Pestalozzi - Sein Leben und seine Ideen - Paul Natorp - E-Book

Pestalozzi - Sein Leben und seine Ideen E-Book

Paul Natorp

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Beschreibung

Paul Natorp schrieb eine der beeindruckendsten Biografien über den Schweizer Schulreformer und Pädagogen Pestalozzi.

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Pestalozzi – Sein Leben und seine Ideen

Paul Natorp

Inhalt:

Paul Natorp – Biografie und Bibliografie

Pestalozzi – Sein Leben und seine Ideen

Einleitung

Erstes Kapitel.

Zweites Kapitel. Die Prinzipien der Pestalozzischen Pädagogik.

Drittes Kapitel.Pestalozzis Pädagogik in ihrer Durchführung

Pestalozzi, P. Natorp

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849632533

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Paul Natorp – Biografie und Bibliografie

Philosoph, geb. 24. Jan. 1854 in Düsseldorf, verstorben am 17. August 1924 in Marburg. Studierte in Berlin, Bonn, Straßburg, habilitierte sich 1881 in Marburg, wurde daselbst 1885 außerordentlicher und 1892 ordentlicher Professor der Philosophie. Seiner Richtung nach gehört er zu den sogen. Neukantianern. Er hat sich auch durch seine scharfsinnigen Forschungen auf dem Gebiete der Geschichte und der Philosophie bekannt gemacht. Unter anderem veröffentlichte er: »Descartes' Erkenntnistheorie« (Marb. 1882); »Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum« (Berl. 1884); »Einleitung in die Psychologie nach kritischer Methode« (Freiburg 1888); »Die Ethika des Demokritos, Text und Untersuchungen« (Marb. 1893); »Religion innerhalb der Grenzen der Humanität« (das. 1894); »Platos Staat und die Idee der Sozialpädagogik« (Berl. 1895); »Sozialpädagogik« (Stuttg. 1898, 2. Aufl. 1904); »Herbart, Pestalozzi und die heutige Aufgabe der Erziehungslehre« (das. 1899); »Platos Ideenlehre« (Leipz. 1903). Vgl. Görland, Paul N. als Pädagoge (Leipz. 1904).

Pestalozzi – Sein Leben und seine Ideen

Vorwort zur ersten Auflage.

Über Absicht und Anlage der Schrift, besonders darüber, was sie Neues geleistet haben möchte, gibt die Einleitung Rechenschaft. Neu ist, auch meinen eigenen früheren Darstellungen gegenüber, der systematische Aufbau der Ideen Pestalozzis. Doch wäre es künstlich gewesen, hätte ich im einzelnen neue Formulierungen auch da suchen wollen, wo ich glaubte das beste mir zurzeit Mögliche früher gegeben zu haben. Daher finden sich besonders im dritten Kapitel manche auch wörtliche Übereinstimmungen namentlich mit dem Artikel »Pestalozzis Pädagogik« in Reins Enzyklopädischem Handbuch. Aber schon die abweichende Gruppierung bedingte vielfach starke Änderung.

Angeführt sind Pestalozzis Schriften (mit S.) nach Seyffarths Liegnitzer Ausgabe (1899 ff.); doch ist die Sprache Pestalozzis nach Möglichkeit auf Grund der Originaldrucke wiederhergestellt. Wo es nützlich schien, sind auch die Paragraphen der viel verbreiteten Mannschen Ausgabe (Langensalza, Beyer u. Söhne) beigesetzt.

Marburg, im November 1908. Der Verfasser.

Vorwort zur zweiten Auflage.

Für diese so bald schon nötig gewordene Neuauflage brauchte der Text fast nirgends geändert, bloß im Hinblick auf die inzwischen erschienene neue Literatur über Pestalozzi hin und wieder ergänzt zu werden (s. bes. S. 2 u. f.).

Marburg, im November 1911. Der Verfasser

Einleitung

Daß die Wirkung Pestalozzis auf unser Zeitalter nicht etwa erschöpft, sondern erst im Aufsteigen begriffen ist, wird gegenwärtig von vielen empfunden. In der pädagogischen Welt konnte er überhaupt nie in Vergessenheit geraten; und wohl jedem tiefer gebildeten Deutschen ist seine rührende Gestalt irgendeinmal entgegengetreten; besonders hat die Geschichte der Erhebung Preußens und Deutschlands vor hundert Jahren nie umhin gekonnt, sich dessen zu erinnern, was sein Name damals unseren Altvordern bedeutet hat. Aber für die weiteren Kreise der Gebildeten blieb er bis vor kurzem fast eine mythische Figur; man nannte ihn stets mit Ehrfurcht, man gedachte seiner mit dem Gefühl, mit dem man jedes echten Menschen gedenkt; aber man las ihn kaum noch. Den Glauben an seine geniale Größe durch eindringendes Studium in sicheres Wissen zu wandeln, scheinen nur wenige den Trieb verspürt zu haben; sonst wäre es nicht zu verstehen, daß seiner bis heute weder in der Literaturgeschichte noch in der Geschichte der Philosophie, weder in der politischen Geschichte noch in der historischen Soziologie so gedacht wird, wie es seiner Bedeutung entspräche.

