Play for my Heart - Nina Schilling - E-Book
SONDERANGEBOT

Play for my Heart E-Book

Nina Schilling

0,0
9,99 €
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

GÜNSTIGER EINFÜHRUNGSPREIS. NUR FÜR KURZE ZEIT! Es ist nur ein Spiel – doch wie hoch ist der Einsatz? Eine berührende, bittersüße Sports Romance für Fans von Elle Kennedy, Colleen Hoover und Mona Kasten »Überall ist einfach nur Sean. Er löscht alles andere aus. Die Umwelt, meine Gedanken und die Vergangenheit. Da ist nichts, außer dieser Moment, und das ist genau was ich brauche. Genau, wonach ich mich sehne. Und ich will mehr davon.« Liebe ist nichts für Alexis. Sie will Ansehen, Spaß und Zerstreuung und ist auf dem ganzen College als Partygirl bekannt. Doch hinter dem vorgeschobenen Selbstbewusstsein liegt eine zutiefst verletzte Seele, die sich nichts mehr wünscht, als zu vergessen. Sean scheint dafür perfekt geeignet: als Teil der Eishockey-Mannschaft ist er sehr beliebt und sieht außerdem gut aus. Würde er nur mit seiner ruhigen und gelassenen Art Alexis nicht völlig durcheinander bringen. Mit ihm ist alles anders. Aber für Sean ist eins klar: Eine Frau wie Alexis kann er nicht an sich heranlassen. Nicht noch einmal ... Triggerwarnung: Diese Geschichte behandelt die Themen Mobbing und Essstörungen. Wattpad verbindet eine Gemeinschaft von rund 90 Millionen Leser:innen und Autor:innen durch die Macht der Geschichte und ist damit weltweit die größte Social Reading-Plattform. Bei Wattpad@Piper erscheinen nun die größten Erfolge in überarbeiteter Version als Buch und als E-Book: Stoffe, die bereits hunderttausende von Leser:innen begeistert haben, durch ihren besonderen Stil beeindrucken und sich mit den Themen beschäftigen, die junge Leser:innen wirklich bewegen! »Alles in allem - es war wieder ein grandioses Buch.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Eine Geschichte die dich zum Lachen bringt und dich auch traurig macht. Ich kann dieses Buch nur weiterempfehlen. Die Geschichte ist wirklich eine Achterbahn Fahrt der Emotionen.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Gut beschriebene Charaktere, ein angenehm zu lesender Stil der Autorin und eine Handlung, die ich als emotional und auch von den Themen her wirklich gut gemacht empfunden habe, haben mir unterhaltsame Lesestunden beschert. Durchaus lesenswert!« ((Leserstimme auf Netgalley))  »Der Schreibstil von Nina Schilling ist locker, flüssig und emotional. Der Einstieg in die Story fiel mir sehr leicht. Sie hat mit Alexis und Sean zwei Charaktere mit Ecken und Kanten geschaffen.« ((Leserstimme auf Netgalley)) 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher: www.piper.de

Bei »Play for my Heart« handelt es sich um eine bearbeitete Version des auf Wattpad.com von 07nia11 ab 2020 unter dem Titel »Times are changing« veröffentlichten Textes.

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Play for my Heart« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Cornelia Franke

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Triggerwarnung

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Triggerwarnung

Erwähnung sowie explizite Beschreibung von

Essstörung

Selbsthass

gestörtes Körperempfinden/verzerrtes Körperbild

Mobbing, Fatshaming

selbstverletzendes sowie zwanghaftes Verhalten (selbst gewählte Verweigerung von Nahrungsaufnahme/Aushungern) und Missbrauch von Alkohol und Sex als Bewältigungsstrategie sowie Traumareaktion

Posttraumatische Belastungsstörung (unwillkürliches Erinnern und Wiedererleben des Traumas; Vermeidung, Verdrängung und Vergessen des Geschehens durch übermäßigen Sport und Verweigerung der Nahrungsaufnahme, Verflachung der Gefühle und Interessen)

Depression und Dissoziation

Weil nicht eine schlanke Figur, der süße Typ oder ein guter College-Abschluss glücklich machen – schafft euer eigenes Glück, egal, wie es aussieht

Prolog

Eine Schweißperle läuft mir ins Auge, während ich mich mit einem Keuchen hochstemme, auf die Füße springe und einen Strecksprung mache, der wahrscheinlich ziemlich traurig aussieht. Aber Burpees sind einfach nicht meine Übung. Alles, was mit Liegestützen oder Springen zu tun hat, ist nicht meine Übung. Doch zumindest breche ich nicht mehr nach zwei von ihnen zusammen, wie noch vor vier Monaten.

Trotzdem ist es mehr Wille als Körperkraft, der mich in die nächste Wiederholung zwingt, bis der Timer des Work-out-Videos, das auf meinem Handy mitläuft, meine Erlösung verkündet. Danach geht es mit leichteren Übungen weiter. Das weiß ich, weil ich das Work-out inzwischen auswendig kann und die Frau auf dem Bildschirm nur als Motivationsschub sich mit mir quälen lasse. Mir ist aufgefallen, dass die Versuchung viel zu groß ist, einfach mittendrin abzubrechen, wenn ich die Übungen auswendig aus dem Kopf mache. Also wird das Video Tag für Tag aufgerufen, egal, wie genervt ich inzwischen von der Musikunterlegung bin oder wie oft ich schon durch das Display greifen und die Frau für ihre immerzu optimistischen Sprüche erwürgen wollte.

Meine Beine danken es mir, als ich mich auf die Sportmatte fallen lasse und mit Bicycle Crunches weitermache. Die Kombi aus dem gestrigen Joggen und dem heutigen Durch-die-Gegend-Springen gefällt ihnen nicht, aber wie lautet mein neues Lebensmotto? Ach ja, genau: no pain, no gain.

Gott, ich hasse es. Trotzdem ziehe ich es durch. Es gibt genug Erinnerungen, die mich antreiben. Jeder verdammte Schultag treibt mich an. Mit verkniffener Miene versuche ich, möglichst nicht daran zu denken. Stattdessen mache ich weiter meine Planks, Jumping Jacks und Squads, bis die dreißig Minuten vorbei sind.

Danach liege ich wie ein Seestern auf der Matte, meine Gliedmaßen in alle Richtungen von mir gestreckt, und warte, bis ich wieder halbwegs normal atmen kann. Die Hitze, die sich in den Sommermonaten in meinem Zimmer staut, hilft auch nicht gerade gegen die Schweißsturzbäche, die an mir herunterlaufen.

Tja, fette Kühe schwitzen und stinken nun mal.

Mit einem tiefen Atemzug rolle ich mich zur Seite und ziehe mich an meinem Bett hoch, um wieder auf die Beine zu kommen. Ich bin völlig k. o., für einen Moment dreht sich sogar die Welt um mich. Aber den Schwindel schüttle ich schnell ab. Alles nur Kopfsache. Ich bin so stark – oder schwach –, wie ich denke, dass ich es bin. Ein bisschen Wasser, und mein Körper hat alles, was er braucht. Also greife ich nach der Flasche, die ich bereitstehen habe, und mache sie in einem Zug fast leer.

Danach wanke ich auf meinen müden Beinen Richtung Kleiderschrank. Die Kleiderwahl ist einfach. Zum einen, weil ich seit Jahren so gut wie immer die gleiche Kombi trage – dehnbare Jeggings mit Schlabber-T-Shirt –, zum anderen, weil mir seit ein paar Wochen nur noch eine kleine Auswahl passt. Ich werde wohl oder übel Row davon überzeugen müssen, bald mit mir shoppen zu gehen. Kein leichtes Unterfangen, aber vielleicht kann ich sie mit einem Abstecher in den Buchladen locken.

Mit einem Seufzen schnappe ich mir eine schwarze Leggings, die noch nicht völlig idiotisch aussieht, und mein Lieblings-ACDC-Shirt in einem verwaschenen Grau. Dann noch Unterwäsche, und ich kann mich auf den Weg Richtung Bad machen.

