Trügerische Idylle - Barbara Mehli - E-Book

Trügerische Idylle E-Book

Barbara Mehli

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Beschreibung

Du siehst es nicht kommen, doch plötzlich ist es da, mitten in deinem Leben. Und wenn dich das Böse gefunden hat, lässt es dich nicht mehr los. Nora hat alles, was man als perfektes Leben bezeichnen würde: einen bereichernden und interessanten Job, eine von Liebe erfüllte Ehe mit einem Mann, der die Aussicht hat, bald ein Forschungsteam in New York zu leiten, ein wunderschönes Einfamilienhaus mit Pool in erhöhter Lage mit Fernblick auf den See und keine gesundheitlichen oder familiären Probleme. Als dann auch noch die lebensfrohe Dee mit ihrem quirligen Hund Daisy in ihr Leben tritt, ergänzen Abenteuer und Abwechslung ihren ansonsten eher strengen und monotonen Alltag. Doch durch einen tragischen Zwischenfall wird ihr Leben bis auf die Grundmauern erschüttert. Ein Sog aus Täuschung, Tod und Gefahr droht sie nicht nur in unendliche Tiefen zu reißen, sondern trachtet auch nach ihrem Leben.

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Für meinen Vater

Du hast mir die Wege gezeigt. Nun ist es an mir, sie zu beschreiten.

Trügerische Idylle

1. Auflage, erschienen 6-2022

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Barbara Mehli

Layout: Romeon Verlag

ISBN: 978-3-96229-708-4

www.romeon-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Barbara Mehli

Trügerische Idylle

Das Buch

Du siehst es nicht kommen, doch plötzlich ist es da, mitten in deinem Leben. Und wenn dich das Böse gefunden hat, lässt es dich nicht mehr los.

Nora hat alles, was man als perfektes Leben bezeichnen würde: einen bereichernden und interessanten Job, eine von Liebe erfüllte Ehe mit einem Mann, der die Aussicht hat, bald ein Forschungsteam in New York zu leiten, ein wunderschönes Einfamilienhaus mit Pool in erhöhter Lage mit Fernblick auf den See und keine gesundheitlichen oder familiären Probleme. Als dann auch noch die lebensfrohe Dee mit ihrem quirligen Hund Daisy in ihr Leben tritt, ergänzen Abenteuer und Abwechslung ihren ansonsten eher strengen und monotonen Alltag.

Doch durch einen tragischen Zwischenfall wird ihr Leben bis auf die Grundmauern erschüttert. Ein Sog aus Täuschung, Tod und Gefahr droht sie nicht nur in unendliche Tiefen zu reißen, sondern trachtet auch nach ihrem Leben.

Die Autonin

Barbara Mehli wurde 1970 in Zürich geboren und wuchs in Zürich und Umgebung auf. Sie studierte Bildung und Betriebsmanagement, anschließend Heilpädagogik und arbeitet als Primarlehrerin und Schulische Heilpädagogin im Kanton Zürich. Sie ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter. Schon früh interessierte sie sich für Literatur und liebt bis heute die Kreativität und Lebendigkeit der Sprache.

Prolog

Erstarrt. Eiskalte Hände krallen sich an ihrem Herzen fest, ziehen und zerren, bis die letzte Verbindung reißt. Danach Leere. So düster wie der regnerische Novembertag sich zu Ende neigt, so kraftlos und einsam verlassen fühlt sich ihr Körper an. Ihre Gedanken schweben schwerelos im Nirgendwo. Die Feuchtigkeit der Erde kriecht unaufhaltsam ihre durchfrorenen Beine empor, während sie in sich zusammengesunken, stumm vor sich hinstarrend, am Rand des Grabes verharrt. Die letzten Besucher haben sich längst verabschiedet und sich in ihre warmen Wohnungen und Häuser verkrochen, wo für sie das gewohnte Leben weitergeht. Die trüben Stunden werden bloß für kurze Zeit als lästige und unschöne Momente in ihrem Gedächtnis haften bleiben, bald aber schon ersetzt durch freudigere Ereignisse und den gewohnten Alltag.

Doch für sie hat sich alles verändert. Nichts ist mehr wie zuvor und wird es auch nie mehr sein. Ein einziges Wort bildet sich immer wieder und füllt das Vakuum in ihr aus: WARUM?

Keinen Monat zuvor war ihr Leben noch in Ordnung. Sie war eine gesunde und glückliche Frau, eingebettet in Job und Familie, und wiegte sich in trügerischer Sicherheit. Nicht in den schlimmsten Albträumen hätte sie sich eine solche Wende ihres Lebens vorstellen können.

Noch einmal legt sie sich auf die frische Erde, die regendurchtränkt den Sarg bedeckt, gräbt ihre Hände tiefer, in der Hoffnung, seine Nähe zu spüren. Tränen sickern unaufhaltsam in den Boden, während Nebelschwaden aufziehen und die ganze Szenerie in ein gespenstisches Licht tauchen.

Wäre ihr Geist zu diesem Zeitpunkt nicht betäubt durch den immensen Schmerz und ihr Körper taub vor Kälte und Nässe, dann, ja dann hätte sie die Gestalt vielleicht bemerkt, die während der ganzen Zeit regungslos im Schatten der dicken Eiche steht und sie aus nächster Nähe beobachtet.

Teil 1

NORA

Kapitel 1

Wohlig streckt sich Nora in der frühsommerlichen Morgensonne, lässt ihren Blick über das weite Meer schweifen und atmet tief ein. Für einen kurzen Moment saugt sie die salzige Luft tief in sich auf und hält den Atem an, um die vorhandene Ruhe und die Harmonie in sich aufzunehmen.

Kurz nach dem Aufstehen in einen kuscheligen Pullover gehüllt auf einem Liegestuhl zu liegen, ist eigentlich nicht ihre Gewohnheit. Umso mehr genießt sie nun diese Ausnahme, setzt sich auf die Kante des Stuhls und verfolgt mit ihren Augen den Flug einiger Möwen, die über den Klippen kreisen. Ihre schrillen Schreie durchbrechen die Stille auf angenehme Weise, in Einklang mit der Natur. Das Brechen der Wellen, die weit unten an die Klippen schlagen, dringt nur gedämpft bis nach oben, wie eine rhythmische, beruhigende Geräuschkulisse im Hintergrund, die man mit der Zeit nicht mehr bewusst wahrnimmt.

Wider Erwarten hat Nora letzte Nacht tief und fest geschlafen, obwohl sie es nicht gewohnt ist, in einem Wohnmobil zu leben, im Gegensatz zu ihrer Freundin Dee. Diese hat sich vor einem Jahr ihren langersehnten Kindheitswunsch erfüllt und mit 26 Jahren ein Wohnmobil gekauft. Mit viel Liebe zum Detail hat sie es gemütlich eingerichtet und dekoriert, so dass man sich bereits beim ersten Betreten sofort zu Hause fühlt. Für Nora hingegen ist es das erste Mal, dass sie auf diese Weise unterwegs ist. Aber gemeinsam mit Dee hat sie sich gerne auf das kleine Abenteuer und die Auszeit eingelassen. Beim Einräumen des Gepäcks hat ihr Dee eine ausführliche Beschreibung ihres Eigenheims gegeben und alles bis ins kleinste Detail erklärt. Unterdessen weiß auch Nora ein wenig Bescheid, obwohl sie sich nicht groß für Automobile und deren Technik interessiert. Und dennoch muss sie sich eingestehen, dass sie ganz schön fasziniert ist von diesem Haus auf Rädern, denn mit einer Länge von knapp sieben Metern bietet dieses Wohnmobil mit Allradantrieb einen komfortablen Wohninnenraum, verfügt über ein fixes Doppelbett, eine kleine Küche mit ausreichend Platz in Kühlschrank und Gefrierfach, eine Sitzecke, die nötigenfalls zu einem weiteren Bett umfunktioniert werden kann, viel Stauraum und eine Dusche inklusive Toilette. An warmen Sommertagen sorgt eine Außendusche für Abkühlung und auf dem Dach sind Solarpanels angebracht, sodass ein externer Stromanschluss nicht zwingend notwendig ist. Auch für Frischwasser ist gesorgt und die Dieselheizung verspricht jederzeit, selbst während kühlerer Nächte, heimelige Wärme. Und zu erwähnen gilt es natürlich auch die kleine Nische unter dem Bett, die mit weichen Decken und Kuschelspielzeug zu einer gemütlichen Höhle für ihren Hund Daisy eingerichtet wurde. Mit ihren zwei Jahren ist Daisy noch jung und verspielt, verhält sich nachts aber ganz ruhig in ihrem Reich.