Jetzt aber scheint sich hierin allmählich eine Wandlung anzubahnen. Es ist zu seiner Erforschung in den letzten Dezennien so viel geschehen, daß es nachgerade nicht mehr angeht, darüber gänzlich hinwegzusehen. Die Schriften Pestalozzis sind dank dem unermüdlichen Eifer des trefflichen Seyffarth in nahezu erschöpfender Vollständigkeit (wenn auch nicht philologisch musterhaft) herausgegeben; die Bibliographie, besonders die Nachweisung der bis dahin bekannten Briefe, ist durch den nicht minder rühmlichen Sammelfleiß Israels sehr gefördert. Und eine kaum zu bewältigende Fülle auf Pestalozzi bezüglichen zeitgeschichtlichen Materials ist in Hunzikers Pestalozziblättern und Seyffarths Pestalozzistudien zusammengetragen. Dadurch ist zur Ergänzung und vielfach auch Berichtigung der vierbändigen Morfschen Biographie (die selbst fast nur Materialsammlung war) außerordentlich viel beigetragen worden. Durch so vielfältige Vorarbeit war es dem Verfasser dieses Büchleins erleichtert, nun auch zum allgemeineren Verständnis und zur tieferen Würdigung des Mannes, seiner Persönlichkeit, seiner Leistungen und seiner Ideen das seinige beizusteuern. [Fußnote] Von wertvollen Einzelarbeiten seien ferner genannt: Wigets ausgezeichnete Studie im Jahrbuch des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik (Band 23 und 24); Walsemanns Buch über Pestalozzis Rechenmethode (1901); Israels Arbeit über Pestalozzis Institut in Iferten nach Papieren Blochmanns (1900); Seyffarths neu bearbeitete Pestalozzidarstellung von 1904; K. Muthesius' feine Studie über Goethe und Pestalozzi (1908); Lesers Schrift: J. H. Pestalozzi, seine Ideen in systematischer Würdigung (1908), eine Arbeit, die mir besonders willkommen sein mußte als unabhängige Bestätigung meiner Grundauffassung des Mannes und seiner Ideen; besonders aber Heubaums Biographie (in der Sammlung »Die großen Erzieher«, 1910), welche nicht ganz mit innerem Grunde eine ablehnende Haltung gegen meine Pestalozzidarstellung einzunehmen scheint; wenigstens urteilt Rudolf Lehmann (in den Jahresberichten für neuere deutsche Literaturgeschichte, XIX/XX, Seite 608 f.), daß Heubaum trotzdem mit seiner allgemeinen Würdigung des Pestalozzischen Denkens an meine (und Lesers) Auffassung »ganz nahe herankomme«; daß somit »die wissenschaftliche Erforschung des Gedankenkreises Pestalozzis in den letzten Jahren zu einem einheitlichen und für die Erziehungsgeschichte höchst wichtigen Ergebnis geführt und eine weit tiefere und zugleich geschichtlichere Auffassung dieses Gedankenkreises begründet hat, als noch bis vor kurzem herrschte –«, was nur die nicht zugeben, welche von dieser »bis vor kurzem herrschenden« Auffassung eben von ihrer pädagogischen Vorbildung her beherrscht geblieben sind. Diese Bemerkung scheint, manchen Beurteilungen der 1. Auflage dieses Büchleins gegenüber, nicht überflüssig zu sein. Es darf gesagt werden, daß alle, die im letzten Jahrzehnt über Pestalozzi selbständig geforscht und dem mühsamen und umfänglichen Studium der Quellen sich ernstlich unterzogen haben, bei manchen Abweichungen in untergeordneten Fragen doch in den Hauptpunkten zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangt sind. – Neben diesen gründlichen Untersuchungen ist eine Auswahl aus Pestalozzis Schriften für weitere Leserkreise in Diederichs Verlag, eine andere bei Teubner erschienen. Auch die ergreifenden Liebesbriefe, gewechselt zwischen Pestalozzi und seiner Braut, haben endlich die ihnen gebührende Beachtung gefunden (P.s Liebesfrühling, v. K. Engelhard, 1911). Dagegen vermißte man lange eine zugleich kurz orientierende, von gelehrtem Ballast nach Möglichkeit befreite, und doch tief genug in den Kern der Sache dringende Darstellung der Ideen Pestalozzis. Eine solche wird hier gegeben. Wenn dabei nach der Natur der Sache manches früher Gesagte zu wiederholen war, so tritt doch in dem neuen Zusammenhang vieles unter neue Beleuchtung, und war im einzelnen manches früher Übergangene hinzuzunehmen.