Auf dem Flur schallt der Fernseher vom Wohnzimmer hoch, begleitet von einem Klappern, das nur von meiner Mutter aus der Küche stammen kann. Ich sollte mich mit dem Duschen beeilen, wenn ich keinen Ärger bekommen will. Meine Familie ist in wenigen Dingen traditionell. Aber wenn es darum geht, dass alle zusammen zu Abend essen, kommt bei meiner Mutter die gut erzogene Katholikin raus. Ich schnaube bei dem Gedanken, aber eine Rebellion habe ich schon lange aufgegeben. Ich bin einfach froh, wenn ich den restlichen Tag in Ruhe gelassen werde.

Im Bad angekommen, schließe ich die Tür hinter mir ab. Keine Ahnung, wieso ich das mache. Irgendwie ist es eine Gewohnheit geworden. Und vielleicht ist da ein kleiner Teil von mir, der Angst hat, jemand könnte hereinkommen und mich sehen. Sehen, wie hässlich ich wirklich bin. Es kostet mich selbst Überwindung, in den Spiegel zu schauen. Aber ich zwinge mich dazu. Denn die Augen davor zu verschließen, bringt nichts. Und Hass treibt an. Auch Selbsthass.

Mit zusammengebissenen Zähnen ziehe ich mir das schweißnasse Shirt über den Kopf, gefolgt von Sport-BH und Hose. Der nächste Schritt hat mir früher am meisten Angst bereitet, doch inzwischen ist es Routine. Ich ziehe die Waage unter dem Badschrank hervor, platziere sie mittig im Raum und stoße sie einmal mit dem Fuß an, damit sie sich anschaltet.

Bevor ich draufsteige, halte ich inne und überschlage in meinem Kopf, was ich heute gegessen habe. Einen Müsliriegel zum Frühstück, den Salat in der Mensa und vorhin, als ich es bei den Hausaufgaben nicht mehr ausgehalten habe, einen Apfel und ein paar Nüsse. Die ärgern mich zwar, aber an sich sollte mein Gewicht trotzdem nicht hochgegangen sein.

Eine zaghafte Hoffnung will in mir aufsteigen, doch ich ersticke sie im Keim. Der Weg, den ich vor mir habe, ist noch lang genug. Mit steinerner Miene mache ich den Schritt nach vorne und stelle mich auf das dumme Ding.

Die Zahl auf dem Display schwankt kurz, dann pendelt sie sich ein und verkündet mein Gewicht. Die Ziffern hätten mich bei vielem gefreut. Als mein Taschengeld, als Prozentzahl korrekt gelöster Aufgaben in der Mathearbeit. Auf der Waage nicht unbedingt. Doch es sind gute zwanzig Kilo weniger als Anfang des Jahres. Also versuche ich, gefühlsmäßig neutral zu bleiben, und steige von diesem Ding, um es so schnell wie möglich wieder wegzuräumen. Nur weil es Routine geworden ist, muss ich es nicht mögen.

Danach kommt der schwierige Teil, bei dem ich nicht verhindern kann, dass mein Magen sich ängstlich zusammenkrampft. Ich will es nicht, aber gerade deswegen zwinge ich mich dazu.

Der Blick in den Spiegel.

Wie ein kleines Ritual, um Mut zu schöpfen, atme ich dreimal tief ein und aus. Dann drehe ich mich mit geschlossenen Augen zu dem Teufelsding um und zwicke mir so fest in den Arm, dass es wehtut. Im gleichen Moment reiße ich die Augen auf. Keine Ahnung, ob ich mir das nur einbilde, aber der Schmerz durch das Zwicken macht den ersten Augenblick erträglicher. Zumindest so lange, bis ich akzeptieren kann, dass diese hässliche, wabbelige Gestalt im Spiegel ich bin.

Ganz von selbst rümpft sich meine Nase wie bei einem unangenehmen Geruch, während ich die Arme hebe und mich von allen Seiten betrachte.

Ich weiß, dass da weniger ist als noch vor ein paar Monaten. Ich bin schmaler geworden, wenn man das so nennen kann, und mit etwas gutem Willen könnte man sogar sagen, ich habe so etwas wie eine Taille. Trotzdem hängen noch immer mehr als genug Haut und Fett an mir herunter.

Vielleicht haben sie recht. Ich bin widerlich.

Ein Stein legt sich auf mein Herz und droht es zu zerquetschen, während Tränen in mir hochsteigen. In einer Mischung aus Trotz und Wut wische ich mir über die Augen und drehe mich entschlossen ab, um endlich unter die Dusche zu gehen. Manchmal frage ich mich, wie es so weit hat kommen können. Na gut, ich war schon immer ein eher kräftiges Kind. Aber es gibt einen Unterschied zwischen süßen Pausbäckchen und »dein Speck quillt ja aus allen Falten hervor«. Meine Eltern hätten viel mehr meine Ernährung kontrollieren sollen, als ich noch nicht verstanden habe, dass Eis keine Hauptspeise ist. Oder sie hätten mich zum Sport schicken sollen, bevor »Die einzige Art, wie du Geschwindigkeit aufnehmen kannst, ist, wenn man dich einen Berg runterrollt« zugetroffen hat.

Doch da mein Vater selbst nur fettiges Fleisch isst, am besten mit einer saftigen Soße und keinem Gemüse, und sein größter Sport Sofaaction ist, sollte es mich wohl kaum wundern. Selbst wenn meine Mutter den Willen gehabt hätte, etwas dagegen zu tun, fehlte ihr nach den langen Schichten im Pflegeheim die Energie dazu. Da war McDonald’s die schnelle und unkomplizierte Lösung. Der Mann ist zufrieden, genauso die kleine Tochter, die es noch nicht besser weiß, bis sie in ihrem persönlichen Albtraum aufwacht.

Verbittert schnaube ich, während ich mir die Haare ordentlich einshampooniere.

Aber letztendlich bringt es nichts, irgendjemanden die Schuld zu geben. Inzwischen bin nur noch ich für meinen Körper verantwortlich, und ich habe das Problem viel zu lange vor mir hergeschoben.

Vielleicht habe ich es erst gebraucht, dass die Leute mir ins Essen spucken und selbst die Cafeteriadame sich schulterzuckend abwendet. Ganz im Sinne von »du hast ja genug Reserven auf den Hüften«. Oder ich wollte unbedingt die Erfahrung machen, wie es ist, im Sportunterricht ins Tor gestellt zu werden, weil ich es »so wundervoll ausfülle«. Danke, Thomas, ja, ich habe an eine Profikarriere gedacht. Die Sportart nennt sich Wer-kann-die-meisten-schmerzhaften-Bälle-Abfangen. Aber nein, die wahrhaft schönste Erfahrung war wohl, als man mir ein Feuerzeug unter das Kinn gehalten hat, weil ich »bestimmt guten Frühstücksspeck biete«. Nichts öffnet einem mehr die Augen als wahre, unverfälschte Panik, während eine Flamme gerade so nah an der Haut leckt, dass es unangenehm, aber noch nicht schmerzhaft ist.

Mit einem Geräusch, das irgendwo zwischen Schreien und Wimmern liegt, stütze ich mich an der Duschwand ab, als mich Schwindel erfasst. Blinzelnd versuche ich, die schwarzen Flecken vor meinen Augen zu vertreiben, doch es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis mein Herzschlag sich beruhigt hat.

Sobald ich es mich wieder traue, schnappe ich mir mein Handtuch und steige aus der Dusche, um mich völlig fertig auf den Klodeckel fallen zu lassen. Ich kneife die Augen so fest wie möglich zusammen, um meine Gefühle in den Griff zu bekommen. Das geht leichter, wenn ich alles um mich herum ausblende. Wenn ich so tue, als wäre alles in Ordnung. Die Augen vor dem Schrecken verschließe und einfach weitergehe.

Das habe ich lange gemacht. Und bis zu einem gewissen Grad war ich glücklich damit. Ich habe mir eingeredet, dass ich nicht mehr als eine Freundin brauche und mit meinem Leben zufrieden bin.

Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich mich dabei selbst gehasst. Hasse mich immer noch. Ich will ein Ziel haben und nicht nur mit verschlossenen Augen durchs Leben taumeln. Ich will mit erhobenem Kopf voranschreiten, anstatt verängstigt durch die Schulgänge zu flitzen. Ich will, dass die Leute mir hinterherschauen und sich denken: Wow, wer ist das? Und das nicht, weil sie angewidert sind, sondern weil sie mich bewundern. Ich will es ihnen allen beweisen. Und allen voran mir selbst.

Mit neuer Entschlossenheit stemme ich mich hoch und ziehe mich an.

Ich laufe gerade die Treppe ins Wohnzimmer hinunter, als meine Mom zum Essen ruft. Mein Vater gibt ein zustimmendes Grunzen von sich, macht aber keine Anstalten, sich zu bewegen, da seine Lieblingssendung noch nicht vorbei ist. So ist das immer. Er wird zum Esstisch kommen, genau in der Sekunde, in der alles fertig angerichtet ist und er nichts anderes mehr machen muss, als sich zu setzen und loszuessen.

Das hört sich so an, als wäre mein Vater kein liebenswerter Mensch. Dabei verbinde ich viele der schönsten Erinnerungen meiner Kindheit mit ihm und seiner Werkstatt in unserer Garage. Bis vor ein paar Monaten hätte ich sogar mit ihm auf der Couch gesessen und stupide in die Glotze gestarrt. Doch inzwischen steht er mehr und mehr für alles, was ich an meinem bisherigen Lebensstil verabscheue – und was ich ändern will. Also schaue ich mir nicht allzu lange mein bisheriges Vorbild an und gehe direkt durch zur Küche, wo meine Mutter vor dampfenden Töpfen steht.

»Ah, Alexis, bist du so lieb und deckst den Tisch? Ich muss noch nachwürzen.«

Mit einem wortlosen Nicken hole ich drei Teller und Gläser heraus. Unser Haus ist eher klein und so auch der Essbereich, der in einer Nische in der Küche liegt. Aber es ist bequem und absolut ausreichend.

Dem Geschirr lasse ich Besteck folgen, und in der Zwischenzeit scheint meine Mutter zufrieden mit ihrer Kreation zu sein. Der Geruch verrät mir, was es heute gibt: Gulasch. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sich mein Magen aus Hunger und Vorfreude anhebt oder weil er etwas Leichteres bevorzugen würde.

»Oscar, kommst du bitte?«

Meine Mutter schreit einmal durchs Haus, auch wenn mein Vater im Nebenraum ist. Vermutlich weil sie von der Arbeit nur schwerhörige alte Menschen gewohnt ist. Auf jeden Fall stellt sie die Töpfe auf den Tisch und beginnt, die Teller zu füllen. Doch bevor sie bei meinem ankommt, beeile ich mich, ihr die Kelle wegzunehmen.

»Warte! Das mache ich.«

Ich weiß, dass sie mich kritisch anschaut. Sie hat Angst, dass ich zu wenig esse. Aber ich finde die Portion, die ich mir auf meinen Teller lade, absolut ausreichend. Das muss sie sein, wenn ich abnehmen will.

»Alexis, nimm dir ruhig mehr.«

»Das reicht, Mom.« Ein flüchtiger Blick zeigt mir, dass sie keinesfalls überzeugt ist. Also hänge ich schnell an: »Und wenn nicht, kann ich mir ja nachnehmen.«

Dass das seit Wochen nicht mehr vorkommt, wissen wir beide. Trotzdem gibt meine Mutter mit einem erschöpften Seufzen nach. Ihr Arbeitstag muss wieder anstrengend gewesen sein.

»Na gut, wenn du meinst. Oscar!«

»Ich bin schon da!«

Mein Vater trottet in die Küche und lässt sich auf seinen angestammten Platz fallen. Ich husche schnell zum Wasserhahn und schenke mir ein großes Glas Wasser ein, das ich in einem Zug herunterstürze, bevor ich es erneut fülle und mich ebenfalls am Tisch niederlasse. Das hilft, den Magen voll zu halten.

Dann beginnt unser allabendliches Ritual. Mein Vater schenkt sich sein Bier ein und fragt mit einem Lächeln auf den Lippen, das man unter dem Vollbart kaum erkennt: »Na, wie war der Tag meiner zwei Hübschen?«

Und dann ist es an mir, eine Geschichte zu erfinden, wie toll mein Schultag war.

Aber irgendwann, das habe ich mir geschworen, werde ich nichts mehr verheimlichen müssen. Denn dann werden die Leute nicht mehr auf mir herumtrampeln.

Kapitel 1

Ich hasse die ersten Sekunden am Morgen. Wenn man noch halb im Schlaf ist und Traum und Realität zu etwas seltsam Konfusem verschmelzen. Manche Menschen lieben diesen Moment. Das Gefühl, zwischen den Welten zu schweben und für eine Sekunde einfach da und doch auch nirgendwo zu sein. Für mich ist es das schlimmste Gefühl von allen. Keine Kontrolle zu haben. In diesen Momenten holt mich die Vergangenheit ein. Dann bin ich wieder das fette Kind in der Schule. Bekomme Dinge nachgeworfen und ernte nichts als verächtliche Blicke. Ich bin erneut hilflos dem Willen meiner Peiniger ausgeliefert, während die Scham über mich selbst von Tag zu Tag wächst.

Auch heute reiße ich, kurz bevor mein Wecker klingelt, die Augen auf und starre im Dunkeln an die Decke. Mit wild klopfendem Herzen zwinge ich meinen Körper dazu, ruhig liegen zu bleiben, während ich Atemzug für Atemzug meine Albträume im hintersten Winkel meines Verstandes verschließe. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wer ich heute bin und was ich erreicht habe. Aber es ist ein mentaler Wettstreit, und ob ich über die Erinnerungen gewonnen habe, wird sich erst im Laufe des Tages zeigen.

Seufzend drehe ich mich zur Seite und taste nach meinem Handy, das auf meinem Nachttisch liegt, gerade als es aufleuchtet und zu piepen beginnt. Es gibt bestimmt Menschen, die dankbar wären, immer vor ihrem Wecker wach zu sein. Ich könnte darauf verzichten. Aber wenn mich das Leben eins gelehrt hat, dann, dass es kein Wunschkonzert ist. Also beeile ich mich, meine Nachttischlampe einzuschalten, um die Dunkelheit endgültig dem Tag weichen zu lassen.

Silvia, meine Mitbewohnerin, bewegt sich grummelnd auf der anderen Seite des Zimmers. Sie ist noch weniger ein Morgenmensch als ich, aber da auch sie in einen Kurs muss, schnappe ich mir ein Kissen und werfe es nach ihr.

»Aufstehen.«

Mehr sage ich nicht, und viel mehr wird man aus mir auch nicht rausbekommen, bis ich meinen ersten Kaffee hatte. Also überlasse ich es meiner Mitbewohnerin, selbst aus den Federn zu kommen, und stehe auf.

Die Februarkälte lässt mich bibbernd die Arme um mich schlingen. Selbst die Heizung kommt dagegen kaum an, was an der schlechten Isolierung des Wohnheims liegt. Aber versuchen kann ich es zumindest. Also drehe ich die Heizung zwischen Silvias und meinem Bett auf und schlüpfe schnell in meine Hausschuhe, bevor ich zum Kleiderschrank schlurfe. Den Rollladen des einzigen Fensters unseres kleinen Zimmers lasse ich gleich unten. Draußen ist es eh stockfinster, und der Anblick ist mehr deprimierend als aufheiternd. Gott, ich bin so was von bereit für den Sommer. Das Leben ist deutlich erträglicher, wenn man von der Sonne geweckt wird.

Der Sommer wird aber noch etwas auf sich warten lassen, also hole ich einen dicken Strickpulli und eine enge blaue Jeans aus meinem Kleiderschrank, um mich auf den Weg zum Gemeinschaftsbad zu machen. Draußen auf dem Flur erwacht das Wohnheim langsam zum Leben. Von überall sind Türen zu hören, die auf- und zugemacht werden, müde Begrüßungen und schlurfende Schritte. Mir gegenüber treten zwei verschlafene Erstsemester auf den Gang und bei mir legt sich ein Schalter um. Meine Schultern spannen sich an, und mein Mund verzieht sich zu einem Halblächeln, das ich wie eine Rüstung trage. Es macht aus dem kleinen fetten Mädchen die selbstbewusste Alexis von heute.

