Ein letztes  Geschenk - Barbara Mehli - E-Book

Ein letztes Geschenk E-Book

Barbara Mehli

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Beschreibung

Die Bombe tickt. Jedes Jahr zum selben Tag schlägt er zu. Immer an einem idyllischen Ort inmitten der friedlichen Schweizer Natur. Er sucht seine weiblichen Opfer gezielt aus und jedes einzelne erhält zum Abschied kurz vor dem Tod ein Geschenk. Ein Accessoire aus seidenglattem Fell. Handgefertigt. Von der Hand ihres Mörders. So unterschiedlich das Leben der Frauen auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so führt sie das Schicksal doch an einem Punkt zusammen. Direkt in die Fänge ihres Mörders.

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Seitenzahl: 498

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ein letztes Geschenk

1. Auflage, erschienen 05-2024

Umschlaggestaltung: Romeon Verlag

Text: Barbara Mehli

Layout: Romeon Verlag

ISBN (E-Book): 978-3-96229-602-5

www.romeo-verlag.de

Copyright © Romeon Verlag, Jüchen

Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden. Zuwiderhandlung verpflichtet zu Schadenersatz.

Alle im Buch enthaltenen Angaben, Ergebnisse usw. wurden vom Autor nach bestem Gewissen erstellt. Sie erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Verlages. Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Unrichtigkeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Barbara Mehli

EIN LETZTES GESCHENK

Für Dani

Das Leben ist eine Reise.

Du bist mein Reiseführer.

Der Beste, den ich mir wünschen kann.

PROLOG

Spätsommer 2015

Die letzten Sonnenstrahlen suchen sich ihren Weg zwischen den Bäumen hindurch und lassen das blonde Haar der jungen Frau in einem romantischen Glanz aufblitzen.

„Wie wunderschön du bist“, sagt er mit rauer Stimme und streicht ihr entzückt über die noch von der Sonnenwärme leicht geröteten Wangen.

Das Boot neigt sich leicht zur Seite, als er einen Schritt zur Seite macht, um dem Picknickkorb zwei Gläser zu entnehmen, die er sodann mit Sprudelwein bis zum Rand auffüllt.

Dabei blickt er aufmerksam zum Steg hinüber, der noch immer einsam in den idyllisch gelegenen See hinausragt.

„Keine Menschenseele außer uns beiden. Was für ein Privileg. Habe ich uns nicht das schönste Plätzchen auf Erden ausgesucht? Sag“, ermuntert er sie, worauf ein leises „Ja“, zu hören ist.

„Na also. Nicht so schüchtern“, lacht er und nimmt einen ersten großen Schluck aus dem Glas. „Aber du hast recht. Wir sollten die Stille hier genießen. Es kommt selten genug vor, dass wir dem Lärm der Stadt entfliehen können.“ Verträumt legt er seinen Kopf auf ihre Schulter und saugt die erfrischende klare Bergluft gierig ein. Erfreut stellt er fest, wie sich seine Lungen füllen und nach mehr verlangen.

Noch eine halbe Stunde, dann würden sich die Schatten der Bäume mit dem schwarzschimmernden Wasser des Bergsees vereinen, sodass nicht mehr auszumachen wäre, wo das Ufer das Festland umzäunt. Er liebt diesen See inmitten des Stazerwaldes auf rund 1800 Metern über dem Meer. Einer der schönsten im Kanton Graubünden, seiner Meinung nach zumindest.

Die Luft wird bereits merklich kühler, was ihn veranlasst, eine Decke hervorzuholen und sie fürsorglich über den Schultern seiner Begleiterin auszubreiten.

„Ist dir kalt?“, fragt er überflüssigerweise, denn ihr Zähneklappern lässt klar darauf schließen. „Ja, ein wenig“, lautet demnach auch ihre Antwort, die so leise kaum noch zu verstehen ist.

„Wir bleiben nicht mehr lange. Nur noch ein paar Minuten. Heute ist ein besonderer Tag für mich und als Dank, dass du den Abend mit mir verbringst, werde ich dir, sobald die Sonne untergegangen ist, ein kleines Geschenk überreichen. Du freust dich doch, oder?“

Die Frau neben ihm nickt leicht mit dem Kopf.

Er hebt sein Glas erneut an den Mund, hält kurz inne, taucht seinen Zeigefinger in den sprudelnden Inhalt und fährt ihr dann zärtlich damit über die Lippen.

„Koste, meine Liebe.“

Er lässt ihr kurz Zeit. „So bittersüß. Nicht wahr? Genau wie das Leben.“

Eine einzelne Träne löst sich aus ihrem Augenwinkel. Aufmerksam fängt er diese auf und hält sie gegen das verbleibende Dämmerlicht.

Ehrfürchtig betrachtet er den Tropfen von allen Seiten, bevor er ihn mit seiner Zunge ableckt und genussvoll zergehen lässt.

„Wunderbar“, haucht er und streicht ihr liebevoll über das Haar.

Ein frischer Wind kommt auf und das Boot beginnt auf dem sich kräuselnden Wasser zu schaukeln. Sofort erkennt er die Angst an ihren weit geöffneten Augen.

„Keine Sorge, das gehört dazu. Zudem haben wir zwei Schwimmwesten an Bord. Schau her.“ Demonstrativ hält er die beiden Westen in die Höhe und lässt sie danach wieder achtlos ins Boot fallen.

Als wenig später die Umgebung kaum mehr zu erkennen ist, holt er aus der Innentasche seiner Jacke einen kleinen Beutel hervor. Er kniet sich gebieterisch vor seiner Begleiterin auf den Boden des Bootes, darauf achtend sein Gewicht geschickt zu verlagern, um ein unnötiges Schaukeln zu verhindern.

Dann fasst er gezielt nach ihren Händen, die hinter ihrem Rücken gefesselt sind. Er löst die Schnur mit gekonnten Griffen und führt die Hände nach vorne, wo er sie weiterhin kräftig mit einer Hand festhält.

Mit seiner anderen Hand entnimmt er dem Beutel sein Geschenk.

Ein Pulswärmer.

Aus seidigem Fell.

Selbstgemacht.

Zärtlich, aber dennoch bestimmt stülpt er den Pulswärmer über ihr linkes Handgelenk. Danach hält er seine Wange noch einmal an das weiche Fell des Pulswärmers, küsst diesen innigst und zieht die Schnur erneut fest hinter ihrem Rücken zusammen. Gleichzeitig überprüft er den Knoten, der ihre Beine zusammenhält. Ein Wimmern entfährt ihrem Mund, was ihn sofort aufhorchen lässt.

„Habe ich dir nicht gesagt: Ich will nichts hören, außer wenn du etwas gefragt wirst?“, sagt er forsch.

„Ja“, lautet die vor Angst und Kälte zitternde Antwort.

Er wühlt in seinem Rucksack, holt ein Klebeband hervor, zieht ein großzügiges Stück davon ab und klebt es ihr über den Mund.

Kurz darauf löst er gemächlich die Ruder und schaut zu, wie diese vorerst neben dem Boot auf dem Wasser treiben, um anschließend allmählich ihrem eigenständigen Weg aufs offene Gewässer zu folgen.

Danach beginnt er mit seinem Taschenmesser Löcher ins Boot zu bohren. Eins nach dem anderen, bis Wasser hineinfließt und den Boden des Bootes erstaunlich schnell unter Wasser setzt.

Er hebt die eine Schwimmweste auf, zieht sie sich über und wirft die andere über Bord.

„Die brauchst du nicht mehr“, sagt er beiläufig und ignoriert dabei ihre von Panik weit geöffneten Augen. Noch einmal beugt er sich zu ihr hinunter und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Du weißt, weshalb“, richtet er seine letzten Worte an sie, stößt sich mit den Füßen kräftig ab, springt ins Wasser und schwimmt in Richtung Steg. Bevor er diesen erreicht, blickt er sich noch einmal um. Vom Ruderboot und seiner Begleitung ist nichts mehr zu sehen.

Das liegt nicht allein an der Schwärze der Nacht. Er kann es deutlich spüren.

Sie hat sein Geschenk für immer mit sich genommen.

KAPITEL 1

Weihnachten 1996

„Ich habe ein Geschenk für dich“, sagt seine Mutter mit kaum hörbarer Stimme, als sie seine Zimmertüre öffnet.

Das ist der schönste Satz, den der achtjährige Nik seit langem zu hören bekommt. Es ist zwar Weihnachten, aber das allein stellt noch keinen Grund zum Feiern dar. Im Jahr zuvor hat es beispielsweise keine Geschenke gegeben.

„Du hast das ganze Jahr durch alles weggefressen“, klärte ihn sein Vater auf, als er mit bittenden Augen zu ihm hochsah.

„Schau nicht so dümmlich. Wo kein Geld ist, gibt’s keine Geschenke. So einfach ist das. Punkt.“

„Oder es gibt keine Geschenke, weil du alles versoffen hast?“, konterte seine Mutter. Allerdings so leise, dass sein Vater es nicht verstehen konnte. Das Schlimmste an den Feiertagen im Vorjahr war allerdings schlussendlich nicht die Tatsache, dass Weihnachten für ihn ausfiel, sondern dass in der Schule nach den Ferien all seine Kameraden damit prahlten, womit sie von ihren Eltern, Tanten, Onkeln, Großeltern und Patentanten überschüttet worden waren. Da war es nicht verwunderlich, dass er neidisch wurde.

