Plötzlich die perfekte Lady - Anna Dietrich - E-Book
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Plötzlich die perfekte Lady E-Book

Anna Dietrich

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Beschreibung

So witzig kann Regency sein!​ Unerwiderte Liebe ist die Tragik in Prinzessin Jekaterinas Leben, seit sie Prinz Alexander kennt. Denn er macht aus seiner Ablehnung keinen Hehl: Jekaterina ist ihm zu laut und zu tollpatschig. Er schwört, sie niemals als mögliche Braut in Betracht zu ziehen. Dieser Entschluss steht fest, auch wenn er mehr und mehr erkennt, dass die Prinzessin, trotz aller Affronts, eine mehr als anziehende Person ist. Doch dann stürzt die ungeschickteste Prinzessin aller Zeiten eine Treppe hinunter, und nichts ist mehr, wie es war …  Anna Dietrich entführt uns in die Zeit des 19. Jahrhunderts und erzählt von rauschenden Bällen und einer ganz besonderen Liebesgeschichte.  Für alle Fans von der Netflix-Serie ›Bridgerton‹ und den Regency-Romanen von Julia Quinn.

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© everlove, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Michelle Stöger

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: t. mutzenbach design, München

Covermotiv: Trevillion Images (ILINA SIMEONOVA; Matilda Delves); Shutterstock.com

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Motto

TEIL EINS

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

TEIL ZWEI

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

TEIL DREI

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREISSIG

KAPITEL EINUNDDREISSIG

KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG

KAPITEL DREIUNDDREISSIG

EPILOG

DANKSAGUNG

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Sara

Ich habe immer gehört, dass man drei Gattungen von Menschen meiden soll: Sänger, Alte und Verliebte.

(Niccolò Machiavelli)

TEIL EINS

KAPITEL EINS

Weinheim, 1816

Liebes Tagebuch,

ich habe mich verliebt. So unwiederbringlich wie folgenschwer. Aber nicht in irgendjemanden. Sondern in Prinz Alexander Friedrich von Baden, Enkel und Erbe jenes Großherzogs, bei dem Mutter und ich gerade residieren, und obgleich er nichts von meinen Gefühlen ahnen kann, so glühen doch meine Wangen, jedes Mal, wenn ich ihn erblicke.

Wien, 1818

Prinzessin Jekaterina Aljona Petrowna – allgemein von ihren Liebsten schlicht Kati genannt – wurde an einem kühlen Sonnabend Ende März bei einer musikalischen Soiree im Salon der Freifrau Henriette von Pereira-Arnstein in die gehobene Wiener Gesellschaft eingeführt. Es war der Abend, an dem sich halb Wien in die kleine Prinzessin verliebte, eine junge Dame aus feinstem russischen Adelshause, über drei schmale Ecken direkt mit der Zarenfamilie verwandt und von solch exquisiter Schönheit, dass es selbst Damen den Atem verschlug. Die Herren der feinen Gesellschaft, ob nun von Adel oder nicht, buhlten seit diesem Abend allesamt um die Gunst der schönen Prinzessin. Und so kam Jekaterina bereits zwei Monate nach ihrem Debüt in den Genuss von einem halben Dutzend Anträge heiratswilliger Kandidaten, darunter ein preußischer Fürst, zwei jüdische Bankiers, ein italienischer Marchese und ein Blumenverkäufer aus der Salvatorgasse, der ihr nicht nur augenblicklich seinen gesamten Stand schenken wollte, als sie ihn kurz anlächelte, sondern auch noch am selben Tage bei ihrer Mutter vorsprach und selbst drei Wochen nach dem Zurückweisen seines Antrages täglich einen Strauß üppiger Tulpen auf den Stufen des Stadtpalais der Damen Petrowna hinterließ.

Als er den letzten Strauß ablegte, stürzte eines der Dienstmädchen ihm entgegen und flehte ihn an – um ihrer aller Nasen willen –, er möge davon ablassen. Die Prinzessin sähe sich außerstande, seine Geschenke zu verschmähen, aber alle im Hause, vom obersten Butler bis zum jüngsten Lieferburschen, würde der Duft von achthundert Tulpen langsam, aber sicher in den Wahnsinn treiben.

Tapfer soll der Blumenverkäufer seinen Strauß daraufhin wieder mitgenommen und ihn stattdessen der Tochter des Frackschneiders gegenüber geschenkt haben, als diese gerade vor der Ladentür kehrte. Es waren die ersten Blumen, die sie jemals geschenkt bekommen haben soll, und es hieß, die beiden hätten noch im selben Jahr geheiratet.

Ob es sich wirklich so zugetragen hat, konnte Jekaterina nicht beschwören, aber als sie geraume Zeit später mit ihrer Zofe durch die Salvatorgasse schlenderte, um neu eingetroffenen Tand in den Schaufenstern zu bewundern, da sah sie den Blumenverkäufer eine Kusshand über die Straße werfen, und das rotbäckige Mädchen mit dem Kehrbesen gegenüber fing sie mit einem spitzbübischen Lächeln ein.

Der Gedanke, dass, wenn schon nicht sie selbst, so wenigstens andere die große Liebe fanden und auch feiern durften, spendete ihr Trost. Trost, den Jekaterina dringend brauchte, wenn sie nachts allein in ihrem Zimmer war und über einen unerreichbaren badischen Prinzen nachdachte, der ihr wohl niemals eine Kusshand zuwerfen würde, nicht einmal, wenn sein Leben davon abhinge. Und sie wollte bestimmt nicht hoffnungslos werden, aber manches Mal, wenn sie so wach lag und sich gar kein Schlaf finden ließ, fragte sie sich, ob solch heftige Gefühle wie die in ihrer Brust wohl wirklich ein Segen waren.

Oder nicht vielmehr ein Fluch.

*

Als Mutter und Tochter an einem sonnigen Morgen im grünen Salon weilten und Sonjas zarte Finger durch die eingetroffenen Einladungen blätterten, hielt sie einen Moment inne. Ihr Blick fiel kurz und vielsagend auf ihre Tochter gegenüber, die in einer Gedichtsammlung von Ludwig Tieck las.

Die Einladung, die Sonja Petrowna stocken ließ, war auf schnörkelloses Büttenpapier geschrieben, doch das blutrote Wachssiegel mit den Rauten und den Pfälzer Löwen darunter sprach für sich selbst, noch bevor sie sich die Mühe machen musste, den Namen der Unterzeichner zu lesen. Als ob sie den Blick auf sich gespürt hätte, blickte Kati auf und sah ihre Mutter fragend an. Nun herrschte ein tiefer Widerstreit in Sonja, ob es wohl angeraten wäre, just diese Einladung der Tochter zu verschweigen. Doch Jekaterina hatte das Papier bereits in den mütterlichen Händen entdeckt, und ihr Gesicht begann zu leuchten.

»Ist das etwa ein Brief von ihm?« Sonja sah die Hände der Tochter aufgeregt flattern und brachte nicht mehr zustande als ein Nicken, da war Kati schon aufgesprungen und hatte ihr das Schreiben aus den Fingern gerissen.

»Eine Einladung zur Sommerfrische!«, rief sie überglücklich und presste das Schriftstück einen Moment lang leidenschaftlich an ihre Brust. In Sonjas Kopf erschien ungefragt die Erinnerung an die letzte Sommerfrische auf Schloss Weinheim, und sie dachte an die hemmungslosen Tränen, die in jener letzten Nacht vor ihrer Abreise von Jekaterina ins Kissen geweint worden waren, und in diesem Moment schüttelte sie kategorisch den Kopf.

»Dieser Einladung werden wir nicht folgen!«, meinte sie sehr bestimmt. Katis Blick flog zu ihr, und sie sah sowohl die Bestürzung als auch das Unverständnis.

»Aber …«, Kati rang nach Worten. Entgegen ihrer Natur hielt sie keine sofortige, flammende Gegenrede, sondern besann sich eines Besseren. Wählte den diplomatischen Weg.

Sie ließ sich zu den mütterlichen Röcken auf den Boden sinken und meinte möglichst ruhig:

»Ich kenne deine Bedenken, liebste Mamutschka. Aber verstehst du nicht, dass ich ihn sehen muss?« Ihre Stimme klang flehend, und ihr Blick sprach Bände. Sonja rang einen Moment mit sich selbst.

»Nein«, antwortete sie, aber es klang nicht so überzeugend, wie sie es sich gewünscht hätte.

»Ich will … ich möchte doch nur dein Bestes!«, setzte sie noch hinzu, doch Jekaterina schüttelte vehement mit dem Kopf.

