Polarisierte Gesellschaft - Richard Münch - E-Book

Polarisierte Gesellschaft E-Book

Richard Munch

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Beschreibung

Die moderne Massenwohlstandsgesellschaft wird zunehmend von einer postmodernen, in Klassen und Identitätsgruppen gespaltenen Gesellschaft abgelöst. Konflikte um die Anerkennung von Identitäten und kulturellen Traditionen sowie um die Teilhabe an Wohlstand, Macht und Prestige verschärfen sich massiv. Richard Münch untersucht in diesem Buch die vielfältigen Spaltungslinien dieser Gesellschaft; die Untersuchung mündet in die Frage, wodurch sie überhaupt noch zusammengehalten werden kann. Seit langem lautet parteienübergreifend die Antwort: Bessere Bildung für alle! Aber was wurde auf diesem Weg bisher erreicht? Die Beantwortung dieser Frage ist Gegenstand der abschließenden Analyse dieses Buches.

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Richard Münch

Polarisierte Gesellschaft

Die postmodernen Kämpfe um Identität und Teilhabe

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Die moderne Massenwohlstandsgesellschaft wird zunehmend von einer postmodernen, in Klassen und Identitätsgruppen gespaltenen Gesellschaft abgelöst. Konflikte um die Anerkennung von Identitäten und kulturellen Traditionen sowie um die Teilhabe an Wohlstand, Macht und Prestige verschärfen sich massiv. Richard Münch untersucht in diesem Buch die vielfältigen Spaltungslinien dieser Gesellschaft; die Untersuchung mündet in die Frage, wodurch sie überhaupt noch zusammengehalten werden kann. Seit langem lautet parteienübergreifend die Antwort: Bessere Bildung für alle! Aber was wurde auf diesem Weg bisher erreicht? Die Beantwortung dieser Frage ist Gegenstand der abschließenden Analyse dieses Buches.

Vita

Richard Münch ist Seniorprofessor für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und Emeritus of Excellence an der Universität Bamberg.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort

1.

Einleitung: Materielle und symbolische Kämpfe in einer mehrfach gespaltenen Gesellschaft

2.

Spaltungslinien der postindustriellen und postmodernen Gesellschaft

2.1

Einleitung

2.2

Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Der Kampf um den richtigen Ort der Demokratie

2.3

Kulturelles versus ökonomisches Kapital, Idealismus versus Materialismus

2.4

Rechts versus links, postbürgerliche versus altbürgerliche Rechte, postmoderne versus altmoderne Linke

2.5

Ökonomie versus Ökologie: Das Ende der nationalen Wohlfahrtskoalition?

2.6

Etablierte versus Außenseiter: Die Verteilungskonflikte der Identitätspolitik

2.6.1

Der Kampf gegen die weiße Suprematie: Der amerikanische Traum an seinen Grenzen

2.6.2

Islamismus versus Nationalismus: Der französische Republikanismus an seinen Grenzen

2.7

Herrschende versus beherrschte Klassen und Gruppen: Von der industriellen Mittelstandsgesellschaft zur postindustriellen Klassengesellschaft und postmodernen Stammesgesellschaft

2.8

Konklusion: Das Ende der klassen- und gruppenübergreifenden Solidarität in der Dienstleistungswirtschaft und Wissensökonomie

3.

Populismus: Der Aufstand gegen die »abgehobenen« Eliten

3.1

Einleitung

3.2

Kulturelle Motive des Populismus

3.3

Politische Motive des Populismus

3.4

Ökonomische Motive des Populismus

3.5

Die populistische Herausforderung der Europäischen Union

3.6

Dynamiken der populistischen Radikalisierung

3.7

Konklusion

4.

Bessere Bildung für alle! Die Strategie zur Wiederherstellung des gesellschaftlichen Zusammenhalts?

4.1

Einleitung

4.2

Der Kampf um Bildungstitel und Bildungsrenditen

4.3

Bildungsregime und soziale Ungleichheit

4.4

Konklusion

5.

Schlussbetrachtung: Wirtschaftliche Innovationskraft und gesellschaftlicher Zusammenhalt zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus

5.1

Soziale Integration jenseits des geschlossenen Wohlfahrtsstaates

5.2

»Bessere Bildung für alle!« Eine Erfolgsstrategie?

5.3

Globale Vernetzung und lokale Verwurzelung im unternehmerischen Mittelstand

5.4

Was tun? Soziale Integration durch institutionalisierte Konfliktaustragung

Literatur

Abbildungen

Tabellen

Veröffentlichungsnachweise

Vorwort

Wir befinden uns in einer Situation der Polarisierung der Gesellschaft, wie wir sie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht erlebt haben, auch nicht in den Jahren nach 1968. Die Polarisierung lässt auch die Sozialwissenschaften nicht unberührt. Sie sind – wie schon im Nachgang zu 1968 – starken Tendenzen der Politisierung unterworfen, auf jeden Fall in den Bereichen, die einen Bezug zu den Themen haben, bei denen die Gesellschaft polarisiert ist. Das macht eine unvoreingenommene soziologische Untersuchung der polarisierten Gesellschaft besonders schwierig. Es besteht dabei immer die Gefahr, dass nicht ausreichend zwischen rein sachlicher Analyse und politischen Präferenzen getrennt wird, sachliche Analysen nicht hinsichtlich ihres Wahrheitsgehalts interessieren, sondern nur unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, ob und für wen sie politisch nützlich sind. Fragen von Ursache und Wirkung werden allzu leicht mit Fragen von Recht versus Unrecht, erwünscht versus unerwünscht, gut versus böse vermengt. Im politischen und medialen Diskurs ist das der Normalzustand, im wissenschaftlichen Diskurs sind solche Vermischungen von völlig unterschiedlichen Logiken aber zu vermeiden, weil anderenfalls die Unterscheidung von wahr und falsch hinfällig wird und sich die Wissenschaft selbst aufgibt. Um meine Position zu dieser elementaren Frage der wissenschaftlichen Forschung von vornherein klarzumachen, möchte ich hier eine kleine Selbstreflexion über meinen soziologischen Zugang zum Thema der polarisierten Gesellschaft der eigentlichen Untersuchung vorausschicken.

Als ich mich nach dem Abitur im Frühjahr 1965 für ein Studium der Soziologie entschieden hatte, war die Frage, wo das am besten sein sollte. Mein erster Gedanke war Frankfurt, dann habe ich aber doch Heidelberg vorgezogen. Und ich bin bis heute froh darüber, dass ich genau diese Wahl getroffen habe. So bin ich bei meinem Studium von 1965 bis 1970 nicht in die Frankfurter Schule der Kritischen Theorie, sondern in die Schule des Kritischen Rationalismus gegangen, bei Ernst Topitsch an der Universität Heidelberg und besuchsweise bei Hans Albert an der benachbarten Universität Mannheim. Dazu gehörten viele prägende Diskussionen mit Hans G. Oel, damals Assistent von Ernst Topitsch. Er war mein Mentor. Er bleibt unvergessen. Was für großartige Seminardiskurse wir geführt haben! Nach dem Seminar ging es weiter im Café Scheu oder im Weißen Bock. In Heidelberg und Mannheim stand man auf der genau entgegengesetzten Seite des damaligen Positivismusstreites in der deutschen Soziologie als in Frankfurt. Karl R. Popper, nicht Theodor W. Adorno, war das allseits verehrte intellektuelle Vorbild. Diese Sozialisation im Denken des Kritischen Rationalismus hat uns in Heidelberg ein für alle Mal auf kritischer Distanz zu jeglicher Art der ideologischen Verblendung gehalten. Bis heute bin ich zutiefst dankbar für dieses Privileg. Meine erste Fingerübung war ein Aufsatz, in dem ich mich im Heidelberger Forum Academicum kritisch mit einer Kritik an Max Webers Postulat der Werturteilsfreiheit der Sozialwissenschaften auseinandergesetzt habe (Weber 1922/1973, S. 148–161; Münch 1968). Dabei ging es darum, dass sich mit den Mitteln einer wissenschaftlichen Disziplin nur Fragen des Seins, aber keine Fragen des Sollens beantworten lassen, das heißt Fragen wie »Was ist der Fall?«, »Was sind die Ursachen oder Gründe dafür?«, »Was sind die Folgen und Nebenfolgen?«, »Was sind effektive bzw. effiziente Mittel, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen?«, »Mit welchen Nebenfolgen ist zu rechnen?«

Selbstverständlich hat jede wissenschaftliche Forschung eine sogenannte Wertbasis. Sie beruht auf dem Interesse an Erkenntnis und auf der Wahl bestimmter begrifflicher, theoretischer und methodischer Instrumente. Davon hängt ab, was überhaupt in das Blickfeld geraten kann. Für die Sozialwissenschaften gilt darüber hinaus, dass sie als »Wirklichkeitswissenschaft« eine Wertbeziehung und Kulturbedeutung haben, was für Max Weber (1922/1973, S. 181–184) von zentraler Bedeutung war. Das heißt, sie behandeln Fragestellungen, deren Beantwortung uns etwas über die Situation der Gesellschaft und ihren Wandel in Bezug auf ihre Kultur und grundlegenden Werte sagt. Wir sollten dann besser wissen, wie es zum Beispiel um Freiheit, Gleichheit, soziale Probleme, Konflikte, Integration bzw. Desintegration, Offenheit für Innovation und Wandel der Gesellschaft bestellt ist. Sozialwissenschaftliches Wissen dieser Art steigert das Reflexionsniveau von Debatten über die normative Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, was bewahrt und was verändert werden soll. In diesem Sinne leisten die Sozialwissenschaften einen Beitrag zur Beantwortung normativer Fragen der Gesellschaft. Es versteht sich von selbst, dass ein Buch über die polarisierte Gesellschaft genau auf die Generierung von Wissen mit Wertbezug und Kulturbedeutung zielt. Das muss jedoch in größtmöglicher Unabhängigkeit von jeglicher Parteipolitik geschehen, wenn es sich um einen genuin wissenschaftlichen Beitrag zu dieser Thematik handeln soll.