Dee konnte dem kleinen Fellknäuel nicht widerstehen, als sie vor rund acht Monaten einen Besuch im nahegelegenen Tierheim machte. Eigentlich wollte sie nur einmal ihre Bekannte Tamara besuchen, die ihr vermehrt von ihrer Arbeit erzählte, und dabei hatte sie Daisy entdeckt. Dort lag sie zusammengekauert in einer Ecke, den Kopf traurig auf ihre Pfoten gelegt, wobei sie Dee mit großen, treuen Hundeaugen angeschaut hatte. Innerhalb einer Sekunde hat sich Dee in den kleinen Havaneser verliebt und hätte ihn am liebsten sofort mit nach Hause genommen. Die Zeit bis zur offiziellen Übergabe war ihr danach vorgekommen, als wären es Monate, obwohl es nur knapp eine Woche war. Seitdem sind die kleine Daisy und Dee unzertrennlich. Daisy ist stets fröhlich, aufgeweckt und liebevoll. Da Havaneser als treue Begleithunde gelten und ausgewachsen nur eine Schulterhöhe von rund 25 cm erreichen, eignet Daisy sich vorzüglich als Mitbewohnerin im Wohnmobil.

Mit einem Lächeln im Gesicht lehnt sich Nora wieder auf ihrem Stuhl zurück und nimmt sich vor, die noch verbleibenden Minuten der entspannenden Ruhe zu genießen. Wenn Dee und Daisy von ihrem morgendlichen Spaziergang zurückkehren, wird dieser stille Ort wieder gefüllt sein mit Leben und Energie.

Das Gesicht der allmählich wärmenden Sonne zugewandt, schließt sie die Augen und merkt, wie die ganze Anspannung der letzten Wochen und Monate von ihr abfällt und sie leicht werden lässt. Eine innere Ruhe durchströmt sie und sie fühlt sich so befreit und glücklich wie schon lange nicht mehr.

Freudig aufgeregtes Bellen durchdringt die idyllische Morgenruhe und reißt Nora aus ihrem Halbschlaf. Sofort spannen sich ihre Muskeln an und kaum, dass sie sich die müden Augen gerieben hat, nimmt sie auch schon in der Ferne den kleinen Hund wahr. Einem Torpedo gleich, schießt das Energiebündel mit kurzen, aber kräftigen Beinen und wehendem Fell auf sie zu, und noch bevor sie sich richtig aufsetzen kann, nimmt Daisy einen letzten Anlauf und landet auf ihrem Bauch.

Es gelingt ihr trotz Noras halbherzigen Abwehrversuchen, ihr mit der Zunge übers Gesicht zu lecken. Danach dreht sie sich dreimal um sich selbst, verlässt den Liegestuhl und umrundet diesen mehrfach in großer Vorfreude auf ein paar Streicheleinheiten. Nora schmunzelt gerührt, während sie sich mit dem T-Shirt über ihr feuchtes Gesicht wischt, um die zurückgebliebenen Speichelreste zu entfernen.

»Na du kleiner Fellkrümel, wo hast du denn dein Frauchen gelassen?«, raunt Nora Daisy liebevoll ins Ohr, ohne das kontinuierliche Kraulen zu unterbrechen.

Rund zwei Minuten später erreicht auch Dee den Platz. Herzlich umarmen sich die beiden Freundinnen, was Daisy noch euphorischer mit dem Schwanz wedeln lässt.

»Hey, meine Hübsche, hast du dich ein wenig akklimatisieren können?«, erkundigt sich Dee, nicht ohne die Augenbrauen besorgt hochzuziehen. Sie ist sich sehr wohl bewusst, dass ihre Freundin eine strenge Zeit hinter sich hat und somit auf Erholung dringend angewiesen ist.

»Ach weißt du«, erwidert Nora, »diese paradiesische Aussicht, die sanfte Brise, die den Duft des Meeres vermischt mit einem Hauch von Pinien an mir vorüberziehen lässt und dazu noch die Gesellschaft von dir und Daisy, das gibt mir so viel neue Energie und Freude, dass ich mich wohl sehr schnell besser fühlen werde.«

Dee schmunzelt über die poetische Ausdrucksweise ihrer Freundin, muss aber dennoch eingestehen, dass sie es immer wieder genau auf den Punkt bringt. Sie selbst ist eher der praktische Typ und findet oft nicht die richtigen Worte, um eine Situation so detailgetreu zu beschreiben.

Um ihrer Freundin den Einstieg in den Tag noch etwas leichter zu machen, bietet sie ihr fröhlich an: »Weißt du was, du genießt noch ein bisschen die Aussicht und ich bereite uns dreien ein leckeres Frühstück zu. Dann können wir auch gleich Pläne für unseren ersten Tag schmieden. Was hältst du davon?« Etwas beschämt, nicht mitzuhelfen, aber doch froh über das verlockende Angebot, willigt Nora ein. »Aber nur unter der Bedingung, dass ich den Rest der Woche mithelfen darf!«

Nickend hüpft Dee davon, dicht gefolgt von Daisy, die anscheinend das Wort Frühstück auch verstanden hat.

Erleichtert über die paar Minuten zusätzlicher Ruhe, macht es sich Nora erneut auf dem Liegestuhl bequem und lauscht dem Klang der Wellen unter sich.

***

Nach einem reichhaltigen Frühstück draußen vor dem Wohnmobil mit Meeresblick machen sich die beiden, ausgerüstet mit Badetuch und Proviant, bereit für einen längeren Fußmarsch die Klippen hinunter bis ans Meer. Selbstverständlich ist auch Daisy mit von der Partie und zieht schon kräftig an der Leine, damit es endlich losgehen kann. Noch keine 500 Meter in Richtung Pinienwäldchen unterwegs, bleibt Dee abrupt stehen. »Erinnerst du dich daran, ob ich die Dachluke geschlossen habe?«

Nora versucht angestrengt sich den Innenraum vor Augen zu führen, kann sich aber beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, ob die Dachluke beim Verlassen des Wohnmobils noch offenstand.

»Ich laufe nochmals schnell zurück zu Willi«, sagt Dee, ohne Noras Antwort abzuwarten, drückt ihr die Leine mit Daisy in die Hand und düst davon.

Nora erinnert sich noch gut an ihre ersten Begegnungen mit Dee, als diese in Erzählungen immer wieder den Namen »Willi« erwähnte. Lange war sie davon überzeugt gewesen, der Name gehörte zu einem Freund oder Partner, bis sie herausgefunden hatte, dass es sich dabei um ein Wohnmobil handelte.

Leise kichernd schüttelt sie den Kopf. Bei Dee hat alles einen Namen. Und nicht nur das. Sie spricht auch mit Dingen und behandelt diese so, als hätten sie echte Gefühle. So hat sie sich beispielsweise gerade eben von Willi verabschiedet und ihm mitgeteilt, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht und sie in ein paar Stunden zurück sein würde. Das hat in dem Moment so echt geklungen, dass es Nora nicht verwundert hätte, wenn von Willi darauf eine Antwort gekommen wäre.

Aber auch das ist etwas, was Nora zwar einerseits befremdet, anderseits an Dee so fasziniert. Sie beide sind so grundverschieden.

Und obwohl sie sich eher als ruhigeren Typ bezeichnen würde, stört es sie nicht im Geringsten, ihre Freundin um sich zu haben. Dee ist zwar im Gegensatz zu ihr quirlig, lebensfroh und überrascht immer wieder mit neuen Ideen, aber man kann auch ernsthaft und tiefgreifend mit ihr über alles Mögliche sprechen.

»Bei Willi ist alles in Ordnung«, ruft Dee bereits von Weitem und schließt kurz darauf zu den beiden Wartenden auf. »Ich habe auch gleich noch die Wanderkarte mitgebracht, damit wir uns nicht verlaufen.«

Nora fällt auf, dass sie sich im Voraus überhaupt nicht mit dieser Ferienwoche auseinandergesetzt hat. Als Dee sie vor einigen Wochen gefragt hat, ob sie nicht Lust hätte, gemeinsam mit ihr und Daisy ein paar Tage auf Sardinien zu verbringen, hat sie spontan zugesagt, hauptsächlich mit der Absicht, dem Stress, den ihr Job zum aktuellen Zeitpunkt mit sich bringt, zu entfliehen. Am Abend vor der Abfahrt hat sie dann beinahe überstürzt ein paar strandtaugliche Kleider, bequeme Jeans, einige T-Shirts, die sie als eher nicht elegant einstufen würde, und sportliche Schuhe eingepackt und nach kurzem Überlegen sogar ihre Kosmetiktasche, die sie sonst immer auf Reisen mitnimmt, auf ein Minimum reduziert. Die gesamte Planung hat sie Dee überlassen und es hat so gutgetan, einfach einzusteigen und loszufahren. Doch jetzt merkt sie, dass sie keine Ahnung hat, was sie erwartet. Heute beim Frühstück hat Dee sie dann kurz informiert, wohin sie der heutige Ausflug führen wird, und sie hat freudig zugestimmt.

Der Weg ihres Fußmarsches führt sie zunächst durch ein kleines Pinienwäldchen, über schmale, steinige Wege, die von Thymian- und Rosmarinsträuchern umsäumt werden, hinab zum steinigen Strand an der Ostküste der Insel.