Nicht dass ihn all das elektronische Zeugs, von dem die Jungs schwärmen, interessieren würde. Er macht sich nichts aus Spielkonsolen. Begriffe wie PlayStation oder Nintendo, die bei seinen Mitschülern Hauptgespräch sind, reizen ihn nicht. Es würde auch nichts ändern, wenn er sich dafür interessierte. Es bliebe ohnehin beim Wunsch. Seine Eltern können sich Geschenke in dieser Preisklasse nicht leisten. Großeltern, Tanten und Onkeln gibt es in seiner Familie nicht. Seine Mutter ist Einzelkind und ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen als sie noch jung war. Vater hat einen Bruder, aber der will nichts mit ihnen zu tun haben. So zumindest hat er das bei einem Streitgespräch zwischen seinen Eltern herausgehört. Auch über die Großeltern dieser Seite wird kaum gesprochen.

Als Nik einmal nachfragte, ob er denn nicht auch einen Opa oder eine Oma hätte, lautete die Antwort seines Vaters: „Brauchste nicht. Hast ja uns.“ Da lag sein Vater allerdings gründlich daneben. Klar hätte er eine Oma oder einen Opa gebraucht. Die bringen schließlich die schönsten und besten Geschenke. Das hat er bei anderen Kinder oft genug gesehen. Es hätte auch kein großes Geschenk sein müssen. Eine Kleinigkeit hätte vollends ausgereicht, um ihn zu erfreuen.

Mit einer raschen Handbewegung wischt er die traurigen Gedanken beiseite. Das war letztes Jahr. Dieses Jahr würde alles besser. Seine Mutter hat ein Geschenk für ihn!

Er kann sein Glück kaum fassen. Er hat den Gedanken an Weihnachten bis noch gerade eben aus seinem Kopf zu verdrängen versucht. Es gibt keine Anzeichen im Haus, die den Heiligen Abend ankündigen würden. Sein Vater und seine Mutter haben bis vor fünf Minuten noch lauthals gestritten. Nik hat sehnsüchtig aus dem Fenster geblickt und bei den Nachbarn gesehen, wie sie als einheitliche Familie voller Freude und Aufregung den Weihnachtsbaum schmückten. Als er das Fenster für einen Moment öffnete, strömte gleichzeitig mit der kalten Luft auch Weihnachtsgebäckduft in sein Kinderzimmer, den er gierig einatmete und die Luft so lange anhielt, bis er zu ersticken drohte.

Bei ihm zu Hause riecht es nicht nach Keksen oder Braten. Es stinkt nach kaltem Kohl und abgestandenem Zigarettenrauch, vermischt mit Alkohol und ranziger Butter. Er hat die Hoffnung auf einen schönen Abend bereits aufgegeben und sich in seinem Zimmer zwischen die Bauklötze gesetzt. Seine Augen weit geöffnet, kann er nun die ausgesprochenen Worte seiner Mutter noch immer nicht richtig glauben.

„Ein Geschenk für mich?“, fragt er deshalb zögernd nach. Als seine Mutter leicht nickt, erhebt er sich hastig und stolpert über die abgegriffenen Bauklötze, mit denen schon seine Mutter als Kind gespielt hatte. Mit dem Unterschied, dass sie ihre Gebilde als Schlösser bezeichnete und er als Burgen.

„Was ist es?“, fragt er aufgeregt und eilt zu seiner Mutter. Diese hebt einen kleinen viereckigen Karton auf und Nik stellt überrascht fest, dass ihre Augen vor Freude strahlen. Die Schachtel ist mit vielen kleinen Löchern versehen und sie hält sie mit äußerster Vorsicht an beiden Enden fest.

„Eigentlich müssten es zwei sein“, sagt sie, während sie ihm die Box achtsam überreicht, „aber das Geld reichte bloß für eins. Für das Zubehör bist du zuständig. Aber du hast ja zwei geschickte Hände, also müsste es kein Problem für dich sein, ihm ein wohliges Zuhause zu bieten.“

„Und für das Fressen bist auch du zuständig“, ruft sein Vater mit viel zu lauter Stimme, „nicht, dass die Maus unseren Käse wegfrisst.“

„Es ist keine Maus, Karl“ widerspricht die Mutter, „es ist ein Chinchilla.“

„Ein Chinchilla?“, jauchzt Nik mit weit geöffnetem Mund. „Ein echtes Chinchilla? Ein Langschwanz oder ein Kurzschwanz?“

„Schau selbst nach“, sagt die Mutter lächelnd, „ich kenne mich nicht so gut aus wie du. Es gab nur die eine Sorte in der Zoohandlung. Ich kenne den Unterschied nicht.“

„Ein Langschwanz- lebt länger als ein Kurzschwanz-Chinchilla“, erklärt Nik wissend.

„Und wie lange leben die nochmals?“, fragt die Mutter interessiert nach, obwohl sie die Antwort darauf schon einmal von Nik erfahren hat.

„Bis sie verhungern“, johlt sein Vater dazwischen und stößt, während er lacht, einen lauten Rülpser aus.

Behutsam nimmt Nik den Karton entgegen und trägt ihn, gefolgt von seiner Mutter, in sein Zimmer, wo sie die Türe hinter sich zuziehen und erleichtert aufatmen. Sein Vater würde für die nächste Stunde mit dem frisch servierten Bier beschäftigt sein, bevor mit einer neuen Störung seinerseits zu rechnen wäre.

Als Nik den Deckel einen Spalt breit öffnet, blickt er direkt in zwei kugelrunde, tiefschwarze Augen, die ihm ängstlich und neugierig zugleich entgegenblicken.

„Wow“, haucht er, „Was für ein tolles Geschenk, Mama. Das sind die schönsten Weihnachten meines Lebens.“

Stürmisch schlingt er seine Arme um Mutters Hals, die ihren Kopf tief in sein Haar gräbt und leise schluchzt.

Was für ein wunderschöner Moment, durchfährt es ihn.

Und erst die beiden Wochen, die noch vor mir liegen, denkt er und versteht zum ersten Mal, was seine Klassenkameraden meinen, wenn sie die Ferien kaum erwarten können.

Dieses Mal würden die Ferien nicht so schlimm werden wie befürchtet.

Normalerweise sind Ferien für ihn ein Graus. So wie die anderen Kinder die Tage zählen, bis die Ferien endlich beginnen, so rechnet er die Stunden aus, bis er endlich wieder das Klingeln der Schulglocke hört.

Nik liebte die Schule vom ersten Moment an, als er das Klassenzimmer betrat. Das Lesen und die Mathematik sowie die Wissenschaft und das Lernen im Allgemeinen sind der Inhalt seines Lebens. Zudem kann er täglich für ein paar Stunden dem tristen Familienleben entgehen. Seine Schulkameraden sind deutlich anderer Meinung. Sie nörgeln über die Lehrer und die vielen Hausaufgaben, freuen sich dafür tierisch über Pausen und Ferien. Wenn beim letzten Läuten vor Ferienbeginn alle Kinder in die Luft springen und laut jubelnd ihre Schultaschen packen und davonstürmen, sucht er noch lange, darauf konzentriert die aufsteigende Angst vor seinem Zuhause zu verdrängen, sein Material zusammen, stopft es gemächlich in seine Plastiktüte, die als Ersatz für einen teuren Schulranzen dient und muss vom Lehrer regelrecht nach Hause geschickt werden.

„Los, komm schon Nik. Pack deine Sachen und genieße deine Ferien“, lauten oft die Worte bei der Verabschiedung.

„Was gibt es da zu genießen?“, würde er gerne antworten, traut sich aber nicht. Er will nicht stärker auffallen, als dass er dies ohnehin schon tut.

Seine Kleidung unterscheidet sich von derjenigen der anderen Kinder, da er keine Markenartikel trägt und meist Löcher seine Pullover zieren. Sein Haar hängt ihm strähnig ins Gesicht, die Schuhe sind abgelaufen und weisen Risse auf, durch die das Regenwasser ungehindert eindringen kann. Er besitzt keine Schultasche, ganz zu schweigen von Schachteln voller Buntstifte. Er nimmt seinen Bleistift und die wenigen Utensilien, die er wie jedes Kind zu Beginn des Schuljahres von seinem Lehrer Herr Kobel erhalten hat, täglich nach Hause, um seine Hausaufgaben gewissenhaft zu erledigen, und bringt das vollständige Material am kommenden Tag wieder zurück zur Schule. Er achtet penibel auf jeden einzelnen Gegenstand. Wenn andere in der Klasse ihre Schulutensilien zum Schwertkampf einsetzen, hält er sich zurück, denn er hat schon einige Male miterlebt, wie Lineale oder Stifte dabei in Brüche gingen. Dies scheint die anderen Kinder nicht zu kümmern. Sie lachen gar darüber. Und dabei lassen sie die kaputten Teile achtlos am Boden liegen. Wenn niemand hinschaut, sammelt er sie unbemerkt auf, um sie zu Hause weiterzuverwenden.