Es ist allerdings nie völlig vermeidbar, dass bei aller Bemühung um Distanz zum Untersuchungsgegenstand dennoch Vorurteile den Blick trüben und zu falschen Aussagen führen. Das aufzudecken und Irrtümer zu korrigieren, ist Sache des offenen kritischen Diskurses. Die Annäherung an die Wahrheit wird demnach nie allein durch die besondere Distanz und Sorgfalt des einzelnen Forschers gewährleistet, sondern durch den kritischen Diskurs als Verfahren der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung. Deshalb ist die unabdingbare Voraussetzung für den Erkenntnisfortschritt, dass die vollkommene Offenheit dieses Diskurses gegeben ist. Ich betone das deshalb, weil ich den Eindruck habe, daran erinnern zu müssen. Es sind in meinen Augen zwei Entwicklungen, die besondere Aufmerksamkeit für diese Selbstverständlichkeit jeder wissenschaftlichen Forschung verlangen. Das ist erstens die Einbeziehung der Sozialwissenschaften in politisch geförderte Programmforschung auf nationaler und europäischer Ebene. Sie verleitet dazu, politisch erwünschte Fragen zu bearbeiten und auch politisch erwünschte Ergebnisse zu liefern, was sich oft schon durch die Art der erforschten Fragen ergibt, zumal man nur so in diesem Drittmittelgeschäft bleiben kann. Zweitens ist es die Verknüpfung der sozialwissenschaftlichen Forschung mit politischem Aktivismus für diese oder jene gute Sache. Auch hier passiert leicht, dass das herauskommt, was politisch erwünscht ist. In beiden Fällen muss das Opfer des Intellekts erbracht werden, wie Max Weber (1922/1973, S. 611) festgestellt hat. Das äußert sich auch in der zunehmenden Verbreitung von Denkverboten. Wenn wir damit anfangen, können wir allerdings den Betrieb gleich einstellen. Die Sozialwissenschaften verspielen auf diese Weise den Status einer ernstzunehmenden wissenschaftlichen Disziplin und dürfen sich nicht wundern, wenn der gewöhnliche Steuerzahler nicht mehr einsieht, dafür Geld aufbringen zu müssen. Sie verlieren die Fähigkeit zur politisch unabhängigen und distanzierten Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die Fähigkeit zu dem, was Niklas Luhmann (1967) als »soziologische Aufklärung« bezeichnet hat. Wenn Machtfragen illegitimerweise in Wahrheitsfragen umdefiniert werden, dann wird Aufklärung durch Indoktrination ersetzt.

Soziologische Aufklärung lässt sich dezidiert vor keinen politischen Karren spannen, auch nicht bei einer so brisanten Frage wie derjenigen nach den Ursachen der wachsenden gesellschaftlichen »Spaltung« bzw. »Polarisierung« und nach den Möglichkeiten ihrer Überwindung. Sie ist auch nicht mit einfacher Dienstleistung für eine Politik zur Hand, die mangelnden »gesellschaftlichen Zusammenhalt« als Problem erkannt hat und von der Soziologie nur wissen will, wie man aufmüpfige Bürger wieder auf Linie bringen kann. Soziologische Aufklärung ist keine instrumentell nutzbare Dienstleistungswissenschaft, sondern eine Reflexionswissenschaft, die vor keinen Fragen Halt macht, auch dann nicht, wenn die Antworten nicht gern gehört werden. Beispielsweise kann der Appell an den »gesellschaftlichen Zusammenhalt« in einer Zeit verschärfter Konflikte auch einfach nur dem Interesse an Machterhalt und an leichterem Durchregieren geschuldet sein, was durch eine offene Konfliktaustragung gefährdet sein könnte. Nur die offene Konfliktaustragung nach den Spielregeln einer liberalen Demokratie garantiert jedoch diejenige Wandlungsfähigkeit, die es der Gesellschaft allein ermöglicht, immer wieder neue Herausforderungen zu bewältigen und Kompromisse zwischen den Konfliktparteien zu bilden. Das scheint man bei dem Ruf nach »gesellschaftlichem Zusammenhalt« zu übersehen.

Wenn ich mich aufgrund meiner akademischen Sozialisation nach den Leitlinien des Kritischen Rationalismus der Tradition soziologischer Aufklärung verpflichtet fühle, dann möchte ich nicht behaupten, dass mir immer eine vollkommen unvoreingenommene und distanzierte Untersuchung des jeweils gewählten Gegenstandes gelingt. Das gilt erst recht bei einem so heißen Thema wie demjenigen der polarisierten Gesellschaft. Ich habe mich zwar redlich bemüht, so weit wie möglich Distanz zum Gegenstand zu wahren, muss es aber – wie gesagt – dem offenen Diskurs überlassen, all meine Vorurteile, Fehleinschätzungen, Irrtümer und falschen Schlüsse aufzudecken, um dadurch einen Schritt weiter in der Annäherung an die Wahrheit zu gelangen. So möchte ich gleich selbst damit anfangen, eine mögliche Voreingenommenheit offenzulegen. Vor meiner akademischen Sozialisation im Kritischen Rationalismus in Heidelberg und Mannheim bin ich nämlich im Badischen am Rande des nördlichen Schwarzwaldes in einem mittelständischen Unternehmerhaushalt aufgewachsen. In meiner unmittelbaren Umgebung habe ich vielfach die Verbindung von Weltläufigkeit und Bodenständigkeit in der mittelständischen Industrie in einer wirtschaftlich höchst vitalen Region erlebt, in der städtisches und ländliches Leben keinen Gegensatz, sondern einen einheitlichen gesellschaftlichen Zusammenhang bildeten. Ich habe aber auch in diesem, durch das gewerbliche Bürgertum geprägten sozialen Kontext mit Schulfreunden einen Literaturzirkel gegründet. Heinrich Böll, Günter Grass, Albert Camus und Jean Paul Sartre führten uns hinüber in die Welt des gebildeten Bürgertums und des intellektuellen Räsonnements.

Das ist zwar lange her, aber merkwürdigerweise bin ich in dieser Untersuchung zur polarisierten Gesellschaft just zu dem Ergebnis gekommen, dass die in Deutschland besonders erfolgreichen mittelständischen Unternehmen und auch die größeren Familienunternehmen, darunter viele sogenannte Weltmarktführer, eine tragende Rolle bei der Überwindung der viel beklagten Spaltung der Gesellschaft in Kosmopoliten und Kommunitaristen spielen. Sie vereinigen nämlich in vorbildlicher Weise beide Lebensführungsideale in sich. Sie sind über alle Kulturen hinweg global vernetzt und zugleich lokal in der Gemeinde und im Vereinsleben ihres Heimatstandortes verwurzelt. Das beweist, dass es eine real existierende Kraft gibt, die der Spaltung der Gesellschaft in Kosmopoliten und Kommunitaristen, Globalisten und Nationalisten nicht nur der Idee nach, sondern real entgegenwirkt. Genau diese Kraft wird jedoch durch zwei Entwicklungstendenzen geschwächt. Mittelständische Unternehmen werden einerseits teilweise durch Konzerne der globalen Plattformökonomie wie Google, Facebook, Amazon, Uber oder Airbnb aus dem Markt gedrängt und andererseits durch die Umsetzung von bildungsbürgerlichem Idealismus in bürokratische Regulierung an der Entfaltung von Kreativität und Innovation gehindert. Hier kommt offensichtlich eine gewisse Koinzidenz zwischen sozialer Herkunft und soziologischer Zeitdiagnose zum Vorschein. Ich übe jetzt zwar schon 50 Jahre den Beruf eines Soziologieprofessors aus, trotzdem steht mir aber im Herzen die Welt des mittelständischen Unternehmertums immer noch mindestens genauso nahe wie die feuilletongetränkte Welt des Bildungsbürgertums, offensichtlich ein Hysteresis-Effekt. Und ich halte die offene Austragung des Konflikts und dadurch erst mögliche Verbindung zwischen diesen beiden in Deutschland besonders scharf getrennten Welten im Interesse einer ausgewogenen Entwicklung der Gesellschaft für absolut notwendig.

Es mag also mein ganz persönliches, herkunftsbedingtes Vorurteil sein, weshalb ich insbesondere den Beitrag der mittelständischen und größeren Unternehmen, speziell Familienunternehmen, zum gesellschaftlichen Zusammenhalt zwischen globaler Vernetzung und lokaler Verwurzelung als höchst bedeutsam für eine vitale Gesellschaft erachte und weshalb ich die Erzählungen und Wirklichkeitskonstruktionen der Kulturelite nicht affirmativ reproduziere, schon gar nicht in der Tradition des deutschen Idealismus. Dasselbe gilt für meine Diagnose, dass die mittelständischen und auch größeren Unternehmen, speziell Familienunternehmen, diese Leistung nicht erbringen können, wenn sie erstens von den Konzernen der globalen Plattformökonomie vom Markt verdrängt werden und zweitens ihre Kreativität und ihre Innovationskraft unter der Umsetzung des bildungsbürgerlichen Idealismus in die total administrierte Gesellschaft ersticken. Es gilt auch für meine Vermutung, dass das Überleben der mittelständischen und größeren Unternehmen, speziell Familienunternehmen, von ihnen selbst einerseits die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle und die eigene Umstellung auf die Plattformökonomie und die sogenannte Industrie 4.0 verlangt, andererseits förderliche politisch-administrative Rahmenbedingungen in Gestalt einer leistungsfähigen digitalen Infrastruktur und gesetzlicher Regelungen benötigt, die Kreativität und Innovation unterstützen und nicht behindern. Schließlich gilt es für meine Annahme, dass ohne vitale mittelständische und größere Unternehmen, speziell Familienunternehmen, genau jene einzigartige Verbindung von wirtschaftlicher Innovationskraft und global ausgreifendem sowie lokal verwurzeltem gesellschaftlichem Zusammenhalt fehlt, ohne die sich gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen, gerade auch die viel beschworenen ökologischen Herausforderungen, nicht bewältigen lassen. Ich darf aber sagen, dass ich keineswegs mit diesem Ergebnis im Kopf die Arbeit an diesem Buch aufgenommen habe, sondern erst gegen Ende zu dieser Einsicht gelangt bin. Ob an meiner Einschätzung der Lage trotz meiner persönlichen Verstrickung in diese Geschichte etwas dran ist, soll die kritische Lektüre dieses Buches entscheiden. Und ich wünsche mir, dass das Buch allein im Hinblick auf dessen sachlichen Gehalt gelesen wird und alle politische Voreingenommenheit aus dem Spiel bleibt.

Für die Erstellung aller Abbildungen sowie die zugrundeliegenden Berechnungen der Abbildungen 15 bis 20 danke ich Oliver Wieczorek, für die Umsetzung des Word-Dokuments in die Redaktionsvorlage Frederick Busch.