Für diese Rolle habe ich mich in der Sekunde entschieden, als ich den ersten Schritt auf den Campus gesetzt habe. Ich war fest entschlossen, die Schulzeit hinter mir zu lassen und mich neu zu erfinden. Als jemand, der zu den Beliebten gehört. Auf jede Party eingeladen wird. Und ein Jahr lang hat es auch funktioniert. Bis Carly kam, bis …

Schnell flüchte ich unter die heiße Dusche, um den Gedanken zu entkommen, die sich nach oben drängen wollen. Ich kann sein, wer ich will. Daran muss ich mich festhalten, wenn ich diesen Tag überstehen will. Und nach der Dusche habe ich mich zumindest so weit davon überzeugt, dass das Lächeln auf meinen Lippen anhält, als ich mich neben den anderen Mädchen an den Waschbecken einreihe.

So unauffällig wie möglich taxiere ich mich im Spiegel. Wende kritisch den Kopf hin und her, um die Konturen meines Gesichts zu studieren. Keine Pausbäckchen. Ein erleichtertes Seufzen entkommt mir. Dann betrachte ich meinen Körper. Meine Beine, meinen Bauch und meine Arme. Nichts soll herunterhängen oder schwabbelig aussehen. Erst nach dieser Überprüfung kann ich beruhigt meine Klamotten anziehen und zu meiner restlichen Morgenroutine übergehen.

Dreißig Minuten später benötige ich dringend eine Portion Koffein, auch wenn ich dafür raus in die Kälte muss. Das Campus-Café liegt glücklicherweise auf dem Weg zur juristischen Fakultät, sodass ich keinen Umweg machen muss. Trotzdem bibbere ich erbärmlich und sauge begierig den Duft nach frisch gerösteten Kaffeebohnen in mich auf, als ich den schon gut besuchten Laden betrete. Mit einem Seufzen bleibe ich kurz im Eingang stehen und lockere meine verspannten Schultern, die ich in der Kälte bis zu den Ohren hochgezogen habe.

Dann lasse ich aus Gewohnheit den Blick über alle Anwesenden schweifen. Die Studenten haben sich in einer Schlange vor dem Tresen aufgestellt und befinden sich alle in unterschiedlichen Stadien des Schlafwandelns. Ein Kerl mit wuscheligem Lockenkopf kippt fast vornüber, bevor er rechtzeitig aus seinem Halbschlaf aufwacht und sich wieder fängt. Der Anblick will mir ein Kichern entlocken, bis der Kerl sich verlegen am Kopf kratzt und schaut, ob jemand seinen Fauxpas bemerkt hat … und mir klar wird, dass ich das Gesicht kenne.

Lee.

Schnell wende ich mich ab, damit er mich nicht beim Starren erwischt. Wieso muss ich ihm ausgerechnet hier über den Weg laufen? Als bester Freund des Freundes meiner besten Freundin begegnen wir uns für meinen Geschmack sowieso viel zu oft. Was nicht schlimm wäre, gäbe es da nicht diese eine Nacht, die wir gemeinsam verbracht haben … und die ich mit einem katastrophalen Nervenzusammenbruch beendet habe. Die Erinnerung ist peinlich, und auch wenn er nichts dafür kann, wie verkorkst ich bin, macht mir Lees Anwesenheit meine eigene Schwäche bewusst. Zumal das nicht der einzige verletzliche Moment war, den er von mir erlebt hat. Alles Dinge, an die ich tunlichst vermeide zu denken. Womit ich auch tunlichst vermeide, Lee zu begegnen.

Möglichst teilnahmslos gehe ich an ihm und der restlichen Schlange vorbei. Dabei wird mein übliches Halblächeln breiter und flirtender.

»Hi, Matt.«

Einer der Baristas schaut beim Klang meiner Stimme auf, und mir tut es fast ein bisschen leid, als er sofort zu strahlen anfängt. Doch was auch immer von meinem Anstand die letzten Jahre übrig geblieben ist, ist auf jeden Fall nicht genug, um mich davon abzuhalten, für eine Abkürzung zu meinem ersten Kaffee am Morgen zu flirten.

»Oh, wow, ist das ein neues Abzeichen auf deiner Schürze?«

Als wäre ich wirklich begeistert, lehne ich mich über den Tresen und tippe Matt auf das kleine aufgestickte Stoffstück, sobald er, mit einem halb fertigen Kaffee in der Hand, zu mir rüberkommt.

»Ja, wir hatten am Wochenende unsere Fortbildung. Ich bin jetzt offiziell befähigt, dir jede Kaffeekreation zuzubereiten, die dein Herz begehrt.«

Das Zwinkern, das Matt mir bei seinen Worten zuwirft, soll sexy wirken, aber dafür ist er einfach zu nett mit seinem etwas zu breiten Lächeln und den etwas zu langen Haaren, die in alle Richtungen abstehen. Trotzdem gehe ich darauf ein und werfe mir mit einem Lachen die Haare über die Schulter, wie ich es bei jedem Mann tue, den ich attraktiv finde. Nur dass es nicht er ist, den ich haben will, sondern den Kaffee, von dem er gerade gesprochen hat.

Mit einem verführerischen Lächeln stütze ich mich auf der Theke ab und beuge mich ein Stück vor, als wäre das Nächste, was ich sage, etwas Privates nur zwischen uns beiden. Die Art, wie Matt sich daraufhin zu mir beugt, verrät, dass er auf die Masche anspringt. Was mich nicht überrascht. Nicht nur weil das ein fast tägliches Ritual zwischen uns geworden ist, sondern weil ich gut darin bin, Männer zu lesen. Zu wissen, wer ich sein muss und wie ich mich verhalten muss, um bei ihnen genau das zu erzielen, was ich möchte.

Matt gehört zu dem Typ, der dir auf dem ersten Date alte Platten vorspielt und mit voller Begeisterung über die großen Musiker des letzten Jahrhunderts erzählt. Er gehört zu den Träumern und Optimisten, die in jedem das Gute sehen. Dabei wünscht er sich nur, etwas Besonderes mit jemandem zu teilen. Und genau das ist das Gefühl, was man ihm geben muss: Vertrautheit. Als hätten wir eine einzigartige Verbindung.

Deswegen schaue ich ihm offen in die Augen, als würde ich vor ihm nichts verbergen, während ich mit dem süßesten Lächeln und dem unschuldigsten Tonfall sage: »Wirklich? Würdest du für mich eine dieser neuen Kreationen machen?«

Matts Augen blitzen freudig auf, bevor er mit einem strahlenden Lächeln nickt. »Klar! Lass dich überraschen, das ist wirklich der Oberhammer, was wir gelernt haben. Du wirst begeistert sein!«

Als würde ich seine Aufregung teilen, lache ich und beobachte, wie er den halb fertigen Kaffee in seiner Hand abstellt, um sich sogleich ans Werk zu machen. Kurz will mich ein schlechtes Gewissen überkommen, wegen des armen Studenten, der nun länger auf seine Portion Koffein warten muss. Aber dieses Gefühl ist genauso schnell wieder verflogen.

Stattdessen nutze ich die Zeit, um mir die anderen Leute im Café genauer anzuschauen. Es ist schnell zu erkennen, wer in der sozialen Hierarchie am College von Belang ist. Da wäre natürlich Lee, der in der Schlange ansteht, die von einem anderen Barista bedient wird. Als Mitglied des Eishockeyteams ist er wohl der begehrteste Junggeselle in diesem Raum.

Zudem ist da noch eine Dreiergruppe Mädchen. Sie sind hübsch, wenn auch auf diese das-liebe-Mädchen-von-nebenan-Art. Aber das ist nicht der Grund, wieso sie mir aufgefallen sind. Das liegt eher daran, dass zwei von ihnen zu mir hinüberstarren, als hätte ich ihnen Salz statt Zucker in ihren Kaffee gekippt. Oder als wären sie absolut nicht damit einverstanden, dass ich hier eine Sonderbehandlung erhalte.