Für sein Alter liest Nik auffallend gut. Dies ist auch der Grund, weshalb er sich in den raren Bibliotheksstunden von seinen Klassenkameraden absondern und bei den „richtigen“ Büchern stöbern darf. Dort hat er auch das Buch über Chinchillas entdeckt und sich dabei sofort in das flauschige Fellbündel mit den kugelrunden schwarzen Knopfaugen auf der Titelseite verliebt. Er verschlang die Informationen und speicherte sie in seinem Gedächtnis, sodass er die Einzelheiten zu jeder Zeit hervorrufen kann. Er las das Buch immer und immer wieder, bis er es auswendig kannte. Sein Wissensdurst und die auffallende Lesefreude blieben auch Herr Kobel nicht verborgen und hin und wieder willigte er ein, Nik die Pausen in der Bücherei verbringen zu lassen, wofür Nik sehr dankbar war. Allerdings gab es da ein kleines Problem. Kaum war Nik in sein Buch vertieft, nahm er nichts mehr um ihn herum wahr und so kam es regelmäßig vor, dass er die Pausenklingel nicht hörte und von jemandem ins Schulzimmer zurückgebracht werden musste. Dies wurde Herr Kobel auf die Dauer zu anstrengend und so versiegten die Lesepausen wie Wassertropfen in der Wüste.

Immer wieder überwand er sich und bat Herr Kobel um mehr Lesezeit, bis dieser schließlich den Vorschlag machte, Nik könne sich einzelne Bücher ausleihen und mit nach Hause nehmen. Wie einen Schatz trug Nik eines Tages das Buch über Chinchillas unter seiner Jacke versteckt, fest an sein Herz gedrückt, nach Hause und zeigte es seiner Mutter, als diese an jenem Abend zu ihm ins Zimmer kam, um ihm den allabendlichen Gutenachtkuss zu geben.

„Schau, Mama, das ist ein Chinchilla“, flüsterte Nik, um seinen Vater nicht zu stören, der ein Fußballmatch am Fernseher verfolgte und den Schiedsrichter mit obszönen Bemerkungen übergoss. Die Aufregung, seiner Mutter über sein Lieblingstier zu berichten, ließ Nik die Anwesenheit seines Vaters verdrängen und mit Stolz tat er sein Wissen kund.

„Weißt du, Mama, die leben in der Bergwelt der Anden Südamerikas. Sie haben ihren Namen von den Chincha-Indianern und werden bis zu 20 Jahre alt.“ Kurz hielt er inne, um seine Mutter zu beobachten, die staunend, mit halbgeöffnetem Mund ihren Sohn betrachtete.

„Und woher weißt du das alles, mein Kleiner?“, fragte sie und strich ihm sanft über sein Haar.

„Das habe ich in der Schule gelernt“, sagte Nik und reckte sein Kinn stolz in die Höhe.

„Mein schlauer Junge“, sagte seine Mutter anerkennend und schüttelte gerührt den Kopf.

„Willst du noch mehr wissen, Mama? Du kannst mich alles fragen. Ich kenne das ganze Buch“, bot Nik an, als er unverhofft die schwer schlurfenden Schritte seines Vaters vernahm, der sich seiner Zimmertüre näherte.

„Versteck das!“, forderte seine Mutter ihn auf und schob das Buch eilig unter die Bettdecke.

„Was ist hier drin los? Weshalb flüstert ihr? Dreckspack!“, polterte der Vater los, sobald er eingetreten war.

„Wir wollten dich nicht stören“, versuchte die Mutter ihren Mann zu beschwichtigen.

Erfolglos.

Wie meistens.

Wenn er auf Ärger oder Streit aus war, konnte ihn niemand besänftigen.

„Denkst du, ich bin bescheuert und merke nicht, wie ihr mich behandelt?“, tobte er weiter.

„Soll ich dir ein Bier holen?“, fragte die Mutter demütig, um die Situation möglichst schnell zu entschärfen.

„Soll ich dir ein Bier holen?“, äffte der Vater sie nach und seine Augen funkelten bedrohlich. „Was für eine dämliche Frage. Selbstverständlich sollst du mir ein Bier holen! Muss ich dich dazu extra suchen gehen? Mach vorwärts, du Schlampe!“, und mit einem Seitenblick zu Nick, der eingeschüchtert auf seinem Bett saß und die Hand fest auf sein Buch presste, das unter der Bettdecke verborgen lag, fuhr er spöttisch fort: „Und du, kleiner Nichtsnutz, mach, dass du mir aus den Augen verschwindest. Ich hab noch was mit deiner Mutter zu erledigen.“

Er lachte kurz kehlig auf, während ihm ein lauter Rülpser entfuhr. Nik zog angewidert die Nase kraus, packte seine Jacke und schlich sich gebückt aus der Wohnung. Er weiß, dass in solchen Situationen keine Widerrede möglich ist und er am besten tut, wonach verlangt wird.

Er erinnert sich noch zu gut an den Abend vor rund zwei Jahren, als er sich schützend vor seine Mutter gestellt und versucht hatte, seinen Vater daran zu hindern, seine Mutter anzufassen. Die Schläge, die für seine Mama gedacht waren, prasselten abwechselnd auf sie beide ein und einer der Hiebe verpasste ihm eine Narbe über der Stirn. Eigentlich hätte die Wunde genäht oder wenigstens geklebt werden müssen, aber sie gingen nie zu einem Arzt und so drückte sich Nik ein schmutziges Tuch auf die Stirn, bis die Blutung von selbst stoppte. Dennoch mahnt die Narbe ihn davor, sich erneut in Streitereien zwischen seinen Elternteilen einzumischen.

Als er das Buch über Chinchillas in die Bücherei zurückbringen musste, brach es ihm beinahe das Herz. Er wünschte sich nichts mehr, als einmal in seinem Leben ein echtes Chinchilla berühren zu dürfen. Er stellte sich das Gefühl vor, wie er im samtenen Fell seine Nase vergrub und wie all seine Sorgen davongetragen würden. Doch das war bloß ein Traum. Bis heute, an Weihnachten, als seine geliebte Mutter ihm diesen Karton mit den kleinen Löchern überreicht.

Behutsam platziert er die Schachtel auf seinem Bett und setzt sich dazu. Noch einmal öffnet er den Deckel einen Spalt breit und entdeckt das grauschwarze Fellbündel, wie es erfolglos versucht, sich in der weit entferntesten Ecke zu verstecken. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, sein Herz macht einen Sprung, das Atmen fällt ihm schwer und Tränen treten in seine Augen. Eine nie erfahrene Liebe durchströmt seinen kleinen Körper und erfüllt ihn mit Wärme, Geborgenheit und Ruhe. Vollkommen überwältigt von diesen ihm unbekannten Gefühlen nimmt Nik seine Außenwelt kaum mehr wahr.

Die streitenden Stimmen seiner Eltern sind verschwunden. Genauso der übelriechende Geruch von Kohl und Zigaretten. Der Ärger über den fehlenden Weihnachtsbaum, einen solchen, wie er ihn bei seinen Nachbarn soeben noch bewundert hat, war in Sekundenschnelle verflogen. Für ihn zählt nur noch das kleine Lebewesen in der Schachtel vor ihm. Und im Innern seines Herzens gelobt er in jenem Moment ein Leben lang für das süße Fellknäuel zu sorgen, es zu beschützen und zu lieben. Er schwört es hoch und heilig auf den Namen der Chincha-Indianer und fühlt sich dabei frei wie eine vom Wind getriebene Wolke, die über die Anden Südamerikas schwebt. Dem natürlichen Lebensraum seines Chinchillas. Und als er noch einmal einen Blick in die Schachtel wirft und einen Finger hineinstreckt, um den Kleinen schnuppern zu lassen, haucht er voller Ehrfurcht den Namen vor sich hin. „Smokie“, flüstert er. „Du sollst Smokie heißen. Benannt nach den Rauchzeichen deines Urvolkes, der Chinchas.“

In diesem Augenblick hebt Smokie seinen Kopf, streckt seine Nase vor und beschnuppert den ihm dargebotenen Finger ausgiebig.

KAPITEL 2

Frühsommer 2016

„Es bleibt doch dabei, du kommst morgen Abend?“ Das leichte Flehen, das in Hannas Stimme mitschwingt, entgeht Manu nicht.

„Ich kann es dir noch nicht versprechen, Hanna“, antwortet sie mit einem Hauch von Bedauern. „Ich müsste direkt von der Arbeit den Zug nehmen. Schade, dass es so weit entfernt liegt“, sagt sie.

„Ach komm schon, bis nach Zürich ist es nun wirklich keine Weltreise“, entgegnet Hanna.

„Stimmt“, gibt Manu zu, „aber ich weiß nicht, ob ich ihn so lange allein lassen kann. Zudem habe ich Tommy für ein kurzes Treffen zugesagt“, ergänzt sie und seufzt wehmütig.

„Tommy? Wer ist Tommy?“, fragt Hanna sofort aufgeregt. „Ist das dein neuer Freund? Oh Mann, du hast mir nichts gesagt. Das geht nicht. Du musst kommen und mir alles haarklein erzählen.“

Manu lacht. Genauso kennt sie Hanna. Quirlig, lebensfroh, neugierig, erfrischend.

„Bitte, überleg es dir nochmals, Manu. Es wird dir guttun und es wäre schön, dich wieder zu treffen“, hakt Hanna weiter nach und Manu ahnt schon, dass es schwer würde, nein zu sagen.

„Okay, ich werde schauen, was sich machen lässt. Aber sei nicht enttäuscht, wenn es nicht klappt. Dann sehen wir uns in zwei Wochen. Versprochen“, fügt sie hinzu und hinter ihrer Stirn rattert es bereits gewaltig, wie sie das Treffen morgen Abend doch noch möglich machen könnte.