Freilich muß der ganze Versuch einer Systematisierung der Pestalozzischen Gedankenwelt auf harten Widerstand noch immer gefaßt sein. Ich selbst hatte im Eingang der Darstellung in Reins Handbuch des näheren begründet, weshalb Pestalozzis Gedankenwelt eigentlich keine systematische, sondern nur eine historische, am biographischen Faden fortgehende Darstellung zu vertragen scheint. Der Reichtum und die Lebensfülle seiner stets unmittelbar aus den Erfahrungen seines Wirkens und Schaffens erwachsenen Ideen will sich den Fesseln eines Systems nicht gutwillig fügen; und sie mit Gewalt in diese Fesseln schlagen, heißt vielleicht sie ihres besten Vorzugs – eben der Freiheit, in der sie aus dem Leben quellen – berauben. Indessen hat Pestalozzi nach zusammenhängender Theorie doch ernstlich gestrebt und sie als unabweisbare Aufgabe anerkannt, ihren Mangel eben doch als Mangel empfunden. Und, was wichtiger, sein Denken war innerlich derart zentral geeint, daß, wer ihn wirklich aus dem Grunde verstehen will, dem Unternehmen einer Rekonstruktion seiner Ideen aus ihrem wahren Zentrum sich nicht wird entziehen dürfen. Aus dieser Erwägung hatte ich bereits in der genannten Darstellung der eingehenden »entwicklungsgeschichtlichen Vorführung« der Pestalozzischen Ideen wenigstens den knappen »Entwurf eines Systems« derselben folgen lassen. Und ich habe mich seitdem in wiederholter Erwägung der Frage in der Überzeugung nur befestigt, daß neben und nach der historischen eine systematische Darstellung, wie sie dort nur in den allgemeinsten Umrissen versucht war, nicht bloß möglich, sondern unerläßlich gefordert blieb, wenn man einmal sich in den vollen Besitz dieser reichen Schatzkammer fruchtbarer Gedanken sollte setzen können. Es bildet daher die Systematik der Pestalozzischen Ideen, so wie ich sie als Ertrag meiner ganzen bisherigen Forschung zu geben mir getraue, in gegenwärtiger Darstellung die Hauptsache, während die Entwicklungsgeschichte nur im Umriß als erstes Kapitel vorangeschickt wird. Es dürfte damit besonders dem Bedürfnis pädagogisch interessierter Leser entsprochen sein, überhaupt aber aller, die Pestalozzi nicht bloß als ein merkwürdiges Phänomen der Ideengeschichte der Menschheit kennen lernen, sondern so viel als möglich zum eignen Gebrauch aus ihm entnehmen möchten. Denn dazu bedarf es einer Rechenschaft, die nach dem logischen Zusammenhang zu fragen nicht unterlassen kann. Auch dem Soziologen und Historiker, überhaupt jedem, dem es weniger um die Form als um den Gehalt der Pestalozzischen Ideen zu tun ist, schließlich selbst dem, der die schriftstellerische Form des Studiums wert erachtet (die doch nur Form ihres Inhalts sein will und anders gar nicht zu verstehen ist), wird eine solche Vorführung, mag sie immerhin dem Verdacht einer »Konstruktion« unterliegen, zum wenigsten im Sinne der leichteren Übersicht willkommen sein. Wie ganz aber diese Systematik aus der historischen und biographischen Forschung mir erwachsen ist, davon wird, wer es der Mühe wert hält, durch Vergleichung mit der entwicklungsgeschichtlichen Darstellung in Reins Handbuch, wie ich hoffe, überzeugt werden.

Erstes Kapitel.

Pestalozzis Lebensgang und Entwicklungsgeschichte seiner Ideen.

§ 1. Jugendgeschichte.

