Poesie des Pazifiks - Ricarda Wilhelm - E-Book

Poesie des Pazifiks E-Book

Ricarda Wilhelm

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Beschreibung

Wild und wunderschön: Eine Segelreise durch den Pazifik Der Pazifik, oft als friedlicher Ozean bekannt, präsentiert sich von einer faszinierenden und herausfordernden Seite. Ricarda Wilhelm, die zunächst wenig für die Weiten des Ozeans übrig hat, wird dennoch von der Aussicht auf das Segelabenteuer in der Südsee gelockt. Zusammen mit ihrem Mann und Kapitän begibt sie sich auf eine Reise durch die beeindruckende Welt der polynesischen Inseln, von den Las Perlas bis zu den Marquesas und Atollen der Tuamotus. Eine Reise voller Farben und Eindrücke Ricarda Wilhelms Erzählung bringt die farbenfrohe und bildgewaltige Landschaft der Südsee zu Ihnen nach Hause. Ihre Schilderungen lassen den Leser förmlich neben ihr im Bugkorb durch das glitzernde Blau gleiten, begleitet von Meerestieren wie Delfinen und Schildkröten. • Umfassende Hintergrundinformationen: Erfahren Sie mehr über die faszinierende Natur, Kultur und Tierwelt der Südseeinseln. • Praktische Segeltipps: Nutzen Sie wertvolle Ratschläge für lange Segelreisen, direkt aus der Erfahrung einer Abenteurerin. • Ehrliche und humorvolle Erzählungen: Genießen Sie eine authentische Darstellung, die sowohl die Schönheit als auch die Herausforderungen des Segelns offenbart. Die duale Natur des Segelns: Romantik und Herausforderungen Neben den idyllischen Momenten der Reise beschreibt Ricarda auch die Härten der Segelwelt. Sie teilt die Höhen und Tiefen ihrer großen Fahrt, spricht über Gefahren, Risiken und die Notwendigkeit von Ausdauer, um den Traum zu verwirklichen. Diese Reisebeschreibung ist eine Einladung zum Träumen und Mitsegeln, angereichert durch die vielen besonderen Erlebnisse und Begegnungen auf dem weiten Meer und den nahezu unberührten Inseln. Erleben Sie den Zauber der Südsee durch die Augen einer Seglerin, die sich auf ein unvergleichliches Abenteuer eingelassen hat.

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Seitenzahl: 312

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für das polynesische Volk.

Diese naturbewussten Menschen wurden ihrer Kultur beraubt, finden sie heute wieder und leben sie mit Stolz und Leidenschaft.

Ricarda Wilhelm

POESIEDES PAZIFIKS

VON PANAMA BIS POLYNESIENeine Reise voller Natur und unbekannter Kultur

Inhalt

Prolog

Erster Teil: Panamakanal – Technik trifft Natur

Kapitel 1: Abkürzung oder Umweg?

Kapitel 2: Hoffentlich klappt alles!

Kapitel 3: Ab durch die Mitte – ein Meisterwerk der Technik

Kapitel 4: Ahoi, Pazifik!

Zweiter Teil: Las Perlas – ein Paradies wie im Avatar-Film

Kapitel 5: Maritime Inselwelt und Rehe in der Südsee

Kapitel 6: Delfine, Wale und Seevögel im Vorgarten

Kapitel 7: Erste Lücken im Kühlschrank

Dritter Teil: Pazifik – unendliche Weiten

Kapitel 8: Start ins Ungewisse – 4.000 Seemeilen vor dem Bug

Kapitel 9: Traumstart – und dann kommt wieder alles anders

Kapitel 10: 1.000 Seemeilen Flaute – Dümpeln im Nirgendwo

Kapitel 11: Zweisamkeit, Routine und weiße Überraschung

Kapitel 12: Besuch vom Galapagosarchipel

Kapitel 13: Weit, weit weg – Heimweh und traurige Gedanken

Kapitel 14: Leichtwindprofis

Kapitel 15: Halbzeit – endlich segeln!

Kapitel 16: Sternenstunde – Wunderwelt auf See

Kapitel 17: Landfall

Vierter Teil: Marquesas – natürlich, wild, polynesisch

Kapitel 18: Erste Schritte auf Neuland

Kapitel 19: Eintauchen in die Inselwelt

Kapitel 20: Hiva Oa – Früchte im Überfluss

Kapitel 21: Fatu Hiva – versteinerte Wächter

Kapitel 22: Einführung in die Tattoo-Kunst

Kapitel 23: Intuitive Rettungsaktion

Kapitel 24: Tahuata – Wellen nagen am Felsen

Kapitel 25: Die schwarze Blume der Azteken

Kapitel 26: Morgentee mit Delfinen und Mantas

Kapitel 27: Ua Huka – rote Insel und fauchende Felsen

Kapitel 28: Nuku Hiva – Kleinstadtflair und Wildpferde

Kapitel 29: Heilige Steine und Bäume

Kapitel 30: Traurige Geschichte im Paradies

Kapitel 31: Ua Pou – Schokolade und indigene Tänze

Fünfter Teil: Tuamotus – Seenlandschaft im Ozean

Kapitel 32: Erneut 58 Stunden auf See

Kapitel 33: Raroia – türkisblaues Minenfeld

Kapitel 34: Wie die Wirbelsäule eines riesigen Wals

Kapitel 35: Südseeperlen

Kapitel 36: Makemo – Kannibalin mit magischen Händen

Kapitel 37: Tahanea – unbewohntes Schnorchelparadies

Kapitel 38: Fakarava – gefährlich schön

Kapitel 39: Alles hat zwei Seiten

Kapitel 40: Tahiti – französisch-polynesisch

Epilog

Danksagung

Quellen

Prolog

Die endlose gerade Linie zeichnet einen vollständigen Kreis am Horizont und engt das weite Meer auf einen Durchmesser von etwa sieben Seemeilen ein. Dieses Stück Erde haben wir manchmal tagelang für uns allein. Die Welt scheint riesig und klein zugleich. Der Moment, indem nach wochenlangem Nichts eine schwache Silhouette zwischen Himmel und Meer auftaucht, ist emotional kaum zu beschreiben. Der immer schärfer werdende Scherenschnitt lässt so viele Gefühle gleichzeitig in mir brodeln. Neben einer tiefen Zufriedenheit spüre ich Dankbarkeit, Erleichterung, Neugier und Ungeduld. Diese Annäherung erlebe ich zumeist im Bugkorb unserer ladyund genieße den Film, in dem die unbekannte Insel Stück für Stück immer mehr Details preisgibt. Sie öffnet sich ganz langsam dem ankommenden Segler, prahlt schüchtern mit ihren Formen und Farben, um ihn dann mit weit geöffneten Armen zu empfangen.