Da aber noch ein weiter Weg vor ihnen liegt, beschließen sie, hier vorerst keinen Halt einzulegen, sondern gleich weiterzugehen bis zum nächsten Strandabschnitt, der etwa noch eine Stunde entfernt liegt. Die Zeit bis dorthin vergeht wie im Flug, denn Nora ist begeistert von all den Düften und neuen Eindrücken, die sich ihr offenbaren. Auch Daisy genießt die Abwechslung und muss immer wieder zum Weitergehen motiviert werden, wenn sie beschließt an jedem einzelnen Busch zu schnuppern und ihn zu markieren. Sobald die Bäume die Sicht zum nahekommenden Strand freigeben, staunt Nora über die Farbenpracht. Der Strand mit seinem hellen, bernsteinfarbenen Sand wird übersät von kleinen Porphyr-Steinchen, die von ihrer vulkanischen Herkunft her der Landschaft einen rötlichen Schimmer verleihen. Laut ihrem Sardinien-Führer wurde dieser Strand früher vor allem abends und am frühen Morgen von Wildschweinen besucht. Etwas verunsichert schielt Nora zu Daisy, die sich aber nach wie vor unbekümmert und unauffällig verhält. Erleichtert atmet sie auf. Dann wird wohl zurzeit gerade kein Wildschwein in der Nähe sein.

Verzaubert von der schönen Landschaft, setzen sich die beiden auf einen Stein und genießen ein paar Momente der Ruhe. Daisy darf ausnahmsweise von der Leine gelassen werden und sofort flitzt sie in Richtung Meer davon, erschrickt aber vor der ersten Welle, die an den Strand heranrollt, so sehr, dass sie in noch schnellerem Tempo zurücksaust. Dies wiederholt sie einige Male, bis sie sich intensiv hechelnd vor ihnen auf eine warme Steinplatte legt, um sich von den Strapazen zu erholen.

Nach einer weiteren Stunde der Küste entlang führt der Weg ins Landesinnere und steigt merklich an. Die drei durchqueren einen für Sardinien typischen Wald aus Steineichen, Erdbeerbäumen und Myrten. Der Aufstieg ist zwar steil, aber gut machbar. Selbst Daisy kann gut mithalten und wedelt weiterhin freudig aufgeregt mit dem Schwanz.

Sobald man an Höhe gewonnen hat, lohnt es sich anzuhalten und die atemberaubende Aussicht zu bewundern. Oben, auf einer Höhe von rund 450 Metern angekommen, schauen zwischen Gestrüpp und Bäumen rote Granitblöcke hervor, die kaum höher als die Bäume sind. Gebannt betrachtet Nora die faszinierende Umgebung, bis sie Dees Stimme erreicht.

»Ganz in der Nähe gibt es noch eine Sehenswürdigkeit.«

Noch ganz entrückt folgt sie Dee und Daisy weitere 500 Meter leicht abwärts über wurzelbewucherte Schotterwege, bis sie von Daisy ganz in die Realität zurückgeholt wird. Diese zieht an der Leine wie verrückt und bellt lauthals, was in diese Stille hinein ohrenbetäubende Ausmaße annimmt und für sie absolut nicht üblich ist. Als sie um den nächstgelegenen Felsblock biegen, stehen sie vor einigen kleinen Höhlen, die in die Felsen eingearbeitet wurden. Das müssen die Felsengräber sein, glaubt sich Nora an Dees Worte beim Frühstück zu erinnern. Diese stammen angeblich noch aus der Jungsteinzeit und umfassen teilweise mehrere Kammern.

»Was ist denn mit Daisy los?«, erkundigt sich Nora irritiert. So wild hat sie den kleinen Hund noch nie erlebt. Nach wie vor zieht Daisy unaufhörlich an der Leine, schnüffelt an jedem Grashalm und gibt kläffende Laute von sich. Auch das beruhigende Zureden von Dee zeigt nicht die gewünschte Wirkung.

»Ach, wahrscheinlich hat sie eine Maus gerochen. Auf Mäusejagd ist sie ganz versessen. Und dies obwohl Havaneser eigentlich über keinen ausgeprägten Jagdtrieb verfügen. Ist so eine Macke von ihr.«

Peinlich berührt über den Lärm in dieser andächtigen Umgebung schaut sich Nora um und entdeckt ganz in der Nähe einen älteren Herrn, der auch mit einem Hund in ihre Richtung unterwegs ist.

»Na, hat der Kleine etwas Großes entdeckt?«, fragt er in reinem Deutsch.

»Ja, scheint so. Normalerweise verhält sie sich eher ruhig.« Nora setzt ein entschuldigendes Lächeln hinzu und schaut über die Schulter zurück zu Dee, die noch immer unter großem Kraftaufwand versucht, Daisy von den Grabstätten wegzuziehen.

»Sind Sie aus der Gegend?«, fragt Nora betont freundlich nach, um von der unangenehmen Situation abzulenken.

»Ja, das kann man schon fast so sehen. Ich komme jedes Jahr aus Deutschland hierher. Früher war ich oft mit meiner Frau hier in diesem Teil der Insel, weil ihr diese Grabstätten so gut gefielen, doch leider ist sie vor zwei Jahren verstorben. Tja und nun bin ich nur noch mit Waldi unterwegs. Dem gefällt es hier außerordentlich gut. Wir kommen fast täglich auf unserem Spaziergang ins Dorf hier vorbei und machen eine kleine Pause. An diesem Ort denke ich gerne an die Zeit mit meiner Frau zurück. Ich fühle mich ihr hier sehr verbunden und nahe.«

»Das mit ihrer Frau tut mir sehr leid. Sie haben recht, es ist ein wunderschöner und ein idealer Ort für Gedanken.«

Als Dee wieder zu Nora aufgeschlossen hat, verabschieden sich die beiden von dem älteren Herrn und wünschen ihm einen schönen Tag.

Nachdem sich Daisy wieder ein wenig beruhigt hat, machen sie es sich etwas entfernt von den Grabstätten auf einem flachen Stein gemütlich und genießen ihr Picknick.

Zurück beim Wohnmobil erhält Daisy ein ausgiebiges Abendessen und ein Leckerchen, worauf sie sich schnellstmöglich in ihre Nische verkriecht. Sie kuschelt sich ein und verfällt fast augenblicklich in einen tiefen Schlaf. Der Rückweg hat sich auch für Nora in die Länge gezogen. Landschaftlich nach wie vor sehr schön, aber bereits etwas müde von den vielen neuen Eindrücken ist sie nun sichtlich froh darüber, zurück zu sein. Auch sie freut sich bereits auf ein feines Abendessen und eine lange, ruhige Nacht. Dee hingegen scheint noch fit und munter. »Na du, hast du noch Lust auf einen kleinen Spaziergang zu den Wasserfällen hier in der Nähe?«, fragt sie, die Augenbrauen neckend in die Höhe gezogen.

Nora schüttelt nur noch lachend den Kopf. »Heute bringst du mich nicht mehr weg von hier. Ich werde noch essen und früh schlafen gehen. Ich hoffe, das ist in Ordnung für dich?«

»Aber klar doch! Morgen ist ein neuer Tag und wir können wieder ganz viel unternehmen.«

Nach einem feinen Kartoffelsalat und einer Wurst, welche Dee auf dem Grill zubereitet hat, macht sich Nora im Wohnmobil bereit fürs Bett, während es sich ihre Freundin noch draußen gemütlich macht, um den Sonnenuntergang zu genießen.

»Nora, Liebes? Könntest du mir von drinnen nochmals die Wanderkarte rausgeben? Dann kann ich mich schon mal für morgen schlaumachen.«

»Sicher. Wo hast du sie hingelegt?«, fragt Nora zurück.

»Sie müsste im Handschuhfach liegen. Ich denke, ich habe sie nach unserer Rückkehr dorthin gelegt.«

Über den Vordersitz gebeugt, öffnet Nora das Handschuhfach. Tatsächlich liegt die Wanderkarte zuoberst auf einem Stapel. Schnell zieht sie sie heraus, wobei noch ein kleines Büchlein an der Karte haften bleibt und zu Boden fällt. Aufgeklappt bleibt es liegen und Nora hebt es auf. Anscheinend handelt es sich um ein Adressbuch. Die offene Seite zeigt den Buchstaben »T« und es sind drei Namen notiert. Aus Gewohnheit, alles zu lesen, was ihr in die Finger kommt, liest Nora die Namen durch.

Thalmann Doris

Tobler Kurt

Taufer Franz

Irritiert über die teilweise durchgestrichenen Namen, hält sie das Adressbuch noch zögernd in den Händen, bevor sie es Dee zusammen mit der Wanderkarte überreicht. Sie wollte keinesfalls herumschnüffeln. Deshalb teilt sie ihrer Freundin auch sogleich mit, dass es herausgefallen ist. Aus Neugier fragt sie zusätzlich nach dem Grund der durchgestrichenen Namen.

