Plötzlich eingesperrt - Barbara Mehli - E-Book

Plötzlich eingesperrt E-Book

Barbara Mehli

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Beschreibung

Du glaubst, Opfer eines Gewaltverbrechens geworden zu sein, doch Videoaufnahmen auf deinem Handy beweisen das Gegenteil. Die Bilder entlarven dich als Schuldige einer grausamen Tat. Und: Es gibt eine Zeugin. Für die 28-jährige Nayara erfüllt sich ein wichtiger Punkt auf ihrer Bucket List, als sie im Rahmen eines Experiments für drei Tage in die Rolle einer Inhaftierten schlüpfen darf. Doch der Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt entpuppt sich als Alptraum. Rachegeister aus ihrer Vergangenheit drohen sie einzuholen und ihr das gewohnte Leben samt ihrer Identität zu entreißen. Alles führt sie an eine Geburtstagsparty vor rund 10 Jahren zurück, wo sie ungewollt Zeugin eines Verbrechens geworden war.

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Plötzlich eingesperrt

1. Auflage, erschienen 08-2023

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Barbara Mehli

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-621-6

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

BARBARA MEHLI

PLÖTZLICH

EINGESPERRT

Das Geheimnis um die Frau in Zelle eins-null-vier

DAS BUCH

Du glaubst, Opfer eines Gewaltverbrechens geworden zu sein, doch Videoaufnahmen auf deinem Handy beweisen das Gegenteil. Die Bilder entlarven dich als Schuldige einer grausamen Tat. Und: Es gibt eine Zeugin.

Für die 28-jährige Nayara erfüllt sich ein wichtiger Punkt auf ihrer Bucket List, als sie im Rahmen eines Experiments für drei Tage in die Rolle einer Inhaftierten schlüpfen darf. Doch der Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt entpuppt sich als Alptraum. Rachegeister aus ihrer Vergangenheit drohen sie einzuholen und ihr das gewohnte Leben samt ihrer Identität zu entreißen. Alles führt sie an eine Geburtstagsparty vor rund 10 Jahren zurück, wo sie ungewollt Zeugin eines Verbrechens geworden war.

DIE AUTORIN

Barbara Mehli wurde 1970 in Zürich geboren und wuchs in Zürich und Umgebung auf. Sie studierte Bildung und Betriebsmanagement, anschließend Heilpädagogik und arbeitet als Primarlehrerin und Schulische Heilpädagogin im Kanton Zürich. Sie ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter. Schon früh interessierte sie sich für Literatur und liebt bis heute die Kreativität und Lebendigkeit der Sprache.

Ihr erster Roman „Trügerische Idylle“ erschien 2022 im Romeon Verlag.

Für Sarah

Ein Sturm vermag Bäume zu knicken und zu entwurzeln.

Du bist stärker.

Danke, dass ich mich an dir festhalten darf.

INHALT

Prolog

Teil 1 Das Verbrechen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Teil 2 Hinter Gittern

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Teil 3 Jenseits der Mauern

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

PROLOG

Krachend fällt die eiserne Tür hinter ihr ins Schloss. Von außen dreht sich der Schlüssel. Schwere, sich entfernende Schritte bezeugen, dass der Wärter nicht länger vor ihrer Türe harrt.

Erstaunt schaut sich Nayara in der kleinen Zelle um.

Wow, Wahnsinn! Es hat funktioniert. Ich bin tatsächlich drin.

Erst jetzt bemerkt sie die andere Person, die mit einem hochgezogenen Kapuzenpulli und Sonnenbrille ausgestattet auf der zweiten Pritsche sitzt und ins Leere starrt. Nur eine einzelne dunkle Haarsträhne bahnt sich einen Weg über deren linke Gesichtshälfte.

„Oh, hallo. Ich bin Nayara“, stellt sie sich vor und nach einem verlegenen Hüsteln: „Ich meine natürlich, ich bin Maria dos Santos.“ So zumindest lautet der Name, der ihr vor dem Eintritt in die Justizvollzugsanstalt per amtlichem Formular zugewiesen worden ist.

„Hi“, ist das Einzige, was die Fremde sagt, während diese weiterhin desinteressiert die Wand anstarrt.

Echt gruselig, denkt sich Nayara und schwingt sich auf das leere Bett.

„Ich dachte mir, ich sei die erste Probandin. Aber anscheinend haben sie dich noch früher aufgeboten. Seit wann bist du hier?“

„Seit neun Jahren“, lautet die Antwort.

„Ha, du spielst das echt gut. Cool! Wegen was sitzt du?“, fragt sie weiter.

„Wegen Mord.“

„Ah, crazy. Ich wegen schwerem Raub“, fährt sie fort und schaut sich in dem kleinen Raum um.

Er verfügt über zwei schmale, harte Betten, zwei kleine quadratische Tische und ein längliches hohes Regal mit mehreren Ablageflächen. Dabei dient das Regal zugleich als Abtrennung zur dahinterliegenden Toilette, inklusive Lavabo.

Sogleich fällt ihr auf, dass auf dem Regal diverse Utensilien liegen. Bei ihrem Eintritt kurz zuvor wurde ihr alles abgenommen. Nicht einmal ein Buch durfte sie mitnehmen.

Aufmerksam registriert sie zwei Comichefte, die allerdings so aussehen, als wären sie schon hundertmal gelesen worden, eine Handcrème, eine angefangene Packung Toastbrot, Taschentücher und eine Art Notizheft mit einem Lederumschlag, vielleicht ein Tagebuch.

Sie schüttelt verwundert den Kopf.

„Wie hast du das alles hier reinbekommen?“

„Ich habe es nicht reinbekommen, wie du es nennst, sondern ich habe es mir hier unter anstrengenden Bedingungen verdient.

„Aber du bist auch nur noch drei Tage hier, oder?“, fragt Nayara nach, in deren Inneren sich auf einmal ein ungutes Gefühl ausbreitet. Obwohl sie genau weiß, dass auf dem Anmeldeformular, das sie für dieses einmalige Experiment eingereicht hat, die Zeitdauer des Aufenthaltes auf drei Tage beschränkt war, wurde sie durch das Verhalten ihrer Zellengenossin verunsichert.

„Yep, in drei Tagen bin ich raus“, lautet die beruhigende Antwort und Nayara atmet tief durch.

Gott sei Dank, ich dachte schon …

Ein schriller Pfeifton, der durch Mark und Bein fährt, lässt Nayara hochschrecken.

„Chill Kleine. Es ist genau 19:45 Uhr und die Zellentüren werden überprüft. Danach ist Nachtruhe.“

„Woher …?“

„Ich hab’s dir doch schon mal gesagt. Ich bin seit neun Jahren hier. Da kennt man den Ablauf auf die Minute genau auswendig.“

Ohne eine Antwort zu geben, erhebt sich Nayara und macht einen Schritt auf das Fenster zu. Gedankenverloren schaut sie auf den verlassenen Innenhof hinaus. Nichtsahnend, dass diese Aussicht sie noch für eine lange Zeit begleiten wird.

TEIL 1

DAS VERBRECHEN

KAPITEL 1

Die Party war in vollem Gange, als Cassie und Nayara eintrafen.

„Wow, die Location ist total cool“, rief Cassie aufgeregt und zog Nayara hinter sich her in Richtung Waldhütte. Es war zwar bereits gegen 21 Uhr, aber noch taghell, da der Sommer seinen Höchststand erreicht hatte.

„Wollen wir nicht zuerst ein bisschen beobachten, wer alles hier ist?“, fragte Nayara, die sich beim Anblick der Menschenmenge sichtlich unwohl fühlte. „Ich weiß nicht mal, ob ich jemanden kenne.“

„Du kennst mich. Das reicht. Und Amy kennst du auch“, fügte Cassie hinzu. „Und zudem warst du auf derselben Schule wie ich, soweit ich mich erinnern kann. Also los. Du wirst eine Menge Leute wiedererkennen. So lange ist es nun auch nicht her. Das wird bestimmt lustig.“

Was Cassie sagte, stimmte nicht ganz. Sie kannte die Gastgeberin Amy nicht wirklich. Amy mit ihren kurzen, knallrot gefärbten Haaren, die ihre stechend grünen Augen noch mehr betonten, und ihrer top Figur! Alle blickten ihr hinterher. Kein Wunder. Nicht, dass Nayara schlecht aussähe, aber sie bewunderte die ein Jahr ältere Amy für ihre gesamte Erscheinung und ihr Selbstbewusstsein. Klar, grundsätzlich konnte sie mit ihrem eigenen Körper durchaus zufrieden sein. Sie war sehr sportlich, aber es sah so aus, als ob sich ihr Körper während der Pubertät eher auf die Muskelbildung konzentriert und dabei die weiblichen Rundungen gänzlich in den Hintergrund geschoben hätte. Und so sah sie mit ihren 19 Jahren mehr drahtig und mädchenhaft als weiblich und verführerisch aus. Ihr gewelltes, schulterlanges Haar trug sie meist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war es vom Sport her so gewohnt. Flatterndes Haar war beim Eiskunstlauf von Nachteil und nur auf Drängen ihrer Freundin Cassie hatte sie sich heute für die Party darauf eingelassen, ihr Haar offen zu tragen.