Es ist nicht unsere erste lange Überfahrt auf dem weiten blauen Meer. Wir sind durchaus erfahren. Wir, das sind Stefan, mein Mann und Capitaño, mein Fels in der Brandung, und ich, die mitsegelnde Frau, Smutje, Kommunikationsoffizierin, Krankenschwester und Autorin. Inzwischen haben wir zweimal den Atlantik Richtung Westen überquert, einmal nach Osten. Dazu kommen einige längere Passagen im Karibischen Meer.

Vor etwa sieben Jahren änderten wir unser Leben komplett. Nachdem wir rund um die Uhr Familie und Business gemeistert hatten, zogen die Kinder aus und das Haus wurde zu groß für uns zwei. Stefan spielte schon lange mit dem Gedanken einer Weltumseglung, schaute bereits etliche Videos, las einige Bücher und suchte im Internet nach einem geeigneten Boot. Das Leben und Reisen auf dem Wasser ist einer seiner großen Lebensträume.

Ich nehme das anfangs nicht ernst. Für mich ist das ein Zukunftstraum, der vielleicht irgendwann später realisiert wird. Doch dann konfrontiert mich mein lieber Mann plötzlich mit Tatsachen. In der Karibik findet er geeignete Katamarane, die er sich anschauen will.

Obwohl wir bereits ein Segeltraining im Mittelmeer absolviert und einige Vorträge auf Bootsmessen besucht haben, bin ich nun doch etwas überrascht. Wollen wir wirklich jetzt schon aufbrechen? Möchte ich so schnell aufhören, Kinder zu unterrichten? Das bereitet mir doch so viel Freude, und meinen Fünfzigsten feiere ich erst im nächsten Jahr. Bin ich nicht zu jung, um aus dem Berufsleben auszusteigen? Würde ich nach ein paar Jahren wieder hineinfinden oder mit etwas ganz anderem meine Brötchen verdienen müssen? Wie lange lebe ich noch? Wird das Geld vom Hausverkauf bis zu meiner Beerdigung reichen? So viele Fragen, auf die es keine verlässlichen Antworten gibt. Aber ich möchte meinem Mann nicht im Wege stehen. Wenn er seinen Lebenstraum jetzt verwirklichen will, bin ich dabei. Schließlich sind wir seit fast zwei Jahrzehnten beruflich und privat zusammen unterwegs. Außerdem will ich nicht zu Hause sitzen, während er die tollsten Abenteuer erlebt.

Also fliegt Stefan in die Karibik, schaut sich zwei gebrauchte Katamarane an und wird auf einen dritten aufmerksam. Die Outremer 42 soll es schließlich werden. Zwei Monate später segelt er sie allein von Martinique über die Bermudas und den Azorenarchipel, durch Biskaya, Ärmelkanal und Nordsee in die Ostsee bis nach Rostock, unsere Heimatstadt. In diesem Sommer testen wir meine Seetauglichkeit auf unserem kleinen Binnenmeer. Sechs Wochen erleben wir eine wunderbare Zeit zwischen den dänischen Inseln. Ein Leben auf dem Wasser wird nicht nur vorstellbar, sondern erstrebenswert. Haus und Auto werden verkauft, der Katamaran vorn und hinten verlängert und seine Ausstattung verbessert. Wir wollen einfach lossegeln. Erst einmal Richtung Portugal und dann entscheiden, wie es weitergeht. Es gibt eigentlich nur eine wichtige Abmachung: Wir segeln, solange es uns beiden Spaß macht und unsere Beziehung nicht darunter leidet. Vielleicht wird es nur ein Jahr. Vielleicht werden es zehn oder 20. Stefan fällt der Abschied leicht. Für mich ist er deutlich schwieriger. Ich trenne mich von all meinen geliebten Gewohnheiten, den spontanen Treffen mit meiner Schwester, vom Bäcker um die Ecke und dem wöchentlichen Yogakurs. Meine antiken Möbel und viele andere persönliche Sachen erfreuen nun neue Besitzer. Bald bin ich weit, weit weg von unseren Kindern und Eltern, von meinen Schülern, Kollegen und all den täglichen sozialen Kontakten. Wird mir dies alles fehlen? Werde ich einen neuen Sinn im Leben finden? Ich beginne, erst einmal Englisch und Spanisch zu lernen. Alles Weitere wird sich ergeben, und zur Not kommen wir einfach zurück und fangen neu an.

Anfangs reisen abwechselnd unsere Kinder mit. Dann sind wir zu zweit unterwegs. Hinter Norderney werde ich zum ersten Mal seekrank und in der Biskaya fürchte ich ernsthaft um unser Leben. Im Dunkeln knallen die Wellen dermaßen unter das Brückendeck, dass für mich nicht mehr infrage steht, ob das Boot bricht, sondern nur wann. Wird es bis zum Morgengrauen halten? In welchem Rumpf sollten wir uns aufhalten, um länger über der Wasseroberfläche zu bleiben? Wie lange braucht der Hubschrauber, um uns zu retten? Ich hatte noch nie solche Angst um mein Leben. Mit dem ersten Tageslicht ist wieder alles gut. Wir genießen die weitere Reise. Erst viel später werde ich begreifen, dass ich in dieser Nacht das Vertrauen in den Katamaran verlor. Bald melden sich Rückenschmerzen von der unbewussten Anspannung. In Portugal erreicht uns ein verirrter Hurrikan. Wir pausieren, reisen drei Wintermonate in Asien über Land und überlegen, wie es weitergehen kann. Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder auf andere Art über Land reisen oder ein Boot finden, auf dem wir uns beide sicher fühlen. Stefan stößt bei seiner Recherche auf Amel. Das ist eine Firma, die besonders sichere Langfahrtboote baut. Es gibt etliche gebrauchte auf dem Markt, und wir schauen uns einige an. Die Entscheidung fällt. Der Katamaran steht bald in Marseille zum Verkauf. ladycharlyette, eine zwölfjährige Amel 54, wird unser neues Zuhause. Mit ihr starten wir in La Rochelle noch einmal über die Biskaya, überqueren den Atlantik, erleben den Corona-Lockdown in der Karibik, drehen eine Extrarunde über die Azoren, Kanaren und die Kapverden und landen schließlich in Panama.