Johann Heinrich Pestalozzi, aus ursprünglich italienischem, aber schon seit der Reformationszeit in Zürich ansässigem und eingebürgertem Geschlecht, war daselbst am 12. Januar 1746 geboren. Sein Vater, Johann Baptist, ein Wund- und Augenarzt, starb im Alter von nur 33 Jahren 1751; so wurde der Knabe mit zwei Geschwistern in bescheidenen, fast dürftigen Verhältnissen hauptsächlich von der Mutter (Susanna, geb. Hotz) und einer treuen Dienstmagd (Barbara Schmid, »das Babeli«) erzogen. Seine große, von Gewandteren leicht auszubeutende Treuherzigkeit und sein scheinbarer Leichtsinn – in Wahrheit vielmehr eine große Unbekümmertheit um äußere und kleine Dinge, die aus früher intensiver innerer Beschäftigung sich erklärt – trug schon dem Schuljungen den Spottnamen »Heiri Wunderli von Thorliken« ein. Obgleich keineswegs ein Musterschüler, pflegte er die Hauptsachen im Unterricht schnell und warm zu erfassen und zählte daher im ganzen wenigstens zu den besseren Schülern. Er machte, wohl nach mehrjährigem Besuch einer deutschen Elementarschule, 1754-1761 die Lateinschule, 1761-1763 das Collegium humanitatis durch und besuchte darauf das hauptsächlich der Ausbildung von Theologen gewidmete, mehr dem Charakter einer Akademie sich nähernde Collegium Carolinum, in welchem er bis Herbst 1765 die beiden unteren Kurse, den philologischen und philosophischen, nicht aber den dritten, theologischen durchlief. Von seinen Lehrern gewann auf ihn den stärksten Einfluß Bodmer, ein Mann, der sich nicht auf Mitteilung des vorgeschriebenen Lehrstoffes beschränkte, sondern persönlich auf die einzelnen Schüler einzuwirken und namentlich sie zu tüchtigen Bürgern ihres Vaterlandes in antik freiheitlichem Geiste zu erziehen strebte. In gleicher Absicht taten viele ernstgesinnte, aus Bodmers Schule hervorgegangene junge Züricher sich zusammen zu einem Verein, der »Helvetischen Gesellschaft zur Gerwe«, so benannt nach dem Zunfthaus der Gerber, wo die Zusammenkünfte stattfanden. Diesem Verein trat, gleich seinen Freunden Lavater, Füßli, Bluntschli u.a. auch Pestalozzi bei. Man kam allwöchentlich zusammen, um Aufsätze der Mitglieder über Gegenstände aus der Geschichte, Politik, Moral und Pädagogik gemeinsam zu lesen und zu besprechen. Als dieser Verein, der wegen seiner entschieden demokratischen Richtung bei den Regierenden der Stadt von Anfang an nicht wohl gelitten war, im Jahre 1767 im Zusammenhang mit politischen Unruhen aufgelöst wurde, kam auch der junge Pestalozzi in ernsten Verdacht gefährlicher Umtriebe; er wurde in Arrest genommen, aber als unschuldig erkannt und mit scharfer Verwarnung entlassen. Eine von den Vereinsgenossen herausgegebene periodische Schrift »Der Erinnerer« brachte auch einige Aphorismen, »Wünsche« betitelt, aus Pestalozzis Feder, worin er unter anderen gemeinnützigen Dingen eine schlichte Erziehungslehre für den einfachen Bürger und Bauern fordert. Bedeutender und sehr bezeichnend für seine damalige politische Richtung ist ein Aufsatz »Agis«, der nebst dem Bruchstück einer Übersetzung der dritten Olynthischen Rede des Demosthenes im »Lindauer Journal« 1766 ohne Nennung des Verfassers erschien. Dieser Aufsatz legt nicht nur Zeugnis ab von Pestalozzis ernster Beschäftigung mit Geschichte und Politik der Alten (Demosthenes, Plutarch), sondern verrät eine geradezu revolutionäre Stimmung. Diese erklärt sich aus dem starken Eindruck der Schriften Rousseaus, die damals erst kürzlich erschienen waren und, wie in aller Welt, so besonders in der Schweiz eine tiefe Gärung hervorgerufen hatten.