„Es sieht viel heißer aus“, hatte Cassie gemeint und sie somit überzeugt.

Im Grunde genommen war sie nicht so eine Partygängerin wie die anderen Mädchen in ihrem Alter, aber anscheinend werde diese Party legendär und man müsse hingehen. Dieses Argument allein wäre für Nayara nicht ausreichend gewesen, aber es war der 20. Geburtstag von Amy und sie hatte all ihre Freunde und Freundinnen eingeladen und diese gebeten, noch weitere Bekannte mitzubringen. Es soll die mega Party des Jahres werden, war ihr Wunsch, und so wie es bis zu diesem Zeitpunkt den Anschein machte, sollte dieser tatsächlich in Erfüllung gehen.

Cassie kannte Amy schon länger als Nayara. Beide hatten in Küsnacht die Primarschule besucht, bevor Cassie nach Itschnach zog. Küsnacht gilt als der Vorzeigeort am Zürichsee und zählt nicht ohne Grund zur Goldküste. Wunderschöne Villen zieren die Gegend nahe dem sonnigen Seeufer. Privilegierte Familien sind bereit, ein Vermögen für diese Wohnlage auszugeben und nennen gegenüber anderen Personen ihren Wohnort mit Stolz beim Namen. Die Söhne und Töchter dieser Familien sind größtenteils wohlhabend und wirken für Personen von außerhalb oft eingebildet, arrogant oder hochnäsig.

Cassie hatte das Glück, ihre ersten Jahre der Kindheit an diesem wunderschönen Ort verbringen zu können, doch die steigenden Preise und die Krankheit ihrer Großmutter veranlassten ihre Eltern, den Umzug nach Itschnach anzutreten. Itschnach gehört auch zur Gemeinde Küsnacht, liegt aber in etwas erhöhter Lage weiter vom See entfernt. Daher sind die Grundstücke preiswerter, wenngleich sie noch immer nur für die wohlhabendere Schicht erschwinglich sind.

Nach dem Umzug nach Itschnach wurde Cassie in die Klasse von Nayara eingeteilt, die dort in einem prächtigen Einfamilienhaus aufwuchs. Die beiden Mädchen hatten sich schnell angefreundet und einen Großteil der Freizeit zusammen verbracht. Nach Beendigung der Primarschulzeit verschlug es beide an die Kantonsschule in Küsnacht. Diese liegt unweit des Dorfkerns, im ortseigenen Rebberg, nur durch eine Straße getrennt, direkt am See.

Amy hatte schon ihr erstes Jahr dort verbracht und sich einen Namen gemacht. Ein jeder kannte und bewunderte sie. Sie fiel auf. Nicht nur durch ihr Äußeres, nein, die Aura, die sie ausstrahlte, machte sie einzigartig. Wenn sie einen Raum betrat, drehten sich alle um. Man spürte ihre Anwesenheit und jedes Mädchen wollte ihre Freundin sein. Sie wirkte wie ein Magnet und viele der pubertierenden jungen Frauen änderten ihre Gewohnheiten oder gar ihren Charakter, um von der berühmt umworbenen Amy Schönberg anerkannt und in den Kreis ihrer Freundinnen aufgenommen zu werden. Ein Mitglied der Amy-Gang zu sein, verschaffte einem viele Vorteile: Ansehen, Respekt, Ehrfurcht und Einladungen zu den angesagtesten Partys.

Nayara hatte definitiv nie zu diesem Kreis gezählt. Sie war damals viel zu schüchtern und nicht cool genug gewesen. Nach einem halben Jahr an der Schule hatte sie einen halbherzigen Versuch gestartet und Amy einmal ängstlich angesprochen, doch diese war Arm in Arm mit einer ihrer Freundinnen, fröhlich plappernd an ihr vorbeigegangen und hatte sie keines Blickes gewürdigt. Daraufhin hatte Nayara Amys Nähe gemieden. Sie war nicht ausgeschlossen oder gehänselt worden. Nein, sie wurde gar nicht erst wahrgenommen.

Cassie hatte da einen besseren Draht zu Amy. Sie zählte auch nicht zu den engsten Verbündeten, aber durch ihre lockere Art und die Tatsache, dass sie Amy schon von früher kannte, hatte sie einen Zugang zur Clique gefunden und wurde dort akzeptiert, wann immer sie sich dazugesellte.

Amy war auch zu jener Zeit nie allein unterwegs. Man traf sie immer laut lachend in Gesellschaft trendig und aufreizend gekleideter Girls. Die Jungs scharten sich um sie und es dauerte kein Jahr an der Kantonsschule, bis sie sich auf einen Jungen festgelegt hatte: Steve Wiebach.

Steve war nicht an derselben Schule wie Amy, sondern er hatte ein paar Straßen weiter eine Lehre als Schreiner angefangen, um später im Betrieb seines Vaters einzusteigen. Aber er hatte Freunde an der Schule und so kam es, dass er Amy kennenlernte. Die beiden waren das Paar schlechthin, denn auch Steve fiel auf. Man sah ihn nie ohne seine getönte Sonnenbrille und seine langen blonden Haare waren stets unter einer meist dunkelfarbigen Baseballkappe versteckt. Er war muskulös und ein paar Jahre älter als Amy, was ihn noch attraktiver machte. Es war klar, die beiden gehörten zusammen und Versuche von anderen Jungs, Amys Gunst zu erobern, scheiterten kläglich an ihr.

Amy und Cassie blieben auch nach dem Abitur noch in Verbindung, wenngleich hauptsächlich via Social Media.

Facebook war zu diesem Zeitpunkt voll im Trend und so kam es, dass Cassie vor wenigen Wochen via Facebook eine Einladung zu Amys Geburtstagsparty erhielt. Ohne lange nachzudenken, rief Cassie ihre Freundin Nayara an und lud sie mit zur Party ein. Bei der Zusage ging es Nayara in erster Linie darum, ihre Freundin wiederzusehen, aber natürlich war sie auch ein wenig gespannt auf die groß angekündigte Party und die Waldhüttenatmosphäre.

Am besagten Tag der Party verabredeten sie sich bei Cassie, um sich gemeinsam aufzuhübschen. Wenn es nach Nayara gegangen wäre, hätte sie keinen großen Aufwand betrieben, aber ihre Freundin war da anderer Meinung. So ließ sie sich von ihr schminken und die Haare frisieren.

„Haha, das ist wie in alten Zeiten, nicht wahr?“, lachte Cassie, als sie mit dem Pinsel ein wenig Wangenrouge auf Nayaras Wangen verteilte.

„Ja, ich komme mir auch vor wie 16. Weißt du noch damals, als wir zu deiner Konfirmationsfeier absolut unpassend geschminkt waren?“

„Oh, erinnere mich bloß nicht daran“, lachte Cassie und verschluckte sich beinahe. „Das war so unglaublich peinlich! All die alten Leute in ihren konservativen Kleidern und fahlen Gesichtern und dann wir beide völlig overdressed und mit einem halben Topf Farbe im Gesicht, wie es mein Großvater in Worte fasste.“

„Also, vor allem du warst overdressed“, gab Nayara zurück und konnte sich ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen. Sie erinnerte sich an Cassies Oberteil mit Spitzen und Rüschen und einem auffallend tiefen Ausschnitt, der viele Blicke auf sich zog und einige altmodische Herren leicht erröten ließ. Und dann dazu noch die hautengen Lederhosen, die beinahe am Körper festzukleben schienen und den ohnehin knackigen Po noch mehr betonten.

„Ja, ich weiß, aber das war in meiner rebellischen Phase. Nun bin ich eine richtige Frau. Elegant und sexy zugleich. Und das werde ich heute Abend allen beweisen.“

„Du bist wirklich schön“, bestätigte Nayara und warf verstohlen einen neidischen Blick auf die Brüste ihrer Freundin.

„Du kannst alles tragen und es sieht super aus. Bei mir sind auch im besten Outfit keine weiblichen Formen zu erkennen.“ Enttäuscht schlug sie ihre Augen nieder und betrachtete ihre Füße.

„Ach was“, sagte Cassie und fuhr mit ihren Schminkkünsten fort. „Wenn wir hier rausgehen, sehen wir beide top aus. Das verspreche ich dir.“

Bei der Kleiderauswahl gab es Diskussionen, weil sich Nayara partout nicht davon abbringen lassen wollte und darauf bestand, ihre langen Jeans zu tragen.