Die Brünette von ihnen zieht genervt die Nase kraus, als sich unsere Blicke treffen. Ich weiß, was sie von mir denkt. Aber das ist das Schöne, wenn man sich seine schlechten Seiten selbst eingesteht. Wenn man sie mit voller Absicht auslebt. Mir ist es scheißegal, was dieses Mädchen von mir denken mag. Genau genommen macht mich ihre Verachtung stark. Denn wenn sie mich verachten und doch nichts sagen, denken sie, ich bin außerhalb ihrer Reichweite. Und dann können sie mir nichts anhaben.

Neben mir wird ein Becher abgestellt, und noch in der Sekunde, in der ich mich wieder zu Matt umdrehe, liegt ein süßes Lächeln auf meinen Lippen, sodass auch ich als das liebe Mädchen von nebenan durchgehen könnte.

»Bitte schön, das ist ein Hazelnut-Choco-Macchiato, natürlich mit Mandelmilch und kalorienreduziert. Das Besondere daran ist die Röstung der Bohnen, die wir ganz neu haben …«

Matt gleitet in seine üblichen Ausschweifungen über Kaffeesorten ab, denen ich nur mit halbem Ohr zuhöre, um im richtigen Moment die richtigen Laute von mir zu geben. Das Ganze lass ich etwa eine Minute laufen, bis ich ihm eine Hand auf den Arm lege, was ihn mitten im Satz stoppen lässt. Als würde ich es bedauern, lächle ich entschuldigend. »Matt, es tut mir so leid, aber ich muss los zu meinen Vorlesungen.«

Und weil Matt wirklich zu den Guten gehört, wirkt er im nächsten Moment zerknirscht, so, als hätte er etwas Falsches gemacht. »Sorry, ich wollte dich nicht aufhalten. Ich hoffe, der Kaffee schmeckt dir.«

Am liebsten hätte ich gesagt, er solle sich nicht so einen Kopf machen, immerhin nutze ich ihn aus. Stattdessen nehme ich nur einen großen Schluck von dem warmen und tatsächlich himmlisch schmeckenden Getränk und sage die ersten Worte während unserer Begegnung, die vollkommen aufrichtig gemeint sind. »Das ist göttlich, Matt, vielen Dank!«

Das Kompliment bringt ihn zum Strahlen, und es ist nicht aufgesetzt, als ich zurücklächle und ihm das Geld für den Kaffee gebe. Danach beeile ich mich, so schnell wie möglich das Weite zu suchen. Mit einem weiteren Schluck von dem Macchiato streife ich das ehrliche Lächeln von meinem Gesicht und ersetze es mit einer bittersüßen Variante, als ich der Brünetten, die mich noch immer verächtlich beobachtet, beim Verlassen des Cafés provokant zuproste.

Kapitel 2

Die Vorlesungen ziehen sich wie jeden Montag in die Länge, denn im Gegensatz zu Row bin ich keine begeisterte Studentin. Ich komme zwar überall gut durch, aber mein Antrieb ist nicht das Lernen an sich, sondern die Ziele, die ich mir gesetzt habe. Deswegen verbringe ich meine Zeit mit Jura, anstatt mich in die einfachsten Kurse einzutragen und die Collegezeit bestmöglich auszunutzen. Ich habe mir und der Welt etwas zu beweisen, und das lässt mich die Zähne zusammenbeißen, um mich durch all die Gesetzesparagrafen und Fallbeispiele durchzuquälen. Trotzdem brummt mir bis zur Mittagszeit der Schädel, und der einzige Lichtblick am Ende des Tunnels ist, dass ich heute Nachmittag nur noch einen Kurs habe.

Davor muss ich jedoch erst einmal was essen. Matts Kaffee war zwar himmlisch, aber nachdem ich seit gestern Abend nichts mehr zu mir genommen habe, knurrt mein Magen inzwischen heftig. An sich habe ich nichts gegen das Gefühl. Es erinnert mich daran, dass ich diejenige mit der Kontrolle über meinen Körper bin. Ich bestimme, wann ich etwas esse und wie viel. Es gab schon Tage, da bin ich ohne einen Bissen ins Bett gegangen. Alles, was meinen Magen gefüllt hat, waren mehrere Liter Wasser. So lag ich nachts wach, die Augen zwar geschlossen, aber nur, um meine Konzentration nach innen zu richten. Zu spüren, wie sich mein Magen schmerzhaft zusammenzieht, um mich dazu zu zwingen, ihm Nahrung zu geben. Und mich allein durch Willenskraft davon zu überzeugen, dass er das gar nicht braucht. Es ist wie ein Kampf gegen sich selbst. Es ist Macht. Disziplin. Selbstbeherrschung. Und wenn der Fokus so stark auf dem eigenen Körper liegt, schaltet der Kopf endlich ab. Alles, woran ich dann denke, ist der Hunger und wie ich ihn kontrollieren kann. Da ist kein Platz mehr für etwas anderes. Für Erinnerungen und die Vergangenheit.

Für einen Moment halte ich auf meinem Weg zur Mensa inne. Diese Leere in meinem Kopf ist alles, was ich mir wünsche. Frieden. Ruhe. Mein Herz zieht sich bei dem Gedanken schmerzhaft zusammen, während mein Atem flach wird.

Aber bevor mein Verstand die Kontrolle abgibt und dieses Verlangen übernimmt, taucht ein Bild in meinem Kopf auf. Von Row, wie sie im Dezember tagelang kaum von meiner Seite gewichen ist. Wie sie so lange mit mir am Tisch saß und mich angestarrt hat, bis ich meinen Teller aufgegessen habe. Row, wie sie mir meine liebsten Süßigkeiten vorbeibringt und mich nicht nur daran erinnert, dass Essen notwendig ist, sondern dass es auch Spaß machen kann. Dass ich es genießen sollte.

Ich schlucke schwer und nehme meinen Weg wieder auf. Der Winter war eine dunkle Zeit. Ich kann mich an ein paar Tage nicht mehr erinnern, vielleicht weil ich es nicht will oder weil ich nichts anderes getan habe, als in meinem abgedunkelten Zimmer zu sitzen. Ich gebe ungern gegenüber anderen zu, wie schwer Carly mich wirklich getroffen hat. Um ehrlich zu sein, hat sie mich in ein tiefes finsteres Loch gestürzt, aus dem ich mich immer noch hervorkämpfen muss. Und ich bin mir sicher, ohne Row wäre ich auf halbem Wege längst wieder abgestürzt.

Nachdem Carly vom College geflogen ist und der Tumult sich gelegt hat, habe ich mich zwar wieder in den Sattel geschwungen, habe Elisa und Heather angeschrieben und bin zu der Person zurückgekehrt, die ich sein will: die Partyqueen, deren größte Sorge ist, wie sie betrunken nach Hause kommt. Trotzdem scheint nichts wie früher zu sein. Mehr so, als ob die Welt sich eine Sekunde langsamer dreht oder einen Grad von ihrem Kurs um die Sonne abgekommen ist. Es ist fast richtig und doch so falsch.

So ist es auch, als ich die Mensa betrete. Der Lärm der Studenten überrollt mich wie eine große Welle und löst ein nervöses Kribbeln in meinen Fingerspitzen aus. Es ist eine Mischung aus Angst und Aufregung. Ein Abklatsch von der Panik, die mich in der Schule ergriffen hat, wenn ich einen mit Menschen gefüllten Raum betreten musste. Vor Carly war es für mich ein High, wenn ich es wagte, den Schritt zu gehen, und das erwartete Übel ausblieb. Weil ich es geschafft hatte. Weil die Blicke mir mit Staunen und Achtung folgten.

Heute baut sich der Rausch auf, lässt mein Herz höherschlagen, und kurz bevor das Grinsen sich auf mein Gesicht schleichen will … kippt das Gefühl. Aus dem Kribbeln in meinen Fingern wird Taubheit, die mich die Hände immer wieder zu Fäusten ballen lässt. Und anstatt durch den Raum zu schweben, erwische ich mich dabei, wie ich mich verunsichert umschaue. Ich fühle mich den Blicken ausgeliefert. Denn sie alle wissen, wie ich früher aussah. Dank Carly.