Rousseaus Ideen waren auch nicht ohne Einfluß auf Pestalozzis Berufswahl. Nachdem er seine anfängliche Absicht des Theologiestudiums frühzeitig aufgegeben, hatte er eine Zeitlang ernstlich daran gedacht, sich durch das Studium der Rechte zu einer politischen Laufbahn als eine Art Volksanwalt auszurüsten. Sein Freund Bluntschli brachte ihn davon ab, indem er ihn überzeugte, daß ihm dazu die ruhige, kaltblütige Menschen- und Sachkenntnis allzusehr mangle. Aber auch, als er sich dann für den bescheidenen Beruf des Landwirts entschied, waren »sittliche Absichten und Liebe zum Vaterland« (wie er 1771 an Hirzel schreibt) von seiner Entschließung »nicht getrennt«; er gedachte nämlich durch vorteilhafte Bewirtschaftung seines Gutes sich den Weg zu bahnen, um zur Hebung der Volksbildung und Volksökonomie in seiner Umgebung etwas beitragen zu können. Bestärkt wurde er in seinem Entschluß durch die Sehnsucht, ein geliebtes Mädchen, Anna Schultheß (»Nannette«), mit der die gemeinsame Trauer um den früh verstorbenen Bluntschli, der auch ihr hochgesinnter Freund gewesen war, ihn zusammengeführt und deren Liebe er gewonnen hatte, in nicht zu ferner Zeit heimführen zu können. Denn er durfte nicht hoffen, die Hand der wohlhabenden, schönen und gebildeten Kaufmannstochter zu erlangen, wenn es ihm nicht gelang, es in kurzem zu sicherem Wohlstand zu bringen; das hoffte er als Landwirt am ehesten zu erreichen. Die nötigen Fachkenntnisse brachte der angesehene Berner Rudolf Tschiffeli, der in Kirchberg bei Burgdorf ein großes Gut bewirtschaftete, ihm bei; bei ihm verlebte Pestalozzi eine sehr glückliche Zeit (Herbst 1767 bis Frühjahr 1768) in eifrigem Studium. Dann nach Zürich zurückgekehrt, kaufte er größtenteils mit geliehenem Geld ein für seine Absicht sonst nicht ungeschicktes, nur viel zu großes und daher für seine Verhältnisse zu kostspieliges, bisher fast unbebautes Grundstück in der Nähe von Brugg, auf Berner Gebiet, im späteren Kanton Aargau, unweit der Habsburg, und begann es zu bewirtschaften. Nach schweren Kämpfen durfte er (Herbst 1769) seine Braut heimführen. Sein Wohnsitz war, bis das auf seinem Grundstück neuerrichtete Haus »Neuhof« (Frühjahr 1771) bewohnbar war, in Müligen. Der erhaltene, von Seyffarth herausgegebene Briefwechsel der beiden Liebenden gewährt tiefe Einblicke in Pestalozzis Gemütsart und in sein ganzes Treiben während dieser Lehrjahre. Er erscheint in diesen Briefen durchaus nicht als der empfindsame Träumer, als den man nach seinen späten Selbstschilderungen ihn sich vorzustellen pflegt; er zeigt vielmehr eine für seine Jugend erstaunliche Kenntnis von Menschen und Sachen, ein entschlossenes, oft nur zu jähes Handeln, allerdings auch ein heißes, bisweilen zu heftiger Erregung gesteigertes Empfinden. Seine Schreibart ist höchst lebendig und warm, bald stürmend, bald erhaben und wieder anmutig scherzend; kurz, von einer Jugendlichkeit, die ihn in den besten Momenten dem jungen Goethe nahe stellt. Kaum von geringerem Wert sind die Briefe der Anna Schultheß. Ihre beiderseitige Liebe ist von der höchsten und reinsten Art, und ist durch ihr ganzes schweres Leben hindurch so geblieben.

§ 2. Die Armenanstalt auf Neuhof.

An dem 1770 geborenen Söhnchen Hans Jakob (»Jacqueli«) konnte Pestalozzi die ersten eigenen Erziehungsstudien machen. Die wertvollen Tagebuchaufzeichnungen über seine Beobachtungen und Versuche an dem vierjährigen Knaben (1774) lassen den Einfluß Rousseaus auch auf seine Erziehungsgrundsätze deutlich erkennen. Sachbildung geht vor Wortbildung; das Sehen, Hören und Tun muß weit vorhergehen dem Urteilen und Schließen. Stetiger, lückenloser Fortschritt der Bildung; »Ordnung, Genauheit, Vollendung, Vollkommenheit« in allem; selber finden, was irgend selber zu finden ist; an der Hand der »Natur« lernen, der der Lehrer nur »leise und still mit der folgenden Kunst fast nebenher schleicht«: das gibt Mut und Freude, ohne die alles Lernen keinen Heller wert ist. Gehorsam muß sein (gegen Rousseau!), aber er muß in freiem Zutrauen, in der Erfahrung der Liebe und überlegenen Einsicht des Erziehers gegründet sein.