»Er ist mein Bestes!«, rief sie impulsiv. Sonja suchte nach einer neuen Taktik.

»Es gäbe so viele passende Kandidaten, Jekaterina. Hier in Wien. Wenn du ihnen nur jemals eine Chance geben würdest!«

Die Tochter schluckte, wartete einen Moment, ehe sie antwortete.

»Was wäre, wenn ich dir verspräche, dass ich jeden Mann heiratete, den du mir aussuchen würdest?« Sonja blinzelte einen Moment verwirrt. Jekaterina nickte eindringlich.

»Ja, jeden. Aber gewähre mir noch diesen Sommer. Gib mir diesen Sommer Zeit, ihn zu sehen. Er ist der eine für mich. Ich spüre es. Und wenn ich es nicht schaffen sollte, dass er um mich anhält …«, nun versagte ihr beinahe die Stimme, »wenn ich das nicht schaffe, dann heirate ich, wen immer du für mich wählst!« Sonja wollte sofort einwenden, dass Jekaterina diese Entscheidung selbst treffen durfte, ja, sollte. Sonja selbst war das seinerzeit verwehrt geblieben, und dies trug sie ihrer Mutter immer noch nach. Selbst nach deren Tod. Es war schändlich, sie wusste das. Man musste den Toten vergeben, sie in Frieden ruhen lassen, doch Sonja Petrowna wusste, dass sie nicht stark genug war, ihrer Mutter zu verzeihen.

Ihr Blick fiel auf Jekaterinas Hände, die sich in den Stoff ihres Rockes krallten, um das Zittern zu verbergen, und ihr mütterliches Herz erweichte.

»Versprichst du mir, dass du den Mann heiraten wirst, den du selbst aussuchst?«, fragte sie atemlos, und Kati nickte sofort.

»Aber …«, Sonja atmete tief durch, »aber sollte Prinz Alexander dich nicht zu seiner Gemahlin erwählen, so wirst du aufhören, auf ihn zu warten. Sind wir uns da einig?«

In den Augen ihrer Tochter konnte Sonja lesen wie in einem Buch. Sie sah Mut und Hoffnung und einen Hauch von Skepsis. Man musste Jekaterina sehr gut kennen, um zu verstehen, dass sie ebenso an sich selbst zweifelte wie alle Menschen. Es hielt sie nur nie davon ab, Dinge zu tun. Selbst unerhört törichte, wagemutige Dinge.

Wie nochmals nach Schloss Weinheim zu reisen, obgleich ihr letztes Mal das Herz gebrochen worden war und zu befürchten stand, dass jenes Herz, das seither nur oberflächlich geheilt war, diesen Sommer erneut einen Knacks abbekommen würde.

Liebend gerne hätte Sonja den Prinzen damals zur Rechenschaft gezogen, doch leider hatte er nichts getan, für das sie Satisfaktion hätte fordern können.

Der Mann, es ließ sich leider nicht in andere Worte kleiden, hatte sich lediglich verteidigt. Verteidigt gegenüber seinem wochenlang währenden Schatten, der Jekaterina Petrowna hieß und den armen Prinzen beinahe in den Wahnsinn getrieben hätte. Sonja erinnerte sich an das amüsierte Lachen der anderen Gäste noch zu gut, jedes Mal, wenn Jekaterina Prinz Alexander mal wieder mit glühenden Blicken durch den ganzen Raum geradezu verfolgt hatte. Und Sonja befürchtete, dass es dieses Mal wieder genauso werden würde. Vielleicht sogar schlimmer. Sie seufzte leise.

»Also gut, wir sagen der Sommerfrische zu.« Mit einem Jauchzer reinsten Glücks flog Jekaterina in die mütterlichen Arme und drückte sie fest an ihr jubilierendes Herz.

*

Prinz Alexander pfiff der frische Morgenwind um die Ohren, als er auf Benno dem kleinen Wäldchen hinter Buchklingen entgegengaloppierte. Seine Wut war immer noch nicht ganz verraucht, aber das Reiten tat gut, und der frische Wind tat sein Übriges. Widerspenstig kämpfte Benno gegen den harten Zügel, als würde er ganz genau wissen, dass er gerade ausbaden musste, was eigentlich die liebe Tante Gusti verbrochen hatte. Mochte sich auch der Rest des badischen Reiches vor ihm als zukünftigem Großherzog ehrfürchtig verneigen, so war die Neuigkeit, dass er bald Träger aller Würden und Inhaber des Titels war, wohl just an Auguste Waldner von Freundstein vorbeigegangen. Vor allem, wenn man bedachte, dass sie auf seinem Sommersitz zu einer Landpartie geladen hatte, ohne ihn davon auch nur im Entferntesten in Kenntnis zu setzen. Zornig zügelte Alexander sein Pferd und ritt im Schritt weiter, die Stirn in tiefen Falten, den Blick – von wütenden Gedanken beherrscht – auf den Mähnenscheitel von Benno gesenkt. Er hatte die letzten Monate damit verbracht, seiner jungen und sehr liberalen Stimme Gehör zu verschaffen. Nicht nur seinem Großvater gegenüber, sondern auch vor den Räten und dem Parlament. Ein mühsames Unterfangen, das nicht nur Kräfte gekostet hatte, sondern auch nahezu erfolglos geblieben war. Und alles, was er sich für seine Sommermonate wünschte, waren Ruhe und Frieden und Zeit für die Trauben. Es war ein simples Glück, das er empfand, wenn er zwischen den Reben am Hang stand und ins Tal blickte, das von der Sommersonne gebadet wurde. Alexander mochte es, mit seinen Händen zu arbeiten, auch wenn das keineswegs von seinem Großvater geduldet war. Es stand einem zukünftigen Großherzog nicht zu, gemeinsam mit den Winzern und Erntearbeitern durch die Weinstöcke zu kämmen, zu pflücken, zu schneiden, zu veredeln.

Großvater war der Überzeugung, ein Großherzog sei dazu da, den Wein zu trinken, nicht, ihn zu kultivieren.

Alexander jedoch war der Überzeugung, dass kein Wein süßer schmeckte als jener, der durch die eigenen Hände erst ideal reifen konnte.

Darauf hatte er sich den halben Winter über gefreut, wenn er in endlosen Sitzungen zu Stadtbau und Wirtschaftsförderung zu Großvaters Rechter gesessen hatte. Die Reben waren sein Sehnsuchtsort und Schloss Weinheim – inmitten seiner Weinberge – somit Alexanders erklärtes Sommerziel.

Doch mit Tante Gustis ausgeschriebener Sommerfrische waren Tage legeren Schlenderns durch die Reben undenkbar. Und die Erkenntnis, dass Landpartien jeden, wirklich ausnahmslos jeden Abend ein großes Diner vorsahen, Spiele, Gesellschaften, Musik und Tanz, stimmte Alexander gerade zutiefst unglücklich, wünschte er sich nichts sehnlicher, als jeden Abend nach einem formlosen Essen drei Gläser Grauburgunder zu leeren und tief zu schlummern.

Es war einfach nicht gerecht, dachte er bitter, während er Benno kehrtmachen ließ, um den Rückweg anzutreten. Eigentlich, so stellte er fest, war es vermutlich gar nicht die Tatsache selbst, dass eine Landpartie gegeben wurde, die ihn störte, sondern ein ganz bestimmter Gast, der – natürlich! – sein Kommen bereits zugesagt hatte. Dass Tante Gusti sich wirklich erdreistet hatte, Prinzessin Jekaterina, den Albtraum seiner schlaflosen Nächte, diesen Sommer erneut nach Schloss Weinheim zu laden, konnte man nicht anders bezeichnen als das sprichwörtliche Messer im Rücken. Alexander ächzte abfällig.

Ob er wollte oder nicht, seine Gedanken wanderten zurück zu seiner letzten Begegnung mit der Prinzessin. Es war immer noch das schrecklichste Gespräch seines Lebens – und Alexander hatte zeitweilig wirklich sehr viele unschöne Gespräche führen müssen –, und mit Grauen dachte er daran, was wohl passieren würde, wenn Prinzessin Petrowna nicht gereift war, sondern sich noch ebenso verhalten und fühlen würde wie an ihrem letzten Abend in der Bibliothek des Schlosses vor fast genau zwei Jahren.

KAPITEL ZWEI

Weinheim, 1816

Liebes Tagebuch,

während ich schreibe, tropfen mir Tränen auf deine teuren Seiten, doch ich kann nicht anders! Gestern war der traurigste Abend meines Lebens. Und obwohl ich ihn immer lieben werde, das schwöre ich dir bei meinen Tränen, so befürchte ich doch, nach allem, was gestern Nacht geschehen ist und gesagt wurde, dass er mich wohl niemals so lieben wird wie ich ihn.