»Danke dir. Weißt du, in diesem Adressbuch habe ich die Namen meiner Kunden notiert. Die Durchgestrichenen sind bereits verstorben.«

Die Aussage kommt so emotionslos und selbstverständlich rüber, dass Nora nicht weiter nachfragt. Das könnte sie, wenn nötig, auch zu einem späteren Zeitpunkt wiederholen, wenn sie etwas ausgeruhter ist.

***

Mitten in der Nacht wacht Nora unvermittelt auf. War da ein Geräusch? Sie hält den Atem an und lauscht. Doch es bleibt still. Sie dreht sich auf die andere Seite und versucht erneut einzuschlafen. Vergebens. Nun ist sie wach. Leise steht sie auf und schleicht sich aus dem Wohnmobil. Ein Blick empor in den Himmel lässt ihren Atem noch einmal stocken. Doch diesmal vor lauter Erstaunen. Was für ein Sternenhimmel! Überwältigt setzt sie sich auf den Liegestuhl und zieht die dünne Strickjacke, die sie sich beim Aufstehen schnell geschnappt hat, enger zusammen. Eine kühle Brise streift ihre Haut und lässt sie trotz der milden Temperaturen leicht frösteln. War da nicht wieder ein Rascheln im Gebüsch? Stocksteif setzt sie sich hin und horcht in die Nacht hinaus. Doch erneut bleibt es still und ihr Herzschlag beruhigt sich allmählich wieder. Noch für mindestens eine halbe Stunde bleibt sie so sitzen, bis sie sich zurück ins Wohnmobil schleicht und sanft in den Schlaf gleitet.

Abrupt wird sie von Dee geweckt. »Wo ist Daisy?«, fragt diese fast schon panisch und schüttelt sie unsanft wach.

Nora öffnet, gegen die Müdigkeit ankämpfend, ihre Augen und stellt verwundert fest, dass das Wohnmobil bereits mit Sonnenlicht durchflutet wird.

»Was meinst du mit: Wo ist Daisy?«

»Ich bin soeben aufgestanden und Daisy ist nicht hier!«

»Ist sie nicht in ihrer Nische?«, schlägt Nora vor, ist aber bereits überzeugt davon, dass Dee bestimmt schon nachgesehen hat.

»Nein, ist sie nicht! Die Türen sind geschlossen und sie ist weg!«

Schlagartig hat Nora die Nacht vor Augen, wie sie nach draußen gegangen ist und die Türe für diese Zeit offen gelassen hat.

»Kann es sein, dass Daisy sich herausgeschlichen hat?«, fragt sie deshalb ängstlich nach und klärt Dee über ihre Bedenken auf.

Sofort stürmen beide nach draußen und beginnen die Gegend abzusuchen.

»Daisy! Daisy, wo bist du?« Doch es bleibt erschreckend still.

In diesem Moment wird Nora bewusst, dass sie genau diese Worte schon einmal gehört hat. Das war, als sie Daisy und Dee zum ersten Mal begegnet ist, im Dezember vorigen Jahres.

Kapitel 2

Nora erinnert sich noch gut an diesen Schreckensmoment, als sie gedankenverloren, mit einer heißen Tasse Kaffee in der Hand, aus ihrer Küche heraus in den eisigen Morgen blickte. Ihr Outdoor-Pool lag derzeit abgedeckt zur Entleerung des Wassers und für die Reinigung bereit, bis die Handwerker in etwa einer Stunde eintreffen sollten. Sie hing noch verträumt ihren Gedanken nach, als sie aus dem Augenwinkel plötzlich ein kleines weißes Fellbündel wahrnahm, das aus der Hecke in ihren Garten geschossen kam. Völlig gehetzt und desorientiert flitzte es in Richtung Pool, wo es sich in letzter Sekunde der Gefahr bewusst wurde und anhalten wollte. Doch seine kleinen Pfoten fanden auf dem eisigen Boden keinen Halt und so kam es, dass es kopfüber in den eisigkalten Pool flutschte. Das alles ging so schnell, dass Nora in der ganzen Zeit kein einziges Mal Luft geholt hatte. Noch immer hielt sie den Atem an. Schnell erfasste sie nun aber die Situation und stürzte, nur mit ihrem Morgenmantel bekleidet, aus dem Haus. Feine Eiskristalle bohrten sich in ihre nackten Füße, als sie über den Rasen auf den Pool zulief. Dort legte sie sich auf den Bauch und griff herzhaft nach dem zappelnden Etwas, das sich in großer Not befand. Sie bekam es am langen Fell zu fassen und zog es triefendnass zu sich auf den Rand des Pools. Nach Luft japsend schüttelte sich das vor Kälte zitternde Fellknäuel, das sich als kleines Hündchen entpuppte, und spritzte das kalte Nass in Noras Gesicht. Ohne zu überlegen, streifte sich Nora ihren Morgenmantel von der Schulter und wickelte den kleinen Hund hinein. Noch während sie das zitternde Elend schrubbte, hörte sie eine aufgeregte Frauenstimme von der Straße her rufen: »Daisy! Daisy, wo bist du? Daisy, komm her!«

Sofort hob das triefende Fellknäuel seinen Kopf und stellte die Ohren auf.

»Soso, Daisy heißt du also. Was für ein wunderschöner Name.«

»Daisy! Daisy, komm her!«

»Hier sind wir«, rief Nora durch die Hecke, worauf sie schnell näher kommende Schritte hörte. Kurz darauf erschien eine junge Frau in weißen Turnschuhen, hellen Jeans und einem grauen Hoody, die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Nur eine einzelne gewellte, dunkelblonde Strähne lugte hervor. Ihre Augen weiteten sich, als sie erfasste, was sie zu sehen bekam. Da saß eine für sie gänzlich unbekannte Frau halbnackt auf den eisbedeckten Fliesen vor dem Pool und hielt ihre vor Nässe zitternde Daisy, eingewickelt in einen Morgenmantel, fest an sich gedrückt.

In wenigen Schritten erreichte die junge Frau den Rand des Schwimmbeckens, kniete sich nieder und zog Daisy an sich.

»Was ist denn hier passiert? Oh mein Gott, Daisy, geht es dir gut?«

»Ich stand in der Küche, als ich den kleinen Hund durch die Hecke kommen sah. Und kurz darauf rutschte er schon in den Pool. Ich bin, so schnell ich konnte, rausgerannt und bekam ihn im eiskalten Wasser zu fassen. Ich hoffe, es ist alles in Ordnung.«

Erst jetzt nahm die Frau Noras Anwesenheit so richtig wahr und streifte sich schnell die Kapuze vom Kopf.

»Ach herrjeh, entschuldigen Sie bitte. Ich hatte Daisy kurz zuvor von der Leine gelassen, um ihr ein bisschen Freiraum zu geben. Das war ein Fehler. Sie ist einfach davongerannt und anscheinend durch Ihre Hecke geschlüpft. Das tut mir leid.«

»Ist schon in Ordnung, es ist ja zum Glück nichts Schlimmes passiert.«

Die Frau, die Nora mittlerweile auf Mitte zwanzig schätzte, vergrub ihren Kopf im Fell des Hundes und kraulte ihn hinter den Ohren. Der Hund wedelte freudig mit dem Schwanz und fuhr ihr mit der Zunge mehrmals über das Gesicht. Die Frau ließ sich dies ohne Widerrede gefallen.

Der Anblick dieser Zweisamkeit hatte etwas Intimes an sich, sodass Nora ihren Blick mit einem unsicheren Lächeln zu Boden senkte. Dabei klapperten ihre Zähne so stark aufeinander, dass die Hundebesitzerin erschrocken aufblickte.

»Sie zittern ja! Und Sie sind ganz durchnässt. Sie müssen dringend in die Wärme.«

Nora, die noch immer auf dem Boden kniete und den durchtränkten Morgenmantel unbeholfen an sich drückte, um ihren Körper zu bedecken, erhob sich mit steifen Gliedern.

»Sie haben recht, es ist eisig kalt. Wir sollten reingehen. Aber auch Sie sind mittlerweile nicht mehr trocken und Daisy könnte wohl etwas Wärme vertragen. Möchten Sie kurz reinkommen und sich bei einer Tasse Kaffee ein wenig aufwärmen?«

Mit wackeligen Schritten ging sie die eisigen Steinfliesen entlang in Richtung Haus. Dabei stolperte sie über ein Spielzeug.

»Oh schau, Kleines, hast du das bei deinem Ausbüxen verloren?«, fragte Nora und hielt den zerkauten Ball dem noch nassen Fellknäuel vor die Nase. Dieses schnappte sofort danach und brachte es stolz und mit hochgestelltem Schwanz zu der jungen Frau. Diese nahm es mit einem verlegenen Lächeln entgegen.

