Die Herrschaft der Inzidenzen und Evidenzen - Richard Münch - E-Book

Die Herrschaft der Inzidenzen und Evidenzen E-Book

Richard Munch

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Beschreibung

»Evidenzbasiertes« Regieren anhand von Statistiken ist schon immer ein Kennzeichen des modernen Staates. Der politisch-administrative Umgang mit der Corona-Pandemie, der von Inzidenzwerten des Infektionsgeschehens bestimmt ist, und zuvor schon die »datengetriebene« Bildungspolitik, insbesondere seit Einrichtung des Programme for International Student Assessment (PISA) der OECD im Jahr 2000, haben diese Praxis auf ein neues Niveau gehoben. Richard Münch zeigt, inwieweit diese Art des Regierens die Wissenschaft für die eigenen Legitimationszwecke instrumentalisiert, wie sie zu einer politisch-administrativen Kontrolle über alle Sektoren der Gesellschaft führt und wie sie sich in den Fallstricken des Szientismus verfängt. Zahlen und Modellrechnungen erzeugen – so die These – einen Schematismus des Entscheidens, der die Komplexität der konkreten Wirklichkeit verfehlt, sodass die gesetzten Ziele nicht erreicht werden und unerwünschte Nebenfolgen auftreten.

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Richard Münch

Die Herrschaft der Inzidenzen und Evidenzen

Regieren in den Fallstricken des Szientismus

Campus Verlag Frankfurt/New York

Über das Buch

»Evidenzbasiertes« Regieren anhand von Statistiken ist schon immer ein Kennzeichen des modernen Staates. Der politisch-administrative Umgang mit der Corona-Pandemie, der von Inzidenzwerten des Infektionsgeschehens bestimmt ist, und zuvor schon die »datengetriebene« Bildungspolitik, insbesondere seit Einrichtung des Programme for International Student Assessment (PISA) der OECD im Jahr 2000, haben diese Praxis auf ein neues Niveau gehoben. Richard Münch zeigt, inwieweit diese Art des Regierens die Wissenschaft für die eigenen Legitimationszwecke instrumentalisiert, wie sie zu einer politisch-administrativen Kontrolle über alle Sektoren der Gesellschaft führt und wie sie sich in den Fallstricken des Szientismus verfängt. Zahlen und Modellrechnungen erzeugen – so die These – einen Schematismus des Entscheidens, der die Komplexität der konkreten Wirklichkeit verfehlt, sodass die gesetzten Ziele nicht erreicht werden und unerwünschte Nebenfolgen auftreten.

Vita

Richard Münch ist Seniorprofessor für Gesellschaftstheorie und komparative Makrosoziologie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und Emeritus of Excellence an der Universität Bamberg.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort

1.

Einleitung: Evidenzbasiertes Regieren durch Zahlen

2.

Die Regierung der Gesundheit: Pandemie-Bewältigung mittels Inzidenzwerten

2.1

Einleitung

2.2

Pandemie in der Selbstreferenz gesellschaftlicher Teilsysteme

2.3

Pandemie-Bewältigung als Paradigma des benevolenten Paternalismus

2.4

Konklusion: Benevolenter Paternalismus als Paradigma der totalen Kontrollgesellschaft?

3.

Die Regierung der Bildung: Die Konstruktion der Bildungswirklichkeit durch PISA

3.1

Einleitung

3.2

Bildungsökonomik: Die neue Reflexionstheorie des Erziehungssystems

3.3

Die Metrifizierung der Bildungswelt

3.4

Datengetriebene Bildungspolitik mit PISA

3.5

PISA-Regime

3.6

Konklusion

4.

Politik hinter dem Schleier wissenschaftlicher Objektivität: Aporien des evidenzbasierten Regierens durch Zahlen

4.1

Einleitung

4.2

Regieren in der Welt der Daten

4.3

Gesellschaftliche Praxis im Zugriff der instrumentellen Vernunft

4.4

Konklusion: Internationale Leistungsvergleiche als Instrument neoliberaler Gouvernementalität

5.

Schlussbetrachtung: Regieren zwischen transnationalen Rationalitäten und nationalen Traditionen, Expertokratie und Demokratie