Schloss Weinheim

Ein Rückblick in den Sommer 1816

Der Tag, an dem Jekaterina der unerwiderten Liebe zu Prinz Alexander hätte abschwören sollen, begann mit strahlendem Sonnenschein, als sie gegen neun die Augen aufschlug, und endete viele Stunden später, kurz vor Mitternacht, mit heißen Tränen, als sie ihre Augen wieder schloss.

Es war der Tag des öffentlichen Banketts, das ihre Gastgeberin veranstalten ließ und dazu den ansässigen Landadel rund um Schloss Weinheim in die großen Säle lud. Es sollte ein rauschendes Fest werden, dessen Vorbereitungen den gesamten Tag andauerten, einem Tag, an dem im Schloss überall und zu jeder Zeit lauter Trubel und Hektik herrschten und die Gäste der Sommerfrische sich kategorisch in zwei Gruppen teilten. Die eine Gruppe, angeführt von der altehrwürdigen Gräfin von Kaltenhauser, wollte der Geschäftigkeit und Unruhe entgehen und unternahm eine ganztägige Fahrt ins Ladenburger Jagdschloss, um das niederländische Interieur zu bewundern und mit der Baroness und ihrer Tochter Wilhelmina Tee zu trinken. Die andere Gruppe, darunter Jekaterina, verblieb im Schloss und nahm regen Anteil an den Vorbereitungen für den Abend. Jekaterina half ihrer Gastgeberin gerade, Blumenarrangements zu drapieren, als der Hauptdarsteller ihrer nächtlichen Träume durch die Halle spazierte und seiner Tante einen kurzen Gruß zumurmelte. Wie immer, wenn sie seine hochgewachsene Gestalt erblickte, klopfte ihr Herz bis zum Hals, und sie spürte, wie brennende Röte ihre Wangen überzog. Sie konnte einfach nicht anders: In ihren Augen war Prinz Alexander mit seinem flachsblonden Haar und markanten Zügen der schönste Mann, den sie jemals erblickt hatte. Er war zudem äußerst stattlich, mit breiten Schultern und langen Beinen, die es ihm bedauerlicherweise erlaubten, sich schneller von ihr zu entfernen, als Jekaterina lieb war. Und dennoch fand sie ihn perfekt.

Auch wenn Prinzessin Luise von Hessen-Kassel gestern beim Tee geäußert hatte, dass man manches Mal meinen könnte, der junge Prinz hätte ein Kinn aus Granit und zudem einen Humor, der ihm keine lebenslangen Freunde gewähren würde, so hatte Jekaterina nur lächelnd den Kopf geschüttelt. Denn selbst wenn er morgen erwachen und mit einem Buckel und zehn Warzen auf der Nase zum Frühstück erscheinen sollte, so war eines für Kati mit ihren siebzehn Jahren bereits klar: Er würde für sie immer der schönste Mann auf der Welt bleiben. Und weder Warzen noch Prinzessin Luise würden das ändern.

*

Als ihre Mutter Jekaterina später beim Umkleiden half, klopfte ihr Herz aufgeregt in ihrer Brust. Sie betrachtete sich kritisch im Spiegel, während Mutter in ihrem Rücken begann, das Kleid zuzuknöpfen. Es war ihr neuestes Lieblingskleid, oben eng anliegend, mit Hunderten winziger Perlen und Rheinkieseln besetzt, und fiel unter der schmalen Taille in weichen Wellen, und der Stoff bauschte sich in luftigen Volants um ihre Füße. Es war das Kleid einer Traumtänzerin, sagte ihre Mutter tief seufzend, doch Jekaterina fand es nur passend. Sie hatte geträumt, wie Alexander sie zum Tanzen aufforderte. Und im Traum hatte sie dieses Kleid getragen.

Das Bankett war das Prunkstück der gesamten Sommerfrische, hieß es im Nachhinein, doch Jekaterina bekam davon reichlich wenig mit. Sich die ganze Zeit den Kopf verrenkend, wartete sie von acht bis weit nach elf darauf, dass Prinz Alexander ebenfalls den Ballsaal betreten möge, doch diesen Wunsch erfüllte er ihr nicht. Ihre Mutter erinnerte sie pausenlos daran, dass er sie so oder so nicht zum Tanzen auffordern könnte, immerhin war sie noch gar nicht in die Gesellschaft eingeführt worden, doch Kati beharrte hartnäckig auf ihren Träumen. Als der Dirigent des Abends den Ton anschlug, diesen grauenhaften Ton, der verkündete, dass der folgende Tanz der letzte sein würde, hielt sie es nicht mehr auf ihrem Stuhl aus, und mit einer fadenscheinigen Entschuldigung entschwand sie dem Ballsaal, um sich auf die Suche nach dem Mann zu machen, für den sie einen ganzen Abend brav herumgesessen hatte. In ihrem besten Kleid, mit ihren größten Hoffnungen.

Sie fand ihn schnell, schließlich hatte sie seine Gewohnheiten in den letzten Wochen genauestens studiert. Sie wusste, dass er sein Frühstück bevorzugt direkt nach Morgengrauen zu sich nahm. Eine Erkenntnis, die Jekaterina nur gewonnen hatte, nachdem sie sich fünf Tage hintereinander zu absoluten Unzeiten aus dem Bett gequält hatte, was nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Kammerzofe Gerda arg mitgenommen hatte. Er ritt auch gerne sehr früh sehr lange aus, und er trank stets ein Glas Wein als Aperitif, aber niemals den süßen Likör, den man zum Dessert reichte. Ja, sie kannte seine Gewohnheiten ganz genau, und daher wusste sie auch, wo er sich aktuell befand. Denn wenn Prinz Alexander sich zurückziehen wollte, dann begab er sich in die kleine Bibliothek. Sie lag im Ostflügel des Schlosses und beherbergte im Gegensatz zur großen Bibliothek, die Jekaterina mit all ihren Schätzen in den meterhohen Mahagoniregalen vollkommen entzückte, kaum beachtenswerte Kostbarkeiten. Das Beeindruckendste in der kleinen Bibliothek war der massive Schreibtisch, der vor Korrespondenz beinahe überquoll.

Die Türen waren verschlossen, und Jekaterina klopfte an. Es klang wie immer laut und forsch, obwohl sie gar nicht so fest hatte klopfen wollen, aber die Inbrunst, mit der sie sich nach ihm verzehrte, ließ ihre zarte Hand vehement gegen die dunkle Tür donnern. Von drinnen ertönte gedämpftes Gemurmel, und obwohl es nicht wirklich wie eine Einladung klang, ergriff Kati beherzt die Klinke und rauschte hinein.

*

Alexander verzog einen Moment unweigerlich das Gesicht. Er hätte es wissen müssen, dass die einzige Person, die ein rauschendes Fest verpassen würde, nur um ihn heimzusuchen, dieses junge Mädchen war. Jekaterina knickste kurz und blieb dann etwas unschlüssig neben der Tür stehen. Alexander unterdrückte ein tiefes Seufzen. Er wusste, dass es unhöflich war, sie da einfach so stehen zu lassen, doch seine Freundlichkeit hatte sich bei ihr als ziemlich gefährlich herausgestellt. Er hätte ihr niemals an ihrem ersten Tag im Schloss zuzwinkern dürfen, denn seitdem hatte sie sich auf ihn eingeschossen, und gleichgültig, wie hartnäckig er versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen, sie schien es einfach nicht wahrhaben zu wollen, dass er sie absichtlich mied. Dabei war das Zwinkern nicht einmal verführerisch gewesen! Er hatte ihr die Blöße nehmen wollen, nachdem sie, kaum dass sie angekommen war, als erste Amtshandlung die große Porzellanvase vom Sideboard gefegt hatte. Da hatte sie einen Moment peinlich berührt in den Scherben gestanden, und Alexander hatte Mitleid mit ihr gehabt. Gott, hätte er damals geahnt, dass es nur eines Zwinkerns bedurfte, damit sie sich rettungslos in ihn verliebte, er hätte sie, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, einfach bei den Scherben zurückgelassen.

»Ich wollte Sie fragen, warum Sie gar nicht zum Ball erscheinen, Prinz Alexander.« Sie hatte eine allerliebste Stimme, wenn sie normal sprach, glasklar und trotzdem immer ein wenig verträumt, doch selbst die schönste Stimme vermochte es, einen Mann in den Wahnsinn zu treiben, wenn sie einen andauernd verfolgte.