Zu einer bedeutenden Erweiterung und Vertiefung seiner pädagogischen Erfahrung führte ihn indirekt das baldige Scheitern seiner landwirtschaftlichen Unternehmung. Sein Plan war an sich zwar nicht unverständig. Aber schon beim Landkauf wurde er durch einen gewissen Merki, der sich durch einige wirkliche Dienste, die er ihm dabei leistete, in sein Vertrauen geschlichen hatte, hinterher betrogen. Überhaupt war Pestalozzi nie ein genauer Rechner. Mißwuchs und sonstige unvorhergesehene Schwierigkeiten kamen hinzu; so begreift es sich, daß das Bankhaus, das den größten Teil der Kosten vorgeschossen hatte und nun den erhofften Nutzen nicht absah, seine Gelder endlich zurückzog. Pestalozzi allein aber konnte unter der drückenden Schuldenlast das ohnehin schwierige Unternehmen auf die Länge unmöglich weiterführen. Dieser Mißerfolg mußte ihn doppelt niederschlagen, weil er so auch jede Hoffnung schwinden sah, zur Linderung des Volkselends, das er jetzt täglich in nächster Umgebung vor Augen sah und das ihm näher ging als die eigne Not, auch nur irgend etwas beitragen zu können. In solcher Bedrängnis kam ihm der Gedanke, es könne ihm zugleich und dem armen Volke um ihn her geholfen werden, wenn er sein Gut in eine Anstalt zur Auferziehung von Armenkindern umwandelte. Die Kinder sollten unter seiner Anleitung vor allem arbeiten lernen; durch die gemeinsame Arbeit des Hauses – Baumwollspinnerei und -weberei, kombiniert mit einfacher Feldarbeit, besonders Gemüsebau – würde die Anstalt, einmal in Gang gebracht, sich bald selber erhalten können, während ihre Zöglinge zugleich die Segnungen eines schlichten, aber liebewarmen Hauslebens genössen und so zu eben der Lebensführung gebildet würden, auf die ihre Lage sie hinwies. Der Plan war nicht bloß in der Absicht vortrefflich, sondern an sich auch sehr wohl ausführbar. Pestalozzi fand in seiner Nähe vielfache Aufmunterung und anfangs auch tätige Hilfe. So konnte die Anstalt im Jahre 1774 ins Leben treten. Indessen wuchs ihm die Sache nur zu bald über den Kopf. Es hätte mehr als menschliche Kräfte gefordert, neben seinem Hauptzweck der Erziehung Feldbau, Fabrikation, Handel und ein ganzes großes Hauswesen mit bis zu 50 Bettlerkindern zu bewältigen. Er hätte allerwenigstens für die äußere Verwaltung und Rechnungsführung geeignete Hilfskräfte zur Seite haben müssen. Ganz besonders nachteilig erwies sich, daß es ohne obrigkeitlichen Schutz, den er vergebens nachsuchte, nicht möglich war, die Kinder zum Bleiben in der Anstalt zu bewegen; die meisten gingen, nachdem sie sich eine Zeitlang in ihr hatten verköstigen und verpflegen lassen, ohne Dank davon. So konnte die Absicht, daß die Anstalt sich durch die Arbeit der Zöglinge selbst erhalte, natürlich nicht erreicht werden. Aus allen diesen Gründen war das Scheitern des Versuchs unvermeidlich. Mit der äußersten Anstrengung vermochte er ihn eine Reihe von Jahren hindurch fortzuführen; endlich aber, im Jahre 1780, mußte er blutenden Herzens die Anstalt auflösen und stand nun da als ein gänzlich Gescheiterter.

In mehreren kleinen Aufsätzen, die der warm für ihn interessierte Iselin in Basel in seiner Zeitschrift »Ephemeriden der Menschheit« 1777 und 1778 zum Abdruck brachte, hat Pestalozzi seinen Plan ausführlich dargelegt und über die Ausführung berichtet. Als Kerngedanke tritt deutlich hervor: Der Arme muß für seine Lage erzogen werden. Seine Auferziehungsstube muß seiner künftigen Wohnstube soviel als möglich gleich sein, während die meisten öffentlichen Stiftungen hiervon gerade das Gegenteil zeigen. Die entscheidenden Fragen sind: 1. Kann die Arbeit der Armenkinder zu so hohem Ertrag gebracht werden, daß dadurch eine solche Anstalt sich selber zu erhalten imstande ist? und 2. Ist es ratsam, die Auferziehung des Armen dem Geiste der Industrie zu unterwerfen? Was wird die Verbindung von Gewerbsamkeit mit Erziehungsanstalten für einen Einfluß auf den späteren häuslichen Zustand der so erzogenen Armen, auf ihr Sittlichkeit, auf ihre körperliche Stärke und auf den Feldbau haben? Beide Fragen glaubt Pestalozzi schon auf Grund seiner unvollkommenen Versuche im günstigen Sinne beantworten zu können. Besonders erkennt er die Erziehung zur Industriearbeit als unumgänglich notwendig. Die Entwicklung zur Industrie ist einmal da und nicht mehr rückgängig zu machen. Der Arme trägt schon jetzt allen Schaden des Fabrikwesens, es gilt ihm jetzt auch den größten möglichen Gewinn davon zu verschaffen, nicht indem man ihn in die nächste beste Fabrik schickt, wo sie »in einer ungesunden Luft zu Maschinen gebraucht werden, wo sie von Pflicht und Sitten nichts hören, wo ihr Kopf, ihr Herz und ihr Körper gleich erdrückt oder wenigstens unentwickelt und ungebaut bleibt«, sondern indem man »den in der Fabrikindustrie liegenden größeren Abtrag der Verdienstfähigkeit des Menschen als Mittel zur Erzielung wahrer wirklicher Erziehungsanstalten, die den ganzen Bedürfnissen der Menschheit genügen«, benützt. Denn an sich ist der Mensch »unter allen Umständen und bei allen Arbeiten der Leitung zum Guten gleich fähig... Mit dem Herzen allein wird das Herz geleitet... Spinnen oder Grasen, Weben oder Pflügen, das wird an sich weder sittlich noch unsittlich machen...« Die wesentliche Voraussetzung ist nur, daß der Gewinn nicht der einzige Endzweck der Industrie, sondern nur das Mittel zu dem wahren Endzweck der Erziehung ist. – Es ist fast derselbe Gedankengang, durch den ein Menschenalter später der hochsinnige Sozialist Robert Owen zu einem auf solideren wirtschaftlichen Grundlagen unternommenen Versuch in ähnlicher Richtung geführt wurde. Im Unterricht der Pestalozzischen Anstalt stand ihrer ganzen Absicht gemäß die Handarbeit weit voran; Lesen, Schreiben, Rechnen wurde auch getrieben, doch glaubte er die Unterweisung darin wenigstens bis zum neunten Jahre hinausschieben zu dürfen. Die Art der sittlichen Unterweisung war »meistens nicht Unterricht des Lehrers«, sondern »teilnehmender Unterricht des Hausvaters, Ergreifung der immer vorfallenden Gelegenheiten, an denen er mit ihnen, sie mit ihm Anteil nahmen«. Rührend ist es, in den Berichten zu lesen, wie Pestalozzi auf die Individualität jedes einzelnen seiner Pflegebefohlenen eingeht, wie er an die verkommensten, elendesten, unbegabtesten bis zu den blödsinnigen herab unermüdliche Sorgfalt wendet und überglücklich ist, wenn er nur eine Spur von Fortschritt bemerkt. »Ich lebte«, sagt er später über diese Zeit, »jahrelang im Kreise von mehr als fünfzig Bettlerkindern, teilte in Armut mit ihnen mein Brot, lebte selbst wie ein Bettler, um zu lernen, Bettler wie Menschen leben zu machen«.