Literatur

Abbildungen

Tabellen

Veröffentlichungsnachweise

Vorwort

Viele unterschiedliche Anlässe können dazu führen, dass ein Buch entsteht. Hier war es eine erste Einladung zu einem kurzen Essay zur Corona-Pandemie im Frühjahr 2020. Sie hat mich dazu veranlasst, dieses Thema in den soziologischen Blick zu nehmen. Eine weitere Einladung zu einem Essay hat mich im Frühjahr 2021 erneut mit dem Thema beschäftigt. Neben der besonderen Situation der Pandemie war es das Regieren mittels Inzidenzen, was sich dabei in den Vordergrund der Untersuchung gedrängt hat. Schon mehrere Jahre hatte ich an dem Thema des evidenzbasierten bzw. datengetriebenen Regierens im Zusammenhang mit der wachsenden Beeinflussung der Bildungspolitik durch internationale Bildungsvergleichsstudien, allen voran das Programme for International Student Assessment (PISA) der Organisation for Economic Development and Co-operation (OECD), gearbeitet. So war jetzt die Gelegenheit gekommen, das Regieren durch Zahlen in einem Zusammenhang an den Beispielen der Gesundheitspolitik in der Pandemie-Bewältigung und der Bildungspolitik im PISA-Wettbewerb abzuhandeln. Das Ergebnis ist die hier vorgelegte Studie zur Herrschaft der Inzidenzen und Evidenzen, die leicht dazu führen kann, dass das Regieren in die Fallstricke des Szientismus gerät.

Die Arbeit an der evidenzbasierten Regierung der Bildung im PISA-Wettbewerb wurde in der Vergangenheit und wird auch aktuell von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert (DFG Projektnummern 195157054 und 429041218), wofür ich sehr dankbar bin. Werner Gephart und Sebastian Büttner waren es, die mich veranlasst haben, mich dem Thema der Corona-Pandemie zu widmen. Bei der Arbeit an dem Buch haben mich Oliver Wieczorek und Frederick Busch unterstützt. Oliver Wieczorek war wie stets ein anregender Diskussionspartner, und er hat die Grafiken zur Assoziation zwischen PISA-Punktwerten und Wirtschaftswachstum sowie Positionen im globalen Kreativitätsindex erstellt. Frederick Busch hat das Word-Dokument in die Redaktionsvorlage des Verlags eingearbeitet. Ihnen allen möchte ich herzlich für ihre Anstöße und ihre Unterstützung danken.

1.Einleitung: Evidenzbasiertes Regieren durch Zahlen

Der politisch-administrative Umgang mit der Corona-Pandemie der Jahre 2020–2022 bringt eine Regierungsweise auf den Punkt, die sich schon länger in Entwicklung befindet. Es ist das wissenschaftlich fundierte, »evidenzbasierte« Regieren durch Zahlen (vgl. Porter 1995; Desrosières 2008a, 2008b, 2014; Vormbusch 2012). Hier sind es die sogenannten Inzidenzwerte des Infektionsgeschehens. Dieses Regieren soll ermöglichen, Probleme »ideologiefrei« und rein sachorientiert zu lösen. Die Protagonisten dieser Entwicklung sehen darin einen großen Fortschritt in der Bewältigung kleinerer und größerer Probleme bis hin zu Menschheitsproblemen wie dem Klimawandel und eben der Bewältigung einer gefährlichen Pandemie. Von der Fundierung politischer Entscheidungen in wissenschaftlich generierten und von Experten interpretierten Daten verspricht man sich eine Steigerung ihrer Rationalität, ihres Reflexionsniveaus, ihrer Effizienz und Effektivität. Es gibt aber auch entschiedene Gegner dieser Entwicklung, die in ihr eine gefährliche Tendenz zur Einschränkung von Demokratie und Rechtsstaat erkennen, weil evidenzbasiertes Regieren kollektiv verbindliche Entscheidungen als »alternativlos« der demokratischen Willensbildung entzieht und damit das Grundrecht der politischen Partizipation empfindlich einschränkt und darüber hinaus im Interesse des Gemeinwohls auch in weitere Grundrechte eingreifen kann.

In der aktuellen Corona-Politik treffen die beiden, einander entgegengesetzten Positionen des expertokratischen und demokratischen Regierens in aller Härte und Unversöhnlichkeit aufeinander. Dazu kommt noch, dass das »ideologiefreie« evidenzbasierte Regieren in seinem Steuerungswillen auf eine mehrfach tief gespaltene Gesellschaft trifft, in der die intendierte Sachlichkeit der Politik, die von allen Bürgern als die bestmögliche anerkannt werden soll, Gräben aufreißt und vorhandene gesellschaftliche Polarisierungen noch weiter verschärft. So stößt auch die evidenzbasierte Corona-Politik mit Inzidenzwerten des Infektionsgeschehens nicht auf ungeteilte Zustimmung, sondern wirkt sogar ganz anders als intendiert als Brandbeschleuniger der gesellschaftlichen Polarisierung. In der Notlage der Pandemie erkennen wir wie unter einem Brennglas, wie das Regieren durch Zahlen demokratische Entscheidungsverfahren aushebelt und darunter die Legitimität der politischen Entscheidungen im Sinne ihrer breiten Akzeptanz unabhängig von den politischen Präferenzen leidet. Der Legitimitätsverlust des politischen Entscheidens ist das Ergebnis der zunehmenden Überlagerung der Demokratie durch eine spezifische Art der Expertokratie. Die Durchleuchtung dieses Vorgangs ist die Aufgabe der hier vorgelegten soziologischen Analyse der Corona-Pandemie.