„Nun hast du mir schon ein hautenges Top aufgeschwatzt, aber bei den Jeans bleibe ich unbestechlich. Zudem sind sie absolut in.“

„Nur weil sie Löcher haben, heißt das noch lange nicht, dass sie partytauglich sind. Klar sind sie absolut im Trend, aber an Partys gilt für das weibliche Gechlecht noch immer das Motto: Je kürzer, desto besser. Du könntest auch Shortys tragen, wenn es unbedingt Hosen sein müssen. Und wer weiß, vielleicht findest du heute Abend noch deinen Traumprinzen?“

Nayara schüttelte den Kopf. „Es bleibt bei der zerrissenen Jeans“, und schmunzelnd fuhr sie fort: „Zudem bin ich nicht auf der Suche nach einem Freund. Mein Eiskunstlaufen steht im Vordergrund und dann ist da noch meine Ausbildung zur Lehrerin, die ich erst vor Kurzem begonnen habe.“

„Ist schon gut, ich meinte ja bloß.“

Als sie das Haus verließen und in Richtung Bushaltestelle losmarschierten, dauerte es nicht lange, bis sich Cassie über ihre schmerzenden Füße beklagte.

„Ich habe bestimmt schon Blasen an den Fersen. Ich glaub’s nicht. Wieso müssen Schuhe auch so unbequem sein?“

Im selben Moment blickte sie auf Nayaras Füße und stieß einen spitzen Schrei aus: „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Du hast nicht wirklich deine Hello-Kitty-Turnschuhe angezogen, mit denen du permanent unterwegs bist!“

„Ähm, doch. Die sind bequem. Und zudem tragen nur die Schnürsenkel das Motiv von Hello-Kitty und nicht die Schuhe selbst“, protestierte Nayara. „Ich bin schon beim Sport in unbequemen Schuhen und Blasen kann ich mir nicht leisten. Und wie ich sehe, haben meine Turnschuhe mit den Hello-Kitty-Schnürsenkeln heute Abend einen bestechenden Vorteil.“ Provokativ hüpfte sie vor Cassie her und rief: „Geht’s auch ein bisschen schneller, Miss Beauty? So kommen wir ja nie zur Party!“

Lachend und fluchend zugleich humpelte Cassie hinter ihr her und schien erleichtert, als sie sich kurz darauf in den Bus setzen konnte, der sie in die Nähe der Waldhütte bringen würde.

Und nun standen sie da. Musik dröhnte aus aufgebauten Boxen und Stimmengewirr drang bis weit in den Wald hinein. Die Hütte lag in der Nähe eines kleinen Baches, etwas erhöht, umgeben von dichtem Wald. Nur beim Haus selbst gab es eine kreisförmige Lichtung, in der Bäume gerodet und die Baumstümpfe als Hocker hinterlassen worden waren. Eine Feuerstelle, die bereits in Betrieb genommen wurde, lag unweit des Hauses. Von einem früheren Aufenthalt, als Nayara noch bei den Pfadfindern war, wusste sie, dass die Hütte über zwei große Innenbereiche und eine Toilette verfügte. Eine kleine Küche und ein Putzräumchen waren weitere Bereiche, die aber niemanden von den anwesenden Besuchern zu interessieren schien.

Weitaus größere Aufmerksamkeit erlangten die bis oben hin gefüllten Kühlboxen, die sich im Innenraum sowie auch draußen auf der Schattenseite der Hütte aneinanderreihten. Verschiedene salzige Knabbereien, Popcorn und massenweise Pizzaschachteln standen für den kleinen Hunger bereit, wobei einige Schachteln bereits aufgerissen worden waren. Die Reste verteilten sich auf dem Boden, wo sie achtlos hingeworfen oder liegen gelassen wurden. Leere Flaschen türmten sich und lagen verstreut rund um die Waldhütte herum. Einige waren zerbrochen und lagen als Scherben versteckt unter Bäumen oder im Laub.

Viele der Besucher sangen laut zur dröhnenden Musik mit, andere lallten eher oder schrien mit krächzender Stimme dazwischen. Einige hockten eng zusammen und rauchten, sodass Rauschschwaden in den Himmel stiegen. Es duftete verdächtig nach illegalen Kräutern und starkem Tabak. Vereinzelt lagen Pärchen eng umschlungen unter den Bäumen und gaben sich hemmungslos ihren Gefühlen hin.

„Oh nein, hier passe ich nicht hin“, sagte Nayara und blickte zu ihrer Freundin.

„Ach was, stell dich nicht so an. Ein paar Drinks werden dich auflockern und du wirst dich hier wie zu Hause fühlen. In etwa so wie auf dem Eisfeld.“ Mit einem Augenzwinkern lotste Cassie sie in Richtung der Kühltruhen.

Zweifelnd huschte Nayara ihrer Freundin hinterher, die zielstrebig eine Kühltruhe öffnete und zwei Smirnoff Ice hervorholte.

„Na immerhin gibt’s was Vernünftiges zu trinken“, lächelte Nayara und griff sich erfreut das kühle Getränk.

„Und jetzt komm“, drängte Cassie und zog sie hinter sich her.

„Warte“, sagte Nayara und riss sich von ihrer Freundin los. „Lass mich hier noch in Ruhe mein Getränk genießen. Danach werde ich mich unter die Leute mischen, versprochen. Geh doch schon so lange und amüsiere dich. In zehn Minuten bin ich bei dir.“

„Okay, abgemacht. Aber wenn du nicht kommst, werde ich dich holen“, sagte Cassie und machte sich mit leicht tänzelnden Schritten davon in Richtung Waldlichtung, wo sich die große, zur Musik bewegende und laut johlende Masse aufhielt.

Erleichtert atmete Nayara auf und trat ein paar Schritte zur Seite. Dabei stieß sie unvermittelt auf einen schwarzen Hund, der sich eng an die Hüttenwand drückte und trotz der warmen Temperaturen am ganzen Körper zitterte.

„Oh, wer bist du denn?“, sagte Nayara und kniete sich zu dem kleinen Bündel hinunter. „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich tue dir nichts. Wer hat dich denn hierhin mitgenommen? Das ist ganz schön verantwortungslos.“

Sanft strich sie über den Kopf des Hundes, der sie dankbar anblickte und einen Schritt auf sie zutrat. Da sah sie die ungewöhnlich große und noch frische Narbe, die sich über dem rechten Auge der Länge nach hinzog.

„Was ist denn da passiert? Das sieht aber schlimm aus!“, murmelte sie vor sich hin und streichelte den Hund weiter.

„Warte hier. Ich hole dir Wasser. Du hast bestimmt Durst. Und niemand denkt an dich.“ Kopfschüttelnd stand sie auf und ging in Richtung Hütteneingang, auf der Suche nach einem Behälter, den sie mit kühlem Wasser füllen konnte.

„Schau her. Ich habe dir etwas mitgebracht“, sagte sie und stellte den Eimer in Reichweite der Leine hin, sodass der Hund mit der frisch glänzenden Narbe seinen Durst löschen konnte.

„Ich komme später nochmals bei dir vorbei, um nach dir zu schauen“, sagte Nayara an den Hund gewandt. „Aber jetzt muss ich zu meiner Freundin. Die wird mich sonst überall suchen und nicht aufgeben, bis sie mich gefunden hat.“

Erneut strich sie dem Hund über sein schwarzes, von der warmen Sommerluft gewärmtes Fell und wandte sich ab. Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie, wie der Hund ihr mit großen Augen und hechelnder Zunge hinterherschaute, bis sie um die Ecke verschwand.

Nun dann mal los. Eigentlich würde ich lieber die Zeit mit dem armen Hund hier verbringen, als mich in die Meute zu stürzen. Aber was soll’s, dachte sie, schnappte sich auf dem Weg zur Lichtung ein weiteres Smirnoff Ice aus einer der Kühltruhen und atmete tief durch.

Nachdem sie Cassie gefunden hatte, wurde auch sie vom Rhythmus der Musik mitgerissen und so tanzte sie ausgelassen zu den aktuellen Hits, zu Trance, Rave und House bis ihr der erste Schweiß von der Stirn tropfte.

„Das ist noch immer ganz schön heiß hier, was?“, rief sie gegen die laute Musik an und drehte sich zu ihrer Freundin um. Diese tanzte wie in Trance und schien dabei leicht zu taumeln.

Zuerst dachte Nayara, das gehöre zu Cassies Tanzstil, stellte dann aber besorgt fest, dass kein direkter Augenkontakt mehr möglich war.

Seltsam, dachte sie. So habe ich Cassie noch nie gesehen.

„Du kannst dich ja kaum mehr auf den Beinen halten!“, sagte Nayara, packte Cassie am Arm und führte sie vorsichtig in die Nähe eines Baumes, wo sie sich niederließen.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte sie fürsorglich.

„Ach nichts. Ich habe wohl zu viel getrunken und die Füße schmerzen vom langen Tanzen. Vielleicht war aber auch die Pille nicht ohne“, fügte sie lapidar hinzu.

„Die was?“, fragte Nayara alarmiert. „Du hast eine Pille genommen? Was für eine?“

„Ach keine Panik. Das war so ne pinke. Echt cool. Es hatte auch noch andere Farben und sogar solche mit Smileys. Vielleicht hätte ich besser eine neongrüne ausprobieren sollen. Du kannst Amy oder Steve fragen. Die haben noch welche, falls du eine probieren möchtest. Aber nimm nicht die pinke, die macht so müde. Ich lege mich jetzt ein bisschen hierhin und schlafe ne Runde.“

„Nein, warte! Nicht hier. Ich bringe dich nach Hause.“

„Spinnst du? Ich will nur kurz schlafen und dann geht die Party weiter. Hol dir auch ne Pille, komm schon.“

„Komm wenigstens zur Hütte, dann weiß ich, wo du bist“, drängte Nayara weiter, doch sie merkte schnell, dass der Versuch sinnlos war, ihre Freundin zu überreden. Diese hatte bereits die Augen geschlossen und atmete tief und gleichmäßig.