Das Scheitern des hochsinnig geplanten Unternehmens mußte ihn noch ungleich schwerer treffen als sein erster, bloß persönlicher Mißerfolg. Zwar sein Glaube an das, was er gewollt, hat keinen Augenblick gewankt. Aber bei der Welt fand er keinen Glauben mehr. »Andern will er helfen und kann sich selber nicht helfen«: diesen ewigen Spott der Weltklugheit über die selbstvergessene Liebe bekam er wie oft zu hören. Auch seine besten Freunde glaubten, ihm sei einmal nicht zu helfen; sie hielten für ausgemacht, er werde seine Tage im Spital oder gar im Narrenhause beschließen müssen. Der einzige Iselin hielt treu zu ihm und überzeugte ihn, daß »in wichtigen Dingen mutvolle Efforts, auch wenn sie für einmal nicht zum Ziele führen, dennoch entferntere gute Folgen ihrer Natur nach haben müssen«. Auch find die »entfernteren guten Folgen« nicht ausgeblieben; es sind namentlich die sogenannten Wehrlischulen in der Schweiz indirekt aus Pestalozzis Anregung hervorgegangen, welche eben das zu verwirklichen suchen, was er mit seiner Anstalt gewollt hatte.

Seinen Landsitz vermochte er nur dadurch sich zu erhalten, daß er den größeren Teil des Gutes an Verwandte verkaufte, um von dem Erlös seine Gläubiger wenigstens teilweise zu befriedigen. Den ihm verbliebenen Rest gab er in Pacht, bis sein Sohn die Bewirtschaftung übernehmen konnte. Sein zerrüttetes Hauswesen wieder in Ordnung zu bringen, war ein ausgezeichnetes Mädchen, Elisabeth Näf (»die Lisabeth«) ihm behilflich, das um diese Zeit aus freien Stücken als einfache Magd in sein Haus kam und allmählich ganz mit der Pestalozzischen Familie verwuchs. Sie ist das Urbild der »Gertrud« des Pestalozzischen Romans. Später nahm sich ein anderer Baseler Freund, Felix Battier, seiner wirtschaftlichen Lage sachkundig an. Seitdem war wenigstens die eigentliche Not überwunden, und so konnte Pestalozzi sich während der 18 Jahre seiner unfreiwilligen Muße (1780–1798) schriftstellerischen Arbeiten ungestört widmen.

§ 3. Die »Abendstunde.«

Er hatte bei seinem verunglückten Versuch Unermeßliches gelernt. Vor allem war eine gründliche Kenntnis des Volkes in seinem Elend und seiner nur tief vergrabenen Kraft, aber auch der Mittel und Wege, wie ihm geholfen werden könnte, ihm wie von selbst zugefallen. Das alles mußte sich aussprechen, und sobald er nur die Feder ansetzte, strömte ihm der Stoff von selbst zu. So entstanden in kurzer Frist (von Nebenarbeiten abgesehen) zwei hochbedeutende Schriften: Die »Abendstunde« und das Volksbuch »Lienhard und Gertrud«.