Die Gesundheit der Bevölkerung ist nur ein Sektor der Gesellschaft, in dem sich die Eigenart der Regierung der Bevölkerung mittels Zahlen beobachten lässt. Ein zweiter Sektor, in dem sich diese Art des Regierens weltweit ausgebereitet hat, ist die Bildung. Hier handelt es sich allerdings nicht wie bei der Bewältigung der Pandemie um ein Regieren in einer Notlage, in der unmittelbar der mit der Überlagerung der Demokratie durch eine spezifische Art der Expertokratie einhergehende Legitimitätsverlust politischer Entscheidungen sichtbar wird. Es geht hier mehr um eine langfristige Transformation der Bildungswirklichkeit durch das Regieren der Bildung mittels Zahlen, die sich schleichend und ohne große politische Auseinandersetzungen vollzieht. Gleichwohl zeigt sich auch hier, wie demokratisches Entscheiden zunehmend durch expertokratisches Regieren überlagert wird und ein Legitimitätsverlust politischer Entscheidungen eintritt. Das genau zu erfassen, ist die zweite Aufgabe, die es hier zu bewältigen gilt.

Die Förderung der Bildung ist im Zuge der neuen ökonomischen Wachstumstheorie zur zentralen Regierungsaufgabe geworden. Die Regierung soll darauf zielen, das Humankapital in größtmöglicher Menge und bestmöglicher Qualität zu generieren, das in der wissensbasierten Ökonomie bzw. Wissensgesellschaft der Gegenwart benötigt wird, um Wettbewerbsfähigkeit, ökonomisches Wachstum und Wohlstand nachhaltig zu garantieren (vgl. Becker 1964/2009; OECD 1996, 1999; Rindermann 2018). Über diese ökonomische Seite hinaus, soll bestmögliche Bildung für alle auch die Teilhabe aller am produzierten Wohlstand sicherstellen. Je mehr die Menschen durch die Entwicklung ihrer Kompetenzen befähigt werden, sich ohne weitere Hilfe auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten, umso weniger wohlfahrtsstaatlicher Ausgleich ist erforderlich, um allen Menschen ein Leben im Wohlstand zu ermöglichen. Im Rahmen dieser Programmatik wird der Wohlfahrtsstaat durch den Wettbewerbsstaat abgelöst, der im internationalen Wettbewerb darauf zielt, Humankapital durch Bildung zu generieren und durch selektive Zuwanderung zu gewinnen, um für die eigene Bevölkerung den größtmöglichen Anteil am weltweiten Wohlstand zu erreichen (vgl. Cerny 1997; Hirsch 1995; Münch 2012). Das Ergebnis dieser Entwicklung ist nach der von Adam Smith (1776/1952) begründeten Theorie des Wohlstands der Nationen eine wachsende, allen einbezogenen Ländern Vorteile bietende internationale Arbeitsteilung. Diese Entwicklung mündet aber auch in eine globale Wettbewerbsgesellschaft, in der die individuelle Selbstbehauptung Vorrang vor aller kollektiven, in der Regel eben auch partikularistischen Solidarität hat. Das impliziert eine abnehmende Ungleichheit zwischen den wettbewerbsfähigen Nationen und eine zunehmende Ungleichheit innerhalb der Nationen (vgl. Münch 2016). Um die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Bevölkerung einschätzen und verbessern zu können, benötigen Regierungen Daten über die Effekte bildungspolitischer Maßnahmen auf das Qualifikationsniveau der eigenen Bevölkerung im internationalen Vergleich. Diese Nachfrage nach Daten wird in zunehmendem Maße durch ein immer umfassenderes nationales und internationales Bildungs-Monitoring befriedigt. Auch in der Bildungspolitik setzt sich demnach immer mehr das Regieren mittels Zahlen bzw. Daten und Evidenzen durch. Größte Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die international vergleichende Bildungsstatistik der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) mit Sitz in Paris erlangt. Mit dem Programme for International Student Assessment (PISA) stellt die OECD seit 2000 alle drei Jahre ein Zahlenwerk zu den Basis-Kompetenzen der fünfzehnjährigen Schüler und Schülerinnen in der jeweiligen Landessprache, in Mathematik und Naturwissenschaft bereit, anhand dessen die zuletzt 2018 insgesamt 79 teilnehmenden Länder bzw. Volkswirtschaften ermitteln können, in welcher Position sie sich im internationalen Wettbewerb befinden.