»Ich habe viel zu tun«, antwortete er knapp. Ich habe viel damit zu tun, Ihnen aus dem Weg zu gehen!

»Ich dachte, vielleicht könnte ich Sie überreden, einen kleinen Abstecher in den Ballsaal zu unternehmen.« Sie klang hohl, und ihre Wangen färbten sich rot. Unsicher trat sie von einem Fuß auf den anderen.

»Ich muss heute passen«, gab er gepresst von sich und verwünschte die blauen Augen, die ihn so intensiv anstarrten. Das Schlimmste an Prinzessin Jekaterina war mit Abstand, dass sie seine vielen Abfuhren einfach nicht akzeptierte. Sie schnappte ein paarmal nach Luft, anscheinend rang sie um eine Antwort, dann machte sie eine spontane, ausholende Bewegung mit dem linken Arm Richtung Ballsaal und stieß die schwere Bronzefigur des olympischen Diskuswerfers um. Prinzessin Jekaterinas Kraft war bei ihren Zerstörungsmissionen nicht zu unterschätzen. Mit einem dumpfen Klong fiel der Diskuswerfer auf den dicken Teppich, und hastig bückte sie sich, und ihr Kopf verschwand, für Alexander einen Moment unsichtbar, hinter einer Sessellehne. Als sie wieder auftauchte, war ihr Gesicht hochrot, und in ihren Armen hielt sie die schwere Bronzestatue. Als sie den Diskuswerfer zurück auf die Konsole hievte, keuchte sie laut und völlig undamenhaft und klatschte sich danach in die Hände wie ein Handwerker, nachdem er ein Haus gebaut hatte. Hätten Menschen ein Äußeres, dachte Alexander bissig, das auch vollkommen ihrem Inneren entsprach, die Prinzessin hätte aussehen müssen wie ein Riese, mit Händen wie Bratpfannen und einer Grazie, die einem Felsbrocken glich, der einen Abhang hinunterrollte und alles niederwalzte, was in seinem Weg war. Jedoch tarnte Mutter Natur solche menschlichen Katastrophen geradezu tückisch, denn Jekaterina war ein zierliches, elfengleiches Geschöpf, unendlich weiblich und sah weder einem Riesen noch einem Felsbrocken auch nur im Entferntesten ähnlich. Und das, dachte Alexander übellaunig, ist Täuschung der niederträchtigsten Art!

*

Kati fand, dass Prinz Alexander unglücklich wirkte, und das war ja wohl kaum verwunderlich, wenn man bedachte, dass er einsam über seiner Korrespondenz saß, während jeder andere im Hause gerade ausgelassen feierte.

»Wenn Sie möchten, leiste ich Ihnen ein wenig Gesellschaft.« Der Raum war nur spärlich beleuchtet, doch Alexanders Gesicht wurde von der Lampe auf dem Schreibtisch deutlich angestrahlt, und so entging ihr das Entsetzen nicht, das sich einen Moment auf seine Züge stahl. Sie biss sich unwillkürlich auf die Unterlippe.

»Gehen Sie doch lieber feiern, Prinzessin«, meinte er hastig, und es klang mehr wie ein Befehl als wie ein Vorschlag. Einen Moment ratlos, blickte sie vor sich auf den Boden. Sie sah auf den sich bauschenden Tüll ihres Kleides, der sich wie kleine Wattewolken wallte. Das Kleid erinnerte sie daran, was ihr innigster Wunsch war. Also fasste sie sich ein Herz.

»Ich dachte, vielleicht würden Sie mit mir tanzen.« So, jetzt war es heraus. Ihr Atem jagte ihre Kehle hinauf, und in ihrem Magen zog es heftig. Sie merkte, dass ihre Hände in den Handschuhen schwitzten. Das ist die Aufregung, bescheinigte sie sich selbst, und obgleich es fürchterlich unschicklich war, rupfte sie sich die Handschuhe von den Fingern, entblößte ihre Hände und warf die Handschuhe auf das nächstbeste Sesselpolster. Und während sie es tat, pochte ihr Herz donnernd in ihrer Brust, und jede Faser ihres Seins zitterte dramatisch. Von dergleichen Dingen schien Alexander nicht geplagt. Sein Seufzen, das folgte, klang eher verdrossen.

»Prinzessin Petrowna«, setzte er schwer an.

»Ich weiß, ich weiß!«, unterbrach sie ihn schnell und ein wenig zu laut, »ich weiß, ich bin noch nicht einmal debütiert! Aber Prinz Alexander …«, und nun wurde ihre Stimme fast kleinlaut, nachdem sie eben noch beinahe geschrien hatte. Nun klang sie fast atemlos.

»Sie sind der einzige Mann, mit dem ich tanzen möchte.« Dabei tat sie einige mutige Schritte nach vorne, wobei sie den Sessel zu spät bemerkte und unsanft mit dem Knie gegen die Armlehne stieß. Sie untersagte sich, laut aufzujaulen, und blickte ihm einfach nur flehentlich ins Gesicht.

*

Mit der brachialen Kraft eines Ackergauls pflügte sie durch den Raum, und Möbel mussten eben weichen. Einen Moment lang erkannte Alexander wie erstarrt, dass die Kraft dieses zierlichen Geschöpfes womöglich groß genug war, ihn auch ohne seine Zustimmung in den Ballsaal zu zerren, auch wenn dies nach den Gesetzen der Physik eigentlich unmöglich hätte sein müssen.

»Ich werde nicht mit Ihnen tanzen!«, entfuhr es ihm barsch, und sie hielt mitten in der Bewegung inne. Erstaunt hoben sich ihre Brauen, und die Azuraugen funkelten. Alexander begriff, dass Jekaterina einer jener Menschen war, die subtile Andeutungen nicht verstanden und nur verstehen würden, was man ihnen schonungslos direkt ins Gesicht sagte.

»Aber …«, setzte sie an, und Alexander sah ein, dass er noch deutlicher werden musste. Mit mühsam unterdrücktem Zorn erhob er sich vom Schreibtisch und kam auf sie zu.

»Nein, Prinzessin! Kein Aber. Verzeihen Sie mir, aber es obliegt der Entscheidung eines Herrn selbst, wen er zum Tanzen auffordern möchte.« Sie schluckte heftig. Er war nun kaum mehr als fünf Schritte von ihr entfernt, aber konnte wegen des diffusen Lichts nicht einschätzen, ob ihre Augen nun kampfeslustig funkelten oder in unterdrückten Tränen schwammen.

»Ich … ich …« Ihre Stimme klang mit einem Mal ganz brüchig, und jetzt war ihm auch klar, dass es in jedem Fall Tränen waren. Ihr Anblick hätte einen Stein erweichen können, und Alexander merkte, dass sein Zorn schon wieder dabei war, zu verrauchen. Sie ist doch nichts weiter als ein siebzehnjähriges Mädchen!, sagte ihm sein Verstand. Doch schon im nächsten Moment ließ Jekaterina Alexander seine Milde bereuen. Denn kaum hatte er die Hände beschwichtigend in ihre Richtung erhoben, da stürzte sie auch schon in seine Arme und erwischte ihn damit ganz unerwartet. Alexander rang nach Luft. Dann versuchte er, sie von sich abzuschütteln. Tatsächlich, er brauchte dafür mehr Kraft, als er vermutet hätte.

»Ich weiß, es ist überhaupt nicht schicklich!«, rief sie bestürzt, und ihre Stimme nahm wieder jenen hohen Ton an, den er besonders nervig fand.

»Aber, Prinz Alexander, ich … ich muss es Ihnen einfach gestehen!« Endlich hatte er sich aus der Umklammerung ihrer Affenärmchen befreien können und trat hastig einige Schritte zurück. Ihre übergroßen Augen waren erfüllt mit tausend Sehnsüchten. Alexander rann ein eisiger Schauer den Rücken hinunter.

»Ich wünschte, wir würden heiraten!«

Er musste sich verhört haben. Ja, verhört, ganz sicher.

Sie trat wieder einige Schritte auf ihn zu, und ihre Augen glänzten. Ein Glanz, der Alexander zu der Überzeugung kommen ließ, dass Jekaterina, anders als zuvor vermutet, sich nicht einfach leichtfertig andauernd in jemanden wie ihn verliebte. Es war ein Glanz, der nahelegte, dass sie gerade wirklich glaubte, was sie sagte. Und daran festzuhalten gedachte. Als er das endlich erkannte, riss sein Geduldsfaden.