Mit einem tiefen Atemzug schüttle ich den Gedanken ab. Erinnere mich daran, dass ich entscheide, wer ich bin, und bahne mir den Weg zur Essensausgabe. Ich weiß, dass niemand mir ansieht, welchen Kampf ich innerlich ausfechte. Darin bin ich Meisterin geworden. Äußerlich habe ich eine selbstgefällige Miene aufgesetzt, benehme mich, als könnte mich nichts verunsichern. Innerlich zucke ich zusammen, wann immer mich ein Blick trifft, der besagt: Wir haben das Bild nicht vergessen.

Aber die beste Verteidigung bleibt nun mal, keine Schwäche zu zeigen. Also schnappe ich mir ein Tablett und stelle mir meinen Salat zusammen. Viel Rohkost, wenig Dressing, Pute für die Proteine. Dazu hole ich mir einen Smoothie, und dann kommt der Teil dieses alltäglichen Rituals, der mir endgültig vor Augen führt, dass die Dinge sich geändert haben.

Ich habe mir in der Schulzeit nichts mehr gewünscht, als am Tisch der Beliebten zu sitzen. Der Sportler, der Hübschen, der Personen, die bei allem dabei sind. Und seit meinem ersten Tag am College hatte ich es geschafft. Jeden Mittag saßen Elisa, Heather und ich bei den Sportlern – mal beim Footballteam, dann bei den Fußballern oder dem Eishockeyteam –, haben mit den Jungs geredet, geflirtet und Kontakte geknüpft.

Auch jetzt steuere ich einen Sportlertisch an. Trotzdem ist es anders. Denn im Gegensatz zu der Zeit mit Elisa und Heather habe ich nun einen festen Platz. Einen Platz, der nur für mich freigehalten wird. Eigentlich hört sich das nach einem Upgrade an. Wie die erste Klasse im Flugzeug. Nur dass ich mir das First-Class-Ticket nicht selbst verdient habe. Und das lässt mit jedem Schritt, den ich auf den Tisch zumache, den Stein in meinem Magen größer werden.

Row bemerkt mich nicht, weil sie zu vertieft in ein Buch ist, das neben ihrem unberührten Essen liegt. Der Anblick ist mir alt vertraut, sodass ich ein Schmunzeln nicht zurückhalten kann. Row mit einem Buch ist quasi ihr natürlicher Zustand. Aber anders als in dem Jahrzehnt, das ich sie nun schon kenne, sitzt sie nicht abseits in einer stillen Ecke. Stattdessen ist sie umgeben von einer Horde Eishockeyspieler. Und niemand anderes als der berühmt-berüchtigte Jonah Grayham sitzt direkt neben meiner besten Freundin, einen Arm über die Rückenlehne ihres Stuhls gelegt, und zieht ihr just in diesem Moment das Buch unter der Nase weg.

Row schaut empört auf, bis sie entdeckt, dass es nur Gray ist, der sie mit einem spitzbübischen Grinsen betrachtet. Das glättet ihre gerunzelte Stirn, und ein Lächeln schleicht sich auf ihr Gesicht, das ich bei Row erst wieder sehe, seitdem sie mit Gray zusammen ist. Es ist das Lächeln des kleinen glücklichen Mädchens, das ich von früher kenne.

Sie versucht, das Buch von Gray zurückzuerobern, aber der Kampf ist ziemlich unfair, wenn man bedenkt, dass Grays Arme viel länger sind und er nicht mehr machen muss, als sich ein bisschen zu strecken, um das Buch aus ihrer Reichweite zu halten. Vor einem Jahr hätte Row dieses Verhalten noch völlig kindisch gefunden und Gray nur einen kalten Blick geschenkt. Aber Row hat sich genauso wie alles andere verändert. Heute versucht sie kichernd, sich das Buch zu schnappen, und krabbelt dabei halb auf ihren Freund.

Gray hat sie dazu gebracht, über sich selbst hinauszuwachsen. Einen Teil ihrer Angst abzulegen. Und diese Unbeschwertheit sieht man ihr an, als sie innehält und ein verräterischer Ausdruck über ihr Gesicht huscht. Anstatt sich weiter zu bemühen, an das Buch zu kommen, platziert sie sich vollends auf Grays Schoß, nimmt sein Gesicht in beide Hände und küsst ihn. Und der Plan geht auf: Nach einem Moment der Überraschung lässt Gray die Arme sinken, um sie lieber um seine Freundin zu legen – was diese sogleich ausnutzt, sich das Buch schnappt und keine Sekunde später kichernd wieder auf ihrem eigenen Stuhl sitzt.

Eigentlich sollte mich der Anblick mit Freude erfüllen. Meine beste Freundin ist glücklich. Aber da ist auch dieses andere Gefühl. Dieser dunkle erstickende Schleier, der sich über alles andere legt. Denn Row ist an einen Ort gekommen, an den ich ihr nicht folgen kann. Sie hat es rausgeschafft aus dem Loch, in dem ich noch immer festsitze. Und alles, was ich machen kann, ist, von meinem Platz aus zu ihr hochzuschauen und mir zu wünschen, dort mit ihr zu sein. Nur dass ich das niemals sein werde. Denn Row ist anders als ich. Sie wurde im Kern nie verdorben. Die Vergangenheit hat sie gelehrt, dicke Schutzmauern um sich aufzubauen. Dahinter hat sich jedoch diese hoffnungsvolle, liebenswerte Persönlichkeit verborgen, die durch Gray wieder zum Vorschein kommt. Im Gegensatz dazu bin ich eine leere Hülle. Das, was ich nach außen zeige, ist alles, was ich habe. Es gibt nichts Schönes, was man wieder hervorbringen könnte.

Also ist mein Lächeln halb echt, halb falsch, als ich die letzten Meter zum Tisch überwinde, an dem die halbe Eishockeymannschaft inklusive Row Platz genommen hat.

»Gray, du solltest doch inzwischen gelernt haben, dass sich nichts zwischen Row und ihre Bücher stellen kann.«

Ich lasse die Stichelei so scherzhaft wie möglich klingen, trotzdem meine ich, einen giftigen Unterton herauszuhören. Der Gram darüber, dass es sehr wohl eine Sache gibt, die sich zwischen Row und ein Buch stellen könnte: und zwar Gray. Aber anscheinend bin ich die Einzige, die mitbekommt, was für ein schlechter Mensch ich bin, weil ich es nicht schaffe, meiner besten Freundin ihr Glück zu gönnen. Alle anderen am Tisch blicken kaum von ihrem Essen auf, um mir zum Gruß ein kleines Nicken zu schenken.

Noch etwas, das sich verändert hat. Früher hätten mich ein paar von ihnen abgecheckt oder mir bedeutungsvoll zugelächelt. Jetzt bin ich die beste Freundin von der Freundin eines Teamkameraden und damit genauso interessant wie die eigene Schwester. Es ist, als hätte ich für alle aus dem Eishockeyteam fett auf der Stirn stehen: rein platonisch. Und wenn ich eine Sache nicht will, dann sind es platonische Freundschaften.

»Ach, Alexis, du weißt doch, für mich gelten andere Regeln.«

Gray zwinkert mir mit seinem typischen Lächeln zu. Damit bekommt er so gut wie jede Frau rum, da bin ich mir sicher. Mich hätte er damit unter anderen Bedingungen auf jeden Fall um den Finger gewickelt. So muss ich mir jedoch eine Grimasse verkneifen, weil er der Wahrheit viel zu nahekommt. Zum Glück bleibt mir jedoch eine Antwort erspart, da Row sich einmischt.

»Stimmt, als dein Lernbuddy darf ich dich nämlich jeder Zeit maßregeln.«

Ihre Worte werden von einem kleinen Klaps auf Grays Hinterkopf begleitet, mit dem dieser nicht gerechnet hat. Schmollend dreht sich Gray zu seiner Freundin um und reibt sich die Stelle.

»He, für was war der denn? Ich habe gedacht, die Schläge werden nur zu pädagogischen Zwecken eingesetzt.«

Absolut nicht daran interessiert, ihrem Freund über das kleine Wehwehchen hinwegzuhelfen, lehnt sich Row mit verschränkten Armen zurück und funkelt Gray an.