Es sind diese beiden Sektoren der Gesundheit und der Bildung, anhand derer hier die Eigenart des Regierens durch Zahlen durchleuchtet werden soll. Dazu gehört auch, dass dieses Regieren in einem doppelten Sinn im internationalen Wettbewerb stattfindet. Zum einen geschieht das im primären ökonomischen Wettbewerb um die Entwicklung und den Absatz von Gütern und Dienstleistungen zur Steigerung von wirtschaftlichem Wachstum und Wohlstand durch eine gesunde und gebildete Bevölkerung. Zum anderen erfolgt es im sekundären symbolischen Wettbewerb um die Erfüllung von Standards, die von globalen Instanzen als verbindlich definiert und von Experten zur Beurteilung der Gesundheit und Bildung von Bevölkerungen verwendet und in Rankings umgesetzt werden (vgl. Heintz & Werron 2011; Mau 2017; Ringel & Werron 2019; Ringel, Brankovic & Werron 2020). Rankings tragen maßgeblich dazu bei, dass die Zahlen eine Realität sui generis bilden, wie die Mikroben von Louis Pasteur zu »Aktanten« in einem Geschehen wurden, dem sich niemand entziehen kann (vgl. Latour 1988, 2005). Ähnlich wie beim Warenwert nach Marx’ Theorie des Warenfetischismus wird ihre immer auch anders mögliche gesellschaftliche Konstruktion verkannt. Sie erscheinen als natürlich gegeben, sodass sie umso uneingeschränkter ihre Herrschaft über die Menschen ausüben können (Marx 1867/1970, S. 85–98).

Die »gesellschaftliche Konstruktion« der Pandemie-Wirklichkeit impliziert nicht, dass es keine realen Infektionen hinter den gemessenen Inzidenzen gibt (vgl. Berger & Luckmann 1969). Auch hinter der gesellschaftlich konstruierten Bildungswirklichkeit stehen real mehr oder weniger wissende und kompetente Menschen. »Gesellschaftlich konstruiert« ist immer nur die »gesellschaftliche Wirklichkeit«. Das sollte auch von dezidierten Protagonisten des Sozialkonstruktivismus nicht vergessen werden, die zum Beispiel in der Gender- und Identitätsdebatte dazu neigen, die soziale und biologische Konstitution des Menschen in eins zu setzen (Butler 2004). Soziales und biologisches Geschlecht analytisch zu trennen, schließt allerdings nicht aus, dass es eine Interdependenz von sozialem und biologischem Geschlecht gibt. In dieser Untersuchung soll es in erster Linie um die gesellschaftliche Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit der Pandemie und der Bildung gehen. Bei der Pandemie spielt daneben aber auch die Interdependenz von gesellschaftlicher und biologischer Wirklichkeit eine Rolle, wenn in Augenschein genommen wird, welchen Beitrag die gesellschaftliche Konstruktion der Pandemie zur Beschleunigung oder Verlangsamung des biologischen Infektionsgeschehens leistet. Gesellschaftlich konstruiert sind die Begriffe und Zahlen, anhand derer in einer Gesellschaft oder einem Teil der Gesellschaft mehr oder weniger übereinstimmend die Wirklichkeit erfasst und begreifbar gemacht wird. Dazu gehört dann auch, welche Konnotationen es zu den Begriffen und Zahlen gibt und welche Reaktionen sie auslösen. Das fängt zum Beispiel mit der Art von Test an, mit dem eine Infektion gemessen wird, etwa dem PCR-Test bei Covid 19, welche Stichprobe der Bevölkerung genommen wird, um einen Inzidenzwert in Bezug auf die Gesamtbevölkerung zu ermitteln, wie der Inzidenzwert eingeschätzt wird und welche Schlussfolgerungen von einzelnen Personen für sich selbst und andere gezogen werden. Dazu kommen die Urteile von Experten, Gesundheitsämtern oder Politikern in Bezug auf die als notwendig eingeschätzten Maßnahmen. An jeder einzelnen dieser Stellen sind Entscheidungen zu treffen, die so oder auch anders ausfallen können. Wie sich also ein Infektionsgeschehen für eine Gesellschaft oder Teile davon sozial darstellt, hängt von den Entscheidungen ab, die an diesen verschiedenen Stellen getroffen werden. Sie können sehr unterschiedlich ausfallen, sodass die gesellschaftliche Wirklichkeit der Pandemie sehr unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen kann. Weltweit ist die Weltgesundheitsorganisation eine maßgebliche Instanz der gesellschaftlichen Pandemiekonstruktion. Diese Konstruktion wird aber in verschiedenen nationalen Kontexten unterschiedlich interpretiert, sodass die gesellschaftliche Wirklichkeit der Pandemie in Deutschland, Großbritannien oder Schweden unterschiedlich auftritt. Das ist hier mit der »gesellschaftlichen Konstruktion« der Pandemie gemeint. Genauso stellt es sich mit der gesellschaftlichen Konstruktion der Bildungswirklichkeit dar. Was wir unter Bildung verstehen, wie wir sie greifbar machen und gegebenenfalls testen, wie wir darüber sprechen, wie wir ihre Entwicklung in Schulen und Hochschulen organisieren und welcher Wandel in der Definition und Gestaltung von Bildung sich vollzieht, wird von den maßgeblichen Akteuren und dem Wandel der Machtverhältnisse zwischen ihnen im Feld der Bildung bestimmt.