»Du bist aber gut trainiert«, meinte Nora, während sie Daisy zärtlich über den Kopf strich. »Bringst du alles, was du findest, zu deinem Frauchen? Gut machst du das.« Lächelnd wandte sie sich von dem kleinen Hund ab und öffnete die Verandatüre.

Eigentlich war Nora nicht der Typ für spontane Besucher, im Gegenteil, sie liebte es, ihr Haus für sich zu haben. Dennoch war ihr Zuhause immer sauber aufgeräumt und die Böden glänzten. Frische Blumen verströmten zu jeder Jahreszeit einen angenehmen Duft und abends flackerte häufig ein Feuer im Kamin. Auf den Sofas lagen kuschelige Kissen und eine warme Decke hing über der Lehne bereit. »Machen Sie es sich gemütlich, ich ziehe mir schnell etwas Frisches an.«

Auf dem Weg zum Schlafzimmer warf sie einen Blick zurück und bemerkte, wie die Besucherin ihre Augen bewundernd durch den Raum schweifen ließ, an den Kamin trat und das in einen goldenen Rahmen eingefasste Foto auf dem Sims betrachtete. Da stand sie noch immer, als Nora frisch gekleidet, eingehüllt in einen figurbetonten Wollpullover und die Füße in flauschige Hausschuhe gepackt, in den Raum zurückkehrte.

»Sie stehen ja immer noch«, stellte sie fest und streckte freundlich der Frau ein Handtuch entgegen.

»Ich bin übrigens Nora Adorf. Wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt.«

»Ach ja, stimmt. Ich bin Dee und es tut mir wirklich leid für die Umstände. Übrigens ein wunderschönes Foto«, sagte Dee und zeigte auf das Bild an der Wand. Darauf blickte ihnen ein vor Glück strahlendes Paar in Hochzeitskleidung entgegen.

»Ja, das sind mein Ehemann Matt und ich«, antwortete Nora und errötete leicht. Es war ihr unangenehm, einer fremden Person nach so kurzer Zeit ihr Hochzeitsbild zu präsentieren.

Als Daisy in den Armen von Dee langsam unruhig wurde, setzte diese sie vorsichtig auf den Boden, wo der Hund sich sogleich nochmals herzhaft schüttelte und einige Wassertropfen um sich verteilte.

»Oh nein, Daisy, bitte nicht! Schau doch, wie sauber hier alles ist. Wir dürfen nicht alles verschmutzen.« Erschrocken schaute sich Dee um, als würde sie nach einer Möglichkeit suchen, den entstandenen Schaden wiedergutzumachen. Da es in diesem Raum aber kein Tuch gab, das sich zum Aufwischen von Tierpfützen geeignet hätte, schien sie nicht recht zu wissen, ob sie es wagen durfte, zumindest Daisy mit dem flauschigen Handtuch, das ihr Nora überreicht hatte, trockenzureiben.

»Nur zu«, forderte Nora die unsichere Frau auf. »Auch wenn es den Anschein macht, dass es sich bei dem Tuch um ein exklusives Exemplar handelt, ich habe leider kein anderes zur Verfügung.«

Zwei Stunden später saßen die beiden Frauen noch immer auf dem Sofa, Dee bequem zurückgelehnt im Schneidersitz, die Ärmel ihres Hoodys bis nach vorne über die Hände gezogen. Neben ihr lag Daisy, zusammengerollt, leise schnarchend, sodass ihre Barthaare über den Augen leicht zitterten. Nora, die zwischenzeitlich auch noch die Handwerker mit Kaffee versorgte, nachdem diese sich zur Arbeit am Schwimmbecken angemeldet hatten, saß mit geradem Rücken auf der vorderen Kante ihres Sofas und betrachtete ihre beiden Besucherinnen.

Die scheinen sich hier sichtlich wohl zu fühlen. Zu Beginn noch war Daisy aufgeregt hin und her gesprungen und hatte jede Ecke intensiv beschnüffelt, nicht ohne sich hin und wieder ausgiebig zu schütteln, bevor sie es sich dann auf dem Sofa gemütlich einrichtete.

Auch Dee war zuerst unbehaglich hin und her gerutscht, hatte sich dann aber mit der Zeit entspannt.

Nora war es nicht gewohnt, fremde Personen bei sich zu Besuch zu haben. Aus diesem Grund fühlte sie sich auch leicht angespannt. Obwohl sie sich eingestehen musste, dass diese Dee eine wirklich sympathische Person war. Mit ihrer offenen und fröhlichen Art hatte sie Nora mühelos in ein Gespräch verwickelt und ihr Dinge entlockt, die sie sonst höchstens ihrer langjährigen Freundin Anna erzählte. Aber auch sie hat einiges über Dee erfahren. So zum Beispiel, dass diese in einem Wohnwagen – oder war es ein Wohnmobil – lebte. Damit kannte sich Nora überhaupt nicht aus und sie hätte es sich auch in den kühnsten Träumen nicht vorstellen können, so zu wohnen. Aber faszinierend war es dennoch, Dee zuzuhören und auf diese bequeme Art eine ganz andere, für sie neue, Lebensweise kennenzulernen.

Die Zeit verging rasend schnell und Nora musste die beiden höflich darauf aufmerksam machen, dass sie noch weiteren Verpflichtungen nachgehen musste.

So verließen Dee und Daisy, nun wohlig aufgewärmt, das edle Grundstück. »Nochmals vielen Dank und bis bald.« Dee winkte Nora beim Hinausgehen zu und auch Daisy drehte sich kurz um die eigene Achse. Vielleicht eher aus Freude als zum Abschied, aber es sah dennoch süß aus.

»Tschüss ihr beiden und kommt sicher nach Hause«, rief Nora ihnen hinterher und zog sich danach in ihr Haus zurück.

Nachdem sie die Türe hinter sich geschlossen hatte, atmete Nora erstmals tief durch. Was für eine Aufregung. In Gedanken noch bei den Erzählungen von Dee über deren Lebensstil, ging Nora durch den Raum und war erstaunt darüber, wie viel Schmutz so ein kleiner Hund in so kurzer Zeit ins Haus bringen konnte. Sie wischte hier und dort über den Fußboden, um die mittlerweile eingetrockneten Abdrücke von Pfötchen wegzuwischen, gab aber nach ein paar missglückten Versuchen auf und holte den Wischmopp aus dem Schrank hervor. Sie nahm den ganzen Boden feucht auf, bis er wieder so glänzte wie zuvor. Auf dem Sofa entdeckte sie zudem überall vereinzelte Hundehaare, die sie zuerst von Hand und dann mit dem Staubsauger entfernte. Als sie schließlich auch noch die Kaffeetassen in der Spülmaschine untergebracht hatte, setzte sie sich hin.

Ich habe doch tatsächlich ein Tier in ihr Haus gelassen! Ungläubig fuhr sie sich mit der Hand durch ihr langes, glattes Haar. Sie konnte es immer noch kaum fassen. Nie hatte sie vorgehabt, jemals ein Tier in ihrem sauberen und gepflegten Haus zu beherbergen. Ein Tier gab ihrer Meinung nach zu viel Arbeit, machte dauernd Schmutz und verlangte nach Aufmerksamkeit. Alles Dinge, die sie entweder nicht mochte oder für die sie die Zeit nicht hatte.

Aber süß war diese Daisy ja schon. Leicht verzückt dachte Nora daran zurück, wie sich Daisy freute, als sie ihr ein Schälchen mit frischer Biomilch vom Bauernhof hingestellt hatte. Selbstverständlich hatte sie Dee zuvor um Erlaubnis gefragt. Schließlich war sie sich nicht einmal sicher, ob Hunde überhaupt Milch trinken. »Ja, aber nur in kleinen Mengen«, lautete die Antwort und innert weniger Sekunden hatte der Hund die Milch weggeschlabbert. Natürlich nicht ohne hier und da einzelne Milchtropfen auf dem Fußboden zu hinterlassen. Nora konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, um nicht gleich aufzuspringen und die Tropfen aufzuwischen, bevor diese eintrocknen und eine gelbliche Kruste bilden würden.

Und doch hatte sie sich immer wieder dabei ertappt, wie sie Daisy über das Fell strich und wie gut sich das anfühlte. Nicht dass sie nun auf der Stelle in eine Tierhandlung stürmen würde, um sich einen Hund zu kaufen, nein, das nicht gerade, aber sie musste sich dennoch eingestehen, dass dieser kleine Hund sehr an ihrem Herz rührte und sie ihn gerne nochmals in den Arm genommen hätte, um ihren Kopf ins weiche Fell zu drücken.

Die wiedererlangte Stille im Haus fühlte sich auf einmal erdrückend an. Die letzten beiden Stunden mit Dee und Daisy waren auf eine sonderbare Weise ausgefüllt gewesen mit Unbeschwertheit und Leben. Und genau das war es auch, was Nora so sehr faszinierte. Nicht dass sie sich über ihr Leben beklagen wollte. Keinesfalls. Sie konnte sich durchaus glücklich schätzen.