Der Pazifik ist völlig neu für uns. Immer wieder raten erfahrene Weltumsegler: »Bleibt nicht so lange in der Karibik. Sie ist nichts gegen die Südsee!« Sie schwärmen von wilden ursprünglichen Inseln und türkisfarbenen, stillen Lagunen. Manche nehmen die lange Fahrt nur auf sich, weil sie dieses »schönste Seglerparadies der Welt« sehen und es unbedingt im eigenen Boot erleben wollen. »Dort muss man hin und bleiben!«, hören wir immer wieder. Doch zwischen Panama und den Südseeinseln liegen die unendlichen Weiten des Pazifiks. Ich bin kein Fan von diesen oft langweiligen Wasserwüsten. Delfine bieten Abwechslung, aber viel zu selten. Wale sind wie ein Sechser im Lotto. Bleiben Seevögel und Fliegende Fische. Alles andere versteckt sich unter der wabernden oder schäumenden Oberfläche, je nach Wetter.

Nun hatten wir bisher das Pech, immer sehr schnell unterwegs zu sein. Echte Segler würden es Glück nennen. Hohe Bootsgeschwindigkeiten werden bekanntlich nur mit mehr Wind erreicht, und dieser verursacht in der Regel größere Wellen. Also befinde ich mich auf einem schwankenden, hüpfenden, stampfenden Boot und kann nichts weiter tun, als mich festzuhalten und rauszugucken, auf das Wasser und die Wellen bis zum Horizont, stundenlang, tagelang, manchmal wochenlang. Lesen oder schreiben sind nicht drin. Sobald ich meine Brille aufsetze, wird mir mulmig in der Magengegend. Also bleibt mir das Hören von Podcasts, Hörbüchern oder Sprachkursen. Das geht eine Weile gut, bis der Kopf dröhnt. Dann wünsche ich mir wieder Delfine oder Land in Sicht. Während wir Tag und Nacht auf dem Wasser herumschaukeln, bin ich oft außer Gefecht gesetzt. Es ist, als hätte mich die Grippe erwischt. Man liegt nur noch rum, wird depressiv, alles schmerzt. Der Pazifik soll nun ganz anders werden. Er heißt ja auch der Friedliche, der Stille. Wird er seinem Namen gerecht? Werden die Wellen wirklich weicher? Kann ich während der Überfahrt ein halbwegs normales Leben führen, mich an Bord bewegen, ohne mir überall blaue Flecken zu holen?

Mein Capitaño will die knapp 4.000 Seemeilen von den Las Perlas im Golf von Panama bis zu den Marquesas in etwa drei Wochen zurücklegen. Theoretisch ist das möglich. Unsere bisher längste Segeltour auf dem Atlantik führte uns von den Bahamas in der Karibik nach Santa Maria im Azoren-Archipel. Fast 17 Tage und Nächte waren wir unterwegs, um 2.789 Seemeilen auf dem Ozean zu überwinden. Normalerweise kann man eine Pause auf den Bermudas einlegen. Die Einreisebedingungen waren aufgrund der Covid-Krise jedoch so schwierig, dass wir darauf verzichteten. Nun kommen noch einmal 1.000 Seemeilen dazu. Wenn ich daran denke, wird mir mulmig zumute. Vorsichtig frage ich meinen Liebsten, ob er sich nicht jemanden suchen möchte, der ganz scharf auf so eine Überfahrt ist. »Nein, auf keinen Fall. Das mache ich nur mit dir«, kommt sofort und eindeutig seine Antwort. Nun gut. Wer A sagt, muss auch B sagen, rede ich mir zu. Wenn wir die Chance haben, gemeinsam um die Welt zu segeln, unglaublich schöne Orte zu besuchen und unvergessliche Erlebnisse zu teilen, dann sollte ich ihn wirklich nicht allein auf dieses Segelabenteuer gehen lassen. Auch wenn mir ein wenig wehmütig jene Seglerfrauen einfallen, die sich einen kleinen Koffer packen und ihren Partnern einfach hinterher- oder vorausfliegen. Unsere Reisegeschwindigkeit auf einem Segelboot ist zwar mit einem Fahrrad vergleichbar, dafür haben wir unser Bett und die Küche immer dabei, mehr Platz als in einem Wohnmobil und leben mobil am Wasser mit bunten Fischen, Schildkröten, Haien, Delfinen und Mantas im Vorgarten. Diese Vorstellung reizt und überzeugt mich. Also sage ich bewusst und mutig B.

Erster Teil: Panamakanal – Technik trifft Natur

Kapitel 1: Abkürzung oder Umweg?

Noch ahne ich nicht, wie interessant der Panamakanal für mich wird. Er entpuppt sich nicht nur als beeindruckendes technisches Bauwerk, welches in die ursprüngliche Natur eingreift und sogar eine Gebirgskette durchschneidet. Wir entdecken neben riesigen Schleusen mit wuchtigen Stahltoren eine zwar künstliche, aber doch wunderschöne Wasserwelt, die neuen Lebensraum schafft und sich harmonisch in die Berge fügt. Der Gatúnsee wirkt fast wie ein Naherholungsgebiet mit unzähligen Inseln und Buchten. Selbst jene vielfältige Tierwelt des Regenwaldes hat das neue Biotop für sich angenommen.

Um vom Atlantik in den Pazifik zu kommen, muss heute niemand mehr Südamerika umsegeln. Seit 1914 gibt es den Panamakanal, der beide Weltmeere verbindet. Den Umweg durch die Magellanstraße oder gar ums Kap Hoorn wagen eher nur ambitionierte Segler. Es gab Zeiten, in denen auch wir mit dieser Route liebäugelten. Die schwärmenden Berichte von der atemberaubenden Landschaft Patagoniens, von Pinguinen, Seelöwen oder gar Seeelefanten und großen Walen lockten. Nach einem Blick auf die Karte stellte sich jedoch großer Respekt ein. Auf dem Globus sieht immer alles so überschaubar aus, aber bis in die antarktischen Gewässer ist es in der Realität doch sehr sehr weit. Von Grenada in der Karibik durch die Magellanstraße bis zu den Galapagosinseln im Pazifik sind es etwa 10.000 Seemeilen, 18.520 Kilometer. Das ist fast die Hälfte der Länge des gesamten Äquators. Inzwischen wissen wir, dass diese Zahlen nur einen Teil der Wahrheit erzählen.