Selbstverständlich erhöht die Berücksichtigung von wissenschaftlichem Wissen die Rationalität politischer Entscheidungen. Das zu gewährleisten, ist die Aufgabe der wissenschaftlichen Beratung von Politik durch Expertenanhörungen in Parlamentsausschüssen und Sachverständigenkommissionen der Regierung (vgl. Jasanoff 2009). Regieren ist im modernen Staat ohne wissenschaftliche Beratung nicht denkbar. Es würde ein wesentlicher Pfeiler der Legitimation politischer Maßnahmen fehlen. Allerdings ist der Transfer von wissenschaftlichem Wissen in politische Maßnahmen keine einfache Angelegenheit. Die Schwierigkeiten beginnen schon damit, dass die wissenschaftliche Evidenz zu den politisch zu lösenden Problemen in der Regel nicht eindeutig ist. Es ist die Aufgabe von Experten in der wissenschaftlichen Beratung der Politik, den Stand der Forschung so zusammenzufassen, dass in politischen Entscheidungen überhaupt von einer bestimmten Faktenlage ausgegangen werden kann. Hier findet zwangsläufig schon eine Reduktion der Komplexität des Wissens auf das politisch Bearbeitbare statt. Damit diese Komplexitätsreduktion nicht zu einseitig regierungsamtlich wird, bedarf es einer starken politischen Opposition, die Gegenexpertise ins Spiel bringt. Man sieht daran, dass nur offene demokratische Verfahren die einseitige Instrumentalisierung von Expertise im Interesse der Legitimation von Regierungspolitik verhindern können. Deshalb ist die Tatsache, dass Expertise umstritten ist, kein Beinbruch, sondern eine Notwendigkeit, um politische Entscheidungen vor dem Hintergrund eines möglichst breiten Spektrums von Wissen treffen zu können (vgl. Büttner & Laux 2021). Dazu kommt noch, dass es aus Sachaussagen keinen logisch zwingenden Schluss auf das Sollen gibt (Weber 1922/1973a; 1922/1973b,1973c). Das Sollen verlangt immer eine Entscheidung, zu der es Alternativen gibt. Das ohne Dezisionismus zu ermöglichen, ist die Aufgabe demokratischer Verfahren, deren Leistung umso größer ist, je mehr es gelingt, ein möglichst großes Spektrum von Präferenzen einzubeziehen und die Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen auch bei all denjenigen Akteuren zu erreichen, die mit ihren Interessen nicht zum Zuge gekommen sind. Der Grund der Akzeptanz politischer Entscheidungen durch die Unterlegenen im politischen Wettbewerb mag dabei allein der begründete Glaube daran sein, dass sie sich in Zukunft auf dem Wege der institutionalisierten Verfahren ändern lassen (vgl. Münch 1976). Wir erkennen daran, dass die wissenschaftliche Beratung der Politik durch Experten in die Sackgasse fehlender Legitimität politischer Entscheidungen gerät, wenn sie nicht voll und ganz in offene demokratische Entscheidungsverfahren eingebettet ist.

Ein Legitimitätsverlust politischer Entscheidungen entsteht beim Transfer von wissenschaftlichem Wissen in die Politik insbesondere dann, wenn das Regieren in die Fallstricke des »Szientismus« gerät. Das geschieht insbesondere unter zwei Bedingungen, die allerdings immer gegeben sein können: (1) Die Wissenschaft wird für politische Zwecke instrumentalisiert, (2) die Wissenschaft schränkt politisches Entscheiden auf das ein, was sich wissenschaftlich modellieren lässt. Im ersten Fall handelt es sich um die Beanspruchung von »wissenschaftlicher Rationalität« für politische Entscheidungen, in denen gar nicht in ausreichendem Maß Wissenschaft steckt, im zweiten Fall um die Einschränkung demokratischer Entscheidungsverfahren durch die Vereinfachung von Problemstellungen auf das wissenschaftlich bearbeitbare Maß. Während die erste Form des »szientistischen« Wissenstransfers offensichtlich die Rationalität des politischen Entscheidens nicht erhöht, ist das bei der zweiten Form nicht so leicht erkennbar. Umso größere Aufmerksamkeit muss deshalb auch dieser Form gelten. In beiden Fällen ist zu wenig Einbettung von »evidenzbasiertem« Regieren in demokratische Verfahren die Ursache mangelnder Legitimität politischer Entscheidungen. Demokratie lässt sich grundsätzlich nicht ohne Legitimitätsverlust durch Expertenherrschaft ersetzen. Ein solcher Legitimitätsverlust politischer Entscheidungen ist indessen die Folge einer Tendenz zur Herrschaft der Inzidenzen und Evidenzen in unserer Gegenwart, zu einer Verdrängung von Demokratie durch Expertokratie.