»Wissen Sie, was, Prinzessin?«, fuhr er sie an, und die Härte seiner Stimme erschreckte ihn selbst. »Ich würde eher die Kuh vom Nachbarbauern heiraten als Sie!«

*

Ein Moment der Stille legte sich über sie, in dem sich Kati außerstande sah, ihn mit etwas zu füllen. Sie fühlte Schmerz und Ungläubigkeit, und ihr versagte die Stimme, ihre weichen Knie gaben ein wenig nach, und sie musste sich zitternd gegen den Sessel zu ihrer Rechten lehnen, weil sie nicht sicher war, ob ihre Beine sie weitertragen würden.

Ihr Gegenüber blickte zornig zwischen ihr und dem Boden hin und her, die Arme in die Hüften gestemmt, die Lippen ein fest zusammengepresster Strich. Prinz Alexander hatte gesprochen, und seine Worte waren unmissverständlich.

Liebend gerne wäre Jekaterina aus dem Zimmer gestürzt, hätte ihn hinter sich gelassen, doch Menschen wie sie verliebten sich nicht leichtfertig. Nein, Kati war absolut überzeugt, eine solche Liebe wie zu Alexander würde sie nie wieder in ihrem Leben empfinden, nicht einmal, wenn sie hundert Jahre alt werden würde. Und deswegen konnte sie noch nicht aufgeben … Mit dem Mut der Verzweifelten straffte sie die Schultern und schluckte ihre Tränen hinunter. Alexander starrte sie fassungslos an.

»Ich werde gehen. Gehen und Sie in Ruhe lassen«, verkündete sie tapfer und trat auf ihn zu. Ihm klappte vor Erstaunen der Mund auf, und Katis Blick heftete sich an seine Lippen.

»Gleich«, hauchte sie. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und legte ihre Hände behutsam auf sein Revers. Er schien sich immer noch nicht aus seiner Verblüffung lösen zu können.

Und dann nahm sie all ihren Mut zusammen und schenkte dem Mann, der lieber eine Kuh heiraten würde als sie, den ersten Kuss ihres Lebens. Vielleicht wäre es auch gleichzeitig der letzte Kuss ihres Lebens. Der einzige. Und darum musste sie ihn küssen, auch wenn es all ihren Mutes bedurfte, sich zu ihm hinaufzustrecken und in Kauf zu nehmen, dass er sich abwenden würde, bevor ihre Lippen die seinen erreicht haben mochten. Die Angst vor einer solchen Zurückweisung machte ihre Kehle eng und beschleunigte ihren Atem, aber die Ungewissheit, ob sie ihm wohl jemals wieder so nahe kommen könnte, schob sie an. Vorwärts, in seine Arme, und ihre Hände glitten seine Schultern empor, wie Weinreben sich um Sprossengitter rankten, und als ihre Fingerspitzen die glatte, nackte Haut seines Nackens fühlten, wanderte eine Gänsehaut über Jekaterinas Körper, erfüllte sie mit Kribbeln und Sehnsucht und Hunger. Das hier, dachte sie, während ihr Blick auf seinen Mund fiel, das hier fühlt sich richtig an. Als ihre Lippen zaghaft seine erreichten, schlossen sich sanft ihre Augen, und eine letzte, noch ungeweinte Träne rann ihre Wange hinab.

*

Alexander war auf Jekaterinas Kuss nicht vorbereitet. Nicht nur, weil man in einer solchen Situation mit allem, aber keineswegs mit einem Kuss rechnete. Nein, es war der Kuss selbst, der ihn vollkommen unvorbereitet traf. Als ihre Lippen seinen Mund berührten, platzte etwas in seinem Kopf. Automatisch schienen Tausende von Lichtern vor seinen Augen zu tanzen, und seine Lider schlossen sich ganz von alleine, schlossen die Welt um sie herum für einen Moment aus, als gäbe es nur noch sie beide. Als gäbe es für Alexander gerade nur Jekaterina, und er nahm sie mit allen Sinnen wahr. Sie duftete paradiesisch, nach warmer Vanille und üppigen Blumen, und ihr Mund schmeckte süß. Es durchzuckte ihn siedend heiß, und in einem Moment, der sich wie die Unendlichkeit anfühlte, berührte ihre Zunge zart die seine. Dann schmeckte er ihr überraschtes Keuchen, hörte es, spürte es am ganzen Körper.

… Moment mal …

Er hatte gerade ein siebzehnjähriges Mädchen geküsst! Und eigentlich hatte nicht einmal er sie geküsst, eigentlich hatte sie ihn überrumpelt! Er war von einem kleinen, zierlichen Mädchen überfallen worden! Alexander keuchte schwer und stieß sie in einem spontanen Anfall von Vernunft von sich. Sie taumelte einige Schritte zurück. Ihre Brust hob und senkte sich heftig. Er musste das beenden, egal, wie. Aber es musste sofort sein.

»Nein!«, grollte er, doch seine Stimme klang nicht sonderlich fest. Er sah, wie ihr lautlos Tränen in kleinen Bächen die Wangen hinunterrannen.

»Nein. Für uns, Prinzessin …«, er atmete tief durch, »für uns gibt es keinen gemeinsamen Tanz. Niemals.«

KAPITEL DREI

Weinheim, 1818

Liebes Tagebuch,

wir sind heute Mittag wohlbehalten in Schloss Weinheim eingetroffen, und ich habe nichts umgeworfen. Allerdings war der Mann, der mich vor zwei Jahren so in seinen Bann schlug, dass ich gegen die teure Vase stieß, dieses Mal bei der Begrüßung auch nicht anwesend. Überhaupt, ich habe ihn noch gar nicht gesehen und es auch nicht gewagt, seine Tante nach ihm zu fragen. Ich werde mich an mein Vorhaben halten: Wenn es mir nicht gelingt, dass er vor mir auf die Knie sinkt und um meine Hand anhält, so werde ich – gebrochenen Herzens – nach Wien zurückkehren und werde, wie ich Mutter versprach, den nächsten Mann heiraten, der ihr Wohlwollen findet.

Schloss Weinheim, Sommer 1818

»Und dann«, Fräulein Marianne steckte sich mitten im Satz ein großes Stück Hefezopf in den Mund, »hat sie den Gedichtband genommen und ein Gedicht von Lord Byron zitiert. Auf Englisch. Über einen Hund.«

Das Erstaunen, das sie erwartungsgemäß erhielt, war groß. Es hätte in ihren Augen sogar noch ein wenig größer ausfallen können. Die Gräfin von Kaltenhauser und ihre beiden Enkelinnen, Sophie und Adelheid, waren erst heute Morgen verspätet zur Sommerfrische angereist und hatten somit den gestrigen Lyrikabend verpasst. Wenn Fräulein Marianne ehrlich war, war das Verpassen einer derartigen Veranstaltung niemals ein Verlust. Außer, wie sie gestern zu ihrer übergroßen Freude feststellen musste, wenn jenem lyrischen Abend jemand wie Prinzessin Jekaterina beiwohnte, die es sich nicht nehmen ließ, vor der Versammlung von nahezu einem Dutzend Personen nach vorne zu treten und ein Gedicht aufzusagen, dass sie – und Fräulein Marianne zitierte hier wörtlich – dem verstorbenen Jagdhund von Prinz Alexander widmete.

Sie widmete das Gedicht einem Hund. Einem toten Hund, wohlgemerkt. Fräulein Marianne hatte bedauerlicherweise zu weit von Prinz Alexander entfernt gestanden, um zu hören, was jener dazu zu sagen hatte. Aber die beiden Herren zu seiner Rechten hatten gehüstelt und unterdrücktes Gelächter hinter erhobenen Fäusten versteckt.

»Oh, aber warum hat sie das getan?« Fräulein Adelheids hohe Sopranstimme klingelte immer ein wenig in den Ohren, und Fräulein Marianne zwang sich ein schiefes Lächeln auf die Lippen.

Dann beugte sie sich vor, ganz so, als wolle sie die drei nachgereisten Damen in ein gut gehütetes Geheimnis einweihen.

Drei interessierte Köpfe folgten ihr nach.

»Sie tat es für ihn«, raunte Fräulein Marianne verschwörerisch.

»Oh!«, tönte es leise von Sophie und der Gräfin.

»Für den Hund?«, fragte Fräulein Adelheid absolut ungläubig.

»Nein. Natürlich nicht! Adelheid, wieso bist du nur manchmal so ein Schaf!« Sophies scharfe Zurechtweisung ließ Adelheid beleidigt die Nase rümpfen.

»Sie ist also immer noch verliebt«, meinte die Gräfin an Fräulein Marianne gerichtet, und diese nickte nachdrücklich.