Mit ihren 29 Jahren stand sie bereits mitten im Leben. Als Geschäftsleitungs-Assistentin eines Schweizer KMUs hatte sie einen herausfordernden Job angenommen, der sie stets auf Trab hielt, sich aber auch als äußerst abwechslungsreich und interessant entpuppte. Am meisten liebte sie die stetig zunehmende Eigenverantwortung und die Mitgestaltungsmöglichkeiten, vor allem wenn es darum ging, den Marketingleiter USA zu unterstützen. Für Max Hauser organisierte sie Reisen und koordinierte seinen Terminkalender. Des Öftern war sie für Messebuchungen verantwortlich mit der gesamten Logistik, die so ein Event mit sich bringt. Nach rund sechs Jahren unermüdlichen Einsatzes gehörte sie mittlerweile schon zum »Herzstück« der Firma. Feste Arbeitszeiten kannte sie nicht, sie war jederzeit erreichbar und bereit, auch Arbeitsaufträge in Angriff zu nehmen, die nicht alltäglich waren. Sie ließ sich durch nichts abschrecken, im Gegenteil, je skurriler die Problemstellung, desto interessanter die Arbeit. Es kam nicht selten vor, dass sie sich selbst spät in der Nacht nochmals hinter ihren Schreibtisch setzte oder gar ins Büro fuhr, um dringende Angelegenheiten zu erledigen. Die Zeitverschiebung zu New York verschob hin und wieder auch ihren Tagesablauf in der Schweiz.

Allerdings forderten diese Flexibilität und Bereitschaft im Job auch Opfer.

So wurde beispielsweise das Zusammenleben mit ihrem Ehemann Matt, eher von zufälligen Treffen, als von einem gemeinsam geführten Haushalt bestimmt. Doch als sie sich vor rund zwei Jahren im kleinsten, familiären Rahmen das Ja-Wort gegeben hatten, wussten beide, worauf sie sich einließen.

Matt arbeitete leidenschaftlich als leitender Oberarzt in einer Privatklinik in Zürich und konnte daher auch nicht großzügig über Freizeit verfügen. Oft hielten sich Notfälle nicht an abgemachte oder vorgesehene Einsatzpläne und Matt war sich nie zu schade, auch mitten in der Nacht aufzustehen und sich für eine Notoperation bereitzumachen.

Aber in der gemeinsamen Zeit, die ihnen blieb, ließen sie es sich gut gehen. In solchen Momenten besuchten sie ein gutes Restaurant und genossen die Zweisamkeit bewusst. Unstimmigkeiten gab es wegen des Jobs nur ganz selten. Falls doch, dann vor allem, wenn ein Besuch bei Noras Eltern abgemacht war und Matt wieder einmal mehr kurzfristig absagen musste. Nora hasste es, Vereinbarungen nicht einhalten zu können, obwohl alle aus dem Familienoder Freundeskreis der beiden volles Verständnis für die Situation aufbrachten. Aber sie trafen sich so selten mit ihren Eltern oder Bekannten, dass es in solchen Fällen umso ärgerlicher war.

Auf Grund der beruflichen Situation hatten sie nur einen kleinen gemeinsamen Freundeskreis aufgebaut. Zu diesen zählte Nora auch ihre Freundin Anna, die einst mit Matts langjährigem Freund Don Bergmann verheiratet war. Die beiden zogen zusammen ihre vierjährige Tochter – Sophia – auf, die unter der Woche bei Anna lebte und jedes zweite Wochenende bei ihrem Vater Don verbrachte. Anna und Don verstanden sich zwar immer noch gut, für eine weiterführende Ehe reichte die Liebe aber nicht mehr aus.

Nora kannte Anna schon seit vielen Jahren. Sie hatten sich kennengelernt, als sie noch regelmäßig zum Fitnesstraining ging. Zuerst trafen sich die beiden, weil sich ihr Tagesablauf ähnlich verhielt, jeweils morgens, als das Center noch fast leer war. Danach verabredeten sie sich zusätzlich zweimal wöchentlich für ein leichtes Lauftraining am See. Nach geraumer Zeit entwickelte sich eine tiefe Freundschaft, die auch in Zeiten mit wenig gemeinsamen Aktivitäten bestehen blieb. Sie telefonierten mehrmals in der Woche miteinander und konnten stundenlang am Telefon verweilen, bis alles Erlebte besprochen war oder bis Sophia am anderen Ende der Leitung so lange quengelte, dass man es durchs Telefon hören konnte.

Trotz der Trennung von Anna und Don trafen sie sich gelegentlich noch zu viert bei einem Abendessen oder traditionsgemäß an Silvester. Auf dieses unbeschwerte Treffen zum Ende des Jahres freute sich Nora jeweils schon ein Jahr im Voraus. In den letzten vier Jahren hatten sie großes Glück und mussten nicht ein einziges Mal unerwartet absagen oder aufgrund eines Notfalls früher nach Hause eilen. Matt gab den Silvesterabend als einzigen fixen freien Tag im Jahr ein und ließ sich dafür an Weihnachten, Ostern und an speziellen Festanlässen zur Arbeit oder auf Abruf einteilen.

In der Regel verlief Noras Leben sehr überschaubar und geregelt, geschmückt mit all den unkalkulierbaren Variablen, mit denen sie gelernt hatte umzugehen. Und doch sprach Anna sie wiederholt darauf an, ob ihr denn nichts im Leben fehlte. Wahrscheinlich spielte sie damit auf ein Kind an, doch da stieß sie bei Nora auf Granit. Für ein Kind hatte sie weder Zeit noch Nerven und abgesehen davon war sie einfach nicht der Mutter-Typ. Aber seit Sophia in Annas Leben getreten war, mit einer wohlbemerkt beneidenswerten Geburt, die nur fünf Stunden gedauert hatte, sei ihrer Ansicht nach ihr Leben erfüllt mit Liebe und Energie. Es würde ihr niemals langweilig und es gäbe so viel zu lachen. Nora konnte noch so lange argumentieren, auch in ihrem Leben sei es nicht langweilig und auch sie erlebe durchaus lustige Augenblicke, Anna gab nie richtig auf. Und in ganz seltenen Situationen musste sie tatsächlich an Annas Worte denken.

Wenn sie nach einem langen Tag nach Hause kam, öffnete sie jeweils als Erstes die Terrassentür, um frische Luft hereinzulassen und ein paar Schritte durch den gepflegten Garten zu machen. Dann setzte sie sich für gewöhnlich an den Küchentresen, sah ihre Post durch und klaubte sich nebenbei einen Apfel aus der Obstschale. Als Nächstes checkte sie ihre privaten E-Mails auf dem Handy. Falls eine Antwort nötig sein sollte, würde sie diese später vor dem Zubettgehen an ihrem Schreibtisch am Computer verfassen.

An kalten Tagen setzte sie sich gerne mit einer heißen Tasse Tee vor den Kamin und genoss das Knistern des brennenden Holzes, während sie in Modezeitschriften blätterte oder in einem Buch las. Letzteres vor allem, wenn sie wusste, dass ihr genügend Zeit blieb, sich in die Geschichte zu vertiefen, ansonsten ließ sie es lieber bleiben. Sie hasste angefangene Sachen, und dies galt geschäftlich wie auch privat. Auch wenn sie wusste, dass sie nicht auf Matt warten sollte, so ertappte sie sich doch immer wieder, dass sie ihn an solchen Abenden vermisste und die Stille im Haus, trotz der leisen Musik, die im Hintergrund lief, einen wehmütigen Beigeschmack hinterließ.

In solchen Momenten musste Nora an Anna denken und wünschte sich ein Lachen oder etwas Abwechslung ins Haus. Aber normalerweise vergingen die melancholischen Gedanken schnell oder wurden von Arbeit und Tatendrang abgelöst.

Nicht so an jenem Abend nach Dees und Daisys Besuch. Diesmal war die Stille erdrückender und ließ sich nicht so einfach vertreiben. Verträumt ließ Nora den unverhofften Besuch noch einmal vor ihrem inneren Auge vorbeiziehen und musste unverzüglich lächeln. Der ansonsten eher leere Raum wurde innert Kürze mit Energie und Leben erfüllt und obwohl Nora zum Zeitpunkt des Besuches mit der ungewohnten Situation leicht überfordert war, sehnte sie sich doch an die lebhaften Momente zurück. Nun war sie glücklich darüber, dass Dee sie in ihrer unbeschwerten Art um ein weiteres Treffen gebeten und sie nach kurzem Zögern eingewilligt hatte. Und dann war da noch diese süße kleine Daisy …

Nora, du hast doch jetzt Wichtigeres zu tun, als an einen kleinen Hund zu denken, der ohnehin nur dein Haus verwüsten würde. Mit einem Ruck stand sie auf, streckte ihren Rücken durch, versicherte sich nochmals mit einem Blick durch den Raum, ob wirklich alles seine Ordnung hatte, und ging zielstrebig Richtung Arbeitszimmer davon. Unnötigerweise drehte sie sich noch einmal um, mit der Vorstellung, da wäre doch dieser kleine Hund, der ihr folgte.