Wer mit einem Segelboot unterwegs ist und im Durchschnitt 5 bis 7 Knoten schafft, der merkt schnell, wie groß unsere Erde wirklich ist. Heute sind viele Menschen an Auto-, Zug-, und Flugzeuggeschwindigkeiten gewöhnt. Obwohl wir es als Segler besser wissen müssten, hängen diese Erfahrungen in unserer Großhirnrinde fest, was unweigerlich und wiederholt dazu führt, dass wir Entfernungen immer wieder unterschätzen. Auf dem Atlantik benötigten wir während unserer ersten Überquerung von den Kapverden bis nach Martinique in die Karibik für 2.239 Seemeilen 14 Tage und elf Stunden. Den Rückweg von den Bahamas zu den Azoren mit 2.789 Seemeilen bewältigten wir in 16 Tagen und 20 Stunden. Dann ging es ein zweites Mal über den Atlantik Richtung Osten. Für 2.111 Seemeilen benötigten wir zwölf Tage. Unsere Reisegeschwindigkeit entspricht auf dem Land also eher einer gemütlichen Fahrradtour, nur mit dem Unterschied, dass man beim Segeln Tag und Nacht unterwegs ist und nicht einfach so zwischendurch aussteigen oder umdrehen kann. Es gibt unterwegs keine Pausen, Raststätten oder Sehenswürdigkeiten, um sich die Füße zu vertreten. Und wir sind mit unserer lady noch verhältnismäßig schnell. Länge läuft, so sagt man. Die Amel 54 hat etwa 16 Meter. Zwei Masten können mit vier Standardsegeln, zwei Leichtwindsegeln und einem Parasail bestückt werden. Mit den unterschiedlichen Möglichkeiten kommen bis zu 190 Quadratmeter Tuch zusammen, die uns beständig voranbringen. Nur eben nicht so schnell, wie man es heutzutage gewohnt ist.

Die weite Strecke um den lateinamerikanischen Kontinent ist also grundsätzlich auf dem Segelboot eine große Herausforderung. Wären wir ein paar Millionen Jahre früher unterwegs, bräuchten wir den langen Weg um Südamerika nicht nehmen. Jene Landbrücke zwischen den beiden amerikanischen Kontinenten hebt sich erst vor etwa drei Millionen Jahren an und versperrt seitdem den Weg vom Atlantik in den Pazifik. Neben der Entfernung sind Wetter, Strömungen und Ankermöglichkeiten weitere wichtige Bedingungen, die das Vorankommen im Segelboot deutlich beeinflussen. Heutzutage kann man auf viele Erfahrungsberichte zurückgreifen. Die sind zwar oft sehr interessant, aber Stefan will es genauer wissen. Während des antarktischen Sommers, wir entdecken und genießen gerade die Bahamas in der Karibik, recherchiert er täglich vom 01. Dezember bis zum 28. Februar die Wetterbedingungen in drei Varianten: von Ost nach West, mit einem frühen Start kurz vor der Magellanstraße Ende November und einem späteren einen Monat danach sowie umgekehrt im Dezember vom Westeingang. Alle Daten zu Windstärke und -richtung, Temperaturen, Niederschlägen, Wellen, Strömungen sowie voraussichtlicher Reisegeschwindigkeit trägt mein gewissenhafter Mann penibel in eine komplexe Tabelle ein und generiert daraus Diagramme. Das verschafft uns im März einen sehr guten Überblick und erleichtert unerwartet deutlich die Entscheidung. Wollen wir uns dieser Herausforderung, einem Segeltörn durch die Magellanstraße, stellen?

Nach nur wenigen Minuten wird klar: Eine Umrundung des südamerikanischen Kontinents mit dem Segelboot ist durchaus möglich. Mit etwas Zeit können Segler theoretisch passende Wetterfenster finden, um durch Patagonien innerhalb einer Saison vom Atlantik in den Pazifik zu gelangen. Eines der Diagramme lässt uns jedoch zurückschrecken. Und so fällt es uns plötzlich nicht mehr schwer, auf diese wundervolle Landschaft und Tierwelt zu verzichten. Denn trotz des antarktischen Sommers hätten wir durchschnittlich 10 °C, und das drei bis vier Monate, 120 Tage lang. Auf dem Wasser und in einem Boot kann man gefühlt noch getrost 10 °C abziehen. Diese und kältere Temperaturen akzeptieren wir zwar für zwei Wochen beim Skifahren, aber nicht für ein Vierteljahr auf dem Boot. Das ist eindeutig zu kalt. Das kommt für uns selbst mit Heizung an Bord nicht infrage. Die Entscheidung fällt daher ohne Bedenkzeit. Wir werden den Pazifik über den Panamakanal erreichen.

Der Panamakanal bildet die schiffbare Verbindung zwischen Atlantik und Pazifik. Er wurde von den Vereinigten Staaten 1914 fertiggestellt. Am 03. August passierte der erste Frachter den Kanal. Da jedoch zeitgleich der Erste Weltkrieg ausbrach, wurde er offiziell erst am 12. Juli 1920 feierlich eröffnet. Seit 1999 gehört er dem panamaischen Volk, betrieben von der Autoridad del Canal de Panamá. Der Preis für eine Passage wird nach Art und Größe des Schiffes individuell berechnet. Das Abkommen zur Neutralität des Kanals verlangt seit 1977, dass auch Kriegsschiffe aller Nationen passieren dürfen. Der Panamakanal ist 82 Kilometer lang und führt zwischen Colòn auf der Atlantikseite und Panama City am Pazifik in Nord-Süd-Richtung 26 Meter über dem Meeresspiegel durch das Land. An beiden Seiten gleichen je drei Schleusenkammern den Höhenunterschied aus. Von 2007 bis 2016 wurden neben den bereits vorhandenen weitere größere Schleusen installiert. Seitdem können bis zu 367 Meter lange und 51 Meter breite Schiffe mit einem Tiefgang von 15,2 Metern und einer Höhe von 57,9 Metern den Kanal nutzen. Die durchschnittliche Durchfahrtszeit beträgt etwa 15 Stunden. Drei Brücken verbinden die gegenüberliegenden Ufer. Seit 1984 steht der Panamakanal auf der Liste historischer ziviler technischer Landmarken (List of Historic Civil Engineering Landmarks).

Kapitel 2: Hoffentlich klappt alles!