Oh nein, was mache ich denn jetzt?, fragte sich Nayara und ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es kurz vor Mitternacht war.

Die meisten der jungen Leute waren auf dem Weg zurück zur Hütte, wo Champagnerkorken knallten und sich alle bereit machten, um das Geburtstagskind gebührend zu feiern und ins neue Lebensjahr zu begleiten.

KAPITEL 2

Zehn! Neun! Acht! Sieben! Sechs! Fünf!“, mit jeder Zahl schwoll die Lautstärke an und schien jeden Winkel des Waldes zu durchdringen. „Vier! Drei! Zwei! Eins!“, schrien die Leute und versuchten sich mit ihrer Stimme gegenseitig zu übertrumpfen.

„Hurra!“

„Happy Birthday Amy!“

„Auf die geilste Braut!“

„Juhu, 20 Jahre alt!“

Die Glückwünsche und Rufe schienen kein Ende zu nehmen. Amy wurde von so vielen Menschen umringt, dass sich Nayara dazu entschied, sich weiterhin zurückzuhalten und auf eine persönliche Glückwunschübergabe zu verzichten.

Amy wird ohnehin nicht merken, ob ich hier bin oder nicht, dachte sie und nahm sich vor, nach dem Hund zu sehen und ihm gegebenenfalls ein wenig Gesellschaft zu leisten, bis ihre Freundin wieder aufwachte.

Als sie in freudiger Erwartung auf den Hund um die Ecke bog, wäre sie beinahe über einen Jungen gestolpert, der neben dem schlafenden Hund saß.

„Oh, entschuldige, ich habe dich nicht gesehen“, sagte sie. „Ich wollte bloß kurz nach dem Hund schauen und sichergehen, dass er noch Wasser hat.“

Ich wollte nach dem Hund schauen … mein Gott, wie doof das klingt an einer so elitären Party. Der muss mich für völlig bescheuert halten. Sie machte einen ungeschickten Versuch, sich schnellstmöglich umzudrehen, und strauchelte.

„Warte“, erklang eine sehr junge und feine Stimme, die eigentlich besser zu einem Mädchen gepasst hätte als zu einem männlichen Partygänger.

Der Junge setzte sich aufrecht hin und blickte ein wenig seitlich an ihr vorbei, während er zögernd weitersprach.

„Hast du ihm das Wasser gebracht?“

„Ja, ich fand ihn alleingelassen hinter der Hütte und er schien sich zu fürchten. Da habe ich mich um ihn gekümmert. Ist es dein Hund?“

„Nein. Er gehört meiner Schwester und ihrem Freund Steve. Danke, dass du ihm das Wasser gebracht hast. Das ist nett.“

„Das habe ich gerne gemacht. Steve ist der Freund deiner Schwester? Dann bist du Amys Bruder?“, fragte sie überrascht. „Ich wusste nicht, dass Amy einen Bruder hat.“

„Ja. Meine Schwester spricht nicht oft über mich, weil ich anders bin.“

„Was meinst du mit anders?“, fragte Nayara vorsichtig nach. Ihr war zwar aufgefallen, dass der Junge ihr noch kein einziges Mal in die Augen geschaut hatte, seit sie mit ihm sprach, und etwas sonderbar mit dem Oberkörper hin und her wippte. Da aber die Hälfte der Menschen hier an dieser Party sich seltsam bewegte oder unter Drogen oder zumindest Alkoholeinfluss stand, kam ihr sein Verhalten unter den gegebenen Umständen völlig normal vor.

„Ich mag Veranstaltungen mit vielen Menschen nicht und somit auch keine Partys“, sagte er verlegen.

„Da geht es dir ähnlich wie mir. Ich bin übrigens Nayara. Ich bin mit meiner Freundin Cassie hergekommen. Vielleicht kennst du sie von deiner Schwester her.“

„Nein“, war die knappe Antwort und Nayara stellte fest, dass der Junge aufmerksam ihre Schnürsenkel betrachtete. Verlegen trat sie von einem Fuß auf den andern und dachte angestrengt nach, wie sie die Konversation aufrechterhalten konnte.

„Wie heißt du?“, fragte sie nach, auch wenn ihr die Frage etwas formell erschien.

„Vince.“

„Okay, Vince. Schön, dich kennenzulernen.“

„Ich bin erst 15“, sagte Vince, „aber ich mag keine Partys und auch keinen Alkohol.“

„Das ist doch absolut in Ordnung so und macht überhaupt nichts. Solche Partys sind nicht jedermanns Sache. Du bist bestimmt hier, weil deine Schwester heute ihren Geburtstag feiert, und das finde ich schön von dir.“

„Ja, genau.“

Eine weitere Pause entstand, bis er fortfuhr: „Du hast tolle Schnürsenkel. 19-mal Hello-Kitty.“

„Was meinst du mit 19-mal Hello-Kitty?“, fragte Nayara nach.

„Man sieht das Motiv von Hello-Kitty 19-mal. 10-mal auf deinem linken Schuh und 9-mal auf deinem rechten. Wahrscheinlich hast du links die Schnürsenkel fester zugezogen.“

„Huch, mir ist nicht aufgefallen, dass die beiden Schuhe unterschiedlich sind“, lachte Nayara und weckte damit den schwarzen Hund auf, der sie sofort wiedererkannte und mit dem Schwanz wedelte.

„Jagger mag dich“, sagte Vince und strich dem Hund über den Kopf.

„Der Hund heißt Jagger? Ich mag ihn auch. Ich habe gesehen, dass er eine Narbe über dem rechten Auge hat. Weißt du woher?“

„Ja“, sagte Vince und hielt inne.

„Magst du mir erzählen, was passiert ist? Ich habe momentan keine Lust, zu der Menge zurückzukehren, und würde die Geschichte gerne hören.“ Nayara setzte sich neben Vince, der sofort ein Stück zur Seite rutschte.

„Oh, entschuldige. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“

„Schon gut“, nuschelte er und fixierte erneut einen Punkt am Boden.

Nayara wartete geduldig, bis Vince genug Zeit hatte, um sich an die Situation zu gewöhnen. Als er sich schließlich dazu überwinden konnte, mit der Geschichte zu beginnen, hörte sie aufmerksam zu.

„Jagger ist der Hund von Amy und ihrem Freund Steve“, begann er erneut, obwohl er das vor Kurzem schon erwähnt hatte. „Jagger ist acht Monate alt. Er ist ein Labrador Retriever und somit eine von der FCI anerkannten britischen Hunderassen. Seine Lebenserwartung beträgt 10 bis 12 Jahre. Seine ursprüngliche Herkunft ist Neufundland. Männchen werden im Durchschnitt 57‒62 cm groß, Weibchen im Durchschnitt nur 55‒60 cm. Da es sich bei Jagger um ein Männchen handelt, können wir also von einer Durchschnittsgröße von rund 60 cm ausgehen. Je nach Fütterung könnte …“

„Danke für deine ausführliche Beschreibung“, unterbrach Nayara den monotonen Redefluss von Vince, „aber ich würde gerne erfahren, was Jagger zugestoßen ist. Weshalb er eine Narbe oberhalb des rechten Auges hat. Auch wenn deine Informationen über Jagger sehr interessant sind, bin ich mehr gespannt, was er mit seinen acht Monaten schon alles erlebt hat“, fügte sie hinzu, um nicht unhöflich zu klingen.

„Ich bin nicht gut in solchen Dingen. Ich kann besser über Fakten berichten als über Ereignisse, die mich aufwühlen.“

„Ich verstehe. Aber könntest du es trotzdem versuchen? Es würde mir viel bedeuten, weil ich Jagger bereits in mein Herz geschlossen habe.“

„Okay, ich werde es versuchen. Aber bitte lache mich nicht aus.“

„Nein bestimmt nicht“, versicherte Nayara und wartete auf den interessanteren Teil der Geschichte.

„Es war vor drei Wochen. Es war auch eine von diesen blöden Partys. Ich war nicht dabei. Ich mag keine Partys.“

Nayara nickte ihm zustimmend zu.

„Er war an einen Tisch angebunden und hatte sich darunter zusammengerollt. Einer der Gäste war betrunken und schmiss von weither eine leere Bierflasche in Richtung Mülltonne, die hinter dem Tisch stand. Er verfehlte sie und die Bierflasche zerbarst an der Tischkannte. Ein Scherbenstück flog in Richtung Jagger und traf ihn oberhalb des Auges. Er musste mit sieben Stichen genäht werden. Er hat viel Blut verloren. Jagger mag auch keine Partys.“

Nayara hörte entsetzt zu. „Das ist ja grauenvoll. Weshalb nehmen Steve und Amy Jagger überhaupt mit auf solche Partys?“, wollte sie wissen.