Kapitel 3

Die Stimme heiser vom lauten Rufen, die Beine und Arme von Dornen zerkratzt, kehrt Nora erschöpft zum Wohnmobil zurück. Mehrere Stunden intensiver Suche bleiben erfolglos. Daisy ist nach wie vor unauffindbar.

Die Sonne steht bereits hoch am Himmel und weder sie noch Dee haben heute etwas gegessen oder getrunken. Dee ist noch immer unterwegs und würde wohl auch nicht eher zurückkehren, bevor sie Daisy gefunden hat. Das Gefühl von Mitschuld an Daisys Verschwinden nagt an Nora und sie beschließt, ein paar Sandwiches herzurichten und eine große Flasche Eistee anzumachen. Mit Proviant ausgerüstet macht sie sich schnellen Schrittes erneut auf den Weg in die Richtung, aus welcher vereinzelt die verzweifelte Stimme von Dee durch die Stille dringt.

»Noch immer keine Spur?« Außer Atem stellt Nora den Korb auf den Boden, als sie Dee erreicht.

»Nein, kein Ton! Sie kann doch nicht so weit weg sein! Sie würde doch antworten, wenn sie könnte, meinst du nicht auch?«

Tröstend legt Nora einen Arm um Dee.

»Wir müssen jetzt etwas essen und trinken. Danach nehmen wir uns den Strand vor.«

Nur widerstrebend setzt sich Dee auf den Boden und trinkt ein paar hastige Schlucke. Sie möchte auf keinen Fall zu viel Zeit verlieren, was Nora gut nachvollziehen kann.

Zehn Minuten später sind die beiden wieder auf den Beinen und beschließen, nur die Flasche Eistee auf den weiteren Weg mitzunehmen und alles andere zu deponieren. Der Korb wäre viel zu umständlich bei der Suche quer durch Büsche und Gestrüpp. Nora muss sich eingestehen, dass sie für solche Abenteuer einfach nicht praktisch genug dachte. Jetzt ist es ihr klar, ein kleiner Rucksack wäre viel sinnvoller gewesen.

Am Strand angekommen, sind nur wenige Menschen unterwegs. In der Regel kommen die Leute vor allem am späteren Nachmittag hierher und bleiben dann bis zum Sonnenuntergang oder länger.

Plötzlich schreit Dee auf, lässt die Flasche fallen und rennt los. Nora ist zu überrascht, um an das Tempo anknüpfen zu können, und verfolgt ihre Freundin daher nur mit den Augen. Diese geht noch etwas weiter dem Strand entlang und bleibt dann abrupt stehen, beugt sich über etwas, das auf dem Sand liegt und bricht laut weinend zusammen. Nora stockt der Atem und sie hetzt ihr verängstigt nach. Knapp 100 Meter später erreicht auch sie den Ort.

»Was ist los?«

»Ich dachte, es ist Daisy, ich dachte …«, schluchzt Dee unkontrolliert.

Nora kann sich noch immer nicht erklären, was vorgefallen ist, und nimmt Dee in die Arme. Zitternd schmiegt diese sich an sie und gibt den Blick auf einen weißen Stein frei, den sie wohl versehentlich aus der Entfernung für Daisy gehalten hat.

»Es ist alles gut. Wir finden sie.« Nora streicht Dee sanft die Haare aus dem Gesicht und reicht ihr ein Taschentuch.

»Weißt du, als ich Daisy zum ersten Mal sah, in der hintersten Ecke kauernd, damals im Tierheim, da wusste ich einfach, sie gehört zu mir. Ich war mir sicher, sie würde immer bei mir bleiben und mich nie verletzen. Ich darf sie nicht verlieren!«

Nora nickt gerührt und ist sichtlich überrascht über die sentimentale Seite ihrer Freundin, welche sie an ihr noch nicht so ausgeprägt erlebt hat. Bis anhin machte Dee stets den Eindruck, dass sie nichts aus der Bahn werfen könnte. Sie zeigt kaum Anzeichen von Unsicherheit oder Ängstlichkeit. Doch mit Daisy ist das anscheinend anders.

Gegen Abend, es dämmert bereits, haben sie die gesamte Länge des Strandes und die angrenzende Umgebung abgesucht. Völlig entmutigt setzt sich Nora auf denselben Stein, wo sie bereits am Tag zuvor eine Pause eingelegt hatten und Daisy mit den Wellen spielte. Auch Dee setzt sich hin und vergräbt ihren Kopf in den Armen. Nur wenig später glaubt Nora entfernt ein Bellen zu hören und horcht auf.

»Hörst du das?«

»Ja, das ist nicht Daisy.«

Trotzdem richtet Nora ihren Blick in die Richtung des Bellens und entdeckt noch weit entfernt eine Person mit einem Hund, der an der Leine zieht. Als Nora sich auf dem Stein aufrichtet, winkt die Person hektisch mit einem Arm. Unsicher winkt Nora zurück und erkennt den älteren Herrn von gestern wieder, der mit Waldi bei den Grabstätten war.

»Dee! Das ist der Herr von gestern. Er winkt uns!«

»Soll er doch, ich bin nicht in der Stimmung für belanglose Gespräche.«

Unbeeindruckt von Dees Aussage geht Nora los und sieht schon bald, dass der Mann etwas Weißes auf seinem Arm trägt. Sofort ist sie wieder hellwach und voller Energie. Adrenalin durchflutet ihren Körper und sie rennt los.

Bei ihm angekommen erkennt sie Daisy sofort, die reglos auf seinen Armen liegt, und bleibt schockiert stehen.

»Keine Sorge! Sie ist bloß erschöpft und schläft jetzt tief. Es geht ihr abgesehen von einigen kleinen Kratzern gut.«

Ihren Blick immer noch starr auf Daisy gerichtet, stellt Nora erleichtert fest, dass sich der kleine flauschige Brustkorb regelmäßig hebt und senkt. Ohne noch ein Wort zu sagen, dreht sie sich um und rennt erneut los. Sie ruft, so laut sie kann:

»Dee! Dee! Komm! Daisy ist hier!«

Nachdem die erste Ruhe nach all der Aufregung eingetreten ist und die vielen Tränen der Erleichterung getrocknet sind, hören sie dem älteren Herrn aufmerksam zu, als er ihnen erklärt, wie er Daisy gefunden hat.

»Ich war heute Nachmittag wieder auf meiner täglichen Runde mit Waldi, als er in der Nähe der alten Grabstätte plötzlich anschlug und mich mit sich fortzog. Kurz vor den Höhlen begann er wie wild zu bellen und schaute mich immer wieder herausfordernd an. Ich wusste nicht, was er von mir wollte, aber ich bin dann doch aufmerksam geworden.

Als ich näher an die Öffnung herankam, entdeckte ich beim Hineinblicken ein kleines weißes Fellknäuel. Zuerst dachte ich an einen Hasen, der von einem Fuchs verschleppt wurde, doch dann blickten mich zwei kleine schwarze Kulleraugen an und ich vernahm ein leises Winseln. Da erinnerte ich mich an gestern Nachmittag, wie doch der kleine Hund voller Freude und mit allen Kräften versucht hatte, in diese Höhlen zu gelangen.«

Nora und Dee hören gebannt zu, während sie abwechslungsweise Daisy streicheln, die nur zwischendurch kurz erwacht und daraufhin sofort wieder einschläft. Nora kann es kaum erwarten, den Schluss der Geschichte zu erfahren.

»Und wie haben Sie es geschafft, Daisy aus den Höhlen zu befreien?«

»Das war in der Tat etwas schwieriger. Ich habe gerufen, Waldi hat gebellt und der kleine Hund ist ein bisschen näher zur Öffnung gekommen. Ich habe sofort gesehen, dass er erschöpft sein muss. Da ich immer ein paar Leckereinen für Waldi dabeihabe, versuchte ich ihn damit zu überzeugen, durch die Öffnung zu kriechen. Aber diejenige, die er sich ausgesucht hatte, war definitiv zu eng. So lockte ich ihn zu einer weiteren Öffnung, wo er knapp hindurchpasste. Ich musste allerdings nachhelfen und ich glaube, dass er sich dabei an der Felswand noch eine kleine Schramme geholt hat. Das tut mir leid.

Bei genauem Hinschauen kann man am Hinterkopf sehen, dass sich das weiße Fell leicht rosa gefärbt hat, aber tief scheint die Wunde nicht zu sein.«

Nora betrachtet Daisy aufmerksam. Da diese aber so friedlich schläft, scheinen sie die Kratzer in der Tat nicht allzu sehr zu stören.