Ad 1: Die Wissenschaft wird einseitig für politische Legitimationszwecke instrumentalisiert, wenn Maßnahmen auf »Evidenzen« gestützt werden, die es gar nicht gibt, oder auf einseitig ausgewählte Evidenzen, wobei Gegenevidenzen ignoriert oder heruntergespielt werden. Das ist umso mehr der Fall, je mehr die Wahrheitsproduktion im Überschneidungsbereich von Wissenschaft und Politik stattfindet und dadurch Akteure daran beteiligt sind, die keine rein wissenschaftliche Agenda der offenen Erkenntnisgewinnung, sondern andere Interessen, speziell ökonomische und politische Interessen, verfolgen. Sie sind nicht an Erkenntnis per se interessiert, sondern an Erkenntnis, die ihre Interessen unterstützt. Hier verbinden sich ganz unterschiedliche Interessen in einem Netzwerk, das man als Wissen-Macht-Komplex bezeichnen kann. Bei der Verwendung dieses von Foucault (1977, 1979) geprägten Begriffs begeben wir uns allerdings anders als Foucault von der Abstraktionshöhe jeder Art der Unterwerfung des Menschen unter Kategorisierungen durch wissenschaftliche Begrifflichkeiten, aus der es grundsätzlich kein Entkommen gibt, auf die profane Ebene konkreter historischer Akteurskonstellationen, in denen Macht ausgeübt wird, gegen die auch Gegenmacht mobilisiert werden kann. Und man muss nicht aufgeben, dass es einen zumindest an der regulativen Idee der idealen Sprechsituation orientierten wissenschaftlichen Diskurs außerhalb der reinen Machtausübung geben kann (vgl. Habermas 1986).

Ad 2: Die Fundierung politischer Maßnahmen durch wissenschaftliche Expertise kann auch bedeuten, dass das Spektrum an politischen Zielen, Interessen und einsetzbaren Mitteln auf das wissenschaftlich bearbeitbare Maß eingeengt wird, sodass die demokratische, dezidiert unterschiedliche Ziele einbeziehende Legitimation politischer Entscheidungen zu kurz kommt. »Szientismus« bedeutet hier auch das Setzen auf Naturwissenschaft und ihre Methodik auch dort, wo die Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind und wo dadurch andere, passendere und zielführendere Verfahren der Entscheidungsbildung verdrängt werden (vgl. Adorno et al. 1969; Habermas 1968a, S. 88–115). Es werden naturwissenschaftliche oder quasi-naturwissenschaftliche Verfahren zur Lösung von Problemen verwendet, ohne dass die dafür notwendige exakte Kontrollierbarkeit aller wirksamen Einflussgrößen gegeben ist. Quasi-naturwissenschaftliche Verfahren sind solche Verfahren, die zur Modellierung und Erklärung menschlichen Verhaltens die Methoden der Naturwissenschaften anwenden. Dabei tritt zwangsläufig eine Verengung des Blicks auf jene Aspekte des menschlichen Verhaltens ein, die sich überhaupt mit naturwissenschaftlichen Methoden erfassen lassen. Diese Methodik ist immer mit einer mehr oder weniger großen Diskrepanz zwischen der sehr begrenzten Zahl kontrollierbarer Einflussgrößen in naturwissenschaftlichen Modellierungen und der sehr großen Zahl von nicht kontrollierbaren Einflussgrößen im realen Geschehen konfrontiert. Dementsprechend ist es leicht möglich, dass das reale Geschehen nicht den aus Modellierungen abgeleiteten Voraussagen entspricht.