Eilig verstaut sie ihr Handy, die Geldbörse und ihren farblosen Lipgloss in der Tasche. Letzteren würde sie kurz vor Arbeitsbeginn auftragen. Auch wenn all ihre Kolleginnen auffallendere Lippenstifte benutzen und sie immer wieder ermutigen, es ihnen gleichzutun, fühlt sie sich wohler mit dem unauffälligen Glanz, den kaum jemand wahrnimmt.

Immerhin sieht es gepflegt aus, denkt sie und entfernt den Teebeutel, den sie während des Telefongesprächs mit Hanna in der Thermoskanne ziehen ließ.

Ein Blick auf die Uhr verrät, dass sie sich beeilen muss, falls sie den Bus noch erreichen will.

Schnellen Schrittes trägt sie die Kanne gefüllt mit heißem Tee ins Schlafzimmer ihres Vaters und setzt sie auf den Beistelltisch.

„Nicht vergessen, dass du den Tee trinken musst, bis ich wieder da bin, Paps.“ Sanft streicht sie ihrem Vater über das dünn gewordene Haar, das leicht strähnig in seine Stirn fällt.

„Alles klar, Liebes“, sagt er und lächelt müde.

Manu kann es noch immer nicht fassen, dass ihr Vater mit seinen jungen 62 Jahren an einer frontotemporalen Demenz erkrankt ist. Die Diagnose wurde erst vor wenigen Wochen gestellt, nachdem sie wiederholt bei Ärzten um Rat gefragt hatte. Ihr war das Verhalten ihres liebevollen Vaters aufgefallen, weil er sich zunehmend gleichgültig, antriebslos und apathisch verhielt. Sie hatte es vorerst als eine Depression abgetan, weil er erst vor Kurzem mit dem qualvollen Tod seiner Frau und Manus Mutter einen geliebten Menschen verloren hatte. Als sich sein Zustand aber weiterhin verschlechterte, er auf keine Antidepressiva ansprach, geschäftlich seine Pflichten vernachlässigte und vereinzelt gar durch Taktlosigkeit seinen Mitarbeitenden gegenüber auffiel, schrillten bei Manu alle Alarmglocken.

Hermann Schär galt zu jeder Zeit als liebevoller und sich korrekt verhaltender, ehrenhafter Mann. Er wurde sowohl im Freundeskreis als auch im Berufsleben von allen sehr geschätzt und respektiert. Wie er seine an Krebs erkrankte Frau über drei Jahre hinweg gepflegt und umsorgt hatte, wurde allerseits achtungsvoll bewundert.

Dass genau zu jenem Zeitpunkt, als der Krebs das Endstadium erreicht hatte, auch seine Tochter eine schwierige Zeit durchmachte, davon wusste er nichts. Klar, die Tatsache, dass ihre Mutter unheilbar krank war, traf Manu schwer, und die zusätzliche Belastung, die obendrauf auf sie zukam, behielt sie für sich. Manu wollte die aussichtslose Situation ihrer Eltern nicht noch stärker belasten und hatte daher stillschweigend beschlossen, die Bürde selbst zu tragen. Die letzten Monate im Leben ihrer Mutter hat sie ihren Wohnsitz in Andelfingen aufgegeben, um an ihrer Seite zu sein und ihren Vater beim schweren Prozess des Abschiednehmens zu unterstützen. Sie hatte diese Wohnung erst kurz zuvor gemietet, nachdem sie von einem Aufenthalt in der Romandie zurückgekehrt war. Es war keine einfache Entscheidung gewesen, während der Krankheit ihrer Mutter für ein halbes Jahr als Au-pair in die Westschweiz zu ziehen, aber sie war der Meinung, dass es keine andere Option gab, um ihr Leben in den Griff zu bekommen. Dass weder ihre Mutter noch ihr Vater diesen Schritt guthießen, schmerzte sie, aber sie kannten schließlich nicht die wahren Beweggründe.

Erst einige Monate nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich überwunden, ihrem Vater die volle Wahrheit zu erzählen. Das war an einem regnerischen Spätherbstabend, draußen pfiff der Wind und rüttelte an den morschen Läden. Als sie so in trauter Zweisamkeit zusammensaßen und an ihrem Tee nippten, hielt sie es nicht länger aus und setzte sie sich zu ihrem Vater. Die Tasse Tee fest umklammert, begann sie mit zitternder Stimme zu erzählen. Ihr Vater hatte sie nicht ein einziges Mal unterbrochen, sondern sie mit stummem Nicken immer wieder aufgemuntert, fortzufahren, wenn sie zu stocken begann. Schon zu Beginn der Geschichte kullerten ihm einzelne Tränen über die Wangen und bis zum Schluss hin weinte er bitterlich. Noch lange nachdem sie mit ihrer Geschichte geendet hatte, hielten sie sich aneinander fest.

„Mein Liebes“, waren seine ersten Worte, die er an sie richtete. „Komm her und lass dich trösten. Es tut mir unendlich leid, dass du all dies ertragen musstest und ich nicht für dich da sein konnte. In der schwierigsten Zeit deines Lebens.“

„Es ist in Ordnung, Paps“, schniefte sie. „Du und Mum, ihr hattet zu dieser Zeit genügend eigene Sorgen zu bewältigen und ich war stark genug.“

„Das weiß ich doch, Liebes. Und trotzdem tut es mir leid, dass ich nicht gemerkt hatte, was du durchmachen musstest. Versprich mir, dass du zukünftig mit deinen Sorgen zu mir kommst, ja?“

„Ich verspreche es. Und nun lass uns in den alten Fotoalben stöbern und an Mum denken. Das wird uns helfen, den tristen Abend zu überstehen.“

Gemeinsam gefangen in einem gigantischen Schmerz holten sie die Erinnerungen zurück, die sie als einst vereinte Familie erleben durften und wofür sie noch immer beide unendlich dankbar sind. Über den Zeitrahmen von mehreren Monaten hinweg vertiefte sich die Bindung zwischen Vater und Tochter noch mehr und Manu wurde sich bewusst, wie sehr sie ihren Vater liebt und wie viel sie ihm zu verdanken hat. Durch ihre eigene Vergangenheit stark verletzt, zeigte sie kein Interesse mehr daran, neue Freundschaften zu knüpfen und so gewöhnte sie sich an das Leben zu zweit.

Sie und ihr Vater.

Er zog sich nach dem Tod seiner Frau zusehends zurück. Er ging nach wie vor pflichtbewusst seiner Arbeit als Fliesenleger nach, aber nach getaner Arbeit kehrte er in ihre gemeinsame alte Wohnung zurück, wo er die Ruhe und Abgeschiedenheit genoss.

Die ersten Anzeichen seiner beginnenden Krankheit hatten weder Manu noch er selbst so richtig ernst genommen. Die Wortfindungsstörungen führten die Ärzte auf Müdigkeit oder Erschöpfung nach einem langen Arbeitstag zurück, die Gereiztheit auf unzufriedene Kunden oder ansteigende Stresssituationen in der Arbeit. Der sukzessiv verstärkte Appetit oder gar Heißhunger auf Süßes begründeten sie mit zunehmender körperlicher Arbeit und das Desinteresse an Freizeitbeschäftigungen legitimierten sie mit dem Fehlen seiner Frau.

Dass sich sein Verhalten innert kürzester Zeit so grundlegend veränderte, fiel nicht nur Manu, sondern auch anderen Personen im Freundeskreis auf. Sie wurde vermehrt darauf angesprochen und bekam mit, wie sich immer mehr Menschen langsam und unauffällig von ihrem Vater zurückzogen. Das schmerzte sie so sehr, dass sie beschloss, medizinische Hilfe anzufordern.

Nach etlichen Tests und Gesprächen stellte sich schließlich heraus, dass ihr Vater für den Rest seines Lebens auf Hilfe angewiesen sein würde. Für Manu bestanden keine Zweifel, dass sie ihm diese Hilfe anbieten und für ihren geliebten Vater da sein würde. Ein Heim käme nicht in Frage, solange sie es allein stemmen könnte.

Allerdings steht sie mit ihren jungen 25 Jahren voll im Berufsleben, wodurch ihre zur freien Verfügung stehende Zeit enorm eingeschränkt wird.

Die Firma, in der sie als Softwareentwicklerin arbeitet, kommt ihr so weit entgegen, dass sie ihre Arbeitszeiten grundlegend frei einteilen kann, was eine große Entlastung bedeutet. Dennoch müssen die achteinhalb Stunden Arbeit pro Tag gewissenhaft eingehalten und die Arbeit tadellos erledigt werden. Das alles ist jedoch kein Problem für Manu. Die Unannehmlichkeiten, die die Pflege ihres bedürftigen Vaters mit sich bringt, nimmt sie gelassen hin. Wenn sie morgens zur Arbeit fährt, hat sie zu Hause bereits das Frühstück für ihren Vater zubereitet und ihm eine Früchteschale und eine Kanne mit heißem Tee bereitgestellt, die Zeitung ans Bett gebracht und ihm bei der Morgentoilette geholfen.

Glücklicherweise liegt ihr Arbeitsort nicht weit entfernt von ihrem Wohnort, sodass sie mit einer direkten Busverbindung das Zentrum von Frauenfeld in weniger als einer halben Stunde erreichen kann.

Über Mittag nimmt sie erneut den Bus nach Hause, bereitet ihrem Vater eine warme Mahlzeit zu oder holt unterwegs beim Chinesen ein fertiges Menu, sodass mehr Zeit für Gemeinsamkeit bleibt.