„Ich weiß auch nicht. Ich würde Jagger hüten, aber sie wollen ihn immer dabeihaben. Sie sagen, er gehört zu ihnen ‒ immer und überall.“

Erneut starrte Vince auf ihre Schuhe und Nayara hatte das Gefühl, als wolle er auch noch die Hello-Kittys zählen, die nicht an der Oberfläche zu erkennen waren.

„Danke, dass du es mir erzählt hast. Es tut mir leid um Jagger und ich hoffe, er muss nicht mehr allzu oft auf Partys gehen.“

„Ja“, sagte Vince und begann kleine Holzstücke in einer Reihe zu arrangieren.

„Ich wage mich dann nochmals zurück in die tobende Menschenmenge“, sagte Nayara und fügte einen tiefen Seufzer hinzu. „Ich muss nach meiner Freundin sehen. So wie ich sie kenne, wird sie mich bestimmt vermissen. Willst du mitkommen?“

„Nein, ich bleibe hier und passe auf Jagger auf.“

„Okay, dann bis später. Tschüss.“

Als sich Nayara noch einmal winkend zu Vince umdrehte, kam keine Reaktion von ihm. Er war tief in Gedanken versunken und damit beschäftigt, sein Holzstückarrangement zu perfektionieren.

Als Nayara an den Ort zurücklief, wo sie Cassie schlafend zurückgelassen hatte, war ihr mulmig zumute.

Hoffentlich geht es ihr gut. Warum musste sie sich auch so eine Pille reinwerfen? Ich werde das nie verstehen.

Sie fand den Ort sofort wieder. Die welken Blätter, die am Boden lagen, waren zusammengedrückt und eine leere Flasche lag neben dem Baumstamm. Aber Cassie war nicht mehr hier.

Na, dann ist sie hoffentlich wieder wohlauf, dachte Nayara, hob die leere Flasche behutsam auf und nahm sie mit.

Es liegt schon genügend Müll in der Natur herum. Dann tue ich wenigstens noch etwas Gutes diese Nacht, überlegte sie und atmete tief durch.

Als sie zur Waldlichtung kam, waren noch immer viele junge Leute am Tanzen. Die Stimmung war ausgelassen. Einige bewegten sich wie in Trance zum Rhythmus der Musik, andere torkelten unter Einfluss von zu viel Alkohol oder Drogen, manche mussten gestützt oder gehalten werden, aber alles in allem herrschte eine friedliche Atmosphäre. Die Rauchschwaden, die verdächtig nach illegalen Substanzen rochen, verteilten sich im Wald. Nayara ließ ihren Blick durch die Menge schweifen und entdeckte nach wenigen Augenblicken erleichtert ihre Freundin.

„Ich bin so froh, dass es dir wieder gut geht“, rief sie ihr zu, als sie sich den Weg zu ihr gebahnt hatte.

„Ich habe es dir doch gesagt. Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen. Ich bin Partys gewohnt, im Gegensatz zu dir, wie mir scheint.“ Mit einem Augenzwinkern drehte sie sich um ihre eigene Achse und bewegte sich erneut zur Musik.

Halbherzig tanzte Nayara mit und hoffte inständig, die Party möge bald vorbei sein.

Als die Uhr beinahe zwei Uhr in der Früh anzeigte, verspürte sie das dringende Bedürfnis, die Toilette aufzusuchen.

„Bleibst du weiterhin hier?“, fragte sie an Cassie gewandt. „Ich muss kurz auf Toilette und bin gleich zurück.“

„Alles klar, du findest mich hier. Kannst du mir auf dem Rückweg noch ein Wasser mitbringen, bitte?“

„Ein Wasser?“, fragte Nayara erstaunt.

„Ja, wie du siehst, bin ich hin und wieder auch vernünftig. Ich weiß, wann ich genug Alkohol intus habe. Und schließlich wollen wir doch sicher nach Hause kommen, oder?“

Nayara nickte ihrer Freundin zu und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg zur Hütte. Doch als sie die Türe zur Toilette aufstieß, stockte ihr der Atem. Das Klo war verstopft und bis obenhin mit Fäkalien und Erbrochenem gefüllt. Und wie es schien, hatten einige Personen ihre Zielsicherheit verloren, sodass der gesamte Boden mit Unrat übersät war.

„Oh nein“, entfuhr es Nayara, „diesen Anblick hätte ich mir gerne erspart.“

Armes Putzpersonal, dachte sie noch und hielt sich schützend eine Hand vor die Nase und den Mund, um den aufkeimenden Brechreiz zu unterdrücken.

Unter diesen Umständen werde ich mir besser ein Plätzchen im Wald suchen. Das Klo ist definitiv nicht zumutbar.

Sie entfernte sich ein paar Schritte von der Hütte und merkte bald, dass sie wohl oder übel gezwungen war, noch einige Schritte zusätzlich zu gehen. Sie musste gut aufpassen, um nicht über andere Personen zu stolpern, die entweder betrunken unter einem Baum lagen, ihren Drogenrausch ausschliefen, sich einander hingaben oder ähnliche Absichten wie sie in diesem Moment hegten.

Als sie sich endlich sicher fühlte, war sie weiter gegangen, als es für einen Sichtschutz womöglich nötig gewesen wäre, aber nur so fühlte sie sich unbeobachtet. Sie hockte sich nieder und erleichterte sich. Erst als sie ihre Jeans wieder hochzog, hörte sie leise Stimmen, die aus der entgegengesetzten Richtung, weit entfernt von der Hütte zu kommen schienen. Das Zischen der Stimmen unterschied sich eindeutig vom Geräusch der Musik. Neugierig tappte sie durch die Dunkelheit und glaubte in einiger Entfernung eine großgewachsene Person zu erkennen, die eine Baseballkappe trug. Daneben erkannte sie die Umrisse einer kleineren Person oder von jemandem, der am Boden kauerte. Plötzlich durchdrang ein kehliges Lachen die Stille und sie vermutete, es könnte sich um Amy handeln. Sie hatte dieses typische Lachen schon früher nicht ausstehen können. Es klang irgendwie unwirklich und auf eine gewisse Art bedrohlich.

Was machen die denn hier draußen, so weit entfernt von der Hütte? Amy ist so gerne im Mittelpunkt und würde doch nicht ohne Grund ihre Party verlassen.

Plötzlich blitzte das Licht einer Taschenlampe auf und sie erkannte sofort das knallrote Haar der kleineren Person, die sich gegen etwas am Boden stemmte.

Es ist also tatsächlich Amy. Ich habe mich nicht getäuscht.

Als sich der Lichtkegel etwas bewegte, nahm sie noch eine weitere Person wahr, die allerdings bewegungslos am Boden lag. Auf diese Distanz konnte sie nicht erkennen, um wen es sich handelte und wahrscheinlich hätte sie ihn ohnehin nicht gekannt. Sie kannte ja so gut wie niemanden hier und das war ihr auch ganz recht so.

Im Schein der Taschenlampe sah sie, wie Amy sich über die reglose Gestalt bückte, sie nach unten drückte und nochmals ein kehliges Lachen ausstieß.

Das ist so gruselig, dachte sich Nayara und machte einen Schritt zurück. Dabei trat sie auf einen trockenen Ast, der ein lautes Knacken verursachte.

Mist. Hoffentlich haben die mich nicht gehört.

Die Stimmen vor ihr verstummten und die Taschenlampe wurde in ihre Richtung gedreht. Sie blieb wie erstarrt stehen und hielt ihre Atmung flach. Der äußere Rand des Lichtkegels erreichte für einen kurzen Moment ihre Schuhe und drehte dann weiter nach links ab. Nach wenigen Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen, verlöschte das Licht und es wurde schlagartig dunkel.

Ihre Nackenhärchen stellten sich auf und trotz der warmen Temperaturen überzog eine Hühnerhaut ihre Arme und Beine.

„Irgendetwas stimmt hier nicht“, murmelte sie vor sich hin und machte sich so schnell und leise, wie sie nur konnte, auf den Rückweg. Ohne Licht war das eine echte Herausforderung. Als sich direkt hinter ihr ein dürrer Ast aus der Baumkrone löste und zu Boden fiel hätte sie beinahe laut geschrien. Ihr Puls stieg rasant an und sie wünschte sich, sie wäre zu Hause geblieben. Ihr Tempo steigernd, stolperte sie mehrfach über Wurzeln oder Unebenheiten, fand aber dank der lauter werdenden Musik den Weg zurück zur Lichtung.

Noch immer im Fluchtmodus, zog sie Cassie hastig am Arm und schrie ihr etwas gegen den Lärm ins Ohr.

„Was?“, fragte diese zurück.

„Komm, wir müssen gehen! Ich habe Angst!“

„Was? Was ist passiert? Geht es dir nicht gut?“

„Es ist nicht wegen mir. Ich erzähle es dir, sobald ich nicht mehr so laut schreien muss, aber komm bitte!“, drängte Nayara weiter.