Die »Abendstunde eines Einsiedlers« erschien in den Ephemeriden, Mai 1780; eine Art Monolog in gedankentiefen, schwer gefaßten Aphorismen, in denen er sich über die Bestimmung des Menschen und die Grundgesetze seiner Bildung klar zu werden sucht. In voller Bestimmtheit tritt schon hier der Kerngedanke hervor, daß allein »im Innern der Natur« des Menschen der Grund derjenigen Wahrheit liegt, die er braucht, die zu seiner rechten Bildung ihm not ist. Aus dieser ersten Voraussetzung folgt die Allgemeinheit der Bildung in dem doppelten Sinne: daß die Grundkraft der Bildung an sich in allen dieselbe ist, und daß sie nach Möglichkeit in allen zu ihrer gesunden Entwicklung gebracht werden muß. Daraus folgt weiter – was schon Rousseau betont hatte – die notwendige Unterordnung der Berufsbildung unter die allgemeine Menschenbildung. Diese ist schon in der »Abendstunde« und überhaupt in allen Dokumenten aus dieser Zeit so klar ausgesprochen, daß es als ein vollständiger Irrtum bezeichnet werden muß, Pestalozzi habe in seiner ersten Periode überhaupt nur an die Berufsbildung der untersten Klasse, und erst seit Stanz und Burgdorf an allgemeine, »humane« Bildung gedacht. – Der zweite Hauptfaktor der menschlichen Bildung ist die »Lage« des Menschen, die »Verhältnisse« oder »Umstände«, in denen er sich findet. Sie sind das vorzüglichste Mittel der Entfaltung der im Menschen selbst schlummernden Kräfte. Zwar erweist sich die äußere Lage des Menschen, so wie er sie vorfindet, der gesunden Entwicklung seiner Anlagen mindestens ebenso oft hinderlich als förderlich; aber es steht an sich in seiner Macht, sie sich so zu gestalten, daß sie zu seiner Bildung förderlich wird. Die Not selbst wird ihm zum Lehrmeister; sie ruft ihn auf, seine Kräfte zu gebrauchen und durch den Gebrauch zu entwickeln; so wird er dann allmählich seiner Lage Herr. Wie der Mensch überhaupt der eigene Gestalter seines höheren, besonders seines sittlichen Lebens, insofern (nach späterem Ausdruck) »Werk seiner selbst« ist, so sind auch die äußeren Lebensformen, in denen und durch die er sich bildet, im letzten Grunde sein eigenes Werk. Es sind die mannigfachen Formen menschlicher Gemeinschaft, von der engsten zu weiteren und weiteren hinauf bis zur höchsten, der des Menschengeschlechtes unter dem himmlischen Vater. Diese Stufenordnung der Gemeinschaftsformen – eine der tiefsten und weittragendsten Voraussetzungen der Pestalozzischen Pädagogik, durch die besonders sie als »soziale« und nicht bloß individuale Pädagogik charakterisiert wird – tritt ebenfalls schon in der »Abendstunde« klar zutage. Und zwar von der engsten Gemeinschaft, der des Hauses, der Familie geht die Bildung des Menschen notwendig aus; denn »immer ist tue ausgebildete Kraft einer näheren Beziehung Quelle der Weisheit und Kraft des Menschen für entferntere Beziehungen... Die häuslichen Verhältnisse der Menschheit sind die ersten und vorzüglichsten Verhältnisse der Natur«, eben weil die engsten und nächsten und damit kraftvollsten, daher gerade der ersten, überhaupt entscheidenden Entwicklung der menschlichen Kräfte günstigsten. Nur ihr vergrößertes Abbild ist der bürgerliche Verein, gleichsam eine Familie von Familien: »Vatersinn bildet Regenten, Brudersinn Bürger; beide erzeugen Ordnung im Hause und im Staat.« Die bürgerliche Gemeinschaft stellt also gleich der häuslichen, nur auf höherer Stufe, eine Arbeits- und damit Bildungsgemeinschaft dar. Über ihr erhebt sich endlich als höchste Form der Gemeinschaft jene ideelle Gemeinschaft des ganzen Menschengeschlechtes, in der wir alle Kinder eines Vaters und damit untereinander Brüder sind. Auch die tiefe, rein moralische Deutung der Religion aus diesem Gesichtspunkt, wie sie in der »Abendstunde« bereits vorliegt, kehrt von da ab in immer neuen und schöneren Wendungen durch alle Lebensperioden Pestalozzis wieder.

§ 4. »Lienhard und Gertrud«.

War die »Abendstunde« nur für wenige geschrieben, so wandte sich die zweite Hauptschrift dieser Zeit, der Roman »Lienhard und Gertrud«, als »Volksbuch« an die weitesten Kreise und besonders an das niedere, arbeitende Volk. Er erschien, zunächst in einem Bändchen, zur Ostermesse 1781 und fand sofort lebhaften Anklang. Literarisch angesehen, ist es ein erster, sehr gelungener Versuch in reiner »Heimatkunst«. Das Leben des Volkes ist dargestellt ganz in der eigenen Denk-, Empfindungs- und Sprechweise des Volkes selbst, nicht wie von einem fremden, äußeren Beobachter. Hatte doch Pestalozzi in und mit dem Volke gelebt und alle seine Nöte an eigener Haut erfahren wie selten einer. Und zwar ist dieser erste