»Darüber muss wirklich nicht spekuliert werden. Ich meine, der Mann erwähnt kurz den Hund auf einem Porträt von ihm, als er zehn Jahre alt war. Geradezu beiläufig erwähnt er ihn, nennt nicht einmal seinen Namen. Und keine Stunde später erklimmt die Prinzessin die Bühne im Musiksalon und trägt dieses Gedicht vor. Auf Englisch, wohlgemerkt. Und es war ein langes Gedicht.«

»Was hat er getan? War er dankbar?«, fragte Sophie.

»Der Prinz?«

»Nein, der Hund.« Sophie rollte theatralisch mit den Augen.

»Aber ich dachte, der Hund sei tot?«, jammerte Adelheid.

»Der Prinz war selbstverständlich nicht erfreut.«

»Der Prinz ist, sofern ich mich recht entsinne, nie erfreut, wenn es um Prinzessin Petrowna geht«, warf die Gräfin kühl ein. Sie war jedes Jahr zur Sommerfrische hier und erinnerte sich gut an den Sommer vor zwei Jahren, als die Prinzessin das erste Mal Schloss Weinheim besuchte und auch damals aus ihrer glühenden Verehrung für Prinz Alexander keinen Hehl gemacht hatte.

»Er setzt sie stets ans gegenüberliegende Ende der Tafel. Bei jedem Diner.« Fräulein Marianne hatte vielleicht erst drei Diners im Beisein des Prinzen und seines ungebetenen Gastes erlebt, aber diese reichten absolut aus, um ein endgültiges Urteil zu fällen:

Prinz Alexander konnte Prinzessin Jekaterina nicht ausstehen. Nicht einmal ertragen, nicht für ein Diner und erst recht nicht einen ganzen Sommer lang.

»Ich wette, dass es in einem Eklat enden wird«, prophezeite sie überglücklich. Adelheid schüttelte verständnislos den Kopf.

»Ich hoffe, im Angesicht solcher Impertinenz wird es dem zukünftigen Großherzog leichtfallen, die Qualitäten einer ernst zu nehmenden Heiratskandidatin zu erkennen.« Der bedeutungsschwangere Blick der Gräfin fiel auf ihre Enkelin Sophie, und diese nickte artig.

»Ich bin mir sicher, dass es Prinzessin Jekaterina weiterhin nicht an Impertinenz mangeln wird«, frohlockte Marianne, und Adelheids verständnislose Stirnfalten gruben sich noch tiefer.

»Moment, also wollen wir, dass es einen Eklat geben wird?«

Die anderen Damen am Frühstückstisch rollten mit den Augen. Sophie sah aus, als läge ihr eine weitere großschwesterliche Beleidigung auf der Zunge, aber Marianne war schneller.

»Was wir wirklich wollen, liebe Adelheid, ist, dabei zu sein, wenn etwas Vergnügliches passiert.«

»Und ein Eklat ist vergnüglich?«

»Nun, würdest du nicht auch gerne ein Gedicht voll Pathos vorgetragen bekommen – über einen Hund?«

Das ließ Adelheid einen Moment stutzen, und dann meinte sie bedächtig: »Ich glaube, schon. Nein, ganz bestimmt sogar. Vorausgesetzt, es ist nicht auf Englisch. Ich verstehe kein Wort Englisch. Also gut, wo ist diese Prinzessin? Ich denke, ich brauche endlich ein Gesicht zu der Geschichte.«

Fräulein Mariannes Lächeln wurde wieder spitzbübisch, während sie sich die letzte Portion Hefezopf mit Marmelade einverleibte.

»Man sieht sie nie beim Frühstück. Ich habe immer gedacht, die mondänen Wiener würden bis mittags im Bett liegen, aber Prinzessin Jekaterina geht wohl gerne morgens spazieren. Meine Zofe hat mir berichtet, dass sie sie gegen sechs Uhr im Garten gesehen hat. Ist das zu glauben?«

»Das passt viel eher zu einer Bauernmagd als zu einer Prinzessin.« Sophie lächelte katzenhaft.

»Vielleicht ist das eine russische Angewohnheit?«, mutmaßte Marianne an niemand Bestimmten gewandt.

»Wohl eher eine Angewohnheit, die sie mit Prinz Alexander teilt.« Die Stimme der Gräfin war kühl, und sie schenkte Sophie einen weiteren bedeutsamen Blick.

»Der Prinz hat den Ruf, tatsächlich mit den Bauern aufzustehen.«

»Dann passen sie wohl gut zusammen«, warf Adelheid ein, was ihr einen weiteren zornigen Blick ihrer Schwester einbrachte.

»Dann ist es sonnenklar!« Fräulein Marianne entging die Stimmung am Tisch keineswegs, aber sie fühlte sich als entferntere Verwandte frei, sie dennoch zu ignorieren. Übertrieben fröhlich resümierte sie:

»Dann wird wohl der Prinz bereits in seinen Weinbergen stehen. Und versteckt hinter ein paar Reben, sein Schatten, Prinzessin Jekaterina.«

*

Entgegen der Vermutung der Damen beim Frühstück lag Jekaterina an diesem Morgen noch in ihrem Bett. Sie holte den Schlaf nach, der ihr die letzten Tage nicht vergönnt gewesen war. Einerseits, weil sie außer heute mit den Hühnern aufgestanden war, um Prinz Alexander beim Frühstück zu erwischen. Andererseits, weil sie sich seit ihrer Ankunft Abend für Abend, statt zu schlafen, im Bett herumwälzte und ihre Gedanken andauernd zu jenem Mann schweiften, der es sich scheinbar zur obersten Priorität gemacht hatte, ihr aus dem Weg zu gehen. Selbstverständlich war das frühe Aufstehen gänzlich umsonst gewesen. Draußen hatte es noch nicht einmal gedämmert, wenn sie sich schlaftrunken in den Speisesaal geschleppt hatte. Ein einziges Mal hatte sie ihn dort angetroffen, und er war sofort aufgesprungen, als hätte ihn eine Biene gestochen. Mit der fadenscheinigen Begründung, er hätte sein Frühstück bereits beendet, hatte er sie und seinen unberührten Teller und seine dampfende Kaffeetasse zurückgelassen und es so eilig gehabt, dass seine Verbeugung eher einem Kopfnicken im Vorübergehen geglichen hatte. Aber Jekaterina hatte ihre Enttäuschung heruntergeschluckt und sich selbst befohlen, sich nicht entmutigen zu lassen. Sie hatte sich selbst versprochen, um den Mann ihrer Träume zu kämpfen, und sie hatte gewusst, dass dies kein leichter Kampf werden würde. Daher hatte sie sich strategisch wie ein General auf diese Sommerfrische vorbereitet. Sie war im Spätsommer vor zwei Jahren nicht nur mit einem gebrochenen Herzen abgereist, sondern ebenfalls mit einem großen Wissensschatz über Prinz Alexander. Sie wusste, er liebte Pferde und er las ernsthafte philosophische Literatur. Und er liebte Wein.

Daher hatte Kati nach ihrer Rückkehr nach Wien begonnen, ihren Kutscher, den Stallburschen und allgemein jeden, der aussah, als verstünde er etwas von Pferden, zum Thema befragt. Sie hatte gelernt, wie man das Alter eines Tieres an seinen Zähnen ablas und wie Satteldruck zustande kam. Sie hatte Reitstunden über Reitstunden genommen, bis ihre Beine steif waren und sich ihr Hintern angefühlt hatte, als wäre er mit Stahlwolle gefüllt. Außerdem war sie in Wiens bestsortierte Buchhandlung marschiert und hatte sich gebundene Ausgaben aller Werke von Immanuel Kant geben lassen. Anders als der Schmerz nach einer langen Reitstunde, so musste sie nach mehreren Kapiteln aus der Kritik der reinen Vernunft feststellen, ging der Kopfschmerz einer solchen Lektüre nicht nach einem Tag vorüber, und Kati sah sich außerstande, eines der anderen acht Bücher auch nur aufzuschlagen. Daher war sie zu der Überzeugung gekommen, dass es einen anderen Weg in Prinz Alexanders Herz geben musste, und hatte sich auf den Wein fokussiert. Ein sehr, Jekaterina hätte dies nicht für möglich gehalten, ergiebiges Thema. Während sie anfangs dachte, es gäbe nur zwei Arten Wein – ein Gedanke, davon war sie absolut überzeugt, den viele haben mussten! –, wurde sie sofort eines Besseren belehrt, als sie Fürst Frederick kennenlernte. Er saß ihr beim Diner des Frühjahrsbanketts der Familie Schwarzenberg gegenüber und lobte den zum Aperitif gereichten süßen Weißwein mit Worten wie vielschichtig und elegant. Da war Jekaterina auf der Stelle klar geworden, dass sie es hier mit einem echten Weinkenner zu tun haben musste, und lehnte sich über ihren Platz, um den Fürsten sofort danach auszufragen. Und Fürst Frederick von Sachsen-Coburg gab nur zu gerne Auskunft. Mit ihm an ihrer Seite lernte Jekaterina fleißig Rebsorten und Anbaugebiete kennen. Sie wurde aufgeklärt über die Vorteile des heißen, süditalienischen Klimas für schweren Rotwein, aber zu ihrem übergroßen Bedauern wusste Fürst Frederick wenig über badischen Wein zu berichten. Er sei kein Freund des trockenen deutschen Weißweins, hatte er Jekaterina gestanden, als diese ihn dazu befragt hatte. Allerdings hatte er seine Meinung schleunigst revidiert, als Jekaterina daraufhin fragte, wen sie stattdessen zurate ziehen könnte.