1.Einleitung: Materielle und symbolische Kämpfe in einer mehrfach gespaltenen Gesellschaft

Seit einigen Jahren wird in der öffentlichen Debatte gehäuft von einer gespaltenen bzw. polarisierten Gesellschaft gesprochen (Kaube und Kieserling 2022). Die politischen Kontrahenten werfen sich gern gegenseitig vor, die Gesellschaft zu spalten. Jenseits dieser Konjunktur eines politischen Kampfbegriffs, lassen sich in der Tat Spaltungen und Polaritäten erkennen, die es in dieser Tiefe und Schärfe in Jahrzehnten der Expansion der Massenwohlstandsgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat. Neue Spaltungslinien zeigen sich sowohl im Sinne von tiefgreifenden Differenzen über das gute Leben, bewahrenswerte oder aufzugebende Traditionen und anerkennungswürdige Identitäten, als auch im Sinne der Teilhabe an Wohlstand und Macht. Die ersteren Differenzen sind Gegenstand von symbolischen Kämpfen um das richtige Verständnis von Kultur und gutem Leben, die zweiten Differenzen sind Gegenstand von materiellen Kämpfen um die Produktion und Verteilung knapper Güter. Im ersten Fall geht es grundsätzlich um Anerkennung, im zweiten Fall um Teilhabe. Beide Arten von Kämpfen sind eng miteinander verknüpft.

Zuletzt haben sich die tiefgreifenden Spaltungen der Gesellschaft in den Auseinandersetzungen um die richtige Strategie zur Bewältigung der Corona-Pandemie gezeigt. Die zunehmend verschärften Konflikte über die richtige Strategie zur Bewältigung der Pandemie sind nicht nur Differenzen in sachlicher Hinsicht geschuldet. Sie bringen auch eine schon länger bestehende mehrfache und tiefgreifende Spaltung der Gesellschaft zum Ausdruck. Die Konflikte um die Corona-Politik werden dadurch verschärft, dass sich zuvor schon eine nahezu unüberbrückbare Kluft zwischen den Repräsentanten des herrschenden Regimes der Globalisierung und Denationalisierung von Ökonomie, Politik und Gesellschaft und den populistischen Opponenten gegen dieses Regime gebildet hat. Auf der Seite der Kritiker der Corona-Politik findet man häufig auch die Gegner der Flüchtlingspolitik, der Euro-Politik, einer europäischen Transferunion und der Energiepolitik. Das gemeinsame Muster der Kritik ist die Klage, dass in allen diesen Fällen historisch weitreichende, grundlegend die zukünftigen Lebensverhältnisse bestimmende Entscheidungen getroffen wurden, ohne dass all diejenigen hätten ausreichend mitwirken können, die maßgeblich die damit verbundenen Folgen, insbesondere deren Kosten, zu tragen haben. Das heißt, es handelt sich um einen Aufstand gegen die herrschenden Eliten.

Es geht nicht nur um die sachlich richtige Strategie, sondern elementar auch um die Teilhabe an der Machtausübung, die Entscheidung über Gemeinkosten und ihre Verteilung sowie zukünftige Chancen der Teilhabe am Wohlstand. Der Konflikt um die Corona-Politik wird durch diese vorher schon vorhandene Spaltungslinie emotional aufgeladen. In den Augen der Oppositionellen setzte sich die Regierung auch bei der Pandemie-Bewältigung über die Anforderungen demokratischer und rechtsstaatlicher Entscheidungsverfahren und über legitime Interessen erheblicher Teile der Bevölkerung hinweg. Für die Regierung und die regierungsnahen Medien erschien aufgrund der schon länger bestehenden Konfliktlage auch die Kritik an der Corona-Politik als populistisch motiviert, entbehrte dadurch per definitionem einer legitimen Grundlage und musste deshalb konsequent bekämpft werden. Durch diese tief verwurzelte Konfliktlage sahen sich die herrschenden Medien umso mehr dazu verpflichtet, der Regierung zur Seite zu stehen, um den populistischen Angriff auf die Demokratie abzuwehren. Regierungskritik von Seiten der Medien hätte sich nur dem Verdacht ausgesetzt, nicht nur die Regierung in Gefahr zu bringen, sondern gleich das gesamte Regierungssystem und damit die Demokratie. Die in erster Linie verfassungsrechtlich argumentierenden Kritiker der Corona-Politik – wie zum Beispiel Heribert Prantl (2021) und Hans Jürgen Papier (2020) –, die sich diesem oppositionellen Lager nicht zurechnen lassen, hatten alle Hände voll zu tun, nicht damit identifiziert zu werden (vgl. Kraemer 2022; Manow 2021; Münch 2022).

Man kann sich den Spaltungslinien der Gesellschaft eher kulturtheoretisch oder eher verteilungs- und konflikttheoretisch nähern. Zuletzt hat Andreas Reckwitz (2017, 2019) dezidiert eine kulturtheoretische Perspektive zur Analyse der Spaltungslinien in die Debatte eingebracht. Diese Perspektive erkennt im Gegensatz zwischen »Hyperkultur« und »Kulturessenzialismus« die kulturelle Hauptspaltungslinie (Reckwitz 2019, S. 29–61), die sozialstrukturell in der Spaltung zwischen der kulturell fortschrittlichen und aufsteigenden akademischen Mittelklasse und der kulturell rückschrittlichen und absteigenden nicht-akademischen Mittelklasse verankert ist. Beide Formen des kulturellen Selbstverständnisses sind durch eine spezifische Art der Singularität gekennzeichnet. Die Hyperkultur ist eine Art der Singularität, bei der sich das einzelne Individuum als einzigartig begreift und dafür aus dem gesamten Arsenal der Kulturen der Welt diejenigen Elemente auswählt, die es auszeichnen sollen (Reckwitz 2017, S. 102–110, S. 308–349; 2019, S. 36–42). Der Kulturessenzialismus ist eine Art der Singularität, bei der die Mitglieder von Kollektiven – religiöse oder ethnische Gruppen, lokale Gemeinden oder ganze Nationen – sich als gemeinsame Träger einer einzigartigen Kultur verstehen und diese auch durch die Aufrechterhaltung der Grenze zwischen innen und außen bewahren wollen (Reckwitz 2017, S. 394–428; 2019, S. 42–47). Neuerdings wird die Diagnose der Verlusterfahrung der alten nicht-akademischen Mittelklasse noch in eine weit ausgreifende Erzählung der in der Spätmoderne vorherrschenden Wahrnehmung einer Verlusteskalation eingebettet (Reckwitz 2021).

Reckwitz (2019, S. 63–133) unterteilt die Gesellschaft in drei etwa gleich große Hauptklassen: neue akademische Mittelklasse, alte nicht-akademische Mittelklasse und Unterklasse bzw. prekäre Klasse. Hinzu tritt eine kleine Oberklasse der Superreichen. Hauptgegenstand seiner Analyse ist der Konflikt zwischen der neuen und der alten Mittelklasse. Kulturtheoretisch betrachtet, steht dabei der Kampf um die richtige Definition des guten bzw. schönen Lebens im Vordergrund. Diese Perspektive beleuchtet vorrangig die kulturelle bzw. ästhetische Seite des Konflikts. Für eine adäquate soziologische Erfassung dieses Konflikts bedarf es aber viel mehr einer Beleuchtung der materiellen Seite des Kampfes um die Teilhabe an Wohlstand und Macht. Reckwitz (2019, S. 63–69, S. 88–90) schenkt der materiellen Seite der symbolischen Kämpfe zu wenig Beachtung. Es geschieht in einem der kulturellen Hauptspaltungslinie nachgeordneten Sinn. Dafür steht die These der »Kulturalisierung des Sozialen« (Reckwitz 2017, S. 75–92; 2019, S. 31–35). Dementsprechend wird das Verhältnis zwischen der neuen und der alten Mittelklasse sowie der Unterklasse in erster Linie als eine »kulturelle Differenz« bzw. »ästhetische Differenz« gedeutet, als eine Differenz »der kulturellen Muster der Lebensführung, der Lebensprinzipien, alltäglichen Praktiken und Werte« (Reckwitz 2019, S. 89). Dahinter stehen natürlich auch Unterschiede in der Verfügung über kulturelles Kapital, das über den ausgeübten »kulturellen Einfluss« entscheidet. Das heißt letzten Endes, dass die kulturell herrschende Klasse mittels überlegener symbolischer Macht ihre Weltsicht als allgemeingültig darstellen und durchsetzen kann. Sie scheint sich auf der Seite des unaufhaltsamen »gesellschaftlichen Fortschritts« zu befinden. Zumindest erhebt sie den Anspruch darauf. Genau hier muss eine soziologische Analyse ansetzen, die der Seite der materiellen Kämpfe mehr Aufmerksamkeit widmet, als dies in einer auf die symbolische Seite fokussierten Perspektive möglich ist. Diese läuft nämlich Gefahr, affirmativ zu werden und der herrschenden Sicht auf die Welt unreflektiert weitere Legitimation zu verleihen. Um der Seite der materiellen Konflikte gerecht zu werden, bedarf es einer eigenständigen, nicht der Kultur untergeordneten konflikt-, verteilungs- und klassentheoretischen Perspektive. In dieser Perspektive stehen nicht der kulturelle Sinn und die darauf bezogenen symbolischen Kämpfe um die richtige Definition des guten bzw. schönen Lebens im Zentrum der Betrachtung, sondern die Verteilung von Wohlstand und Macht sowie die darauf bezogenen materiellen Kämpfe, die stets die materielle Basis der symbolischen Kämpfe bilden. Und die symbolischen Kämpfe sind an die Klassenposition der Akteure zurückzubinden, die um die Deutung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Definition der Probleme und die Bestimmung der Problemlösungen ringen. Dieser Seite soll hier die ihr gebührende Beachtung geschenkt werden, ohne die andere Seite zu vernachlässigen.

