftritt, um dann, durch SOKRATES selbst, in einem wesentlichen Punkte berichtigt zu werden – und tut einen ersten Schritt zu ihrer Überwindung. Zwar überwiegt noch das Bewußtsein der Schwierigkeit, so daß das Gespräch mit diesen sokratisch gesinnten, zur Selbstprüfung willigen, aufrichtig wahrheitsliebenden Männern ebenso im Eingeständnis des Nichtwissens, in der »Aporie« endet wie dort der Kampf gegen die halsstarrig Besserwissenden, die Sophisten. Wieder ist es belehrend, sogleich den Charmides daneben zu halten, wo es noch stärker auffällt, wie geradezu der oberste Grundbegriff der Sokratik, der Begriff der Selbsterkenntnis, oder des Wissens, ob und was man weiß und nicht weiß, mit größter Freiheit untersucht, ja scheinbar ganz zerpflückt und zunichte gemacht wird. Es scheint, PLATO war nicht gewillt, sich in die abgelernten Formeln der Sokratik gefangen zu geben; er wollte dem SOKRATES so unsokratisch nicht folgen, wie andre es vielleicht getan haben. Aber gerade in der von nun an rasch vorschreitenden Loslösung von den Formeln der Sokratik hat PLATO ihren tiefsten Gehalt erst entdeckt, und dann unermeßlich weiter vertieft.

Also die kritische Umbildung der Sokratik ist das deutliche Ziel schon im Laches, und es wird noch deutlicher in seinem Zwillingsbruder, dem Charmides. So mußte man es ja erwarten, nachdem im Protagoras einmal der innere Widerstreit offen herausgestellt war zwischen den beiden Grundmotiven der Sokratik: dem Nichtwissen von der Tugend und also Nichtlehrenkönnen einerseits, ihrer Einheit mit der Erkenntnis andrerseits, die vielmehr die Lehrbarkeit fordert. Die Lösung gibt der Meno, welcher durch den die Ideenlehre in ihrer ursprünglichsten Gestalt mythisch verkleidenden Satz vom Wissen als Wiedererinnerung das Problem der Lehrbarkeit, das die ersten Dialoge ganz beherrscht, endgültig beantwortet und damit antiquiert. Die Reihenfolge der Schriften: Apologie (nebst Krito), Protagoras, Laches, Charmides, Meno, dürfte dadurch gesichert sein, womit zugleich für die Zeitbestimmung, unter der Voraussetzung wenigstens, daß an der Datierung des Meno auf 395/4 festzuhalten sei, die sichere Grundlage gegeben ist.

Im übrigen ist es auch im Laches vorzüglich das Methodologische, was unsre Aufmerksamkeit fordert. Auf die Begriffsbestimmung wird fort und fort gedrungen. Es ärgert den braven Soldaten LACHES, daß er, gefragt was Tapferkeit sei, es zwar ganz bestimmt im Sinn zu haben meint, aber es so gar nicht in Worte zu fassen und zu sagen weiß, was es eigentlich sei (194 B), was gleich darauf mit dem technischen Ausdruck »definieren« (eigentlich abgrenzen, 194 C) bezeichnet wird. Es wird instruktiv am Beispiel erläutert, wie es darauf ankommt zu finden, was das Gefragte, etwa die Geschwindigkeit, in allen Fällen dasselbe ist, was als identische Grundbeschaffenheit durch alle Fälle durchgeht (191-192).

Diese bestimmte, systematische Gegenüberstellung der Einheit des Begriffs gegen die Mannigfaltigkeit der Fälle, die eben durch jene Einheit zur Allheit zusammengeschlossen werden, steht ja im engsten Zusammenhang mit dem, was als wesentlichste Errungenschaft zum Schluß herauskommt: der Einheit der, eben im Begriff zu begründenden Erkenntnis auch gegenüber der zeitlichen Mannigfaltigkeit, worin schon als ihr eigentliches Objekt das Unwandelbare, Ewige (aei on