„Lass mich wenigstens noch dieses eine Lied zu Ende tanzen. Der Groove ist geil.“

Nayara dachte kurz nach und lenkte ein. „Okay, aber bitte beeile dich. Ich bin hinter der Hütte und warte dort auf dich.“

Ein Nicken ihrer Freundin reichte ihr und sie machte sich auf den Weg zu Vince und Jagger. So konnte sie sich zumindest noch von den beiden verabschieden. Doch als sie um die Ecke bog, fand sie nur noch Jagger vor, der erneut zitternd an die Wand gedrückt dalag, den Schwanz eingezogen und die Augen weit geöffnet.

„Ach du Armer“, sagte Nayara, „ist Vince nicht bei dir? Er wird bestimmt bald zurückkommen.“

Sie kniete sich nieder, nahm den kleinen Kopf zwischen ihre Hände und blickte ihm tief in die Augen, bis er sich sichtlich entspannte.

„Alles wird gut“, flüsterte sie ihm leise zu und wiederholte ihre Worte: „Ich fühle es. Alles wird gut.“ Sie küsste Jagger zärtlich auf den Kopf und strich ihm mit einem Finger sanft über die glänzende Narbe. Dann erhob sie sich und rannte zu Cassie, die soeben um die Ecke bog.

KAPITEL 3

Zelle eins-null-vier

Es ist 6:01 Uhr, als der Weckdienst an die Türen hämmert, nachdem eine Minute zuvor der Signalton schon alle Träume vertrieben hat.

Nayara friert und hat auf der harten Matratze kaum Schlaf gefunden.

„Man gewöhnt sich daran“, sagt ihre Zellengenossin, die sich bis jetzt noch nicht mit Namen vorgestellt hat.

Nayara verdreht die Augen. Wenn die weiterhin so tut, als wäre sie schon seit Jahren hier, werde ich sie ignorieren. Es war lustig zu Beginn, aber mit der Zeit nervt es, denkt sie und streckt ihren Rücken durch, in der Hoffnung ihre verkrampften Muskeln ein wenig zu lockern.

„Ich bin ja gespannt, wie der heutige Tag abläuft. Ich habe mir bereits vieles vorgestellt, aber es nun selbst zu erleben, ist nochmal was ganz anderes“, sagt sie und gähnt laut.

„Stell dich auf etwas Unspektakuläres ein, dann wirst du am wenigsten enttäuscht“, lautet die Antwort aus der Toilette, wo ihre Zellengenossin geräuschvoll ihrer Morgenroutine nachgeht.

„Besserwisserin“, murmelt Nayara vor sich hin und mahnt sich sofort zur Zurückhaltung.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragt sie lauter als nötig nach, um die unangenehmen Geräusche aus der Toilette zu übertönen.

„Kannst mich Mell nennen.“

Kannst mich Mell nennen, äfft Nayara leicht genervt das Gehörte in Gedanken nach und streicht die dünne Wolldecke auf ihrem Bett zurecht.

Als sich die Luke öffnet und jemand verlauten lässt, dass es Frühstück gibt, springt sie sofort auf und läuft die zwei Schritte zur Tür.

„Sagen Sie“, fragt sie den Wärter, der die beiden Pappschalen durch die Luke schiebt, „gibt es ein spezielles Programm für diese drei Tage, die wir hier sind?“

„Ich verstehe nicht“, antwortet er.

„Nun, für diese drei Tage, solange dieses Experiment dauert, haben Sie da etwas Spezielles vorbereitet oder was sollen wir in dieser Zeit tun?“, hakt sie nach.

„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, aber würden Sie nun das Frühstück entgegennehmen, sonst nehme ich es wieder mit.“

Nayara greift sich verwundert die beiden Frühstücksteller, während aus dem Toilettenbereich ein Lachen zu hören ist.

„Was ist denn so besonders witzig?“, fragt Nayara und ärgert sich über Mells Verhalten.

„Nichts, nichts“, kichert diese weiter und schlurft gemächlich aus der Toilette, eine übelriechende Geruchswolke hinter sich herziehend.

Angewidert rümpft Nayara die Nase und setzt sich an den Tisch, um lustlos in ihrem Frühstück herumzustochern.

Kurz vor sieben Uhr steht Mell auf und zieht sich in gefühltem Zeitlupentempo die Schuhe an, um sich anschließend vor die Türe zu stellen.

„Was machst du?“, fragt Nayara.

„Ich gehe zur Arbeit, wie jeden Tag. Was denn sonst?“

„Und ich?“

„Neuankömmlinge müssen sich erst eingewöhnen. Die dürfen nicht zur Arbeit. Du bleibst also hier.“

„Kann ich deine Comichefte lesen?“, fragt Nayara und streckt ihre Hand nach den beiden Exemplaren aus, die im Regal stehen.

„Finger weg!“, ruft Mell. „Fass die nicht an! Hier drin gibt’s nichts umsonst. Verdien dir deinen eigenen Kram!“

Nayara zieht erschrocken ihre Hand zurück. „Okay, ist ja schon gut“, meint sie kleinlaut und setzt sich erneut auf ihr Bett. Kurz drauf wird die Tür geöffnet und Mell verlässt wie angekündigt die Zelle.

Nayara stützt ihren Kopf in die Hände.

Was genau geht hier vor?

Noch einmal durchläuft sie in Gedanken den Anmeldevorgang für dieses Experiment.

Habe ich irgendetwas übersehen? Kann es sein, dass ich mit „echten“ Gefangenen hier drin bin? Aber davon stand nichts in der Beschreibung.

Wie gerne würde sie ihren Freund anrufen, der gemeinsam mit ihr alle Formulare durchgegangen ist und sie in ihrem Vorhaben unterstützt hat. Es war das Highlight schlechthin, als er sie auf die Anzeige aus einer Zeitung hinwies. Er hatte den Artikel ausgeschnitten und ihr vorgelegt. Sie wollte schon immer mal wissen, wie es sich anfühlt, in einem Gefängnis zu sein. Drei Tage erschienen ihr draußen noch viel zu kurz. Doch nun sehnte sie bereits nach wenigen Stunden das Ende herbei.

Irgendwas wird bestimmt noch passieren heute. Die können mich ja nicht den ganzen Tag hier sitzen lassen, denkt sie, setzt sich kerzengerade auf ihre harte Matratze und wartet.

KAPITEL 4

Als Amy die Augen öffnete, war es stockdunkel. Ein frischer Windhauch streifte ihr Gesicht.

Wo bin ich?

Sie lag ausgetreckt auf dem Rücken. Behutsam setzte sie sich auf und stöhnte laut. Ihr Kopf schmerzte und ihr ganzer Körper fühlte sich an, als hätte sie am Tag zuvor mindestens einen Marathonlauf absolviert. Sie fuhr sich mit der rechten Hand über das Gesicht und bemerkte, dass überall Blätter an ihrem Körper klebten.

Okay, ganz ruhig, das macht jetzt alles keinen Sinn, aber reiße dich zusammen.

Mühsam erhob sie sich und versuchte sich daran zu erinnern, was geschehen war. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte sich keinen Reim darauf machen, wie sie hierhergekommen war. Und wo war Steve? Sie war selten allein unterwegs und ihr Freund war ihr steter Begleiter.

„Steve! Steve!“, rief sie mit krächzender Stimme. Die Worte klangen gedämpft und selbst das Rascheln der Blätter in den Bäumen tönte lauter in ihren Ohren.

Als sie sich erneut auf dem Boden abstützte, berührte ihre Hand etwas Glattes, Kaltes, das sie sofort als ihr Handy identifizierte.

Gott sei Dank, jetzt wird alles gut.

Doch schon ein kurzer Blick auf das Display ließ ihre Hoffnungen schwinden. Der Akku war leer.

„So ein Mist aber auch!“, rief sie den Tränen nahe und rappelte sich vollends auf.

Jeder Schritt bereitete ihr große Mühe und als sie über ihre nackten Arme strich, stellte sie fest, dass diese mit Kratzwunden übersät waren. Panik stieg in ihr auf und hastig tastete sie ihren Körper weiter ab.

Ihr kurzer Mini-Jupe war zerrissen, sie trug nur noch einen Schuh und ihr bauchfreies Top sah vollkommen verschmutzt aus, soweit sie das in der pechschwarzen Nacht erkennen konnte.

Eine plötzliche Übelkeit stieg in ihr hoch, ihr Magen krampfte und sie übergab sich mehrere Male, bis der Würgereiz langsam nachließ.

„Steve!“, wimmerte sie leise vor sich hin, während sie sich einen Weg über Wurzeln und Blätter bahnte.

Sie stolperte eine kleine Böschung hinunter und vernahm das Rauschen eines Baches.

Wo bin ich hier, fragte sie sich erneut und versuchte angestrengt eine Erinnerung hervorzurufen. Doch abgesehen von dem sich rasend schnell drehenden Karussell in ihrem Kopf tat sich nichts.