Wenn Manu am Nachmittag erneut ihren Arbeitsplatz aufsucht, legt sie ihrem Vater ein Hörspiel oder sanfte Musik bereit, für den Fall, dass er zu müde sein sollte, um in einem Buch zu lesen. Dazu steht eine Kanne Kaffee griffbereit und ein Teller mit zuckerarmen Keksen und kleinen – oder wie ihr Vater sie bezeichnet – „mickrigen“ schwarzen Schokoladenstücken. Ihr Vater dankt es ihr meistens mit einem Lächeln oder einem anerkennenden Nicken. An schwierigeren Tagen, wenn die Aggressivität durchsickert, helfen Spaziergänge in der Natur oder das Schwelgen in Erinnerungen, um seine Gemütslage wieder zu stabilisieren.

Manu und ihr Vater leben sehr zurückgezogen. Für Freunde bleibt kaum Raum und sollte doch irgendwo ein Quäntchen Zeit vorhanden sein, so gibt es in der alten Wohnung immer etwas zu tun.

Da ihr Vater nur über eine kleine Rente verfügt und die langjährige Krankheit ihrer verstorbenen Mutter einen Großteil der Ersparnisse verschlungen hat, sind die beiden auf Manus Job angewiesen. Sie will sich deswegen keinesfalls beklagen, es mangelt ihnen an nichts. Ein bescheidenes Leben entspricht ihrer Art und ihrer Einstellung. Sie hat kaum Ansprüche und wenig Ausgaben. Durch ihren Vollzeitjob und die zusätzliche Rundumbetreuung ihres Vaters pflegt sie kaum soziale Kontakte und zeigt normalerweise auch kein Interesse daran, dies zu ändern.

Bis vor zwei Wochen.

Da traf sie auf diesen jungen Mann. Durch Zufall. Sie muss wirklich fertig ausgesehen haben, als sie mit vollgepackten Einkaufstüten von der Arbeit nach Hause unterwegs war. Wieso sonst hätte ihr ein junger Mann seinen Sitz anbieten sollen, obwohl ein paar Meter weiter hinten eine ganze Reihe frei war?

„Hübsche Frau, möchten Sie sich setzen?“, hatte er galant gefragt und sie damit völlig überrumpelt. Sie hatte keine Ahnung mehr, wie man sich in einer solchen Situation verhält und so setzte sie sich mit einem schüchternen Lächeln hin. Der junge Mann lächelte zurück und legte den Kopf ein wenig schief. Er war muskulös, was ihr sofort auffiel. Und als sie nach wenigen Haltestellen Anstalten machte, auszusteigen, nahm er unaufgefordert eine ihrer Tüten und trug sie nach draußen.

„Ähm, danke“, stotterte sie und merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

Wie peinlich ist das denn?, ärgerte sie sich über ihre körperliche Reaktion. Ich bin 25 und erröte wie ein kleines Schulmädchen.

Irgendwie kam es dazu, dass sie ihre Nummern austauschten und in Kontakt blieben. Und nun hat er vorgeschlagen, dass sie sich morgen Abend auf einen kurzen Drink verabreden könnten.

Als sie zusagte, hatte sie aber doch tatsächlich das Treffen mit Hanna vollkommen vergessen.

Das Treffen in Zürich, das alle zwei Wochen stattfindet und zu dem sie sich jedes Mal zwingen muss, hinzugehen. Hanna hat recht. Die Treffen tun ihr gut und sind ein wichtiger Teil in der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit.

Als Manu an diesem Morgen im Bus sitzt, hadert sie noch immer mit dem Gedanken, Tommy abzusagen, aber er würde sich bestimmt auch an einem anderen Abend mit ihr treffen wollen. Lächelnd holt sie ihr Handy hervor und schreibt ihm eine Textnachricht. Die Antwort kommt innerhalb einer Minute. Aufgeregt öffnet Manu die Nachricht und liest sie mit erhöhtem Puls: Kein Problem. Für eine hübsche Frau nehme ich mir auch an einem anderen Abend gerne Zeit. Kurz darauf kommt erneut eine Nachricht. Ein zwinkernder Smilie. Manu lacht und stellt erschrocken fest, dass es lange her ist, seit sie so unbekümmert lachen konnte.

Innerlich zählt sie die Jahre, die vergangen sind, seit sie zum letzten Mal ein Date hatte.

Vier Jahre, sinniert sie und schüttelt ungläubig den Kopf.

Die besten Jahre deines Lebens, hört sie die Stimme ihrer Freundin Hanna.

Vier Jahre und noch immer glüht der Schmerz tief in mir.

Sie holt einmal tief Luft und beglückwünscht sich zu ihrem Entschluss, am folgenden Tag nach Zürich zu fahren.

Ich brauche die Therapie. Vielleicht hilft es mir dabei, eine neue Beziehung aufzubauen.

Verträumt denkt sie an Tommys rehbraune Augen, seinen sportlich muskulösen Körper und sein spitzbübisches Lächeln.

Es ist ein Versuch wert, denkt sie, drückt den Halteknopf und macht sich mit beschwingten Schritten auf den Weg zu ihrer Arbeit.

KAPITEL 3

1. Juni 2016

Noch drei Monate und zwei Tage bis zum 3. September. Es wird Zeit, die Planung zu verfeinern.

„Zumindest bin ich mir zu hundert Prozent sicher, dass sie die Richtige ist. Sie ist es würdig, mein Geschenk zu empfangen“, flüstert er vor sich hin.

Nachdenklich schreitet er vor dem großen Gehege auf und ab und nimmt jedes einzelne Exemplar seiner Chinchilla-Zucht unter die Lupe. „Na, wer von euch wird Manu die letzte Ehre erweisen?“

Sanft holt er ein besonders hübsches Tier heraus, streicht ihm über das seidenglatte Fell, bürstet es mit einem Baby-Kamm, bis es glänzt.

Er betrachtet das auserwählte Geschöpf noch einmal eingehend von allen Seiten, füttert es mit seinen Lieblingsdrops mit Sahne und Joghurtgeschmack. Und während das Chinchilla ahnungslos genüsslich sein Leckerli genießt, holt er mit einem frisch geschliffenen Beil aus, lässt es nach unten sausen und trennt den Kopf in einem sauberen Hieb vom Rest des Körpers ab. Die Gliedmaßen zucken noch ein letztes Mal und der unzerkaute Teil des Drops fällt dem abgetrennten Kopf aus dem Mund.

Sobald das Blut versiegt ist, macht er sich an die Arbeit. Mit gekonnten Handgriffen trennt er das Fell vom Fleisch, legt es auf eine Salzkruste zum Trocknen und entsorgt die Innereien.

Er hat sich bereits im Voraus Gedanken gemacht, welches Schmuckstück er für Manu erschaffen würde.

Diesmal soll es eine Haarspange sein. Die würde den langweilig braunen Haaren das gewisse Etwas verleihen, sodass sie ihre letzte Reise ehrwürdig antreten kann.

KAPITEL 4

Frühsommer 2016

Hanna tritt aus lauter Vorfreude von einem Bein auf das andere. Dabei behält sie die Menschentraube, die unter dem vor ihr in großer Höhe montierte Kubus herumwuselt, aufmerksam im Auge. Vereinzelte Menschen blicken erwartungsvoll in alle Richtungen oder aber genervt auf ihre Uhr. Andere warten stoisch mit einer Zigarette in der Hand oder tippen Nachrichten in ihr Mobiltelefon. Kein anderer Ort im Zürcher Hauptbahnhof scheint geeigneter als der bekannte Treffpunkt in der Haupthalle bei der großen Uhr. Und dies, obwohl sich immer eine Unmenge an Personen darunter einfindet und es somit noch schwieriger wird die Person ausfindig zu machen, nach der man sucht.

Hanna fühlt sich wohl an diesem Ort. Unter vielen Menschen zu sein gibt ihr eine gewisse Art von Sicherheit. Bloß nicht ohne Begleitung durch dunkle Gassen schlendern oder gar einen Waldspaziergang unternehmen. Die Angst davor, erneut von Gian, ihrem Exfreund, aufgespürt zu werden, hängt wie ein Damoklesschwert über ihr und dominiert ihren Alltag.

Nicht daran denken, sagt sie sich. Nicht jetzt.

Ein kurzer Blick auf die überdimensionale Uhr über ihr gibt die gewünschte Auskunft: noch zweiunddreißig Minuten. Dann kommt Manu an und das ist es, worauf sie sich so sehr freut. Eigentlich zählt Hanna nicht zu den Frauen, die zu früh zu einem Treffen erscheinen. Im Gegenteil. In der Regelkommt sie jeweils völlig gehetzt mit einer Entschuldigung auf den Lippen ein paar Minuten zu spät angerannt. Nicht heute.

Heute hat sie ihren kleinen Vorort von Chur im Kanton Graubünden vorzeitig verlassen, nachdem sie erneut einen Telefonanruf auf ihren Festnetzanschluss erhalten hatte mit der ihr wohlbekannten Vorwahl: 082. Der Beweis, dass der Anruf aus Pontresina kam. Und sie kennt mittlerweile nur eine Person in Pontresina, die immer von einer ihr unbekannten Nummer anruft: ihr Ex Gian.

Beschämt zupft sie an den Ärmeln ihrer Jeansjacke, um das Tattoo zu verdecken, das sie sich in jugendlicher Naivität auf den Unterarm hat stechen lassen.