Wer glaubt, dass man mit einem Segelboot einfach in Panama ankommen und nach kurzer Wartezeit durch den Kanal fahren kann, irrt sich. Das Prozedere für eine Passage ist aufwendig, kostet einige Taler und erfordert einen genauen Termin. Wir suchen uns die entsprechenden Informationen im weltweiten Netz zusammen und sprechen mit anderen Seglern. Der eine weiß dies, andere das, und so fügt sich die ganze Planung Stück für Stück zu einem Bild. Bereits im November auf Aruba holen wir uns per E-Mail Angebote bei den lokalen Agenten ein und staunen, wie unterschiedlich ihre Marge ist. Jedes Boot benötigt extra lange Leinen, die in den Schleusen von sogenannten Leinenhaltern an Bord bedient werden. Weil wir nur zu zweit reisen und Stefan am Steuer steht, werden also auf der lady drei zusätzliche Helfer benötigt. Außerdem sind große Fender gefordert. Um keine Schwierigkeiten zu bekommen und möglichem Stress vorzubeugen, engagieren wir einen autorisierten lokalen Agenten. Er weist uns in das Prozedere ein und besorgt den Termin. Das Ein- und Ausklarieren in Panama sowie die Cruising-Erlaubnis sind im Service enthalten. Alles in allem zahlen wir für die Kanalpassage etwa 2.000 € plus 500 € für den Agenten. Nun sind wir gespannt, wie die Praxis wirklich aussieht. Werden uns weitere Kosten erwarten? Wie lange müssen wir auf einen Termin warten? Ist unser Agent zuverlässig, und hält er sich an die Abmachungen? Finden wir drei Helfer, die an Bord kommen und mit uns den Panamakanal durchqueren? Benötigen wir zusätzlich Zeit, um im Gegenzug anderen Seglern zu helfen? Es wird auf jeden Fall spannend.

Vor der Kanaldurchquerung steht noch der Guna-Yala-Archipel, besser bekannt als die San-Blas-Inseln, auf dem Programm. Da es von Indigenen bewohnt und inzwischen autark verwaltet wird, ist dieses Gebiet ein besonders interessantes Ziel auf einer Weltreise. Außerdem liegen die Inseln für Segler direkt auf der Barfußroute, jener bei allen beliebten gemütlichen Schönwetterstrecke mit Rückenwind und besten Segelbedingungen. Um in Panama ordnungsgemäß einzuklarieren, segeln wir von Aruba zunächst direkt in die Shelter Bay Marina. Sie liegt am Eingang des Kanals und gilt als Startpunkt. Hier treffen sich die Langfahrtsegler vor der Passage, tauschen sich aus, helfen einander und kaufen schon einmal ordentlich ein.

Unser Agent heißt Stanley und ist bereits zwei Stunden nach unserer Ankunft an Bord. Da der junge Mann bereits einige Jahre in den USA gearbeitet hat, spricht er fließend Englisch. So muss ich nicht mein Spanisch bemühen, und Stefan kann auch problemlos folgen. Wir werden fröhlich begrüßt, und der junge Mann hinterlässt einen kompetenten Eindruck. Er bespricht alles mit uns und nimmt sich die dafür nötige Zeit. Auch Helfer könnte unser Agent organisieren. Die hier stationierten Soldaten lassen sich regelmäßig engagieren und haben somit Erfahrung. Die Cruising-Erlaubnis für die panamaischen Gewässer hat Stanley noch nicht, wird sie uns jedoch alsbald per Mail zusenden. Nun kann der junge Mann alles in Ruhe arrangieren, während wir erst einmal den Guna-Yala-Archipel vor der Küste Panamas entdecken. Dort verbringen wir vier wundervolle Wochen und feiern Weihnachten sowie Neujahr. Außerdem lernen wir Flurina und Ramon kennen. Das Schweizer Pärchen dreht auf seiner pacific eine Runde durch das Karibische Meer, bevor es zurück nach Hause geht. Beide freuen sich, uns durch den Panamakanal begleiten zu können und diesen somit zwar nicht auf dem eigenen Boot, aber doch persönlich erleben zu dürfen. Sie bringen Jacqueline von einer befreundeten südafrikanischen Langfahrtensegelyacht mit. Bevor die intensive Suche nach Helfern beginnt, haben wir sie bereits gefunden. So einfach ist das manchmal.

Der Guna-Yala-Archipel besteht aus 365 Inseln vor der Nordküste Panamas im Karibischen Meer. Es wurde im 17. Jahrhundert von Kariben besiedelt, die vor den mordenden und besitzergreifenden Europäern flohen. Auch dort mussten sie weiter um ihre Unabhängigkeit kämpfen, erst gegen europäische Kolonialmächte, dann gegen Kolumbien und Panama. 1930 konnten die indigenen Bewohner ihr Gebiet offiziell als autonom erklären. Die San-Blas-Inseln und ein Stück des Festlandes wurden zum Kuna-Yala-Gebiet. Da es in der Stammessprache kein K gibt, wird es wie ein G gesprochen und üblicherweise geschrieben. Das umgedrehte Hakenkreuz auf der Flagge symbolisiert den Oktopus. Dieser hat in der Mythologie der Kuna die Welt erschaffen. Ursprünglich trug die indigene Bevölkerung keine Kleidung. Sie schmückte sich mit Körperbemalungen.Missionare änderten das. Die einstigen Muster finden sich heute auf Stoffen und handgearbeiteten Molas wieder, welche die Frauen gern an Touristen verkaufen. Außerdem tragen sie Bänder aus kleinen Plastikperlen, die Schienbeine und Unterarme fast vollständig bedecken.

Unsere Cruising-Erlaubnis lässt auf sich warten. Während andere Segler sie bereits am Tag der Einklarierung erhalten, braucht unser Agent schließlich zwei Wochen. Da wir das Papier beim Einklarieren im Guna-Yala-Archipel nicht vorlegen müssen, stellt das kein großes Problem dar. Bevor wir wieder in den Gewässern Panamas schippern, erreicht sie uns per E-Mail. Am 04. Januar 2023 sind wir zurück in der Shelter Bay Marina und treffen uns erneut mit Stanley. Er hat alles im Griff. Der Termin steht. Der 10. Januar ist unser großer Tag. Tatsächlich sind es jedoch zwei, denn es soll erst am späten Nachmittag losgehen. Im Gatúnsee ist eine Übernachtung geplant. Am 11. Januar sollen wir dann den Pazifik erreichen. Die genaue Startzeit weiß unser Agent noch nicht. Ein Vermessungstermin wird auf den 05. Januar festgelegt. Der Beamte kommt zwar mit ein paar Stunden Verspätung, aber immerhin am vereinbarten Tag. Mit der Hand füllt er ein mehrseitiges Formular aus. Jede Information fragt er mündlich ab, bevor er sie mühselig in sauberen Druckbuchstaben aufschreibt. Alle Angaben hatten wir bereits Wochen zuvor digital an das Datenbüro geschickt. Nach einer Stunde ist er zufrieden und holt Meterband und Zollstock heraus. Gründlich misst der Mann die Länge der lady samt Bugkorb und Solarpaneelen am Heck sowie die Breite an ihrer dicksten Stelle. Das Prozedere erscheint zwar aufwendig, aber so kann zumindest keiner schummeln. Er wird nun genau ausrechnen, welche Kosten für die Passage anfallen, und eine Rechnung schicken.