Und so hatte sie das gesamte Frühjahr in Gesellschaft des Fürsten verbracht. Gemeinsam hatten sie badischen Silvaner getrunken (sehr trocken) und badischen Grauburgunder (auf Jekaterinas Zunge genauso trocken) und badischen Riesling (ebenfalls, nun, es ließ sich einfach nicht anders beschreiben, trocken). Ihre Mutter hatte mehr als einmal mahnend daran erinnert, dass bekanntermaßen ganze Königshäuser wegen Trunkenheit untergegangen seien, und obwohl Jekaterina diesen Einwand zuerst elegant mit Füßen getreten hatte, erwachte sie an einem furchtbar sonnigen Dienstag im Spätfrühling mit schwerster Malaise, konnte kaum die Augen offen halten und hatte einen gesamten Tag das Gefühl, eine Horde Vandalen würde durch ihren Kopf trampeln. Seit diesem Tag hatten Jekaterina und der Fürst sich darauf beschränkt, über den Wein zu referieren, anstatt ihn wie Wasser zu trinken.

Nach zwei Monaten in seiner Gesellschaft war sich Jekaterina sicher, genug über Wein gelernt zu haben, um ein geistreiches Gespräch mit Prinz Alexander zu führen. Fürst Frederick war zeitgleich zu der Überzeugung gelangt, dass Prinzessin Jekaterina womöglich die Liebe seines Lebens war.

Dementsprechend enttäuschend verlief das letzte Gespräch der beiden, nachdem Fürst Frederick sich ein Herz gefasst hatte und – in Absenz eines Hausherrn – Jekaterinas Mutter um deren Hand gebeten hatte. Diese hatte zögerlich bejaht, und obwohl Fürst Frederick ihre Einwände mit halbem Ohr noch zur Kenntnis nahm, waren seine Gedanken bereits bei Prinzessin Jekaterina gewesen. Er stellte sich vor, wie er vor ihren Röcken auf die Knie sank und ihre zarten Hände in die seinen nahm.

Und genau das versuchte er auch zu tun, später, als er sich mit ihr und ihrer Mutter im grünen Salon des Stadtpalais der Damen Petrowna befand. Es war ein idealer Tag für einen Antrag, wie Fürst Frederick fand, als er Jekaterinas Gestalt auf der schmalen Chaiselongue betrachtete, wie diese von der späten Nachmittagssonne gebadet wurde. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, so, wie sie es immer tat, wenn sie ihn erblickte, und sein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Sechsunddreißig Jahre lang hatte Fürst Frederick den Gedanken an eine Liebesheirat absolut lächerlich gefunden.

Eine halbe Stunde später fand er den Gedanken erneut lächerlich.

Selbstverständlich war er der Prinzessin nicht böse. Ja, selbst wenn er gewollt hätte, die ehrliche Reue auf ihren schönen Zügen, als sie sanft ihre Hand aus der seinen zog, war nur zu sichtbar. Und er war ein Narr gewesen, schließlich hatte er ihr die letzten Monate zugehört. Sprichwörtlich an ihren Lippen gehangen, und diese Lippen hatten unablässig von ihm gesprochen (eine vorsichtige Rückfrage bei ihrer Mutter hatte dem Fürsten beantwortet, wer mit ihm eigentlich gemeint war). Fürst Frederick war Prinz Alexander von Baden einige Male begegnet, hatte ihn sogar für recht vernünftig für sein Alter gehalten. Und er war dem übergroßen Irrtum aufgesessen, dass Jekaterinas glühende Begeisterung nicht von Dauer sein würde. Er hatte sich einen Moment lang die Illusion erlaubt, dass sie seine Gesellschaft so sehr schätzte, dass ihre Verliebtheit abebben würde. Und die nur halb zu ihm vorgedrungenen Warnungen ihrer Mutter klangen nun doch in seinen Ohren nach, als er sich steif erhob und seiner kleinen Prinzessin zum Abschied zunickte.

Jekaterina hatte ihm nachgesehen und den bohrenden Blick ihrer Mutter auf sich gespürt. Sie hatte gewusst, dass ihre Mutter es lieber gesehen hätte, Kati hätte Fürst Fredericks Antrag angenommen. Doch als sie sich schließlich ein Herz fasste und den Blick ihrer Mutter erwiderte, da hatte in deren Augen nur tiefes Verständnis gelegen, und das war beinahe noch schlimmer.

»Es ist besser so. Auch um seinetwillen.« Ihre Stimme war ganz leise, als sie es sagte, aber Mutter hörte sie dennoch.

»Ich bezweifle, dass er es auch so sieht.«

»Er kann doch unmöglich jemanden heiraten wollen, der ihn viel weniger liebt, als er es tut?«

Da hatte ihre Mutter tief Luft geholt, und ein besonders vorsichtiger Ton hatte ihre Stimme gefärbt, als sie leise fragte: »Kannst du es denn?«

Und darüber hatte Jekaterina lange nachgedacht. Viel zu lange und viel zu viel. Sie hatte Stunden über Stunden in ihrem Zimmer darüber sinniert, ganze Nachmittage die Hofgärten und Stadtparks durchstreift und in Gedanken die Worte ihrer Mutter debattiert. Es stimmte leider, daran gab es keinen Zweifel, dass sie sich ihrer Gefühle für Prinz Alexander gewiss war und dieser nicht. Oder noch schlimmer, er war sich seiner Gefühle sicher, und diese würden für immer dergestalt sein, dass sie Jekaterinas Liebe nicht erwiderten. Aber um das mit Bestimmtheit sagen zu können, müsste er sie erst einmal richtig kennenlernen. Und zwar nicht nur, weil sie nun allerhand Nützliches über Pferde und Wein von sich geben konnte, nicht nur, weil sie hübsch und vermögend war, sondern weil sie spürte, dass sie beide gut zusammenpassen würden. Weil sie nur die Chance erhalten wollte, dass er es auch erkennen konnte.

Weil es sich richtig anfühlte.

KAPITEL VIER

Weinheim, 1818

Liebes Tagebuch,

ich bin so müde, dass ich kaum die Augen offen halten kann, aber eines möchte ich dir sofort berichten: Der lyrische Abend war kein Erfolg. Ich weiß, gestern habe ich noch frohlockt über dessen Aussicht, aber rückblickend muss ich gestehen, dass mein Entschluss, spontan meinen Beitrag zu ändern, keine glorreiche Idee gewesen war. Ich hätte Tiecks »Geliebter, wo zaudert« vortragen sollen, aber als der Prinz Georg von Dottelsbach im Vertrauen sagte (ich gebe zu: ich habe gelauscht!), ihm wäre das Pathos der Liebeslyrik zuwider – da habe ich improvisiert. Und das Bild von ihm im Foyer vor dem Musiksalon ist wirklich herzallerliebst. Er kann darauf kaum älter als zehn Jahre sein, und der Hund an seiner Seite (ein englischer Setter – ich habe ein Zeichen gesehen, wo keines war – erneut) blickte so treu, und da hab ich mir ein Herz gefasst und in der Bibliothek nach einer Ausgabe von Lord Byrons Gedichten gestöbert. Sei versichert, ich habe mir größte Mühe gegeben, eine deutliche Aussprache zu finden, aber sein Blick war eindeutig: Genauso gut hätte ich das Gedicht einem Stein widmen können.