Wie konnte ich nur?, denkt sie und schüttelt genervt den Kopf. Ich kann den Namen nicht mehr hören und will ihn erst recht nicht mehr auf meinem Körper sehen!

Auch wenn die Trennung schon über ein Jahr zurückliegt, lauert Gian ihr auf, versucht sie zufällig zu treffen oder sie ans Telefon zu locken. Um dieses Ziel zu erreichen, hat er kürzlich aufgehört per Handy zu kommunizieren. Dafür wählte er nun ihre Festnetznummer von diversen Telefonzellen aus, in der Hoffnung, sie würde abheben, wenn sie die Nummer nicht kennt. Aber falsch gedacht. Sie war nur einmal auf diesen Trick reingefallen. Seitdem ignoriert sie ihr unbekannte Rufnummern systematisch und hat sich vorgenommen in naher Zukunft ihren Festnetzanschluss zu künden.

„Wer braucht heutzutage schon noch einen Festnetzanschluss?“, nuschelt sie vor sich hin und bemerkt sofort, wie der ältere Herr neben ihr sie erstaunt anblickt.

„Haben Sie mit mir gesprochen?“, fragt er direkt und ein leichtes Lächeln überzieht sein Gesicht.

Sie muss unglücklicherweise bei ihrem gedankenverlorenen Selbstgespräch auch noch in seine Richtung geblickt haben.

Entschuldigend lächelt sie zurück und sagt: „Nein, tut mir leid, ich habe nur etwas zu laut gedacht.“

„Das ist gut!“, antwortet ihr Gegenüber, „ich spreche auch gerne mit allen möglichen Dingen, wissen Sie. In meinem Alter hat man nicht mehr so viele Zuhörer, aber meine Bromelie zu Hause beispielsweise, die schätzt es sehr, wenn ich mit ihr spreche. Wenn ich mich nur einen Tag lang nicht mit ihr unterhalte, ich versichere Ihnen, dann lässt sie ihre Blätter fallen oder ihre Blüten verlieren an Glanz.“

Hanna lächelt weiterhin freundlich, wirft dann einen gespielt erschrockenen Blick auf die Uhr, entschuldigt sich und hastet davon.

An der gegenüberliegenden Seite der Halle lehnt sie sich an das Geländer bei den Rolltreppen, stellt einen Fuß lässig darauf, sodass ihr Knie aus dem breiten Riss in ihrer Jeans hervorlugt und ein leichtes Frösteln hervorruft.

Ganz schön frisch heute Abend, denkt sie und stellt ihr Bein zurück auf den Boden. Sie mag ihre Jeans zerlöchert. Je weniger Stoff, desto besser und dazu am liebsten eine abgetragene Lederjacke oder ausgefranste Jeansjacke.

Sie atmet tief ein und aus. Dabei behält sie den Kubus und die unter ihm wechselnde Menschenmenge stets im Blick.

Noch immer 20 Minuten, bis Manu kommt, denkt sie und achtet dabei darauf, dieses Mal ihre Gedanken für sich zu behalten.

Hanna ist mit ihren 20 Jahren rund fünf Jahre jünger als Manu und ein ganz anderer Typ. Sie hat kurze Haare und wechselt deren Farbe mindestens einmal im Monat, je nach Lust und Laune. Wenn man Hanna eine Zeitlang nicht gesehen hat, kann man sich kaum darauf verlassen, sie an ihrer Haarfarbe wiederzuerkennen.

Als Kind musste sie auf Wunsch ihrer Eltern stets Zöpfe tragen, was ihr zutiefst widerstrebte. Ihre Mutter kämmte ihr Haar jeden Morgen kräftig durch und flocht es nach altmodischer Tradition.

Jedes Haar saß an genau derselben Stelle wie am Tag zuvor, so kam es Hanna zumindest vor, denn wenn sie an ihre Kindheit zurückdachte, konnte sie sich nicht erinnern, jemals an einem Tag eine abweichende Frisur getragen zu haben.

Sie hat ihr Elternhaus im Streit verlassen, da sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten, nachdem sie ungewollt schwanger wurde und sich dazu durchgerungen hatte, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Nach etlichen Diskussionen und Streitgesprächen, die zu nichts führten, hatte sie sich dazu entschlossen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie zog unter Androhungen ihrer Eltern fort, sie brauche nie wiederzukommen, und ihre Eltern hielten Wort. Seit dem Zeitpunkt des Wegzuges hatten sie sich nicht mehr gemeldet und auch keinen Anruf seitens Hanna entgegengenommen.

Felsberg mit seinen rund 2500 Einwohnern bot Hanna die Möglichkeit, eine kleine, aber bezahlbare Wohnung zu mieten und als Postbotin zu arbeiten. Seit sie diese Stelle angetreten hat, wird sie von allen im Dorf nur mit dem Vornamen angesprochen.

Eine Tradition, vermutet sie.

Ihr neues Zuhause ist im Grunde in Ordnung, aber sie würde viel lieber in Zürich oder der städtischen Umgebung leben. Zum jetzigen Zeitpunkt bleibt dies allerdings ein Wunschgedanke. Eine Wohnung in Stadtnähe liegt weit außerhalb ihrer finanziellen Möglichkeiten. Umso mehr freut sie sich zweimal im Monat darauf, aus dem Dorf rauszukommen, und sei es nur, um an diesem Kurs teilzunehmen und Manu zu treffen.

Größtenteils gefällt ihr die Arbeit als Postbotin. Am liebsten macht sie sich an Regentagen oder bei Schneegestöber auf den morgendlichen Weg, weil sie sich dann sicher sein kann, kaum einer Menschenseele zu begegnen. Wer will schon draußen rumstehen und mit jemandem plaudern, wenn es drinnen doch viel gemütlicher ist.

An schönen Tagen kommt es ihr hingegen so vor, als lungern an jeder Ecke die Bewohner herum und warten nur darauf ein Opfer zu finden, mit dem sie den neusten Tratsch austauschen können. Früher hat sie das auch gemocht. Doch seit dem einschneidenden Ereignis vor einem Jahr, als sie ihr Kind weggegeben hat, zieht sie sich lieber zurück. Sie weiß, wie schnell die Gerüchteküche in Gang kommt. Sie kann die Leute schon förmlich hören, wie sie sich hinter vorgehaltener Hand gegenseitig ins Ohr tuscheln: „Hast du bereits gehört von der Hanna? Sie hat im letzten Frühjahr …“, „Ist nicht wahr! Das ist eine Schande! Bist du dir sicher?“ „Aber klar doch, die Greta von der Metzgerei hat’s mir soeben verraten und die weiß bekanntlich Bescheid.“ „Und sie hat es tatsächlich …“

Weiter will Hanna ihre Gedanken nicht zulassen. Schlimm genug, wenn die Wahrheit ans Licht käme.

Eine Schande Gottes, so haben es ihre Eltern formuliert und damit ihr einziges Kind aus der Familie ausgestoßen. Und auch in diesem Dorf würde wohl niemand ihre Entscheidung gutheißen, auch wenn niemand die wahren Beweggründe kennt oder in der Lage ist, sich in sie hineinzuversetzen.

Aus diesem Grund will Hanna unbedingt vermeiden, dass ihre Vergangenheit sie einholt und im Dorf kursiert.

Durch die Wintertage hindurch besteht in kleinen Dörfern stets die Hoffnung, dass sich ein Geheimnis bewahren lässt. Denn sollte sich trotz größter Vorsicht ein Gerüchtekorn in den eisigen Temperaturen verirren, so kann man darauf hoffen, dass es den langen Weg bis zum nächsten Tauwetter nicht überleben und bereits im Keim erstickt wird.

Aber im Frühsommer, da sprießen nicht nur die Knospen an den Bäumen, nein, da strömen auch die Bewohner wie die Bienen aus ihren Nestern und schwirren durch die Gärten und Straßen des Dorfes. Sie verbreiten Gerüchte und falls diese fehlen, klammern sie sich wie Ertrinkende an alten Geschichten fest, die noch nicht zu Ende erzählt wurden und somit einen fruchtbaren Boden bilden, um sich das Maul zu zerreden und sich etwas zurechtzufabulieren.

Genauso geschah dies vor wenigen Tagen. Anscheinend fehlt es dem Dorf zurzeit an aktuellen Geschehnissen und somit auch an Gesprächsstoff. Das änderte sich aber rasant, als Frau Schneider, auch als eine der dorfeigenen Tratschtanten bekannt, genau zu dem Zeitpunkt aus dem Dorfcafé trat, zu dem Hanna ihre Post zustellen wollte. Sie sah Frau Schneider sofort an, dass sie wohl nicht umhinkam, in ein Gespräch verwickelt zu werden. Die Aufregung stand der guten Frau ins Gesicht geschrieben.

Und genauso war es auch. Ohne Hanna erstmals zu grüßen, wie es eigentlich im Dorf Sitte ist, öffneten sich schon ihre Lippen und ein Schwall von in Aufregung angestauter Wörter ergoss sich aus ihrem Mund. Hanna musste zuerst kurz nach Luft schnappen und Frau Schneider bitten, nochmals von vorne zu beginnen, diesmal aber langsamer.