Die Preisgestaltung für die Durchquerung des Panamakanals ist sehr individuell. Nicht nur die Größe, sondern auch die Ladung wird in der Berechnung berücksichtigt. Ein Kreuzfahrschiff mit 2.000 Passagieren muss inklusive aller Nebenkosten mit 400.000 US-$ rechnen. Der Schwimmer Richard Halliburton hingegen zahlte 1928 nur 36 US-Cent (berechnet nach seinem Körpergewicht), obwohl man ihn zur Sicherheit allein schleuste. Er bewältigte die Passage in acht Tagesetappen und steht definitiv mit der geringsten Gebühr zu Buche. Täglich können 24 von insgesamt rund 40 möglichen Passagen im Voraus gebucht werden. Die jeweils 25. wird versteigert.

Wir fahren derweil mit dem Kleinbus der Marina zum Supermarkt in Colón, um unsere Bilgen und Kühlschränke zu füllen. Unter Seglern ist es kein Geheimnis, dass die Versorgungslage in Polynesien oft nicht den Maßstäben entspricht, die sie gewohnt sind. Man munkelt, dass sich die Angebote auf das Notwendigste beschränken und zudem sehr teuer sind. Wir glauben das aufs Wort. Schließlich muss ja fast alles über weite Strecken herangeschippert oder geflogen werden. Der Kunde bezahlt selbstverständlich auch die Transportkosten. Wir hamstern also Früchte- und Gemüsedosen, Reis, Nudeln, Haferflocken, Mehl, Kaffee, Zucker, Salz, Nüsse, Müsliriegel, Toilettenpapier und vieles mehr in größeren Mengen. Hinzu kommen frisches Obst und Gemüse, Orangensaft, Milchprodukte, etwas Fleisch, Schokolade und alles, was uns auf der Wanderung durch die gut gefüllten Regale sonst noch ins Auge sticht. Fisch wollen wir unterwegs fangen. Mal sehen, ob das klappt. Zehn große Einkaufstüten werden gefüllt. Auf dem Rückweg ist es ordentlich voll im Kleinbus, denn fast alle Passagiere kehren mit einem ebenso umfangreichen Einkauf zurück zu ihren Booten. Es duftet verführerisch nach gegrilltem Huhn. Wir sind bereit! Pazifik, wir kommen!

Flurina und Ramon kommen bereits einen Tag vor dem Start an Bord. Ihr Boot liegt in der Linton Bay und die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ist ein kleines Abenteuer. Um nicht zu spät zu kommen, haben sich die beiden lieber etwas früher auf den Weg gemacht. Ich genieße den Besuch der jungen Leute. Unsere Gästekabine wird endlich mal wieder genutzt und Erzählstoff gibt es unter Seglern immer genug. Jacqueline wird erst direkt vor dem Start kommen. Sie lebt mit ihrem Mann auf der avanti, die sich gerade an Land in der benachbarten Werft befindet. Beide werden in etwa vier Wochen durch den Kanal fahren. Die junge Blauwasserseglerin ist gern dabei, um einen ersten Eindruck zu bekommen und Erfahrungen zu sammeln. Der letzte Abend wird besonders gesellig. Wir sitzen bald nicht nur mit Flurina und Roman zusammen. Jacqueline und ihr Mann kommen dazu. Während ich den Wein öffne, klopft es noch einmal am Bootsrumpf. Die Crew der meerla will uns ebenfalls verabschieden. Wir kennen Nelly und Allan aus Aruba, haben sie im Guna-Yala-Archipel wiedergetroffen. Vor ein paar Stunden sind die beiden mit ihrem Boot hier in der Marina angekommen. Was für eine Überraschung! Die Passage durch den Panamakanal und der Pazifik sind die Themen des Abends. Und wieder wird uns versichert: »Für Polynesien müsst ihr euch Zeit nehmen. Die Atolle in der Südsee sind etwas ganz Besonderes.«

Kapitel 3: Ab durch die Mitte – ein Meisterwerk der Technik

Dann kommt unser großer Tag. Wir werden den Panamakanal durchqueren und morgen in den Pazifik fahren. Am Vormittag bringt Stanley riesige Fender und fünf 50 Meter lange Leinen. Die sind so schwer, dass er eine Schubkarre benötigt. Ramon und Flurina packen spontan mit an, sodass der ganze Kram schnell auf dem Deck liegt. Sie helfen uns ebenso beim Abpolstern unserer Solarflächen mit dicken Decken. In den Schleusen werden uns Hilfsleinen zugeworfen, an denen wir dann die langen Halteleinen befestigen. Damit die leichten Leinen bei uns ankommen, sind am Ende Gewichte befestigt. Diese nennt man seemännisch Affenfäuste. Wenn eine von ihnen versehentlich auf unseren Solarflächen landet, werden diese, dank der dicken Polsterung, nicht beschädigt.