Hämmernde Kopfschmerzen machten sich breit und ein lautes Pfeifen füllte ihre Gehörgänge von innen aus. Schwankend erreichte sie den kleinen Waldbach, wo sie auf ihre Knie sank und unbeholfen mit ihren Händen Wasser schöpfte, um ihren nach Galle und Erbrochenem schmeckenden Mund auszuspülen.

Setz dich hin, atme durch und erinnere dich, drängte sie eine innere Stimme.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wich der Schwindel und der stechende Schmerz in ihrem Kopf ließ ein wenig nach.

„Ich will nach Hause“, wimmerte sie und suchte verzweifelt nach einem Weg. Kaum ein Lichtschimmer drang durch den dichten Wald. Doch da sich ihre Augen unterdessen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie doch noch einige Umrissen erkennen. Sie watete durch den Bach und kroch orientierungslos an der anderen Uferseite den kleinen Abhang hinauf. Nach wenigen Schritten erreichte sie einen Kiesweg und folgte diesem dem Lauf des Wassers entlang. Es fiel ihr schwer einen klaren Gedanken zu fassen, aber angesichts ihrer zerrissenen und beschmutzten Kleidung sowie ihrer zerkratzten Arme und Beine ging sie vom Schlimmsten aus.

Ich muss sofort zur Polizei. Mir ist bestimmt etwas Schlimmes zugestoßen.

Als sie behutsam mit den Fingern ihre Innenseiten der Oberschenkel abtastete, fand sie auch dort aufgeschürfte Haut und Kratzer vor.

Bloß schon der Gedanke, was ihr widerfahren sein musste, ließ sie laut aufstöhnen.

Oh nein! Wieso musste das mir passieren?

Sie hatte ihr Zeitgefühl vollends verloren, doch ging sie davon aus, dass sie sich noch tief in der Nacht befinden musste.

Sie strauchelte weiter den Weg am Bach entlang und versank tief in Grübeleien.

Ich muss weg hier. Raus aus dem Wald. Was ist geschehen? Wer hat mir das angetan? Ich muss Steve finden!

Aber als erstes muss ich da raus und Hilfe holen.

Diese Worte begleiteten sie auf dem ganzen Weg, bis sie in einiger Entfernung das Ende des Waldes ausmachen konnte und erstaunt feststellte, dass ein Lichtstreifen den Morgen ankündigte. Zum ersten Mal erkannte sie das Ausmaß ihrer Erscheinung und erschrak aufs Neue. Ihr Shirt war nicht nur verschmutzt, es wies sogar braune Spuren auf, die sie als Blut erkannte.

„Nein!“, schluchzte sie und zog ihren zerrissenen Mini-Jupe so tief nach unten, wie es ging. Dabei stellte sie mit großem Entsetzen fest, dass sie keinen Slip trug.

„Hilfe!“, jammerte sie, konnte jedoch keine Menschenseele erblicken und so setzte sie einen Schritt vor den anderen, bis sie den Wald hinter sich ließ. Ihr linker Fuß, an dem sie keinen Schuh mehr trug, war mittlerweile von spitzen Steinchen wund gescheuert und am Fußballen hatte sich eine schmerzhafte Blase gebildet. An der ersten Straße angekommen, erkannte sie sofort, wo sie war. Erleichtert steigerte sie ihr Tempo und schlug, weiterhin hinkend, den Weg nach Hause ein.

Ich kann es schaffen. Zu Hause werden Steve und Vince mit großer Sorge auf mich warten und mir erklären können, seit wann ich weg bin. Oder vielleicht wartet schon die Polizei auf mich, weil Steve eine Vermisstenanzeige aufgegeben hat?

Als sie das Haus erreicht hatte, drückte sie hastig die Klinke hinunter. Doch diese ließ sich nicht öffnen. Sofort drückte sie die Klingel mehrere Male hintereinander und hämmerte gleichzeitig an die Haustüre.

„Aufmachen!“, schrie sie. „Ich bin hier! Macht auf!“ Doch es blieb alles ruhig. Nicht einmal Jagger bellte. Und auch Dolores erschien nicht an der Tür.

Völlig erschöpft sank sie wimmernd zu Boden, legte ihren Kopf auf die Knie und dämmerte in Gedanken versunken weg.

Amy war in einer Villa aufgewachsen. Dasselbe Prachtstück eines Hauses, in dem sie noch immer wohnte. Den Namen hatte sie von ihrer Mutter bekommen, die sie Amelija getauft hatte. Doch da alle Leute, die ihren Namen lasen, ihn falsch betonten, nämlich auf dem Buchstaben e anstatt, wie es vorgesehen war, auf dem i, beschloss ihr Vater kurzerhand, die Abkürzung Amy zu verwenden. Das führte zwar zu Hause zu Diskussionen, aber irgendwann sah auch ihre Mutter ein, dass der Name in der Schweiz sehr selten vorkam und die Betonung für Verwirrung sorgte.

Als sie fünf Jahre alt war, kam ihr Bruder Vincent zur Welt. Sie hatte sich sehr über ein Brüderchen gefreut, denn ihre Eltern waren beruflich sowie auch privat viel unterwegs und ihre Nanny Dolores verrichtete den Haushalt und hatte den Großteil der Erziehung übernommen.

Amys Vater arbeitete als Pilot für eine Firma, die Reisen in Luxus-Spezialflugzeugen für geschäftliche und private Zwecke anbot. Daher war er weit mehr unterwegs in fremden Ländern als zu Hause bei seiner Familie. Ihre Mutter, die litauische Wurzeln hatte, verbrachte die meiste Zeit mit Freundinnen in Frankreich, vorzugsweise in Saint Tropez oder in Monaco. Hin und wieder kehrte sie auch in ihre Heimat zurück, um Verwandte zu besuchen. Sie hatte einmal verlauten lassen, dass, wenn ihr Vater nie zu Hause sei, sie nicht einsähe, was sie hier verloren hätte.

Und so stellten sie Dolores ein. Sie war eine Perle, arbeitete hart und erledigte sämtliche Arbeiten, die im Haus anfielen. Einen Tag pro Woche durfte sie sich frei nehmen. Dieser Tag wurde jeweils immer am Montag gemeinsam mit den anwesenden Familienmitgliedern besprochen und sie hatte sich danach zu richten. Für die Gartenarbeiten wurde dreimal jährlich während einer Woche eine Gärtnerei beauftragt, alles in Schwung zu halten und den Pool zu reinigen.

Und dann war da noch Vince. Amys Bruder, der sich am liebsten mit sich selbst beschäftigte und froh war, wenn sich möglichst wenige Menschen im Haus aufhielten.

Kaum kam Vince in den Kindergarten, wurden sie nach wenigen Tagen von seiner besorgten Lehrerin angerufen und darüber informiert, dass sich Vince’ Verhalten von den anderen Kindern deutlich unterschied. Klar, war das zu Hause auch schon aufgefallen, aber man hatte sich nicht wirklich Gedanken darüber gemacht. In den ersten Jahren hatte sich nebst Dolores vorwiegend Amy um ihren kleinen Bruder gekümmert. Sie mochte ihn, weil er nicht wie andere Babys dauernd schrie, sondern sich sehr gut allein zu beschäftigen wusste. Er konnte stundenlang ein Tapetenmuster an der Wand anstarren, während ihm bei offenem Mund der Speichel vom Kinn tropfte.

Wenn man seine Ruhe wollte, legte man ihm am besten ein buntes Tuch oder ein Kleidungsstück mit kariertem Muster ins Bett und er war glücklich. Als er später mit seinen Händen greifen konnte, liebte er die Holzwürfel, die auf jeder Seite mit Farben teilweise oder ganz bemalt waren. Diese konnte er aneinanderreihen, sie zu unzähligen Mustern zusammenfügen oder sie einfach staunend betrachten. Amy liebte ihn dafür. So hatte sie trotz Aufsicht immer noch viel Zeit für ihre Vorlieben und konnte ihn stundenlang aus den Augen lassen.

Selbst wenn er Hunger oder Durst verspürte, begann er nicht zu schreien, nein, er wippte mit seinem Körper vor und zurück. Amy lernte die Körpersprache ihres Bruders schnell kennen und da alles so reibungslos lief, fiel es nicht weiter auf, dass er kaum mit anderen Kindern interagierte, sondern sich lieber zurückzog und für sich war.

Als dann aufgrund seines speziellen Verhaltens endlich, nach anfänglich mehreren vergeblichen Versuchen, ein Termin mit ihren Eltern und der zuständigen Lehrperson zu Stande kam, staunten diese nicht schlecht über die Beschreibungen ihres Sohnes. Alarmiert über dessen Entwicklung, wurde er für eine psychologische Abklärung angemeldet und alle warteten gespannt auf die Auswertung. Als Diagnose stellte sich eine Autismus-Spektrums-Störung heraus, welche sämtliche seiner Verhaltensauffälligkeiten nachvollziehbar erklärte. Kinder mit dieser Diagnose weisen häufig ein grundlegendes Defizit im Bereich des sozialen Miteinanders und der gegenseitigen Verständigung auf. Daneben treten Sonderinteressen und wiederholtes, stereotypes Verhalten in den Vordergrund.