Die von Reckwitz präferierte kulturalistische Perspektive bedarf aber auch auf ihrer eigenen Seite einer Korrektur. Sie ist auf die Idee des guten bzw. schönen Lebens fokussiert, verallgemeinert dabei Extrempositionen zur Lebensphilosophie ganzer sozialer Klassen und weist dadurch den entscheidenden Fragen der politischen Ordnung der Gesellschaft nur einen untergeordneten Rang zu. Außerdem adressiert sie zu wenig, dass sich bestimmte Weltbilder und Lebensführungsideale aus der spezifischen Klassenlage ihrer Protagonisten ergeben. Die schöne neue Welt der hyperkulturellen »Singularisierung« des Lebensstils in der »Spätmoderne« wird in all ihren Facetten beschrieben und mit der Borniertheit der alten Welt des »singulären« Kulturessenzialismus kontrastiert, ohne dass klar erkennbar ist, wieviel von diesem theoretisch konstruierten Antagonismus in der empirischen Realität auch tatsächlich vorhanden ist und aus welcher Klassenposition heraus die antagonistischen Positionierungen artikuliert werden. Der kulturtheoretische Blick zeichnet ein schöngefärbtes Bild einer tief gespaltenen Gesellschaft. Es wird dadurch verkannt und letztlich verschleiert, dass wir es nicht nur mit dem weichen Antagonismus von zwei Kulturverständnissen bzw. zwei Verständnissen von Ästhetik zu tun haben, sondern mit dem harten Antagonismus eines veritablen neuen Klassenkonfliktes, bei dem es nicht nur um das »gute« bzw. »schöne« Leben geht, sondern um die Verteilung des erarbeiteten Wohlstands der Gesellschaft unter den Klassen. Das Ergebnis von Reckwitz’ Zeitdiagnose stellt sich genau so dar, wie man die Welt in Berlin Prenzlauer Berg und in den Redaktionsstuben des deutschen Feuilletons gerne sehen möchte, das heißt, auf der Seite der symbolischen Macht. Es dient der Affirmation und Legitimation dieser Macht. Wie viel Hyperkultur findet sich allerdings außerhalb der Filterblase von Prenzlauer Berg tatsächlich im Alltagsleben der akademischen Mittelklasse? Diese ist nämlich nicht nur in der großstädtischen Altbauwohnung, sondern auch breit über das Land verstreut in Einfamilienhaussiedlungen und Mietskasernen und nicht nur in den Metropolen und ihren Vorstädten, sondern auch in den Mittel- und Kleinstädten und sogar auch auf dem Land zuhause (Reckwitz 2017, S. 285–349). Genauso kommen auch die Metropolen nicht ohne einen erheblichen Anteil der nicht-akademischen Mittelklasse der Handwerker und Gewerbetreibenden an der Bevölkerung aus, ohne die sie schlicht nicht existieren könnten. Das gilt erst recht für das dicht besiedelte Deutschland, wo diese unterschiedlichen Lebensverhältnisse nicht scharf voneinander getrennt sind, sondern weitgehend ineinanderfließen. Da ist nicht so viel Singularismus – weder in der individuellen noch in der kollektiven Form – zu sehen, wie die Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse in kulturtheoretischer Perspektive suggeriert. Vielmehr dominiert auf beiden Seiten ihre Amalgamierung in den verschiedensten Versionen. Und schon gar nicht geht es um Ästhetik, sondern ganz profan um die Erarbeitung und Verteilung des ökonomischen Wohlstands und die Teilhabe an der legitimen politischen Herrschaft.

Dem Idealtypus der hyperkulturellen Singularität entsprechen am ehesten seltene Exemplare der narzisstischen Lebenskunst, aber nicht die breite akademische Mittelklasse, für die dieser Idealtypus der Maßstab sein soll. Ebenso repräsentieren genauso seltene Exemplare der identitären Bewegung in ihrer extremsten Ausprägung den Idealtypus des singulären Kulturessenzialismus, aber nicht die breite nicht-akademische Mittelklasse und auch nicht die Unterklasse, für die »Kulturnationalismus« genauso fremd ist wie für die akademische Mittelklasse. Das heißt nicht weniger, als dass diese beiden Idealtypen die Lebenswirklichkeit der breiten Masse dieser drei sozialen Klassen nicht zutreffend beschreiben und deshalb ein irreführendes Bild des tatsächlichen kulturellen Konflikts zwischen diesen Klassen zeichnen. Der weitaus größte Teil der akademischen Mittelklasse weiß gar nicht, was »Hyperkultur« ist, kann damit nichts anfangen und strebt auch nicht nach Singularität im Sinne einer Unterscheidung um jeden Preis, weder bewusst noch unbewusst. Der größte Teil der nicht-akademischen Mittelklasse und auch der Unterklasse weiß nicht, was »Kulturessenzialismus« ist und kann damit nichts anfangen, entspricht dieser Kategorisierung auch nicht unbewusst im tatsächlichen Denken und Handeln. Die beiden Begriffe treffen am ehesten noch, wie Intellektuellenzirkel über diese Klassen sprechen, aber nicht, was die Mitglieder dieser Klassen über sich selbst denken. Die Gesellschaft unserer Gegenwart ist in der Tat mehrfach und tief gespalten. Diese Spaltungen sind jedoch vielfältiger und anderer Art als durch den Gegensatz zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialisms suggeriert wird.

Dass es dem kulturtheoretischen Blick nicht gelingt, die realen Differenzen der mehrfach gespaltenen Gesellschaft sichtbar zu machen, liegt in erster Linie an der unzureichenden Adressierung von Klassenkonflikten und damit verbundenen Konflikten zwischen den Vorstellungen über die gute politische Ordnung der Gesellschaft. Das Politische ist nahezu nicht existent in der kulturalistischen Sicht auf die Gesellschaft. Genau die Vorstellungen über die gute politische Ordnung und die legitime Machtausübung sind jedoch das zentrale Streitobjekt der gespaltenen Gesellschaft unserer Gegenwart. Und dieses Streitobjekt hat wiederum mehrere Dimensionen, die es zu untersuchen gilt, wenn man ein zutreffendes Bild der Spaltungslinien zeichnen will. Die folgenden sechs Dimensionen stechen heraus und verlangen eine genauere Betrachtung:

Kosmopolitismus versus Kommunitarismus. Politisch geht es hier um den Konflikt über den richtigen Ort der demokratischen Willensbildung. Wieviel davon ist auf globaler bzw. supranationaler Ebene nötig, wieviel davon auf lokaler bzw. nationaler Ebene möglich?

Kulturelles versus ökonomisches Kapital, Idealismus versus Materialismus. Politisch geht es hier um den Konflikt zwischen Idealismus und Materialismus, kultureller Sinnfindung und ökonomischer Nutzenmaximierung, Ideal und Wirklichkeit, Wünschbarkeit und Machbarkeit, gebildetem und gewerblichem Bürgertum in neuer Auflage.

Rechts versus links, postbürgerliche versus altbürgerliche Rechte, postmoderne versus altmoderne Linke. Politisch geht es hier um den Konflikt zwischen Marktwirtschaft und wirtschaftlicher Freiheit auf der einen Seite und umfassender Staatsvorsorge und durch Umverteilung gesicherter Gleichheit der Lebensbedingungen auf der anderen Seite. Beide Seiten haben eine Überschneidung, wenn umfassende soziale Sicherheit gesucht wird, die einen starken nationalen Wohlfahrtsstaat benötigt. Das ist die alte Gemeinsamkeit konservativer und sozialdemokratischer Parteien. Es gibt hier aber auch den jeweils internen Konflikt zwischen der global-postbürgerlichen und der national-altbürgerlichen Rechten auf der einen Seite und zwischen der global denkenden postmodernen und der national denkenden altmodernen Linken auf der anderen Seite.

Ökonomie versus Ökologie. Politisch geht es hier um den Konflikt zwischen dem alten Wachstumsprogramm der Wohlfahrtsdemokratie und der neuen Programmatik der ökologischen Nachhaltigkeit, speziell des Klimaschutzes.

Etablierte versus Außenseiter. Politisch geht es hier um den Konflikt zwischen der Anerkennung von Gruppenrechten und der ausschließlichen Geltung von Individualrechten. Das ist Gegenstand der sogenannten Identitätspolitik, die aber nicht nur auf die Anerkennung von Identitäten zielt, sondern immer auch auf die Teilhabe an Wohlstand und Macht.

Herrschende versus beherrschte Klassen und Gruppen: Politisch geht es hier um die Ablösung der industriellen Mittelstandsgesellschaft durch die postindustrielle Klassengesellschaft und postmoderne Stammesgesellschaft und die Bewältigung der damit verbundenen neuen Klassen- und Gruppenkonflikte.

Diese sechs Gegensätze gilt es in ihrer kulturellen Bedeutung und in ihrer sozialstrukturellen Verankerung, in ihrer Anerkennungs- und Verteilungsdimension zu verstehen. Das ist weit mehr und weit komplexer als der Gegensatz zwischen zwei Arten der Singularität, zwischen der Hyperkultur und dem Kulturessenzialismus, den es laut Reckwitz (2019, S. 52–61, S. 239–304) durch ein neues »Allgemeines«, durch Doing Universality zu versöhnen gilt. Und es verlangt wesentlich mehr institutionelle Gestaltung der Gesellschaft als Doing Universality. Es ist auch mehr als die Brücke, die Reckwitz (2017, S. 374–393; 2019, S. 261–285) schließlich von der herrschenden »Hyperkultur« zur Ehe von ökonomischem Neoliberalismus und kulturellem Liberalismus bzw. Linksliberalismus im »apertistischen« bzw. »apertistisch-differenziellen« Liberalismus schlägt. Hier ist der kulturelle Liberalismus bzw. »Linksliberalismus« mit der Fokussierung auf Identitätspolitik, Frauenrechte, Minderheitenrechte und Multikulturalismus der allgemeinere Rahmen, in den die Hyperkultur eingebettet ist. Das ist im Ansatz ein Weg zu einem besseren Verständnis der Konfliktlagen in der postindustriellen und postmodernen Gesellschaft. Um diesen Weg konsequent zu beschreiten, muss aber auch die andere Seite genauer beleuchtet werden, die sich dem herrschenden Paradigma entgegenstellt. Und das ist mehr als Populismus, dessen einigendes Band der Kulturessenzialismus sein soll (vgl. Rodrik 1997, 2011; Streeck 2021). Schließlich verlangt die politische Bewältigung der komplexen Konfliktlage weit mehr als Doing Universality. Es geht dabei insbesondere um Fragen wie die Ausbalancierung von globalen Dynamiken und lokalen Lebenswelten (Münch 1998), supranationaler Expertenherrschaft und nationaler Demokratie (Münch 2008a, 2008b), Binnen- und Außenmoral (Münch 2016). Der kulturtheoretische Blick führt letztlich zu einer Verschleierung und Verkennung der materiellen Verteilungskonflikte und der Konflikte um die politische Ordnung der Gesellschaft. Diese Konflikte bleiben hinter der Beschreibung der zwei kulturellen bzw. ästhetischen Singularitäten verborgen und können deshalb auch nicht Gegenstand der politischen Auseinandersetzung werden, um sie zu bewältigen.