Immer noch ist nicht klar, um wie viel Uhr es losgeht. »Irgendwann am Nachmittag. Schaltet das Funkgerät an und wartet, bis man euch ruft«, erklärt Stanley entspannt. Das scheint der normale Ablauf zu sein. »Vor der Marina wartet ihr dann, bis ein Lotsenboot mit dem Adviser kommt.« Stanley winkt, während er bereits zu seinem Auto läuft. »Ruft mich an, wenn ihr angekommen seid! Viel Glück!« Die genaue Startzeit hängt also vom Adviser ab, welcher in der großen Bucht von Colón an Bord kommen wird. Ohne ihn darf man den Panamakanal nicht befahren. Stefan steuert sein Schiff zwar selbst, muss jedoch den Anweisungen des Beamten Folge leisten. Der Umgang mit den staatlichen Schleusenbeauftragten an Bord ist Dauerthema unter den Seglern in der Shelter Bay Marina. Ein paar konkrete Anweisungen findet man im Netz: »Ein autorisierter Adviser muss an Bord genommen werden, mit Mineralwasser aus geschlossenen Flaschen und warmen Mahlzeiten versorgt werden.« Der Buschfunk schraubt die Anforderungen noch höher: »Es müssen vollwertige Fleischgerichte sein.« Soll ich während der Fahrt in der Küche stehen? Also besorge ich für den Tag Brötchen, um Sandwiches anbieten zu können. Abends will ich dann Nudeln mit Hackfleischsoße kochen. Für den zweiten Tag plane ich Reis mit Gemüse und Würstchen. So kann ich hoffentlich neben meiner Arbeit als Leinenhalter den gestellten Anforderungen gerecht werden und insgesamt alle sechs Personen versorgen.

Am Nachmittag zieht Jacqueline auf unser Boot. Auch für sie haben wir eine Gästekoje im Bug. Nun sind wir vollzählig. Zünftig werden die Schweizer und die südafrikanische Flagge in die Wanten gezogen. Jacqueline singt sogar die Nationalhymne ihres Heimatlandes dazu. Um 16 Uhr fordert der erwartete Funkspruch tatsächlich ladychar- lyette an. Wir legen ab! Die Stimmung ist gut. Pazifik, wir kommen!

1513 überquerten Spanier erstmals in Mittelamerika die Landenge zwischen den beiden Weltmeeren. Man munkelt, dass bereits zehn Jahre später Kaiser Karl V. die Idee eines Kanals äußerte. In seinem Auftrag suchte 1527 die erste Expedition nach einem geeigneten Weg. Offenbar wurde sie nicht fündig. In den nächsten Jahrhunderten kam die Idee immer wieder auf, konnte aber nicht realisiert werden. 1869 wurde der Suezkanal eröffnet. Diesen Erfolg wollte man auch in Panama kopieren. Der Franzose Graf Ferdinand de Lesseps, einst für den Suezkanal verantwortlich, wurde Präsident einer eigens gegründeten Gesellschaft, die Geld sammelte, Politiker erst überzeugte und dann bestach, um notwendige Gesetzesvorlagen durchzubringen. 1881 begannen die Bauarbeiten. Sechs Jahre später wurde Gustave Eiffel unter Vertrag genommen. Die Pläne mussten geändert werden. Ab sofort soltlen Schleusen gebaut werden, um nicht so tief graben zu müssen. 1889 gaben die Franzosen finanziell und politisch auf. Planungsmängel, fehlerhafte geologische Untersuchungen, etliche technische Probleme, aber auch schlechte Organisation und nicht zuletzt die schwierigen Arbeitsbedingungen im tropischen Regenwald wurden dafür verantwortlich gemacht. Die Franzosen verkauften die theoretischen und praktischen Arbeiten für 40 Millionen US-$ an die Vereinigten Staaten. Kolumbiens Führer fanden das nicht lustig. Es kam zum Panamakonflikt. 1903 besetzten US-Truppen das Gebiet und erklärten Panama zu einem unabhängigen Staat. Es war ein Trick, um den Kanal bauen und wirtschaftlich sowie strategisch davon profitieren zu können. Die USA durften den zehn Kilometer breiten Streifen der Kanalzone nutzen, erkannten dafür Panamas Souveränität an, zahlten einmalig 10 Millionen US-$ und ab 1913 jährlich eine Nutzungsgebühr von 250.000 US-$ in Goldbarren. Das sind heute lediglich fünf Kilo des Edelmetalls. Anfang des 20. Jahrhunderts brachte das Vorteile für beide Seiten, lief aber in der Folge nicht ohne Konflikte ab.

Insgesamt immigrierten durch den Bau des Kanals rund 100.000 Arbeiter in die Region. Unter Leitung der Franzosen starben 22.000 Arbeiter an Malaria oder Gelbfieber. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Erreger und Übertragungsmöglichkeiten dieser Krankheiten noch unbekannt. Ärzte rieten sogar, die Bettpfosten in Wassereimer zu stellen, um ihnen entgegenzuwirken. Sie ahnten nicht, dass sie damit zusätzliche Brutstätten für die Malariamücke schufen. Ab 1905 verbesserten sich die Arbeits- und Lebensbedingungen deutlich.Trotzdem starben zwischen 1906 und 1914 weitere 5.609 Arbeiter bei Unfällen oder an Krankheit. Insgesamt kostete der Kanal nicht nur sehr viel Geld, kriegerische Auseinandersetzungen und diplomatisches Geschick, sondern auch rund 28.000 Menschenleben.

Am Kanaleingang müssen wir nicht lange warten. Unser Adviser kommt mit einem Lotsenboot auf uns zu und springt galant vom Bug über die Reling der lady: »Ich heiße Harald und mache diesen Job zum ersten Mal«, begrüßt er uns fröhlich und schaut erwartungsvoll auf unsere Reaktion. Wir begrüßen ihn und stellen uns vor. Harald macht es sich im Cockpit bequem. Er hat seine Flasche Wasser selbst dabei. Den angebotenen Kaffee lehnt der Mann freundlich ab. Wir sind gespannt, wie es weitergeht. Nun schaut unser Adviser bedeutungsvoll in die Runde und klärt uns erst einmal auf: »Ich bin schon seit mehreren Jahren dabei. Keine Sorge!« Tatsächlich werden wir seine ruhige und besonnene Art schätzen. Sie nimmt uns die Aufregung und vermittelt ein Gefühl der Sicherheit.

Harald erklärt kurz, wie es weitergeht, weist uns in die Handhabung der Leinen ein und prüft, ob wir ordentliche Knoten zustande bringen. »Die balticpurple wird sich mit uns eine Schleuse teilen«, sagt er, und zeigt auf ein großes blaues Frachtschiff in der Nähe. Dann rauscht Haralds Handfunkgerät. Es geht los. Stefan steuert selbstständig seine lady. Der Adviser scheint entspannt und zufrieden. Er gibt nur ein paar freundliche Hinweise zu Fahrwassertonnen oder Geschwindigkeit.