Amy liebte ihren Bruder auf Grund seiner Diagnose nicht minder, im Gegenteil, sie entwickelte einen richtigen Beschützerinstinkt und keiner sollte es wagen, ihren Bruder verbal oder physisch zu attackieren.

Als Vince in die erste Klasse kam, wurde rasch erkannt, dass er nebst seinem, für andere im Allgemeinen negativ auffallenden Verhalten eine außergewöhnliche Stärke für Zahlen an den Tag legte. Er liebte Zahlen und entwickelte schnell seine eigene Zahlenwelt und deren Gesetze.

Eines Abends, als Amy wieder einmal allein mit Vince zu Hause war, kam er zu ihr und legte seine Arme fest um sie. Für ihn eine sehr seltene Geste, da er Nähe und Berührungen für gewöhnlich ablehnte.

„Was ist denn, Kleiner?“, fragte Amy und genoss die Umarmung sichtlich.

„Du bist meine Seelenverwandte“, sagte er und schaute ihr direkt in die Augen. Auch etwas, das Vince spärlich tat und nur in äußerst vertrauten Momenten.

„Wow, das ist aber ein großes Wort, das du da aussprichst“, sagte Amy.

„Ist aber wahr.“

„Wie kommst du darauf?“, fragte sie noch immer berührt.

„Du bist eine Sechs und ich bin auch eine Sechs. Das heißt, wir sind Seelenverwandte.“

„Moment. Da komme ich jetzt nicht ganz mit. Was meinst du damit, dass ich eine Sechs bin? Ich bin doch keine Zahl.“ Schmunzelnd strich sie ihrem Bruder über sein krauses, kurzes Haar.

„Doch“, bestand er auf seiner Aussage. „Alles auf der Welt besteht aus einer Zahl.“

„Okay“, willigte Amy ein, die Vince gut genug kannte, um zu wissen, dass nun ein längerer Vortrag folgen würde. Sie setzte sich bequem hin und konzentrierte sich, denn meistens waren diese Vorträge nicht so simpel nachzuvollziehen. Aber sie gab sich dennoch jedes Mal Mühe, den Gedankenvorgängen ihres Bruders Folge zu leisten.

„Also, es ist so. Alles auf der Welt hat einen Namen, oder?“

„Ja, soweit ich weiß, schon, Herr Professor“, lachte Amy.

„Gut, schlaues Schwesterchen“, neckte Vince zurück. „Und jeder Buchstabe des Alphabets entspricht einer Zahl. Wenn du dann die Zahlen deines Namens zusammenzählst und die Quersumme bildest, erhältst du deine Namenszahl. Klar?“

„Uff, jetzt wird es bereits kompliziert, Vince. Ich bin jetzt in der 6. Klasse und wir haben erst kürzlich von Quersummen gesprochen. Woher weißt du das schon, wenn du doch erst in der ersten Klasse bist?“

„Ich habe mir bei YouTube ein Video zu Numerologie angeschaut. Der Mann dort hat es zwar sehr kompliziert erklärt, aber ich habe es verstanden. Und es ist in Wirklichkeit ganz einfach. Schau“, fuhr er gänzlich in seinem Element angekommen fort. „Du wurdest auf den Namen Amelija getauft. Das heißt A entspricht der 1, M der 13, E der 5, L der 12, I der 9, J der 10 und A wieder der 1. Zusammengezählt ergibt das 51. Und was ist die Quersumme von 51?“ Herausfordernd schaute Vince seine Schwester an und wartete ungeduldig auf die Antwort.

„Sechs.“

„Korrekt!“, jubelte Vince. „Und die Quersumme meines Namens Vincent ergibt auch die Zahl sechs. Das bedeutet, dass wir seelenverwandt sind, Schwesterchen. Und weißt du noch das Beste?“, fügte er triumphierend hinzu.

„Nein, aber ich bin mir sicher, dass du es mir sogleich verraten wirst.“

„Genau! Sechs ist die vollkommene Zahl des Glücks, der Harmonie, des Gleichgewichts und der Kraft. Es ist eine magische Zahl. Wie das geometrische Hexagon mit seinen sechs Ecken verkörpert sie Zauberkraft.“

Vince’ Augen leuchteten vor Aufregung und Amy ließ sich gerne davon mitreißen.

„Mein kluger Bruder“, sagte sie und nickte anerkennend. Noch einmal schmiegte sich Vince in ihre Armbeuge, kugelte sich wie ein Hund ein und atmete glücklich tief ein und aus.

Je älter Vince wurde, desto mehr perfektionierte er sein Zahlenwissen und da ihn der reguläre Schulstoff langweilte, durfte er in Mathematik einen Begabungskurs besuchen.

Er verbrachte Stunden am Computer mit seinem neuen Lieblingsspiel Schach und frohlockte, wenn er den Computergegner schachmatt setzen konnte. Nebenbei interessierte er sich für die Astronomie, denn dort waren die Zahlen nicht so langweilig klein, sondern unvorstellbar groß und somit auch unvorstellbar interessant. Ehrfürchtig sprach er Zahlen aus, die sich kein normaler Mensch mehr vorstellen konnte, und schwelgte in seiner Zahlenwelt.

Mit der Pubertät setzten erste Probleme ein, die auch Vince selbst wahrzunehmen schien. Er hatte zusehends mit Ängsten zu kämpfen und sonderte sich immer mehr von Menschen ab. Nur wenige hatten das Feingefühl und wussten, wie man mit ihm umgehen musste. Und obwohl er eine hohe Begabung im Bereich Mathematik vorweisen konnte, gestaltete sich die Lehrstellensuche als äußerst herausfordernd.

Er interessierte sich sehr für die Softwareentwicklung und würde mit Sicherheit einen genialen Programmierer abgeben, wenn ihm da nicht seine sozialen Schwierigkeiten in den Weg kämen. So hatte er sich bei einer renommierten Firma beworben und war zu einem Schnuppertag eingeladen worden. Nach einer kurzen Einführung, die er ungeduldig abgewartet hatte, erhielt er die Möglichkeit, mit seiner Arbeit zu beginnen. Mit immensem Eifer trat er diese an und vergrub sich gedanklich völlig darin. Doch nach einer halben Stunde wurde er unterbrochen, weil ein kurzes Teammeeting einberufen wurde. Diese Unterbrechung regte ihn so sehr auf, dass er laut wurde und sich vehement weigerte, seinen Arbeitsplatz zu verlassen. Das war’s dann mit seinem Versuch, eine Lehrstelle bei dieser Firma zu ergattern.

In einem Team konnte man ihn sich nicht vorstellen und eine Arbeit mit Kundenkontakt kam auch nicht in Frage. Zudem waren seine Reaktionen für andere unvorhersehbar und so wurde er nach jedem Schnuppertag aufs Neue abgewiesen.

Außerdem reagierte er neuerdings stark auf Kritik. Sei dies an ihm als Person oder an seiner Arbeit. In solchen Situationen hielt er sich die Ohren zu, setzte sich in gekrümmter Haltung auf den Boden, wippte hin und her und zählte murmelnd vor sich hin. Auf viele Menschen in seinem Umfeld wirkte dieses Verhalten verstörend und in der Regel flüchteten diese regelrecht, um sich in ihre gewohnte Sicherheit zurückzuziehen.

Nur Amy gelang es in relativ kurzer Zeit, ihn in einer solchen Situation zu beruhigen und in die Realität zurückzuführen. Sie konnte sich selbst nicht erklären, weshalb Vince so stark auf sie reagierte, aber beide nahmen es dankbar an.

Es kam so weit, dass ihn kein Lehrbetrieb aufnehmen wollte und nur noch eine Lösung übrigblieb.

Er musste wohl oder übel in ein zusätzliches Schuljahr einwilligen, um mehr Zeit für eine Lehrstellensuche zu erlangen.

Einmal wöchentlich ging er zur Therapie und man beobachtete mit Argusaugen, ob eventuell eine geeignete Einrichtung für ihn eine bessere Option wäre. Doch Amy wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen und beteuerte bei allen involvierten Fachstellen ihre Absicht, für Vince zu sorgen. Und da sie bereits volljährig war, ihre Ausbildung als Erzieherin erfolgreich abgeschlossen und einen Teilzeitjob als Kinderbetreuerin in einem Hort in der Nachbargemeinde angenommen hatte, wurde ihr die Betreuung ihres Bruders Vince von allen Seiten zugetraut.

Nachdem Amy ihren 18. Geburtstag gefeiert hatte, zogen sich ihre Eltern noch mehr ins Ausland zurück und überließen ihr gemeinsam mit ihrem Freund Steve und der Nanny Dolores die Villa. Gelegentlich kamen sie zurück, meistens nicht gemeinsam und nur für wenige Tage, um „nach dem Rechten zu schauen“, wie sie es aussprachen. Doch Amy wusste es besser. Es ging vor allem darum, ansässige Freunde zu treffen und neue Pläne zu schmieden, Koffer neu zu packen und Anweisungen für die kommende Zeit zu geben.