Was wir zu einem besseren Verständnis und einer besseren Erklärung der Konflikte unserer Zeit benötigen, ist weniger Kulturtheorie und mehr Soziologie, speziell Konfliktsoziologie. Wir haben es nicht nur mit einem neuen Kulturkampf zu tun, schon gar nicht mit ästhetischen Kämpfen um das schöne Leben, sondern vor allem mit neuen Klassen- und Gruppenkämpfen. Und diese Kämpfe bilden letztendlich die materielle Basis für die Kulturkämpfe. Alle symbolischen Kämpfe um Anerkennung wurzeln in materiellen Kämpfen um die Verteilung knapper Güter, ohne deren eigenständige Untersuchung wir auch die symbolischen Kämpfe nicht zureichend verstehen und erklären können (Bourdieu, 1982). Diese beiden Arten von Kämpfen und ihre Verflechtung miteinander sind der zentrale Gegenstand dieser Untersuchung. Zu untersuchen sind also die Kämpfe um Anerkennung und Teilhabe, symbolische und materielle Kämpfe sowie ihre Verflechtung miteinander. Das Erkenntnisinteresse gilt dabei nicht der praktisch-philosophischen Frage, ob Anerkennung und Verteilungsgerechtigkeit unabhängig voneinander zu denken sind, Anerkennung eine Voraussetzung von Verteilungsgerechtigkeit ist, die Suche nach Anerkennung die Suche nach Verteilungsgerechtigkeit behindert oder umgekehrt (Fraser und Honneth 2003). In soziologischer Perspektive geht es darum, dass Kämpfe um Anerkennung symbolische Kämpfe sind, in denen sich die soziale Konstruktion der Wirklichkeit in mehr oder weniger vermachteten Diskursen vollzieht. In diesen Diskursen wird bestimmt, welche Ideen des guten Lebens, welche kulturellen Traditionen und welche persönlichen Identitäten als anerkennungswürdig zu betrachten, zu achten und zu respektieren sind. Soziologisch interessiert dabei nur die faktische soziale Konstruktion von Anerkennungswürdigkeit in historischen Kämpfen, nicht die normative Frage, wer oder was als anerkennungswürdig zu gelten hat und ob das tatsächlich Anerkannte auch anerkennungswürdig ist. Dagegen zielen Kämpfe um Teilhabe auf die Verteilung von Wohlstand und Macht. Auch dabei sind allein die Macht- und Legitimationsverhältnisse von Interesse, aus denen eine bestimmte Verteilung dieser Güter folgt. Die normative Frage der Gerechtigkeit dieser Verteilung ist Sache der praktischen Philosophie, aber nicht einer Soziologie, die sich auf die Beschreibung, Erklärung und Deutung der sozialen Wirklichkeit, wie sie ist, konzentriert. Anerkennungs- und Gerechtigkeitsdiskurse sind allerdings ein Teil dieser sozialen Wirklichkeit, die es zu beschreiben, erklären und verstehen gilt (vgl. Schulze 2019).

In den materiellen und symbolischen Kämpfen werden de facto in aller Regel auch Bezüge zwischen Anerkennung und Verteilung hergestellt. Ein zentrales Motiv der Beanspruchung von Anerkennung ist sicherlich mangelnde Teilhabe an Wohlstand und Macht. Wer meint, ungerecht entlohnt zu werden, will, dass der Wert seiner Arbeit anerkannt wird. Wer meint, keinen gleichen Zugang zur politischen Macht zu haben, mag den Anspruch erheben, aufgrund der Identität als Frau oder Angehöriger einer Minderheit Zugang zu erhalten. Wer meint, in seiner persönlichen Identität nicht anerkannt zu sein, strebt nach einem höheren Status, möchte zum Beispiel als Frau in den Vorstand eines Unternehmens aufgenommen werden. Die ungleiche Verteilung von Gütern impliziert immer auch ungleiche Anerkennung, und ungleiche symbolische Anerkennung gibt Anlass zu materiellen Verteilungskämpfen. Eine höhere Quote für bestimmte Personenkategorien hat immer eine verringerte Quote für andere Personenkategorien zur Folge. Und im weltweiten Zusammenhang bedeutet die Anerkennung traditionalistischer Kulturen, dass sie auch leichter ihre Art des Wirtschaftens und Machtausübens durchsetzen können.

Die Durchsetzung allgemein verbindlicher Werte kann ungleiche Chancen und Belastungen mit sich bringen. Nehmen wir »Diversität« als Beispiel. Der Begriff hat in den Vereinigten Staaten schon vor gut vier Jahrzehnten im Diskurs um gleiche Chancen von ethnischen Minderheiten und Frauen bei der Zulassung zum Studium und bei der Besetzung beruflicher Positionen größte Bedeutung erlangt. Diversität gilt seitdem als Wert an sich, wird aber auch zusätzlich durch zwei wünschenswerte Folgen ihrer Verwirklichung legitimiert. Erstens soll ihre Beachtung helfen, Chancenungleichheiten abzubauen, zweitens wird von gesteigerter Diversität auch eine Steigerung der Leistungen von Regierungen, Behörden, Universitäten, Unternehmen oder ganzen Gesellschaften erwartet. Nach vierzig Jahren ist der Wert auch in Europa angekommen und beherrscht inzwischen den Diskurs so unbestritten wie in den Vereinigten Staaten, obwohl die europäischen Gesellschaften noch weit von der faktischen Diversität der US-amerikanischen Gesellschaft entfernt sind. Die Implementierung von Diversität verteilt Chancen neu und muss nicht zwangsläufig, kann aber de facto in Konflikt mit dem Leistungsprinzip geraten, offensichtlich dann, wenn Quoten bei der Besetzung von Positionen für mehr Diversität sorgen sollen. Davon profitieren die dadurch Privilegierten, während diejenigen, die nicht unter die Quote fallen, den Kürzeren ziehen. Es kann dadurch und durch zu viel, d. h. Verständigung und Koordination stark erschwerende Diversität auch die Leistungsfähigkeit einer Organisation, Nachbarschaft, Gemeinde bzw. ganzen Gesellschaft beeinträchtigt werden, was die Auszahlung an die Organisations-, Nachbarschafts-, Gemeinde- bzw. Gesellschaftsmitglieder schmälert. Je größere Verständigungs- und Koordinationsprobleme sowie Konflikte durch Diversität entstehen, umso geringer sind ihre Erträge für eine Organisation, Nachbarschaft, Gemeinde bzw. Gesellschaft.

Außerdem macht es einen großen Unterschied, ob die Diversität in einer Werbeagentur, in einem Produktionsbetrieb, in einem ohnehin schon diversen Szeneviertel oder in einer seit Jahrzehnten kaum veränderten Gemeinde, in einem Team von Hochqualifizierten oder in der einfachen Produktionsarbeit vergrößert wird. Was im einen Fall eine willkommene Bereicherung ist, kann im anderen Fall den Wettbewerb um knappe Arbeitsplätze verschärfen. Mehr Diversität kann für die einen ein Gewinn sein, für die anderen ein Verlust. Infolgedessen kann sie Verteilungskonflikte in der Zulassung zum Studium und in der Besetzung von Positionen zur Folge haben. Für die Bessergestellten einer Gesellschaft ist sie besser zu bewältigen, und sie wird von ihnen eher als ein Gewinn betrachtet, für die schlechter Gestellten ist sie schwerer zu bewältigen, und sie wird von ihnen eher als ein Verlust an Sicherheit empfunden. Der symbolische Kampf um mehr Diversität als Definition des guten Lebens ist demgemäß unmittelbar mit Verteilungskonflikten verknüpft, über deren Ausgang die Verfügung über ausreichendes symbolisches Kapital und damit verbundene Definitionsmacht entscheidet. Das heißt, dass es den kulturell und ökonomisch herrschenden Klassen eher gelingt, mehr Diversität als Maßstab des guten Lebens zu etablieren, als dass es den kulturell und ökonomisch beherrschten Klassen möglich ist, der Steigerung von Diversität Grenzen zu setzen.

Die Verteilungskonflikte und der Konflikt mit dem Leistungsprinzip implizieren, dass das durchgesetzte Maß an Diversität nicht zwangsläufig den in einer idealen Sprechsituation zur Geltung kommenden Maßstäben genügt. Die Definitionsmacht der herrschenden Klassen kann auch Diversität in einem Maß und einer Art durchsetzen, die ihren Interessen entspricht und ihre Lebenslage zumindest nicht beeinträchtigt, aber die Interessen der beherrschten Klassen missachtet und ihre Lebenslage verschlechtert. Die realen symbolischen Kämpfe werden also nicht unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation entschieden (vgl. Habermas 1971; Zahn 2021). Es ist eher so, dass die ausgeübte Definitionsmacht den herrschenden Klassen erlaubt, ihre partikulare Sicht der Dinge als allgemeingültig erscheinen zu lassen. »Mehr Diversität« erhebt den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, während »weniger Diversität« als partikulare Borniertheit und nicht allgemein begründbar zurückgewiesen wird, ohne dass dieser Anspruch unter den Bedingungen einer idealen Sprechsituation geprüft worden wäre. Für eine distanzierte soziologische Analyse von Kulturkämpfen und der entsprechenden Auseinandersetzungen um die Definition des guten Lebens ist es deshalb unerlässlich, Kulturkämpfe nicht isoliert zu untersuchen, sondern in der engen Verflechtung von symbolischen und materiellen Kämpfen.

Auf jeden Fall sind die tiefgreifenden mehrfachen Spaltungslinien der Gesellschaft unserer Gegenwart und die daraus resultierenden materiellen Verteilungskämpfe um die Teilhabe an Wohlstand und Macht so sichtbar zu machen wie möglich. Es sollen hier die Spaltungslinien untersucht werden, die kennzeichnend für eine Gesellschaft sind, die sich in dem Sinne als postindustriell und postmodern bezeichnen lässt, dass die für die entwickelte Moderne charakteristische nationale Massenwohlstandsgesellschaft bzw. nivellierte Mittelstandsgesellschaft von einer neuen in Klassen und Identitätsgruppen gespaltenen Gesellschaft abgelöst wird, die sich als globale Wettbewerbsgesellschaft bezeichnen lässt (Münch 2012). Die Teilhabe an Wohlstand und Macht wird in dieser postindustriellen und postmodernen Gesellschaft durch die o. g. sechs Spaltungslinien bestimmt: Kosmopolitismus versus Kommunitarismus, kulturelles versus ökonomisches Kapital, rechts versus links (global und lokal, postbürgerlich und altbürgerlich, postmodern und altmodern), Ökonomie versus Ökologie, Etablierte versus Außenseiter, herrschende versus beherrschte Klassen und Gruppen. Diese sechs Spaltungslinien gilt es im Einzelnen zu untersuchen. Unsere Analyse der gesellschaftlichen Spaltungslinien mündet in eine Untersuchung der sichtbarsten politischen Artikulation der tiefgreifenden Spaltungen der postindustriellen und postmodernen Gesellschaft im Aufstand des Populismus gegen die als »abgehoben« bezeichneten Eliten. Politisch geht es hier um den Konflikt um die Teilhabe an der Ausübung politischer Herrschaft. Ist diese allein Sache der kulturell und ökonomisch herrschenden Klassen oder haben die kulturell und ökonomisch beherrschten Klassen einen Zugang zu politischen Entscheidungsprozessen, wie es in Demokratien an sich vorgesehen ist? Es geht hier um nicht weniger als die Teilhabe an der Ausübung legitimer Herrschaft.