»Oh, das war pädagogisch sinnvoll! Bescheidenheit ist eine Tugend, die man dir definitiv noch beibringen muss.«

Darauf erwidert Gray nichts und schmollt weiter. Doch keine zwei Minuten später ist alles wieder vergessen, und die Mittagspause nimmt ihren üblichen Lauf. Die beiden kehren zu ihrem Zuckersüßes Pärchen-Status zurück, während quer über den Tisch die verschiedensten Leute miteinander reden. Nur ich halte mich aus allem heraus und stochere in meinem Salat herum, als wäre er das Interessanteste der Welt. Etwas anderes weiß ich unter all den fröhlichen Menschen nicht mit mir anzufangen.

»Sag mal, wie geht es eigentlich Sean?«

Bas, der gegenüber von Gray, Row und mir sitzt, merkt bei der Frage von einem der anderen Eishockeyspieler auf. Erst da wird mir bewusst, wie viel Glück ich habe, dass Lee nicht wie sonst hier ist. Die Begegnung heute Morgen hat mir schon gereicht.

»Läuft alles ganz gut. Soweit ich weiß, darf er ab heute richtig ins Gerätetraining einsteigen. Wartet es ab, bald geht der Kerl uns auf dem Eis wieder mächtig auf die Nerven.«

Immer noch damit beschäftigt, möglichst unbeteiligt zu wirken, kann ich das Grinsen auf Bas’ Lippen nur aus den Augenwinkeln erkennen. Aber sein Tonfall spricht Bände: Diese Jungs würden füreinander durchs Feuer gehen. Und in Wahrheit vermissen sie es, ihren Teamkameraden auf dem Eis zu haben.

Der Gedanke berührt etwas so tief in mir, dass mir davon übel wird. Manchmal kann ich nicht verstehen, wie diese Leute und ich auf derselben Erde aufgewachsen sind.

Kapitel 3

Irgendwie geht auch der Nachmittagsunterricht vorbei, trotz der trockenen Vorlesung zu Unternehmensjura. Dabei hilft, dass ich es kaum noch erwarten kann, endlich zum Training zu gehen. Mein Fuß wippt die letzten zehn Minuten des Unterrichts unruhig neben meiner Sporttasche auf und ab. Ich muss endlich hier raus, weg von all den Menschen, und mich bewegen. Sport hat wohl die gleiche Bedeutung für mich wie Bücher für Row. Ohne bin ich nicht ich. Ohne würde ich komplett durchdrehen.

Beinahe hätte ich erleichtert aufgeseufzt, als der Dozent endlich seinen Vortrag beendet und uns entlässt. Stattdessen zwinge ich mich zu warten, bis die Leute um mich herum ihre Sachen zusammengepackt haben, und tausche dabei freundliche Floskeln aus. So wie sich das gehört, auch wenn ich mich am liebsten an allen vorbei aus dem Raum gedrängt hätte.

»Wow, die Schuhe sind neu, oder? Die stehen dir richtig gut!« Auf meinen Kommentar hin dreht sich meine Sitznachbarin Melanie um und grinst breit. Sie ist eine kleine Brünette, deren Bruder im Semester über uns ist und zu dem Typ schnuckeliger Musiker gehört. Zudem liegt in der Familie viel altes Geld, weshalb ich mich zum Anfang des Semesters bewusst neben sie gesetzt habe. Auch wenn sie mir regelmäßig ein Ohr über ihre letzte Shopping-Tour abkaut.

»Danke! Ich habe sie am Wochenende gekauft. Aber du weißt nicht, was für ein Glück es war, dass ich noch ein Paar bekommen habe! Das Outletcenter, in dem ich war, war völlig überfüllt und …«

Ich höre mit halbem Ohr zu, während mein Blick immer wieder zur Tür gleitet, durch die sich die ersten Studenten drängen. Meistens reicht es, an den richtigen Stellen zustimmende Laute zu geben, um Melanie bei Laune zu halten. Trotzdem bin ich froh, als wir Gesellschaft bekommen und sich die Unterhaltung in eine andere Richtung verlagert.

»Hey, Mädels! Darf ich mich zu zwei so bezaubernden Damen dazugesellen?« Dave hält vor unserem Tisch an und grinst, als hätte er den besten Spruch der Welt gebracht. So ist das meistens mit ihm, aber keiner weist ihn darauf hin, dass er oft ziemlichen Humbug von sich gibt. Das könnte daran liegen, dass sein Vater ein angesehener Anwalt und, noch wichtiger, die Familie schon seit Ewigkeiten Teil einer alteingesessenen Verbindung ist. Damit stellt er eine der besten Connections in die Berufswelt dar, die man an diesem College finden kann. Also lache ich zusammen mit Melanie, während wir uns endlich Richtung Tür bewegen – wenn auch viel zu langsam.

»He, am Freitag wollen ein paar von uns in die Moonlight Bar, habt ihr Lust mitzukommen?« Dave strahlt uns abwechselnd an. In seinem weißen Hemd und mit der viel zu teuren Aktentasche passt er bestens zur Kundschaft der Moonlight Bar. Wenn man nicht bereit ist, mindestens einen Hunderter am Abend dort zu lassen, sollte man die Bar erst gar nicht betreten.

Innerlich verziehe ich das Gesicht, während Melanie bereits begeistert zustimmt. So habe ich mir mein Wochenende nicht vorgestellt. Den ganzen Abend das anständige Mädchen vorspielen, während die reichen Kerle einem in den Ausschnitt glotzen. Ich habe eher Spaß daran, wenn ich nicht so tun muss, als gäbe es in dieser Welt Anstand. Also gebe ich mit einem Lächeln ein nichtssagendes »Ich muss mal schauen« von mir und verabschiede mich, weil wir endlich aus dem Raum sind.

Mein Tagesbedarf an Oberflächlichkeiten ist definitiv gedeckt. Ich weiß, dass das nicht gut ist. Dass man, um den Anschluss zu halten, soziale Kontakte pflegen muss. Man muss sinnloses Zeug plaudern, lachen, fröhlich sein und tun, als wäre man gerne hier. Und meistens bin ich darin wirklich gut. Alles Übungssache. Aber ich brauche eine Pause, um meine Akkus wieder aufzuladen. Und der Sport wird mir genau diese Pause verschaffen.

Mein Fitnessstudio ist ein Stück vom Campus entfernt, auf der anderen Seite der Stadt. Ich hätte mich zwar auch wie die meisten Studenten zu einem reduzierten Preis im Fitnessstudio des Colleges anmelden können, aber der Sport ist meine Oase. Wenn ich schwitzend auf dem Laufband stehe, will ich mich um nichts anderes scheren. Nicht um mein Aussehen oder die Art, wie ich mich gebe, weil andere Studenten mich sehen könnten. Also habe ich mich bei einem Studio angemeldet, in dem man vor allem Hausfrauen und Geschäftsmänner antrifft, die sich den angeschlossenen Wellnessbereich und die spezialisierten Personaltrainer leisten können. Das schlägt zwar auf die Tasche, aber manche Dinge sind das Geld einfach wert. Und den Kopf freizubekommen, gehört definitiv dazu. Zudem habe ich das Glück, nicht auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen zu sein, was den Weg dorthin deutlich erleichtert.

Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht, sobald ich meine schon in die Tage gekommene alte Dame sehe, die mich jedoch noch nie im Stich gelassen hat. Der rote Ford Fiesta steht zwischen jeder Menge neuerer, größerer und teurerer Autos auf dem Studentenparkplatz, im Gegensatz zu den anderen ist er jedoch frisch gewaschen. Darauf lege ich Wert. Dieses Baby ist meine Möglichkeit, jeder Zeit einfach Tschüss zu sagen und hinzufahren, wohin ich will. Es ist Freiheit.