Dazu kommt noch, dass bei der ungefilterten Übertragung dieser Methodik in politische Entscheidungen der Entscheidungsspielraum so verengt wird, dass die besondere Eigenart demokratischer Verfahren nur sehr eingeschränkt zum Zuge kommt. Das ist die Einbeziehung sehr unterschiedlicher Ziele und Interessen und ebenso unterschiedlicher Mittel in den Entscheidungsprozess, die zur Kompromissbildung zwingt, um überhaupt Entscheidungen treffen zu können. Demokratische Verfahren beziehen bei genügender Offenheit alle möglichen Stimmen ein, sodass sich nach getroffener Entscheidung niemand darauf berufen kann, nicht ausreichend gehört worden zu sein. Das erhöht die Legitimität der Entscheidung und delegitimiert ihre Nichtbefolgung. Offene demokratische Verfahren arbeiten Konflikte so weit ab, dass sie Zweifel an der Legitimität von Entscheidungen nicht virulent und zu keiner Gefahr für die politische Ordnung werden lassen. Das ist Legitimation durch demokratische Verfahren (Luhmann 1983). Szientismus lässt dagegen Entscheidungen alternativlos erscheinen, obwohl sie aufgrund der Ausblendung real wirksamer Einflussgrößen zwecks exakter Modellierung gar nicht alternativlos sind. Demokratische Entscheidungsverfahren kommen dabei nicht mehr ausreichend zum Zuge, sodass es den getroffenen Entscheidungen an demokratischer Legitimität fehlt. Dieses Demokratiedefizit lässt sich auch durch noch so interdisziplinär zusammengesetzte Expertengremien nicht ersetzen. Hier kommen zwar unterschiedliche Sichtweisen auf die Wirklichkeit zusammen, aber die Bürger selbst bleiben genauso ausgeschlossen wie bei weniger interdisziplinär zusammengesetzten Expertengremien.

Regieren in den Fallstricken des Szientismus bedeutet hier demnach eine Vereinfachung der Problemdefinition durch die Exaktheitsanforderungen an naturwissenschaftliches oder quasi-naturwissenschaftliches Modellieren und eine Verdrängung demokratischer Entscheidungsverfahren mit dem Ergebnis einer mangelnden Sensibilität für die Vielfalt unterschiedlicher Ziele, Interessen und einsetzbarer Mittel. Die Folge ist abnehmende demokratische Legitimität. Der Mangel an demokratischer Legitimation der politischen Entscheidungen äußert sich in außerparlamentarischem Protest und schwindendem Vertrauen in politische Entscheidungsinstanzen. Das geschieht oft deshalb, weil die technologische und die politische Rationalität von Entscheidungen miteinander konfundiert werden. Eine Entscheidung ist technologisch rational, wenn das effektivste und effizienteste Mittel zur Erreichung eines spezifischen, genau definierten Zieles eingesetzt wird. Das heißt aber mitnichten, dass sie dann auch politische Rationalität besitzt. Sie verfehlt diese Rationalität, wenn sie die real immer gegebenen Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessen und Zielen nicht so zum Ausgleich bringt, dass auch unterlegene Akteure die Entscheidung als legitim anerkennen, Widerstand innerhalb der als legitim definierten Grenzen verbleibt und die Entscheidung so auch de facto Geltung erlangt und befolgt wird. Genau das sollen demokratische Entscheidungsverfahren im Gegensatz zu rein technokratischen Verfahren leisten, und genau das ist die große Errungenschaft der Demokratie gegenüber allen anderen Regierungsformen.

In diesem Buch soll an den Beispielen der Gesundheitspolitik und der Bildungspolitik der Strukturwandel der Herrschaft sichtbar gemacht werden, der sich in dem Maße vollzieht, in dem die wissenschaftliche Beratung der Politik in eine Herrschaft der Inzidenzen und Evidenzen umschlägt, das Regieren in die Fallstricke des Szientismus gerät und dadurch die Politik an demokratischer Legitimität verliert. Es geht dabei in erster Linie um die Herausarbeitung von sozialen Dynamiken, ihrer Eigenart, ihrer treibenden Kräfte und ihrer Folgen. Das geschieht in idealtypischer Zuspitzung, um die sozialen Dynamiken klar sichtbar werden zu lassen. Es soll erkennbar werden, welcher Strukturwandel der Herrschaft sich vollzieht, soweit sich die sozialen Dynamiken entfalten. Damit wird nicht behauptet, dass die herausgearbeiteten sozialen Dynamiken ungebremst und gegen alle Gegenkräfte wirksam werden. Diese rein empirische Frage kann niemals endgültig beantwortet werden. Es soll deutlich werden, unter welchen Bedingungen das Regieren durch Zahlen in die Fallstricke des Szientismus gerät, welche Kräfte in diese Fallstricke hineinführen und welcher Strukturwandel der Herrschaft mit welchen weiteren Folgen dadurch herbeigeführt wird. Es ist immer möglich, dass dieser Wandel durch Gegenkräfte aufgehalten wird, nicht zuletzt durch die Gegenkraft der Aufklärung über die sozialen Dynamiken, die auf einen Strukturwandel der Herrschaft hinwirken. Diese Herangehensweise unterscheidet die idealtypische Methodik einer an sozialen Dynamiken interessierten Soziologie von der rein dokumentarischen Geschichtsschreibung (vgl. Weber 1922/1973a, S. 190–212).