Schließlich gilt es die Frage zu klären, welche Möglichkeiten sich überhaupt bieten, um die Spaltungen und damit verbundenen Konflikte so in Grenzen zu halten, dass die Gesellschaft nicht auseinanderfällt. Mit einer Leerformel wie Doing Universality wird man dabei nicht weit kommen (vgl. Schmid 1972). Dazu bedarf es einer genaueren Betrachtung möglicher Strategien zur Überwindung der Spaltungen und Konflikte. Wir konzentrieren uns hier zunächst auf genau den Weg, der parteienübergreifend als Königsweg zu gesteigerter ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Inklusionskraft jenseits des nationalen Wohlfahrtsstaates gilt: Bessere Bildung für alle! Es ist zu fragen: Ist das der Weg, auf dem die Konflikte eingedämmt werden können? Ist es der Weg zur Versöhnung der Gegensätze, wie viel versprochen und viel erhofft?

Wir enden mit einer Einbettung der beschriebenen gesellschaftlichen Spaltungen in den Wandel vom nationalen Wohlfahrtsstaat hin zu einer globalen Wettbewerbsgesellschaft und einem konstitutionellen Liberalismus, die verlangen, Kosmopolitismus und Kommunitarismus nicht gegeneinander auszuspielen, sondern miteinander zu vereinigen. Die tragende Säule dieser Verknüpfung von globaler Vernetzung und lokaler Verwurzelung sind mittelständische und größere Unternehmen, insbesondere in der alten Form traditioneller Familienunternehmen und der neuen Form innovativer Startups, einschließlich ihrer zunehmenden Zusammenarbeit. Das heißt, einem Segment der »alten« Mittelklasse, dem gewerblichen Bürgertum, kommt in der Verbindung mit einem kongenialen Segment der »neuen« Mittelklasse größte Bedeutung für die zukunftsweisende Verknüpfung von wirtschaftlicher Prosperität und gesellschaftlichem Zusammenhalt auf zugleich globaler und lokaler Ebene zu. Damit diese Strategie zum Erfolg führt, muss zuerst einmal zur Kenntnis genommen werden, dass die Interessen und Lebensführungsideale des gewerblichen Bürgertums wie auch der Arbeiterklasse unter der Herrschaft von rein global ausgerichteten ökonomischen und kulturellen Eliten marginalisiert sind. Es zeigt sich darin nicht weniger als ein neuer fundamentaler Klassenkonflikt, zu dem auch eine Neuauflage des alten Konflikts zwischen bürokratischer Herrschaft und unternehmerischer Freiheit gehört. Die Frage, die es am Ende zu beantworten gilt, lautet, wie dieser neue Klassenkonflikt bewältigt werden kann, sodass eine Überwindung der gesellschaftlichen Polarisierung möglich ist.

Um die Konfliktlagen zureichend erfassen zu können, sollen zwei Ebenen der entsprechenden Auseinandersetzungen zur Sprache kommen, einerseits der intellektuelle Diskurs, andererseits der alltägliche mediale Diskurs, an dem auf dem Wege der Digitalisierung auch die Zeitungsleser teilnehmen, über deren Kommentare zu Zeitungsartikeln man einen Zugang zum Denken zumindest der aktiven Leser bekommt. Das heißt, philosophische, politökonomische und politikwissenschaftliche Beiträge zu Globalisierung, EU-Verfassung, Wohlfahrt, Demokratie, Nationalstaat, Critical Race Theory und Postcolonial Studies werden auf einer ersten Ebene als Teil der symbolischen Kämpfe, zum Beispiel über Kosmopolitismus versus Kommunitarismus oder Gruppenrechte versus Individualrechte, betrachtet. Unterhalb dieser Ebene des intellektuellen Diskurses werden auf einer zweiten Ebene im medialen Diskurs Fragen der Anerkennung und der Verteilung von knappen Gütern und Lasten alltäglich neu verhandelt. Die Tages- und Wochenpresse und die wachsende Szene der »alternativen« Online-Medien repräsentieren diesen Diskurs. Beispielsweise ist es durch die Leserkommentare zu Berichten und Kommentaren in Tageszeitungen möglich, einen Einblick in das Denken der Leute zu bekommen, die in den entsprechenden Auseinandersetzungen eher auf der populistischen Seite zu verorten sind. Leserkommentare werden in den Sozialwissenschaften noch recht wenig als Datenquelle genutzt. Sie bieten jedoch einen direkten Zugang zum Denken der »Leute« (vgl. Vobruba 2019). Ihre Nutzung hilft, über die bloße theoretische Zuschreibung von Positionierungen aufgrund der angenommenen Position der Leute im Klassengefüge der Gesellschaft hinauszugelangen.

Sowohl auf der intellektuellen als auch auf der alltäglichen Ebene ist das zwar ein höchst selektiver Zugang zu den symbolischen Kämpfen, aber ein Zugang zu Meinungsführern, die Einfluss auf das Denken der intellektuellen Elite einerseits und das Denken der Leute andererseits ausüben. Das soll entschieden keine repräsentative Auswahl dessen sein, was Intellektuelle bzw. die »Leute« insgesamt denken. Stattdessen sollen solche Positionierungen zur Sprache kommen, die für unsere Fragestellung besonders aufschlussreich sind. Wir erhalten auf diesem selektiven Weg zumindest einen Einblick in einen politisch sehr relevanten Teil der sozialen Wirklichkeitskonstruktion in symbolischen Kämpfen. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Bezug auf Fragen der Identität und Anerkennung sowie auf Fragen der Verteilung knapper Güter. An den Stellungnahmen interessiert immer, wie weit die Sprecher um Fragen der Anerkennung von Ideen des guten Lebens, kulturellen Traditionen und persönlichen Identitäten und/oder um Fragen der Verteilung knapper Güter, der Verteilung von Lasten, der Finanzierung öffentlicher Aufgaben und der Teilhabe an Wohlstand und Macht ringen. Das heißt, die materiellen Kämpfe bekommen wir in Gestalt der Adressierung von Verteilungsfragen in den symbolischen Kämpfen zu Gesicht. Auch in dieser Hinsicht werden höchst selektiv solche Leserkommentare ausgewählt, die ein besonderes Augenmerk auf die Verteilungskonflikte legen. Das heißt, sie haben allein einen illustrativen Charakter, um eine bestimmte Sicht auf die Konflikte darzustellen. Selbstverständlich erfüllen viele andere Kommentare diese Anforderung nicht. Es geht hier nicht um Repräsentativität, sondern um die zugespitzte, »idealtypische« Darstellung einer bestimmten Positionierung in der aktuellen Konfliktlage. Die reale materielle Ebene der Verteilung von knappen Gütern und Lasten schließlich, erfassen wir punktuell und ergänzend anhand von elementaren statistischen Daten, die uns zum Beispiel etwas über die Ungleichheit von Haushaltseinkommen, Abgabenquoten, Einkommen, Bildungsleistungen, Bildungsrenditen oder Inhaftierungsraten bestimmter Bevölkerungsgruppen sagen.

2.Spaltungslinien der postindustriellen und postmodernen Gesellschaft

2.1Einleitung

Wie in der Einleitung festgestellt, besteht eine wesentliche Spaltungslinie der gegenwärtigen Gesellschaft zwischen dem Lager der »Globalen« bzw. »Kosmopoliten«, und dem Lager der »Lokalen« bzw. »Kommunitaristen«. Ein weiteres, immer schon gegebenes und neu verschärftes Spannungsverhältnis besteht zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital, theoretischer und praktischer Vernunft, kultureller Sinnstiftung und ökonomischer Nutzenmaximierung bzw. »Postmaterialismus« und »Materialismus«, traditionell zwischen dem gebildeten und dem gewerblichen Bürgertum. Die alte politische Spaltungslinie zwischen rechts und links zeigt sich doppelt gespalten in die globale postbürgerliche und lokale altbürgerliche Rechte sowie die globale postmoderne und lokale altmoderne Linke. Dabei gibt es Gemeinsamkeiten zwischen der globalen Rechten und globalen Linken sowie zwischen der lokalen Rechten und der lokalen Linken (vgl. Amable 2021). Sehr in den Vordergrund getreten ist die neue Spaltungslinie zwischen Ökonomie und Ökologie. Die Frage ist hier, wieviel Massenwohlstand und wieviel davon in der ganzen Welt mit nachhaltigem Wirtschaften, speziell Klimaschutz vereinbar ist. Hinzu tritt die zunehmend bedeutsamer gewordene Spaltungslinie zwischen Gruppenidentitäten sowie Gruppenrechten und Individualrechten. Weiterhin ist die lange Zeit für dauerhaft beständig und als kennzeichnend für die Hochmoderne gehaltene Massenwohlstandsgesellschaft bzw. »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« (Schelsky 1965) durch eine Klassengesellschaft mit einer geschrumpften Mittelschicht und schärfer gezogenen Klassengrenzen sowie einer weiteren Ausdifferenzierung in Milieus und Identitätsgruppen abgelöst worden. Die neuen Spaltungslinien überlagern die alte Spaltung in rechts und links, sodass wir es mit einer mehrfachen Spaltung der Gesellschaft zu tun haben, nämlich nicht nur mit der Spaltung in Globale und Lokale, sondern auch mit der Spaltung in rechte und linke Globale sowie rechte und linke Lokale, mit einer Spaltung in kulturelle Sinngebung und ökonomische Nutzenmaximierung, mit einer Spaltung zwischen Ökonomie und Ökologie, mit einer Spaltung nach Gruppenidentitäten sowie einer neu akzentuierten Spaltung in Klassen, Gruppen und Milieus.

Die Komplexität dieser Spaltungslinien kennzeichnet die gegenwärtige postindustrielle und postmoderne Gesellschaft. Sie ist in dem Sinne postindustriell, dass Wissen und Information bedeutender für die wirtschaftliche Wertschöpfung geworden sind als Kapital und Arbeit und die Dienstleistungsindustrie ein Übergewicht gegenüber der Fertigungsindustrie besitzt, die Herstellung immaterieller, kognitiv-kultureller Güter in der »Wissensökonomie« bzw. im »kognitiven Kapitalismus« im Vergleich zur Herstellung materieller Güter an Gewicht gewonnen hat (Bell 1975; Touraine 1972; OECD 1996, 1999; Moulier-Boutang 2011; Rindermann 2018; Stehr 2022). Der Verlust an Gemeinsamkeiten, die Fokussierung auf Gruppenidentitäten und -rechte und die Komplexität und Tiefe der Spaltungslinien rechtfertigen es auch, von einer postmodernen Gesellschaft zu sprechen (Eagleton 1996; Lyotard 1986). Die Spaltungslinien der postindustriellen und postmodernen Gesellschaft unterscheiden sich grundsätzlich von denjenigen der modernen Gesellschaft nach Klassen und Religionen und deren Übersetzung in Parteiensysteme, wie sie von Lipset und Rokkan (1967) beschrieben wurden. Die neuen Spaltungslinien gilt es genauer zu betrachten, um ein tiefergehendes Verständnis der politischen Problemlage zu gewinnen.