„Entschuldige, Hanna, aber es ist zu furchtbar, als dass ich langsam sprechen könnte. Ich habe soeben von der Martha erfahren, dass sich wahrscheinlich ein Serienmörder im Dorf rumtreibt. Ach du meine Güte, Allmächtiger! Weshalb unternimmt denn die Polizei nichts dagegen?“

Hanna setzte einen erstaunten Blick auf. Sie kannte Frau Schneider mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass diese alle Geschehnisse aufbauschte, so dass man nicht mal einem Zehntel davon Glauben schenken durfte.

Dennoch musste sie wohl darauf eingehen, denn im Grunde war es für sie selbst von Vorteil, wenn diese Geschichte Hauptthema blieb und nicht plötzlich ein Detail aus ihrer Vergangenheit ans Licht kam und Nährstoff für Spekulationen und Lügen bot.

„Das ist ja ein Ding“, sagte Hanna und wollte noch etwas hinzufügen. Doch Frau Schneider war noch so in ihrem Element vertieft, dass sie unaufgefordert weiterfuhr: „Du weißt doch noch, was letzten Spätsommer oben beim Stazersee geschehen ist, oder?“

Na ja, wer wusste das nicht.

Man hatte im September letzten Jahres die Leiche einer jungen Frau auf dem Grund des Stazersees gefunden. Nachdem ein Wanderer ein herrenloses Boot auf dem See entdeckt hatte, das mit der Unterseite nach oben auf dem Wasser trieb, informierte er die Polizei. Diese hatte daraufhin Taucher angefordert, die den gesamten See absuchten. Und tatsächlich hatte man eine Frau gefunden, die leblos auf dem Grund lag. Ein Unfall konnte schnell ausgeschlossen werden, da die Frau an Händen und Füßen gefesselt war. Viele Einzelheiten sind bis heute nicht an die Öffentlichkeit durchgedrungen, außer dass es sich bei dem Opfer um eine junge Frau handelte, die aus Landquart stammte. Ein Ort im Kanton Graubünden, rund 100 Kilometer vom Tatort entfernt.

Die Tatsache, dass an einem idyllischen Ort wie dem Stazersee ein Mord stattgefunden hatte, bot allerdings den Hauptgrund, um daraus eine Riesenstory zu machen.

Aber wie um alles in der Welt kam jetzt Frau Schneider darauf, es könnte ein Serienmörder sein Unwesen treiben?

Auf die vorsichtige Frage hin holte Frau Schneider Luft und ratterte los: „Also die Martha aus dem Café hat vor Kurzem nachts ein Geräusch gehört. Genauso als würde sich jemand vor ihrem Haus herumtreiben. Als sie dann aufgestanden ist, um nachzusehen, da hat sie nur noch einen Schatten hinter den Büschen verschwinden sehen. Und da der Mörder vom Stazersee noch immer nicht gefasst wurde, kann es doch gut sein, dass er sein nächstes Opfer nun bei uns in Felsberg sucht. Ich sage dir, Hanna, sei vorsichtig. Ich habe kein gutes Gefühl und auch die Rosie hat gesagt, es stünden schwierige Zeiten bevor.“

Die Rosie. War ja klar, dass die alte Kräuterhexe auch noch mitmischen musste. Hanna hatte genug gehört von dem Unsinn und wollte mit ihrer Arbeit fortfahren. Also versprach sie Frau Schneider, vorsichtig zu sein, die Wohnungstür sicher zu schließen und in den Nächten die Fenster geschlossen zu halten.

Noch fünf Minuten.

Ungeduldig zählt Hanna die Minuten und achtet schon jetzt aufmerksam auf alle Personen, die neu zum Treffpunkt dazustoßen.

Die Uhr muss defekt sein, denkt sie sich, nachdem der Minutenzeiger seit gefühlten Stunden an derselben Stelle verharrt. Immer wieder liegen sich Menschen in den Armen, die sich unter dem Würfel trotz der Masse an Menschen gefunden haben. Und statt dann den Treffpunkt möglichst schnell zu verlassen, um Platz für diejenigen zu machen, die noch warten, stehen sie beisammen und scheinen sich die halbe Lebensgeschichte noch vor Ort erzählen zu wollen.

Aufgeregt beißt Hanna auf ihrem Kaugummi herum, der kaum noch Geschmack hervorbringt.

„Komm schon“, raunt sie der Uhr zu, die sich erweichen lässt und um eine Minute vorrückt.

„Na geht doch“, lacht Hanna und streicht sich mit den Fingern durch ihr wirr abstehendes Haar, das sie vor zwei Tagen mit einer violetten Tönung versehen hat. Ärgerlicherweise war die Tönung etwas zu schwach, denn ein hässlicher Grünstich zeugt davon, dass sie die Farbe nicht professionell auftragen ließ.

„Was soll’s?“, sagte sie sich, als sie das Ergebnis im Spiegel unter die Lupe nahm. „In wenigen Tagen kommt schwarz darüber, dann verschwindet auch das Grün von selbst.“

Als sie zum wiederholten Mal ihren Blick über die Menschenmenge unter dem Kubus schweifen lässt, stockt ihr für einen Augenblick der Atem.

Das darf jetzt nicht wahr sein.

Angespannt fokussiert sie den jungen Mann, der inmitten der Menge steht. Er hat ihr den Rücken zugedreht, aber die Größe, die Haltung, der Haarschnitt. Alles passt.

„Bitte nicht“, flüstert sie und umklammert das Geländer, an das sie sich soeben noch lässig gelehnt hat, mit aller Kraft.

Erst als sich der Mann langsam umdreht, fällt ihr ein Stein vom Herzen.

Er ist es nicht.

Verärgert darüber, dass ihr Ex sie immer und überall zu verfolgen scheint, spuckt sie ihren Kaugummi energiegeladen in den nächstgelegenen Mülleimer und überprüft noch einmal, ob ihr Tattoo abgedeckt ist.

Sobald ich genug Geld gespart habe, lasse ich das weglasern, sagt sie sich und versucht die trüben Gedanken, die jedes Mal im Zusammenhang mit Gian in ihr aufsteigen, abzuschütteln.

Just in dem Moment erfassen ihre Augen die Gestalt von Manu, die unsicher in der Menge um sich blickt und trotz ihrer eleganten und selbstbewussten Erscheinung verloren wirkt.

Sie sieht noch genauso aus wie vor einem Jahr, als ich sie zum ersten Mal getroffen habe, denkt Hanna und beginnt aufgeregt mit den Händen in der Luft herumzuwedeln, um auf sich aufmerksam zu machen. Für einen kurzen Moment treffen sich ihre Blicke, doch Manu scheint sie nicht zu erkennen.

Oh Mist, meine Haarfarbe!

Erneut fuchtelt Hanna mit ihren Armen und springt auf und ab. Beim zweiten Augenkontakt hellt sich Manus Miene auf, und schnell bewegt sie sich aus der Masse heraus in Hannas Richtung.

Wenige Sekunden später liegen sich die beiden in den Armen, als hätten sie sich seit Ewigkeiten nicht gesehen.

„Aha, violett mit einem Hauch von frischem Grün“, witzelt Manu und betrachtet Hannas Haare aufmerksam.

„War etwas anders vorgesehen, aber ich kann damit leben. Hey, wie geht es dir? Schön, dass es geklappt hat. Und erzähl mir von Tommy!“

Ohne ihre Freundin zu Wort kommen zu lassen, hakt sie sich bei Manu unter und zerrt sie mit sich fort.

„Wir haben noch zwanzig Minuten Zeit bis zum Kursbeginn. Was meinst du, reicht es noch für einen Burger drüben bei McDonald’s?“

Manu lächelt erneut. „Na klar, ich kenn dich doch. Du gibst ja eh keine Ruhe und einen kleinen Happen kann auch mir nicht schaden.“

„Also los“, drängt Hanna und hetzt noch bei Tieforange über die Straße.

Als die beiden Frauen in ihren Burger vertieft in der Straßenbahn die Bahnhofstraße entlangfahren, scheint der eigentliche Grund ihres Treffens noch weit entfernt. Sie tauschen sich über Belanglosigkeiten aus und kichern wie junge Mädchen.

Erst als sie den Seminarraum mit der Überschrift „L. I. F.“ in der Nähe des Bahnhofs Enge betreten, werden sie mit einem Male still.

„Jedes Mal dasselbe“, murmelt Hanna und blickt ihre Freundin von der Seite her an. „Du machst das nun schon seit drei Jahren. Für mich ist es nach einem halben Jahr noch immer irgendwie ungewohnt und neu. Wird es irgendwann besser?“

Manu scheint ihre Worte mit Bedacht zu wählen, denn es dauert eine Weile, bis sie antwortet: „Der Schmerz wird weniger, ja. Aber die Schuldgefühle bleiben.“

Als die Türe hinter ihnen ins Schloss fällt und Hanna sich auf einen der letzten freien Plätze im Kreis setzt, fühlt es sich an, als ob eine eiserne Hand nach ihrem Herzen greift. Die Luft scheint nur noch spärlich ihre Lungen füllen zu wollen und der kürzlich noch unglaublich gut schmeckende Burger liegt jetzt wie Blei in ihrem Magen.

Verzweifelt hält sie sich an Manus Worten fest.

„Der Schmerz wird weniger.“

Hoffentlich schon bald.

„Die Schuldgefühle bleiben.“

Um die kümmere ich mich später.

KAPITEL 5

Frühling 1998

Nik liegt in sein Buch versunken auf dem Bett. Herr Kobel hat ihm dieses aktuelle Exemplar über Südamerika heute aus der Bücherei mitgebracht und ihm erlaubt, es über Nacht nach Hause zu nehmen.