Um nicht so tief graben zu müssen, liegt der Hauptteil des Panamakanals 26 Meter über dem Meeresspiegel. Deshalb werden die Schiffe erst hinauf- und zum Schluss wieder hinuntergeschleust.Dazwischen befinden sich Kanal und Gatúnsee. Letzterer entstand durch das Aufstauen des Wassers, welches die Flüsse aus den umliegenden Bergen bringen. Mit jedem Schleusengang wird es benötigt, um die Kammern zu füllen. Neben den ursprünglichen Schleusen von 1914 gibt es auf jeder Seite zusätzlich neuere Anlangen. Die alten waren irgendwann nicht mehr groß genug für die immer längeren und breiteren Superkähne. Jene 2016 fertiggestellten Kammern wurden außerdem mit einem Wassersparsystem ausgestattet, durch das zumindest ein Teil der kostbaren Flüssigkeit wiederverwendet werden kann. Trotzdem müssen in der Trockenzeit auch Schleusengänge ausfallen.

Wir durchqueren die imposante Atlantikbrücke. Diese moderne Schrägseilbrücke ist einen Kilometer lang und hängt an zwei riesigen Pylonen. Bis zur Eröffnung 2019 musste man noch eine Fähre benutzen, um den Kanal zu überqueren. Hier beginnt die drei Kilometer lange Zufahrt. Etwa elf Kilometer hinter der Atlantikzufahrt erreichen wir die Schleusen der Atlantikseite. Inzwischen dämmert es. baltic purple und ladycharlyette nutzen die kleinere und ursprüngliche Gatúnschleuse. Auch diese beeindrucken bereits in ihrer Größe und haben nichts mehr mit den mir bekannten Minischleusen in Deutschland zu tun. Drei neun Meter hohe und über 300 Meter lange Kammern fügen sich nahtlos aneinander und bilden den hoch hinaufragenden Stufenkomplex. Beleuchtet wird das imposante Bauwerk von unzähligen Strahlern an langen dünnen Stangen. Sie stehen so dicht wie junge Bäume in einer Schonung. Das blaue Frachtschiff fährt vor uns in die erste Kammer. Seine vier Leinen werden an Lokomotiven befestigt, welche auf der Kaimauer vor der Schleuse warten, um dann die steile Rampe auf die erste Schleusenwand hinaufzufahren. Wir werden fröhlich von Arbeitern begrüßt, die uns mit der sogenannten Affenfaust eine dünne Leine nach der anderen aufs Deck werfen. An diesen befestigen wir unsere langen Taue mit sicheren Palstegen. Jetzt sind wir an allen vier Ecken mit der Schleuse verbunden. Die Männer an Land ziehen unsere dicken, schweren Seile allein mit Muskelkraft zu sich hinüber. Während Stefan das Boot langsam hineinsteuert, erklimmen die Schleusenarbeiter wie durchtrainierte Athleten mit den Leinen die steilen Rampen über lange, schmale integrierte Treppen.

Die insgesamt 100 Treidelloks gibt es nur an den ursprünglichen Schleusen. Als Zahnradbahnen ist es ihnen möglich, die steilen Rampen emporzuklettern. Trotzdem sind sie keine Oldtimer, sondern amerikanische Produkte des 21. Jahrhunderts. Jede wiegt 45 Tonnen und hat zwei 290-PS-Motoren. Je nach Größe des Schiffes werden vier bis acht dieser technischen Zugtiere benötigt, um es durch alle drei Schleusenkammern zu ziehen und in den Strömungen stabil zu halten. Unsere Amel 54 wiegt nur 20 Tonnen, zählt zu den kleinen Schiffen und wird deshalb traditionell mit der Hand gezogen.

In der Kammer angekommen, werden unsere Leinen hoch oben an den Schleusenwänden über dicke Poller gelegt. Nun sind wir gefragt. Flurina und Jacqueline am Bug, Ramon und ich am Heck müssen die Leinen so an den Klampen der lady befestigen, dass auf beiden Seiten genügend und etwa der gleiche Abstand zur Mauer besteht. Das war der leichtere Teil der Übung. Unser Boot ist etwa fünf Meter dick und hat in der 33,5 Meter breiten Kammer genügend Platz. Schwieriger wird es nach dem Schließen der Tore, wenn das Wasser in der Kammer steigt. Vorerst nehmen mich jedoch die vier schwarzen, schweren, genieteten Stahlflügel gefangen. Bedächtig lösen sie sich aus den Wandnischen und während sie sich langsam durch das Wasser schieben, kann ich ihre enorme Kraft erahnen. Der Spalt zwischen ihnen wird immer kleiner, bis sie sich ineinander verzahnen und schließen. Plötzlich entfaltet sich an der oberen Kante ein zarter gelber Steg von einer Mauer zur anderen über die gesamte Breite. Nach und nach erscheint dieses dünne Gebilde, das mich eher an Lego erinnert. Und dann klappen sich wie von Geisterhand Stück für Stück noch fragiler erscheinende Geländer auf. Vom Deck unseres Bootes aus gesehen wirkt die Konstruktion wie ein Modellspielzeug. Tatsächlich ermöglicht sie den Schleusenarbeitern, bei geschlossenen Toren die Seiten zu wechseln. Das kenne ich bereits von den viel kleinen Schwestern aus der Mecklenburger Seenplatte. Aber dass sich dieser Steg automatisch hebt und dann auch noch Geländer ausklappt, ist neu für mich und sieht wirklich skurril aus.

Langsam werden wir samt Schiff angehoben, und die Leinen verlieren an Spannung. Um weiterhin in der Mitte zu liegen, müssen wir möglichst gleichmäßig alle vier Leinen nachziehen. Das ist anstrengend und der schwierige Teil der Arbeit des Leinenhalters. Wir sind ein gutes Team. Harald beobachtet uns genau und nickt zufrieden. Oben angekommen, geleitet uns das Bodenpersonal in die nächste und übernächste Schleusenkammer, die jeweils durch einfache Stahltore voneinander getrennt sind. Dazu müssen die durchtrainierten Männer zwei weitere, neun Meter hohe Rampen hinaufsteigen. Als sich die dicken Stahltore zum dritten Mal öffnen, holen wir die Leinen wieder ein, verabschieden uns fröhlich und fahren in den nun 26 Meter höher gelegenen Gatúnsee sein. Inzwischen ist es stockfinster. Eine Weile erhellt die Schleusenbeleuchtung unsere Umgebung. Dann müssen wir uns mit Taschenlampen behelfen. Dank Harald finden wir unsere Mooring jedoch ohne Probleme und machen seitlich an ihr fest. Die lady