2.2Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Der Kampf um den richtigen Ort der Demokratie

Die in der Gegenwart meistdiskutierte Spaltungslinie der Gesellschaft ist die Entgegensetzung von Globalismus und Lokalismus bzw. Kosmopolitismus und Kommunitarismus. Dabei handelt es sich zunächst einmal um zwei Arten der Loyalität zu Mitmenschen: Weltbürgertum versus lokales Bürgertum. Die Eigenart dieser Loyalitäten ist schon seit der griechischen Antike Gegenstand der politischen Philosophie. In der Gegenwart stellt sich konkreter die Frage nach der effektiven demokratischen Kontrolle des globalen Kapitalismus. Bedarf es dafür einer weitgehenden Verlagerung politischer Entscheidungskompetenzen auf supranationale Einheiten wie die Europäische Union oder sollte die Europäische Union nicht mehr als eine Staatengemeinschaft sein, weil demokratische Kontrolle effektiv nur innerhalb von Nationalstaaten ausgeübt werden kann?

Weltbürger versus lokal verwurzelte Bürger: Zwei Horizonte der Loyalität

Die Begriffspaare »Globale« versus »Lokale« oder cosmopolitans versus locals drücken zwei entgegengesetzte räumliche Orientierungen des Handelns aus. Die Gegenüberstellung dieser beiden Orientierungen geht bis auf Diogenes von Sinope (413 bis vermutlich 323 v. Chr.) in der griechischen Antike zurück, der sich als Weltbürger betrachtete. Die Stoiker haben im Zuge der Expansion des Römischen Reiches die Idee des Kosmopolitismus weiterentwickelt (vgl. Höffe 1999, S. 230–240). Die Erweiterung des eigenen Horizontes auf die ganze Welt befreit den Menschen aus der Enge lokaler Gemeinschaften und fördert damit den Individualismus (Simmel 1908/1992, S. 811–816). Für die Ideengeschichte des Kosmopolitismus in der modernen Zeit sind Immanuel Kants Schriften Idee einer Allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784/1977a) und Zum ewigen Frieden (1795/1977b) von zentraler Bedeutung. Das Weltbürgerrecht ergänzt in den Augen Kants das nationale Bürgerrecht. Es ist die Rechtsgrundlage für den freien Austausch von Waren und Wissen sowie den freien Personenverkehr im Sinne eines Besuchs- und Gastrechts, aber nicht Niederlassungsrechts, über staatliche Grenzen hinweg. Politisch ist die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution am 26. August 1789 ein Meilenstein der historischen Entwicklung. Sie hieß auch Menschen von außerhalb Frankreichs willkommen, wenn sie sich auf die Ideale der Revolution verpflichteten. Allerdings wurden sie aber auch bald verdächtigt, nicht hinter diesen Idealen zu stehen und ab 1793 unter der Terrorherrschaft der Jakobiner verfolgt. Jetzt konnte nur noch ein echter Patriot wirklich uneingeschränkt auf der Seite der Revolutionsideale stehen. Wir sehen schon hier ein auch heute noch virulentes Spannungsverhältnis zwischen Kosmopolitismus und Patriotismus.

In der Soziologie hat Robert K. Merton (1949/1968a) die Unterscheidung von »Cosmopolitan and Local Influentials« in lokalen Gemeinden eingeführt. Die einen pflegen überlokale Beziehungen und bringen diesen weiteren Horizont in die Gestaltung des Gemeindelebens ein, die anderen sind stark in der lokalen Gemeinde verankert und sind hier deshalb besonders einflussreich. Alvin Gouldner (1957,1958) hat diese Unterscheidung auf zwei latente Rollen in Organisationen bezogen. Hier pflegen die Kosmopoliten eine starke Loyalität zu ihrer organisationsübergreifenden Berufsgruppe, z.B. als Wissenschaftler oder Ingenieure, während sich die Lokalen in erster Linie der Organisation verpflichtet fühlen. Ulf Hannerz (1990) hat diese Unterscheidung im Kontext der wachsenden soziologischen Aufmerksamkeit für die Globalisierung der Lebensverhältnisse wieder aufgegriffen.

Neuerdings hat David Goodhart (2017) die Begriffe »Anywheres« und »Somewheres« ins Spiel gebracht. Die »Anywheres« sind in der ganzen Welt zuhause, betrachten die ganze Welt als Raum ihres Handelns und verstehen sich im besten Fall als Weltbürger, die auch Verantwortung für die Gestaltung der Welt als Ganzer übernehmen wollen. Letzteres zeigt sich in Tätigkeiten für transnationale Wirtschaftsunternehmen, Internationale Organisationen (IGOs) und Internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs). Wie man am Beispiel Immanuel Kants sehen kann, ist Weltbürgertum jedoch in erster Linie eine Sache der Reichweite des gedanklichen Horizontes und der moralischen Verpflichtung, nach dem kategorischen Imperativ so zu handeln, dass man die zugrundeliegende Maxime zu einem allgemeinen Gesetz machen kann. Man kann also ein Weltbürger sein, ohne jemals den Großraum Königsberg verlassen zu haben, wie man von Kant sagt. Goethe dagegen, ist in seinem Plädoyer für Weltbürgertum wohl auch durch die Erweiterung seines Denkhorizontes auf seiner ausgedehnten Reise durch Italien von September 1786 bis Mai 1788 beeinflusst worden. Zusammen mit Schiller empfiehlt er den Deutschen, dass sie sich eher zu Menschen als zur Nation bilden sollten (Schiller 1962, S. 267). Sein Plädoyer für Weltliteratur kann jedoch als eine rein geistige Angelegenheit betrachtet werden. Weltliteratur entsteht, wenn Schriftsteller und Leser die sprachlichen Grenzen per eigener Mehrsprachigkeit oder per Übersetzung überschreiten und zur Kenntnis nehmen, was es außerhalb dieser Grenzen an Literatur gibt. Dabei kann es zur wechselseitigen Befruchtung zwischen dem Eigenen und dem Fremden kommen, und es kann sich eine weltweit rezipierte Weltliteratur derart herausbilden, dass sie in lokaler Verankerung Fragen bearbeitet, die weltweit die Menschen in ihrem allgemeinen Menschsein bewegen.

Die »Somewheres« sehen sich in erster Linie als Bürger von lokalen Gemeinden, Regionen und Nationen. Ihr Tätigkeitsraum ist überwiegend auf diese sozialen Einheiten begrenzt. Sie haben einen starken Bezug zur Familie und zu Freunden im engeren lokalen Umkreis. Ihre berufliche Tätigkeit ist ebenso lokal, regional und national begrenzt. Die Aktiveren unter ihnen pflegen Mitgliedschaften in lokalen Vereinen und Vereinigungen:

»Well, I was born in a small town

And I live in a small town

Prob’ly die in a small town

Oh, these small communities«

(John Cougar Mellencamp, Small Town, 1985)

Eine neuere Studie zeigt beispielsweise für die Niederlande, dass in den urbanen Zentren die Zahl von Menschen mit einer eher »weltoffenen« Einstellung durchschnittlich größer ist als in den kleinstädtischen und ländlichen Regionen (Huijsmans et al. 2021). Dieses Ergebnis korreliert hoch mit Faktoren wie dem Anteil von weltweit vernetzten Managern und Experten, Kulturschaffenden, Wissenschaftlern, Lehrern, Studierenden und jüngeren Menschen an der Bevölkerung in den Metropolregionen. Das beweist auch eine Studie zu Deutschland mit Daten des Sozioökonomischen Panels (Maxwell 2019).

Korrespondierend zur Philosophie des Kosmopolitismus gibt es aber auch eine Philosophie des Kommunitarismus. Ihre Wurzel findet sich bei Aristoteles in seinen Schriften zur Politik (1998) und zur Nikomachischen Ethik (2017). Für Aristoteles ist die Gemeinschaft der freien und gleichen Bürger in der Polis der Ort der gemeinsamen Definition und Gestaltung des guten Lebens. Diese lokale Verwurzelung der Einigung über ein gutes Leben steht der abstrakten Definition von Prinzipien einer gerechten Gesellschaftsordnung gegenüber. Für die Moderne ist das Kants (1788/2000) moralischer Universalismus der Orientierung an allgemein begründbaren Prinzipien des Handelns oder der Utilitarismus des größten Glücks der größten Zahl von Jeremy Bentham (1789/1996). In der Gegenwartsphilosophie hat John Rawls (1979) diese Position mit der Denkfigur eines ursprünglichen Vertrags hinter dem Schleier des Nichtwissens über die eigene künftige Position formuliert. Unter dieser Bedingung einigen sich die Menschen auf eine Ordnung, die allen nur Vorteile im Vergleich zu jeder anderen Ordnung bringt. Man kann darin eine gegenwärtige Variante des Utilitarismus sehen (vgl. Höffe 1989, S. 46–50). Eine gegenwärtige Variante des Kantischen moralischen Universalismus ist die Diskursethik von Jürgen Habermas (1992), nach der das allgemeingültige moralisch Richtige im Unterschied zum bloß partikular geltenden Guten nur in einem Diskurs unter der Bedingung der idealen Sprechsituation gefunden werden kann, in dem alle gleichberechtigt sind und nur das bessere Argument zählt. Gegen diese Art abstrakter Gerechtigkeitstheorien haben sich die Philosophen des Kommunitarismus unter Erinnerung an Aristoteles gewandt. Aus ihrer Sicht hat eine abstrakte Gerechtigkeitsidee keine Verankerung im realen Leben der Menschen und bleibt eine blutleere Hülse ohne Wirkung auf die Gesellschaft. Stattdessen betonen sie, dass ein gemeinsam getragenes Verständnis des guten Lebens und die ethische Verpflichtung darauf nur innerhalb realer Gemeinschaften von Menschen möglich ist, wie man sie idealerweise in lokalen Gemeinden findet. Aus dieser Perspektive kann sich Demokratie am besten auf der Ebene solcher Gemeinschaften entfalten, weshalb möglichst viel Entscheidungsspielraum auf dieser Ebene verbleiben sollte. Das heißt, Demokratie braucht ein Gemeinwesen, an dessen Gestaltung sich die Bürger beteiligen und dadurch Gemeinsinn entwickeln. Das ist auch als ein dezidiertes Plädoyer für das Prinzip der Subsidiarität in föderalen politischen Systemen bzw. für das Regieren in sogenannten Mehrebenensystemen von der lokalen Gemeinde bis zur Weltebene zu verstehen (vgl. Höffe 1999, S. 126–152; Münch 1998, S. 363–414).