 

 

Alexander stand zwischen seinem Stallmeister und dem Hufschmied und lauschte dem derben Disput der beiden zur Beschlagung der Kutschpferde. Er hatte bereits den halben Morgen damit verschwendet, zwischen den beiden zu vermitteln, und seine Geduld war nun erschöpft. Eigentlich hatte er ausreiten wollen. Eine weite Runde, sehr weit, vielleicht bis zur friesischen Küste oder hoch ins dänische Königreich. Wenn er Glück hätte, würde er dafür acht Wochen brauchen, und bei seiner Rückkehr wäre die gesamte Gesellschaft der Sommerfrische abgereist. Seit vorgestern hatte er sich nicht mehr in den Frühstückssalon gewagt und nun zum dritten Mal seine Köchin und alle Küchenmädchen in absoluten Aufruhr versetzt, weil er sein Frühstück bei ihnen im Küchentrakt einnahm. Selbstverständlich wusste er, was er seiner Dienerschaft damit antat, sie hatten schließlich ein Recht darauf, im Dienstbotentrakt unter sich zu sein, aber die Aussicht, nochmals in aller Herrgottsfrühe über Prinzessin Jekaterina zu stolpern, war einfach zu viel. Heute Morgen, als er kochend heißen Kaffee in sich hineinschüttete, um das Ungemach seiner Präsenz für alle in der Küche möglichst kurz zu halten, war der einzige Lichtblick dieses Tages der lange Ausritt auf Benno gewesen. Selbstverständlich nicht bis ins dänische Königreich, aber vielleicht weit genug, damit seine Gedanken aufhörten, mürrisch zu sein, und der frische Morgenwind von der Sommersonne aufgewärmt wäre. Stattdessen war er seinem Stallmeister Paul in die Arme gelaufen, und dieser war mehr als erpicht darauf gewesen, Alexanders Meinung zu den schiefen Eisen der Kutschpferde zu hören. Das war vor Stunden gewesen. Seither hatte er sich kaum wegbewegen können, jedes Mal, wenn er einen Vorstoß wagte, richtete entweder der Schmied oder Paul wieder direkt das Wort an ihn. Er seufzte tief und ließ seinen Blick schweifen. Ein halbes Dutzend Kutschpferde stand um ihn herum, und so, wie diese die Köpfe hängen ließen, mutmaßte Alexander, waren sie die Diskussion mindestens ebenso leid wie er.

»… nicht wahr, Eure Durchlaucht?« Damit war eindeutig er gemeint, auch wenn er diese Anrede verabscheute.

»Bitte noch einmal«, bat er höflich und unterdrückte den Impuls, erneut lautstark zu seufzen.

»Ich sage diesem Rindvieh von einem Schmied gerade, dass es nicht ausgehen kann, dass wir den vollen Preis für solche Schundarbeit blechen! Das wär’s noch! Und wenn dann die Herrschaften alle abreisen, kommt keiner weiter als nach Buchklingen, und alle müssen wieder umkehren!«

Einen Moment lang stellte Alexander sich vor, wie eine freudestrahlende Prinzessin Jekaterina aus ihrem liegen gebliebenen Landauer sprang und verkündete, bis Weihnachten bei ihnen zu bleiben.

Ehrliches Grauen erfüllte ihn bei dieser Aussicht, und ein kalter Schauer wanderte sein Rückgrat hinunter.

»Keinesfalls!« Er bellte es mehr, als er es sagte, und die Vehemenz seiner Worte hallte über den Stallplatz.

»Es werden sofort alle Pferde neu beschlagen!« Seine Stimme war stählern, sein Befehl klar.

»Alle Pferde?« Die Augen des Schmieds wurden groß und seine Stimme laut.

»Oh, wir beschlagen alle Pferde neu? Geht es etwa wieder zur Jagd?« Die Stimme gehörte einem seiner jungen Stallburschen, und als Alexander sich zu ihm umdrehte, grinste der Junge übers ganze Gesicht.

»Das wär fein! Ich sag dem Wildhüter Bescheid, dass wir die Hunde brauchen!«

Das war natürlich absolut unnötig. Außerdem waren sie außerhalb der Jagdsaison, aber vermutlich wusste das ein junger Stallbursche nicht.

Und im Übrigen dauerte so ein Jagdritt den ganzen Tag. Selbst, wenn es nur eine Scheinjagd war, bei der man nichts weiter jagte als die Zeit. Und es war absolut unhöflich den Damen der Sommerfrische gegenüber, einen gesamten Tag abwesend zu …

»Was für ein hervorragender Plan!« Seine Zustimmung ließ das Gesicht des Stallburschen strahlen, und Alexander konnte gar nicht anders, als das breite Grinsen zu erwidern.

»Ein Jagdturnier ist genau das Richtige.« Er wandte sich an seinen Stallmeister, der aussah, als hätte er Einwände. Berechtigterweise.

»Aber Eure Durchlaucht«, schnaufte Paul. Himmel, wie sehr Alexander diese Anrede zuwider war!

»Und was plant Eure Durchlaucht zu jagen? Nicht einmal die Wildschweine haben Saison!« Der Schmied gestikulierte wild mit seinen großen Händen. Paul nickte eifrig.

Anscheinend waren die beiden Streithähne sich wenigstens in einem einig.

Aber Alexanders Entschluss stand fest: Der Ritt musste stattfinden, direkt morgen, und keinen einzigen von Tante Gustis Einwänden würde er gelten lassen.

Und er wäre einen Tag weit entfernt von allen heiratswilligen Debütantinnen. Und besonders einer ganz bestimmten kleinen Debütantin, die ihn zwang, sich zum Frühstück in seiner Küche zu verstecken, in Wandnischen zu kauern und die abendliche Tischordnung zum Diner präziser zu planen als Napoleon Bonaparte seine Feldzüge.

*

Erwartungsgemäß nahm Tante Gusti die Pläne für den kommenden Tag nicht besonders gut auf. Aber Alexander war klug (und hinterhältig) genug gewesen, Einladungen nach Ladenburg und ins Landauer Herrenhaus entsendet zu haben, bevor er Tante Gusti in Kenntnis setzte. Daher blieb ihr auch nicht viel anderes übrig, als sich seinem Vorhaben zu beugen, aber im wütenden Funkeln ihrer zusammengekniffenen Augen erkannte Alexander, dass sie über zukünftige Vergeltung bereits nachdachte.

Dass besagte Vergeltung so schnell auf dem Fuße folgen würde, hatte er allerdings nicht erwartet.

»Nun gut«, fügte sich seine Tante und strich mit einer sorgfältigen Geste unsichtbaren Staub von ihren Röcken, »aber du wirst derjenige sein, der meine Gäste von diesem spontanen Plan in Kenntnis setzt, und zwar unverzüglich.«

Alexanders prompter Einwand, er könnte dies elegant und formlos beim Diner tun, wenn alle beisammen waren, wurde kategorisch abgelehnt.

*

Fräulein Wilhelmina von Ladenburg war erst dieses Jahr debütiert. Die Saison in Hannover startete weit später als in Wien, Prag oder Brüssel (alles Städte, die Wilhelmina für ihr Debüt der Geburtsstadt ihrer Mutter vorgezogen hätte), und sie endete auch früher. Lediglich acht Abendgesellschaften hatte sie beigewohnt und exakt einen Hofball auf Schloss Herrenhausen besucht (immerhin einen, wenn man bedachte, dass Georg I. sein Schloss, seit er den englischen Thron bestiegen hatte, nie wieder von innen gesehen haben soll). In Absenz des englischen Königs hatte der Hofball unter der Schirmherrschaft eines entfernten Cousins stattgefunden, den Mutter den gesamten Ballabend schärfer beäugt hatte als öffentlich vertretbar. Wilhelmina ihrerseits hatte ihn nicht beäugt, nur kurz sein Antlitz gestreift und war prompt zu der Überzeugung gelangt, dass er keinerlei Beäugung verdiente.

Ganz im Gegensatz zu dem Mann, der soeben mehr als forschen Schrittes auf sie zuhielt.

Prinz Alexander Friedrich von Baden, zukünftiger Großherzog und von Kopf bis Fuß der Beäugung wert.

Die anderen unverheirateten Debütantinnen der Sommerfrische auf Schloss Weinheim hatten sie zu einem Spaziergang durch die Gärten eingeladen, und nach einer ausgedehnten Runde um den kleinen Teich am Südende waren sie wieder zu den Terrassen des Schlosses zurückgekehrt. Auf Hüte war in der legeren Runde allgemein verzichtet worden, und während Prinz Alexander zügigen Schrittes näher kam, brachte jedes junge Fräulein eiligst ihre Frisur in Ordnung.

Gut, nun nicht wirklich jedes. Prinzessin Jekaterina war ihrerseits scheinbar befreit von weiblicher Schicklichkeit (und Eleganz), und statt ihr wildes, windgerütteltes Haar zu bändigen, tollte sie mit einem halben Dutzend graubrauner Hundewelpen über den gepflegten Rasen des Rosengartens.