»Ja, und dann«, fährt der Mann fort, »habe ich mir gedacht, sie beide werden den Kleinen bestimmt vermissen und suchen. So habe ich mich auf den Weg zum Strand gemacht und sie auch prompt hier angetroffen. Was für ein Glück, ist dem Kleinen nicht mehr passiert.«

Da Dee vor lauter Emotionen kaum sprechen kann, übernimmt Nora die Kommunikation und reicht dem älteren Herrn die Hand. Dann kniet sie sich zu Waldi hinunter und krault ihn kräftig hinter den Ohren.

»Bist ein guter Kerl! Du hast mitgeholfen unsere Daisy zu retten. Ich bin mir sicher, du hast dir ganz viele Leckereien verdient.«

Es ist bereits Nacht, als Nora ihr Zwischendepot mit dem Korb und den angegessenen Sandwiches erreicht. Unterdessen haben sich mehrere Ameisen über das Fleisch und den Käse hergemacht. Beides hat in der Hitze der Sonne zu schwitzen begonnen. Sie wickelt die Brote kurzentschlossen aus und hinterlässt sie den Tieren. Die Verpackung legt sie zurück in den Korb und macht sich gemeinsam mit Dee auf die letzten paar Hundert Meter Weg zurück zu »Willi«.

Dort angekommen verkriecht sich Daisy unverzüglich in ihre Nische, beschnüffelt diese ausgiebig, wedelt mit dem Schwanz und rollt sich zufrieden ein, um kurz darauf leise schnarchend zu demonstrieren, wie tief sie bereits schläft.

»Morgen muss ich als Erstes Daisys Fell bürsten und mit ihr ein paar Schritte gehen, um zu sehen, ob sie sich verletzt hat«, meint Dee, während sie sich gähnend eine Hand vor den Mund hält. »Also falls ich nicht hier bin, wenn du erwachst, mach dir keine Sorgen.«

***

Als die ersten Sonnenstrahlen Noras Gesicht erwärmen, erwacht sie aus einem tiefen und ruhigen Schlaf. Erholt reibt sie sich die Augen und stellt fest, dass weder Dee noch Daisy »zu Hause« sind.

Die sind aber schon früh ausgeflogen. Nach einer kleinen Runde um das Wohnmobil streckt sie sich noch einmal ausgiebig und trinkt einen Schluck abgestandenen Eistee aus der Flasche. Diese hatte sie gestern achtlos und todmüde von dem anstrengenden Tag neben dem Eingang auf den Tisch gestellt, ohne sie auszuleeren. Auch ihr Magen meldet sich grummelnd zu Wort und erinnert sie daran, dass sie seit den paar Bissen Sandwiches gestern Nachmittag nichts mehr gegessen hat. Und duschen müsste sie auch wieder einmal. Beschämt reibt sie sich genug Deo unter die Achseln, damit sie sich wenigstens halbwegs erfrischt fühlt. Sie würde später Dee nach einer Instruktion der hauseigenen Dusche fragen müssen.

Also das wäre kein Leben für mich, denkt sich Nora und bewundert Dee gleichzeitig erneut für ihre Unbeschwertheit und Leichtigkeit.

Während sie im Innern des Wohnmobils umständlich darum bemüht ist, ihr Bett einigermaßen herzurichten, sodass es nicht wie frisch benutzt aussieht, fallen ihr auf Dees Seite zwei Bücher auf. Neugierig betrachtet sie die beiden Exemplare, wobei das eine schon einen zerlesenen Eindruck macht. »Betrogen« lautet der Titel und geschrieben wurde es von Sandra Brown. Da sie sich selbst weniger zu den Romane-Leserinnen zählt, sagt ihr der Titel nichts. Von der Autorin glaubt sie schon gehört zu haben. Das andere Buch handelt von Hunden und deren Erziehung. Als Nora das ältere Buch gedankenverloren ein wenig durchblättert, entdeckt sie im hinteren Teil ein zerknittertes Foto. Auf dem Bild sind zwei kleine Mädchen abgebildet. Beide tragen kurze, hellblaue Jeans und ein weites weißes T-Shirt. Das Besondere an dem Foto ist jedoch, dass bei dem Mädchen links das Gesicht mit wasserfestem Filzstift übermalt wurde, sodass keine Gesichtszüge oder Einzelheiten mehr zu erkennen sind. Beim genaueren Betrachten überkommt Nora ein ungutes Gefühl, denn sie glaubt, das kleine Mädchen auf der rechten Hälfte des Bildes zu erkennen. Die grünen Augen und die Struktur der Haare deuten darauf hin, dass es sich dabei um Dee handelt. Doch wer ist das zweite Mädchen?

Nachdenklich legt sie das Foto zurück und klappt das Buch zu. Sie streicht noch einmal über die Bettdecke, um die letzten Falten wegzuwischen, und tritt an die Sonne.

»Nora! Nora!« Freudig hüpft Dee auf das Wohnmobil zu, dicht gefolgt von Daisy, die sich anscheinend blendend erholt hat vom gestrigen Abenteuer. Dee strahlt über das ganze Gesicht, sodass sich Nora vornimmt, das Foto erst später anzusprechen, um ihr die gute Laune nicht zu verderben. Sie streckt ihre Arme aus und lässt die stürmische Begrüßung von Daisy gerne über sich ergehen. Auch Dee gesellt sich dazu und umschlingt Nora herzlich.

»Daisy geht es prima! Wir waren soeben an einem kleinen Bach ganz in der Nähe. Dort habe ich sie ein bisschen geschrubbt und die Kratzer gewaschen. Ist aber nichts Schlimmes dabei, was sich entzünden könnte.«

Erleichtert wuschelt Nora Daisys Fell, bevor diese freudig das Wohnmobil umrundet.

Auch Dee erhebt sich und schaut Nora liebevoll an.

»Na meine Hübsche, hast du diese Nacht gut geschlafen?«

»Ha, von hübsch kann nicht mehr die Rede sein«, lacht Nora. »Schau mich an, ich brauche dringend eine Dusche. Aber ja, geschlafen habe ich wie ein Bär. Und genauso hungrig fühle ich mich jetzt auch.«

»Du hast recht. Lass uns frühstücken.« Und schon springt Dee fröhlich davon.

Nachdem der erste Hunger gestillt ist und Nora dem bevorstehenden Duschprozedere mit gemischten Gefühlen entgegenblickt, drängt sich das Bild des zerknitterten Fotos vor ihr inneres Auge. »Hey Süße, was ist denn los? Du schaust so ernst. Alles in Ordnung?«

»Ach, eigentlich ist es nichts«, antwortet Nora, »es ist bloß, als ich heute Morgen hinten beim Bettherrichten war, da habe ich ein Foto gesehen. Darauf ist das Gesicht eines Mädchens schwarz übermalt. Da habe ich mich gefragt …«

»Du hast WAS?«

Für den Bruchteil einer Sekunde erscheinen Dees grüne Augen dunkler als sonst, so als würden sie von einer düsteren Finsternis überschattet. Erschrocken stellt Nora fest, dass sie diesen Gesichtszug bei ihrer Freundin noch nie wahrgenommen hat. Doch Dee hat sich schnell wieder unter Kontrolle und lacht dann schallend los.

»Ach dieses Foto meinst du! Das bin ich. Ich konnte eines Tages meinen dämlichen Blick nicht mehr ertragen und habe deshalb mein Gesicht unkenntlich gemacht.«

»Und das andere Mädchen?«

»Das ist bloß eine alte Schulfreundin. Ist schon lange her. Jetzt lass uns die alten Geschichten vergessen und den Tag genießen. Komm, ich zeige dir die Dusche.«

Habe ich mich bei dem Foto so getäuscht? Nora nimmt sich vor, das Foto bei nächster Gelegenheit nochmals genauer zu betrachten. Aber jetzt muss sie sich zuerst um ihre Körperhygiene kümmern.

Frisch geduscht lässt Nora ihre Haare von der Sonne trocknen und fühlt sich wie neugeboren. Während Daisy unter ihrem Liegestuhl ein kurzes Nickerchen hält und Dee unter der Dusche steht, nimmt sie sich die Zeit, um einen Blick auf ihr Handy zu werfen. Das hat sie in den letzten 24 Stunden kaum benutzt, was eher selten vorkommt. Bei den Mails verhält sich alles so weit ruhig, was auch nicht anders zu erwarten war. Schließlich hat sie vor Ferienbeginn im Geschäft alles fein säuberlich vorausgeplant und keine offenen Fragen ungeklärt hinterlassen. Ihr Kollege Max müsste mittlerweile wieder in New York sein, denn dort findet in wenigen Tagen ein größerer Event statt, den Nora bis ins kleinste Detail geplant hat. Max wird dort die Firma vertreten und somit größere Aufträge an Land ziehen. Das tut er immer. Nora musste zugeben, dass er wirklich gut war in seinem Job. Und genau aus diesem Grund konnte sie trotz des bevorstehenden, wichtigen Anlasses bedenkenlos für ein paar Tage in die Ferien fahren.