Die maßgeblichen Beiträge zur Philosophie des Kommunitarismus haben Alasdair MacIntyre (1981), Michael Sandel (1982) und Charles Taylor (1989) geleistet. In sozialwissenschaftlicher Perspektive ist die Thematik mit Fokus auf Sozialkapital und ein umfangreiches Vereinsleben in vitalen Zivilgesellschaften insbesondere von Putnam, Leonardi und Nanetti (1993), Putnam (2000) und Etzioni (1994, 1996) untersucht worden. Benjamin Barber (1996, 2003) hat die Fundamente von »starker« Demokratie in lebendigen Gemeinschaften dem Zerfall von Gesellschaften im globalen Spannungsfeld von Jihad und McWorld (Islamismus versus Coca-Cola-Kultur) entgegengestellt. Michael Walzer (1983, 1994) hat die Möglichkeit der Verbindung von lokalem Republikanismus und globalem Liberalismus in der Ausbalancierung von starker Gleichheit in lokalen Gemeinschaften und schwacher Gleichheit in der Weltgemeinschaft gesucht. In dem Konzept des »Verfassungspatriotismus« von Dolf Sternberger (1990a, 1990b) und Jürgen Habermas (1990) kann man den Versuch sehen, die abstrakten Prinzipien der Verfassung zu einem lokal verwurzelten Leitbild des guten Lebens zu machen. In diesen Kontext gehört auch das bekannte Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde: »Der freiheitliche säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann« (Böckenförde 1991, S. 112). Solche Voraussetzungen schafft zum Beispiel die Pflege von Gemeinsinn in einer lebendigen Zivilgesellschaft. Man könnte auch sagen, dass die alljährlichen Feiern zum Revolutionstag am 14. Juli in Frankreich und zur Unabhängigkeit am 4. Juli in den Vereinigten Staaten eine lokale Verwurzelung abstrakter Gerechtigkeitsideen befördern, auch wenn das in der Gegenwart nicht mehr so gut gelingt, wie es gewünscht ist. Die in lokalen Gemeinschaften verwurzelte Demokratie kann immer auch zu einer Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit, zu einer Unterwerfung des Individuums unter die Gemeinschaft und zu einer Ausgrenzung des Fremden führen. Dieser Tendenz kann nur die Garantie von nicht verhandelbaren individuellen Grundrechten durch eine unabhängige Justiz, der Pluralismus zivilgesellschaftlicher Vereinigungen und ein reger Verkehr über die Grenzen der lokalen Gemeinschaft hinaus entgegenwirken.

Transnationale Wirtschaftsintegration und nationale Demokratie

Der zunehmenden Verlagerung von weitreichenden, die nationalen Regierungen und Bevölkerungen bindenden Entscheidungen auf die Ebene der Europäischen Union und einem entsprechenden Machtzuwachs der Europäischen Kommission stehen gegenwärtig in allen Mitgliedstaaten stark gewachsene Gegenbewegungen gegen diese Machtverlagerung entgegen. Zur Bewältigung dieser zunehmend verschärften Konfliktlage hat jüngst Wolfgang Streeck (2021) ein starkes Plädoyer für einen Rückbau der EU auf die Zusammenarbeit souveräner Nationalstaaten gehalten. Nur dadurch könne auch der Kapitalismus sozial eingebettet und demokratischer Kontrolle unterworfen werden. Auch die Welthandelsorganisation bzw. World Trade Organisation (WTO) lässt in den Augen Streecks zu wenig Spielraum für nationalstaatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das zum 1. Januar 1948 in Kraft getretene General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) hatte als letzte Instanz von Handelsstreitigkeiten immer noch die Verhandlungen zwischen Regierungen. Die Transformation des GATT in die WTO zum 1. Januar 1995 installierte als oberste Instanz zur Beilegung von Handelskonflikten ein Rechtsverfahren in der Hand des Dispute Settlement Body. Das hat die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, sich gegen zu starken Wettbewerbsdruck zu schützen, mehr eingeschränkt, als es im Rahmen des GATT der Fall war. Streeck (2021, S. 242–274) betrachtet deshalb den Übergang vom GATT zur WTO als Ablösung des demokratisch eingebetteten Liberalismus durch den Neoliberalismus, der für die demokratische Regulierung der Wirtschaft keinen Spielraum lässt.

Allerdings ist es nicht so, dass es im Rahmen der WTO gar keine Möglichkeiten der nationalen Regulierung von Märkten gibt. Die Grundprinzipien der WTO sind Handelsliberalisierung auf der Basis von Reziprozität und Meistbegünstigung, Nicht-Diskriminierung ausländischer Waren und Dienstleistungen unter Respektierung von regulativer Autonomie der Mitgliedstaaten, Schutz gegen die Disruption von Märkten durch Dumpingpreise und Subventionen von Importgütern und -dienstleistungen sowie Streitbeilegung durch eine unabhängige Instanz. Das heißt, Handelserleichterungen müssen wechselseitig gleichwertig sein und müssen allen Mitgliedstaaten gleichermaßen gewährt werden. Und die Mitgliedstaaten können ihre Märkte regulieren, müssen das aber für inländische und ausländische Anbieter von Waren und Dienstleistungen in gleicher Weise tun. Ebenso können sie Importe abwehren, die durch Dumpingpreise und Subventionen forciert werden. Sie müssen sich aber bei Streitigkeiten den Entscheidungen des Dispute Settlement Body unterwerfen (Münch 2011b, S. 105–144; 2016, S. 80–111). Dieses Verfahren ist in der jüngeren Vergangenheit von den Vereinigten Staaten in Frage gestellt worden, weil es auf diesem Weg nicht möglich war, staatlich subventionierte Importe aus China zu unterbinden. Die Vereinigten Staaten blockieren deshalb die Ernennung neuer Berufungsrichter für den Appellate Body, sodass sich die WTO aktuell in einer Krise befindet. Deshalb wird über Reformen nachgedacht, die erstens eine effektivere Abwehr von Dumping und Subventionen gewährleisten, zweitens mehr Möglichkeiten der nationalen Regulierung von Märkten bieten und drittens die Streitbeilegung wieder mehr zurück in Verhandlungen zwischen Regierungen führen (Garcia Bercero 2020).

Die Frage für Streeck lautet, wieviel demokratische Regulierung von Märkten im Rahmen des europäischen Binnenmarktes und im Rahmen der WTO-Regeln möglich ist. Bei der Beantwortung dieser Frage ist zunächst an die These von Elmar Rieger und Stephan Leibfried (2001) zu denken, dass der Wohlfahrtsstaat die Grundlage der Globalisierung der Ökonomie sei. Gemeint ist damit erstens, dass der Wohlfahrtsstaat die Arbeitnehmer so weit vor den Risiken der globalen Konkurrenz schützt, dass sie bereitwillig die Öffnung der Märkte akzeptieren und die Regierungen nicht unter Druck setzen, protektionistische Maßnahmen zu ergreifen. Sozialpolitik entlastet so die Handelspolitik. Zweitens sei das auch nach den WTO-Prinzipien möglich, die den Schutz gegen die Disruption von Märkten erlauben. In den Augen von Streeck reicht dieser Schutz allerdings nicht so weit, um die wohlfahrtsstaatlichen Sicherheiten auf dem erreichten hohen Niveau des »eingebetteten Liberalismus« aufrechtzuerhalten. Das ist in seinen Augen zum Beispiel an der Erosion der sogenannten Deutschland AG im Zuge der Entwicklung des Shareholder-Kapitalismus zu beobachten (Streeck und Höpner 2003). Es ist auch unverkennbar, dass der mit dem offenen Welthandel forcierte Wettbewerbsdruck auf die Unternehmen den Arbeitsmarkt nicht völlig unberührt gelassen hat. Arbeitsplätze sind in Länder mit niedrigeren Lohnkosten verlagert worden, was dort zu einem großen Aufschwung beigetragen hat, wie man in Osteuropa beobachten kann. Darüber hinaus hat der erhöhte Wettbewerbsdruck zusammen mit dem Mitgliederschwund der Gewerkschaften zu einer größeren Lohnspreizung geführt und einen Teil der Arbeitnehmer in Leiharbeit und andere Formen der weniger geschützten Arbeit gedrängt. Es hat sich eine Spaltung in geschützte Arbeitsmarktinsider und ungeschützte Arbeitsmarktoutsider ergeben. Die Abwanderung von gut bezahlten Produktionsarbeitsplätzen wurde durch ein Wachstum an Arbeitsplätzen in der Dienstleistung kompensiert. Während für die Produktionswirtschaft gut bezahlte Arbeitsplätze im Flächentarif mit geringer Lohnspreizung kennzeichnend waren, gibt es in der Dienstleistungswirtschaft eine größere Lohnspreizung bis hin zu sogenannten Winner take all Markets (Cook und Frank 2010), bei denen eine Elite Spitzeneinkommen erzielt, die breite Masse jedoch für bescheidene Entlohnung bis hin zum Mindestlohn arbeitet. Entscheidendes Vehikel des Aufbrechens wohlfahrtsstaatlicher Sicherheiten ist die vertiefte europäische und globale Wirtschaftsintegration der sogenannten Hyperglobalisierung (Streeck 2021, S. 242–260). Diese Art der Wirtschaftsintegration geht über die klassisch von Adam Smith (1776/1952) und David Ricardo (1821) als ökonomisch vorteilhaft betrachtete Arbeitsteilung zwischen Volkswirtschaften hinaus, die nach dem Muster erfolgt, dass Nationen einen ökonomischen Vorteil haben, wenn sie sich auf diejenigen Produkte spezialisieren und diese auch exportieren, die sie am besten und kostengünstigsten herstellen können, und alle anderen gewünschten Produkte importieren.

Hyperglobalisierung bedeutet, dass nicht mehr Nationalstaaten entscheiden, was sie selbst herstellen und was sie importieren, sondern Großunternehmen, die globale Wertschöpfungsketten unterhalten. Damit verlieren die Nationalstaaten die Kontrolle über den Arbeitsmarkt und dessen Regulierung. Das impliziert einen Verlust an Demokratie und sozialer Einbettung des Kapitalismus. Allerdings muss man hier dagegenhalten, dass Staaten überfordert sind, wenn sie entscheiden sollen, was im Inland und was im Ausland produziert werden soll. Sie haben schlicht nicht das dafür erforderliche Wissen. Dagegen ist es der Vorteil von Märkten, genau solches Wissen dort zu generieren, wo es benötigt wird (Hayek 1969). Das heißt aber nicht, dass Staaten hilflos den disruptiven Effekten des Welthandels ausgeliefert sind. Wo die spontane, marktdeterminierte internationale Arbeitsteilung zu sozialen Disruptionen führt, erlauben die Prinzipien der Welthandelsorganisation den Mitgliedstaaten, entsprechend bedrohte Industrien zu schützen (vgl. Münch 2011b, S. 105–144; 2016, S. 80–101).