„Aber zuerst die Hausaufgaben“, hat er schmunzelnd und gleichzeitig mit erhobenem Zeigefinger hinzugefügt, „nicht wie letztes Mal. Abgemacht, Nik?“

Selbstverständlich hat Nik überglücklich genickt und das Buch behutsam an sich genommen. Er hat es geöffnet und an den Seiten gerochen.

„Es riecht so gut“, hat er gesagt und das Buch bewundernd an sich gedrückt.

Herr Kobel hat sich lächelnd abgewandt und zurück an sein Lehrerpult gesetzt, um die Tests zu korrigieren, die die Schüler in der letzten Stunde geschrieben haben.

Nik hat sich zu einem guten Schüler entwickelt. Er schreibt durchwegs gute Noten, und das Lesen gelingt ihm bereits besser als so manchem Erwachsenen.

Zu Hause angelangt hat er sich wie versprochen zuerst den Hausaufgaben gewidmet, die er allerdings in kürzester Zeit erledigen konnte. Und nun liest er seit weit über einer Stunde über die Anden Südamerikas und deren Geschichte, bis er jäh durch einen Knall aufgeschreckt hochfährt.

Oh nein, Alarmstufe rot!

Nik beurteilt die Art und Weise, wie sein Vater nach getaner Arbeit die Wohnung betritt, stets nach einem von ihm ausgedachten Ampelsystem.

Grün bedeutet: Mit gut Glück und gebotener Vorsicht kann der Abend ohne Streit über die Bühne gehen.

Orange heißt: Achtung! Ein jedes falsche Wort kann den Vulkan zum Ausbruch bringen. Es ist eine Lotterie und die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig, dass der Abend angespannt, aber dennoch verhältnismäßig friedlich verläuft oder in Wutausbrüchen endet.

Rot hingegen bedeutet höchste Alarmstufe. Streit ist unvermeidbar. Es geht nur noch darum, die Intensität zu beeinflussen und den Schaden zu begrenzen. Und wenn sein Vater in einer Lautstärke wie eben die Türe zuknallt, sodass die ganze Wohnung erzittert und selbst Frau Rossi vom oberen Stock ohne Hörgerät den Knall gehört haben muss, dann ist höchste Alarmbereitschaft gefordert.

Nik setzt sich kerzengerade hin und schon poltert sein Vater ins Zimmer.

„Was machste?“, schreit er unnötig laut und sein gerötetes Gesicht deutet darauf hin, dass er bereits einige Gläser Bier intus hat.

„Ich lese“, gibt Nik zur Antwort. Er verwendet bewusst wenige Wörter, da jedes einzelne Wort falsch oder provozierend aufgefasst werden kann. Allerdings war das heute der falsche Ansatz.

„Geht’s ein bisschen genauer? Oder ist es dein Vater nicht wert, dass du mit ihm in ganzen Sätzen sprichst?“

„Entschuldige, Vater.“ Nik senkt den Blick. „Ich lese über Südamerika. Über den Ort, wo Smokie herkommt.“

Sein Vater schnaubt missbilligend und verdreht die Augen. „Die Maus kommt aus der Zoohandlung und weiter nichts.“

Nik hat sich mittlerweile daran gewöhnt, dass sein Vater Smokie als Maus betitelt, und sieht darüber hinweg, aber dennoch will er sein Wissen kundtun und seinem Vater beweisen, dass er recht hat und die Chinchillas ursprünglich aus der Andenregion stammen.

„Weißt du Vater“, wagt er daher einen Versuch, um mit seinem Vater ins Gespräch zu kommen, „eigentlich leben die Chinch…“

„Schweig, du elender Besserwisser“, schreit sein Vater außer sich und ein Speichelfaden hängt ihm am Kinn. Nik beobachtet gespannt, wie sich der Faden hin und her bewegt, langsam in die Länge zieht und dann kurz unter dem Kinn abreißt und auf seine Bettdecke fällt, wo er als schmieriger Schleim liegenbleibt. Angewidert schließt Nik die Augen. Was sein Vater noch vor sich hin brüllt, hört er nicht. Er hat seine Ohren schon nach den ersten Wörtern innerlich verschlossen. Eine Strategie, die er sich im Laufe der Jahre als Selbstschutz angeeignet hat.

Als sein Vater das Zimmer nach einer gefühlten Ewigkeit wieder verlässt, wirft Nik einen kurzen Blick in die selbst gebastelte Höhle, wohin sich Smokie normalerweise bei Lärm zurückzieht. Auch jetzt sitzt er dort und seine Schnurrhaare zittern leicht, als Nik seinen Finger in die Nähe des wuscheligen Köpfchens streckt. Ohne zu zögern, tapst Smokie aus der Dunkelheit heraus, schnuppert an Niks Finger und wartet offensichtlich auf ein Leckerli.

„Klar doch, Smokie“, flüstert Nik, froh über die liebreizende Ablenkung. Er greift zu einer getrockneten Rosine und hält sie Smokie vor die Nase. Sofort greift das Fellbündel zu und beißt herzhaft hinein.

„Das war die letzte“, sagt Nik nachdenklich. „Hoffentlich nimmt Max bald wieder ein Rosinenbrötchen mit.“

Max ist ein Klassenkamerad von Nik, der hin und wieder von seiner Mutter ein frisches Rosinenbrötchen als Pausenverpflegung mit in die Schule nimmt. Allerdings scheint Max Rosinen nicht zu mögen. Denn Nik hatte ihn eines Tages beobachtet, wie er jede einzelne Rosine aus dem Brot herausgeklaubt und in die Büsche oder direkt auf den Pausenplatz geworfen hat.

Die folgende Stunde konnte Nik sich kaum konzentrieren. Er dachte nur an die weggeworfenen Rosinen. Er hatte gelesen, dass Chinchillas getrocknete Früchte lieben. Und in der Zoohandlung, in der er so gerne herumstöbert, hat er auch schon etliche Tüten mit Trockenfrüchten als Leckerli gekennzeichnet in Regalen stehen sehen, die Futter für Chinchillas anbieten. Allerdings hat Nik kein Geld, um Futter zu kaufen, und stehlen würde er niemals. Aber diese Rosinen! Das wäre ein Festmahl für Smokie. Wehmütig schaute er aus dem Fenster und wartete darauf, die Schulglocke möge doch heute ausnahmsweise etwas früher klingeln.

„… Nik?“ Erschrocken wandte Nik seinen Blick vom Fenster ab und bemerkte, wie ihn alle aus der Klasse anstarrten.

Erwartungsvoll stand Herr Kobel vor ihm und forderte eine Antwort ein.

„Entschuldigung“, stammelte Nik, „ich habe die Frage nicht gehört.“

Einige aus der Klasse kicherten, andere schüttelten den Kopf. So als wären sie alle Musterschüler und würden immer konzentriert zuhören und niemals in eine solch unangenehme Lage geraten.

Diese Schulstunde wurde zu einer der schlimmsten seines bisherigen Lebens. Nik gilt als sehr guter Schüler und dass ihn Herr Kobel nun so öffentlich bloßstellte, war bis zu jenem Zeitpunkt noch nie vorgekommen. Nach der Stunde, als die Glocke dann endlich zum Schulschluss läutete und Nik voller Angst, die Vögel könnten mittlerweile die Rosinen aufgepickt haben, seine Sachen zusammenkramte und losstürmen wollte, hielt ihn Herr Kobel zurück.

„Nik, ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte er mit sanfter Stimme. Gerne hätte ihm Nik gesagt, er müsse die Rosinen suchen gehen, die Max aus seinem Pausenbrot herausgesucht und achtlos weggeworfen hatte, aber er traute sich nicht. Es war ihm peinlich zuzugeben, dass er die Nahrung für sein Haustier auf diese Weise beschaffen musste und kein Geld besaß, um wie alle anderen Menschen die Leckerlis im Zoogeschäft einzukaufen.

„Es tut mir leid, dass ich unaufmerksam war“, sagte Nik mit leiser Stimme.

„Es geht mir nicht um diesen einen Moment, Nik“, erwiderte Herr Kobel. „Es geht mir darum, dass ich wissen möchte, wie es dir geht.“

„Mir geht es gut, danke, Herr Kobel.“

„Du weißt, du kannst jederzeit mit mir sprechen, wenn dir etwas auf dem Herzen liegt, ja?“

„Danke Herr Kobel, aber es ist nichts.“

Als Nik nach diesem kurzen Gespräch nach draußen eilte, plagte ihn ein schlechtes Gewissen.

Er meint es gut mit mir.

Aber wie könnte ich ihm sagen, was mich bedrückt?

Was würde er von mir denken, wenn er wüsste, wie es bei uns zu Hause zugeht?

Ich werde niemals etwas sagen. Ich müsste mich für immer schämen.

Als Nik anschließend unauffällig über den Pausenhof schlenderte, tief gebückt, um jede einzelne Rosine ausfindig zu machen, bemerkte er nicht, wie Herr Kobel ihn vom oberen Stockwerk nachdenklich und stirnrunzelnd beobachtete.

Nach seinem Rundgang zählte er glücklich seine Rosinen. Es waren neun ganze Rosinen und eine halbe Zerquetschte. Er würde sie zu Hause an die Sonne legen und trocknen lassen.

Smokie wird sich freuen, dachte er und schloss seine Faust fest um den kostbaren Schatz.



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