Ein Teil der Last, die sich über den Tag in mir aufgebaut hat, fällt von mir ab, sobald ich meine Trainingstasche auf den Beifahrersitz schmeiße und den Schlüssel in der Zündung umdrehe. Der Motor hat sich zwar schon besser angehört, aber dafür versorgt mich die speziell eingebaute Stereoanlage mit dem nötigen Beat, um tief durchzuatmen. Dabei ist heute kein schlechter Tag. Ziemlich durchschnittlich, wenn ich es mir so recht überlege. Keine Zwischenfälle oder ungewöhnliche Gedanken. Nur der übliche Mist, der sich mein Leben nennt. Trotzdem reicht ein durchschnittlicher Tag bereits, um mich erleichtert aufseufzen zu lassen, als ich vom Campusgelände herunterfahre und mich in den Verkehr einfädele. Meine Mundwinkel verziehen sich nicht mehr krampfhaft zu diesem vorgetäuschten Halblächeln, und auch meine Schultern sacken herunter, bis ich gemütlich im Fahrersitz lungere. Es ist der Himmel.

Und da ich nicht vorhabe, diesen kleinen Moment des Friedens wieder aufzugeben, stöpsle ich mir, als ich den Parkplatz meines Fitnessstudios erreiche, noch im Auto meine Kopfhörer in die Ohren. Die Musik begleitet mich in die Umkleide und von dort aus in den Gerätebereich und hält meinen Kopf davon ab, sich mit etwas anderem zu beschäftigen als mit den gebrochenen Herzen und schmerzhaften Trennungen, von denen die Musiker singen. Glücklicherweise ist es noch nicht so spät, dass die Berufstätigen nach der Arbeit die Geräte belegen, sodass ich direkt auf ein Laufband kann. Damit fängt jede meiner Trainingssessions an. Cardio, um den Puls hochzubekommen und den Körper zum Fettverbrennen anzuregen.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, was für eine Qual Joggen vor einigen Jahren für mich gewesen ist. Selbst der Weg zum Bus war mir damals zu weit. Jetzt liebe ich die Art, wie die Lunge brennt, wie die Beine zunächst müde werden, bis es irgendwann keine Mühe mehr kostet, sie immer schneller zu bewegen. Der Körper übernimmt die Kontrolle und setzt automatisch einen Fuß vor den anderen. Und der Geist schwebt einfach davon.

Ich verliere mich so sehr in meinem Rhythmus, dass ich unbewusst eine breite Gestalt in dem kleineren mit Glaswänden abgetrennten Bereich vor den Laufbändern beobachte. Der Raum ist für das Personaltraining vorenthalten, weshalb am Rande meines Blickfelds regelmäßig eine kleine blonde Frau angehopst kommt, um die Haltung des Mannes bei seinen Übungen zu kontrollieren. Der Kontrast der beiden sieht witzig aus. Eine zierliche Fee und ein großer Koloss. Und was für ein Koloss. Genau auf die richtige Weise durchtrainiert, mit breiten Schultern und einem trotz des Winters gebräunten Teint. Wow, das macht mich fast neidisch. Ich bin im Winter so weiß wie ein Laken, was meine dunklen Augenringe hervorstechen lässt. Außerdem lässt es die Vorstellung von Sonne, Strand und Meer durch meinen Kopf schießen, während ich weiterlaufe. Ich seufze. Mein Gott, ich vermisse den Sommer so sehr. Er lässt alles einfacher und unbeschwerter wirken. Als würde man mit der Winterjacke auch einen Teil seiner Sorgen ablegen.

Geistig in meiner eigenen Welt versunken, wird mir erst nach einigen Sekunden das unangenehme Prickeln eines Blickes auf mir bewusst. Das reißt mich hart aus dem tranceähnlichen Zustand, in den mich das Laufen versetzt hat, und ich muss feststellen, dass mein Koloss sein Training beendet hat. Stattdessen starrt er nun zu mir herüber, und mir stellen sich alle Haare auf, als ich das vertraute Gesicht erkenne.

Es ist Sean. Der verletzte Eishockeyspieler, über den die anderen in der Cafeteria geredet haben. Und einer der Eishockeyspieler, die mich nach dem großen Showdown mit Carly erlebt haben.

Erinnerungen daran, was Sean alles mitbekommen hat, jagen durch meinen Kopf, und ich habe es meinen Beinen zu verdanken, die auf Automatik geschaltet haben, dass ich nicht sofort vom Laufband falle. Was in Gottes Namen macht er hier? Wieso ist er in meinem Fitnessstudio?

Nicht fähig dazu, einen klaren Gedanken zu fassen, mache ich das Einzige, was mir in den Sinn kommt, um die Kontrolle über die Situation zurückzuerlangen. Und das ist, mit so viel Ruhe, wie ich aufbringen kann, langsam auszulaufen und von dem Laufband zu steigen, auch wenn ich unter meiner üblichen Zeit liege. Ich hoffe, es sieht von Außen betrachtet so aus, als hätte ich schon die ganze Zeit geplant, jetzt aufzuhören, aber sicher bin ich mir nicht, denn mein Körper befindet sich im Ausnahmezustand. Jeder Zentimeter kribbelt, und ich spüre, wie er sich auf Kampf-oder-Flucht einstellt. Na ja, eigentlich eher auf Flucht, denn in der nächsten Sekunde packe ich feige meine Sachen zusammen und verziehe mich zu den Geräten für Bein- und Po-Muskulatur.

Es dauert keine Minute, bis ich meine eigene Reaktion ziemlich lächerlich finde und mir am liebsten selbst dafür in den Arsch treten würde. Verdammt, bin ich gerade wirklich weggerannt, weil eine Person zurückgeschaut hat, die ich davor eine Viertelstunde angestarrt habe? Kein Wunder, dass Sean mich so komisch betrachtet hat. Allerdings lässt sein durchdringender Blick auch jetzt noch alle meine Haare zu Berge stehen.

Sean gehört genauso wie Lee zu den Personen, die einfach zu viel von mir gesehen haben. Seiten, von denen ich nicht will, dass irgendjemand sie kennt. Allerdings ist Sean noch viel gefährlicher als Lee. Denn er beobachtet seine Umwelt. Das ist mir schon früher an ihm aufgefallen. Er gehört zu den wenigen Sportlern, die nicht ständig im Mittelpunkt stehen wollen. Er sitzt lieber an der Bar, mit einem Bier in der Hand und sieht der Welt dabei zu, wie sie ihren verrückten Lauf nimmt. Und wenn ich eins durch den komischen Blickkontakt gerade eben gelernt habe, dann, dass er gut darin ist. Er ist gut darin, andere zu durchschauen, und das ist für Personen wie mich verdammt beängstigend. Denn ich will auf keinen Fall durchschaut werden.

Stellt sich also die Frage, was Sean in meinem Fitnessstudio treibt und wie ich ihm am besten aus dem Weg gehen kann. Doch während mein Blick erneut an dem verglasten Raum hängen bleibt, schwant mir Böses. Denn wenn ich mich nicht irre, ist das Fitnessstudio auf Reha spezialisiert. Und den anderen Eishockeyspielern zufolge fängt Sean gerade mit dem Muskelaufbau nach seiner Verletzung an. Scheinbar muss ich mich also auf Gesellschaft einstellen. Der Gedanke dreht mir, um ehrlich zu sein, den Magen um.

Kapitel 4

Die restliche Woche ist wie eine stetige Wiederholung des Montags. Ich wache durch eine Erinnerung auf, die ich still ausharrend durchleben muss, bis mein Wecker mir die Chance gibt, in die Gegenwart zu flüchten. Dann sperre ich alles in die hinterste und dunkelste Ecke meines Verstandes und konzentriere mich darauf, durch den Alltag zu kommen. Lächeln, mit den richtigen Leuten ein paar Worte wechseln und niemals einen Hauch von Schwäche zeigen.

Jeden Morgen hole ich mir meinen Kaffee bei Matt, flirte genau so viel, dass ich mir sicher sein kann, auch am nächsten Tag an der Schlange vorbeilaufen zu können, und breche das Gespräch ab, bevor er genug Mut sammeln kann, um mich nach einem Date zu fragen. In der Mittagspause trete ich mit einem eisernen Lächeln in die Cafeteria ein und laufe zu dem Tisch der Eishockeyspieler, als gäbe es für mich nichts Normaleres.