Die Untersuchung ist in drei Kapitel unterteilt. Kapitel 2 unterwirft die Corona-Politik mit Schwerpunkt auf Deutschland einer soziologischen Analyse im Hinblick auf die Struktureigenschaften des Regierens mittels Zahlen unter der besonderen Bedingung einer Pandemie. Dabei wird zunächst die Selbstreferenz bzw. Eigenlogik von Wissenschaft, Recht, Medien, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft in der Bewältigung der Pandemie analysiert. Daran schließt sich die Bearbeitung der Frage an, wie weit das in einer Notsituation natürliche Primat der Exekutive politisches Entscheiden der demokratischen Willensbildung entzieht und zu einer politisch-administrativen Überlagerung der Eigenlogiken von Wissenschaft, Recht, Medien, Wirtschaft und Zivilgesellschaft führt. Daraus ergibt sich die Frage, wie weit unter diesen Bedingungen die Wissenschaft an Unabhängigkeit verliert und Gefahr läuft, für die Beschaffung von Legitimation für politische Entscheidungen instrumentalisiert zu werden. Darüber hinaus gilt das Augenmerk der Frage, wie weit die wissenschaftliche Fundierung der Corona-Politik wegen der damit verbundenen Aushöhlung demokratischer Entscheidungsverfahren trotz aller Bemühung um Sachlichkeit in den Strudel ideologischer Grabenkämpfe gerät und schon vorhandene Polarisierungen der Gesellschaft noch weiter verschärft.

Kapitel 3 wendet sich dem Feld der Bildung zu, in dem sich ebenso die besonderen Eigenarten des Regierens durch Zahlen zeigen. Das geschieht allerdings nicht wie bei der politischen Bewältigung einer Pandemie in einer außerordentlichen Notlage, in der die Unsicherheit des wissenschaftlichen Wissens und die Notwendigkeit rascher politischer Entscheidungen zusammentreffen, sodass zwangsläufig Gegenexpertise und politische Opposition zugunsten politischer Handlungsfähigkeit zu kurz kommen und dementsprechend ein Legitimitätsdefizit politischer Entscheidungen unvermeidlich ist. Das Fehlen einer Notlage im Feld der Bildung erlaubt es, das Augenmerk mehr auf die langfristige und weitgehend unbemerkte, der politischen Auseinandersetzung in demokratischen Verfahren entzogene Transformation der Bildungswirklichkeit durch die zunehmende Stützung der Bildungspolitik auf internationale Vergleichsdaten und darauf aufbauende Rankings zu lenken. Dabei ergeben sich auch mehr Möglichkeiten der Prüfung der verwendeten Evidenzen im Hinblick auf ihre wissenschaftliche Gültigkeit und ihre Effekte auf die Bildungswirklichkeit, zumal wir uns hier anders als bei Gesundheitsfragen direkt im Feld sozialwissenschaftlicher Kompetenz bewegen. Die zentrale Instanz der Regierung der Bildung mittels Zahlen ist die OECD. Größte Bedeutung hat in diesem Zusammenhang das Programme for International Student Assessment (PISA) erlangt. Wir untersuchen anhand dieses Programms die Funktionsweise des Regierens durch Zahlen und den dadurch erfolgenden Wandel der sozialen Konstruktion der Bildungswirklichkeit in ihren Effekten und Defekten. Kapitel 4 arbeitet die Aporien des evidenzbasierten Regierens durch Zahlen mit einem Schwerpunkt auf der Bildungspolitik heraus. Es geht dabei um Regieren und Politikberatung in den Fallstricken des Szientismus. Die Schlussbetrachtung diskutiert die Ergebnisse der Untersuchung unter dem Gesichtspunkt des Regierens im Spannungsverhältnis zwischen transnationalen Rationalitäten und nationalen Traditionen, Expertokratie und Demokratie.

2.Die Regierung der Gesundheit: Pandemie-Bewältigung mittels Inzidenzwerten

2.1Einleitung

Die Corona-Pandemie hat die Regierungen und Gesellschaften dieser Welt in den Jahren 2020 bis 2022 vor gesundheitspolitische Herausforderungen gestellt, für die es seit der Spanischen Grippe der Jahre 1918 bis 1920 nichts Vergleichbares gegeben hat. Auch die Sozialwissenschaften sehen sich mit besonderen Herausforderungen konfrontiert, wenn sie einen Beitrag zum besseren Verstehen der Krise und der von ihr ausgelösten Veränderungen von Politik und Gesellschaft leisten wollen. In dieser Untersuchung soll eruiert werden, was die Soziologie dazu beitragen kann. Vorab ist klarzustellen, dass wir sozialwissenschaftlich nichts über den Wahrheitsgehalt natur- oder lebenswissenschaftlicher Forschungsergebnisse sagen können. Auch medizinsoziologische Fragen effektiver und effizienter Strategien der Pandemie-Bewältigung bleiben hier außer Betracht. Aber selbstverständlich ist die soziale Verfasstheit und Organisation der Wissenschaft sowie ihr Verhältnis zu den anderen Sektoren der Gesellschaft Gegenstand soziologischer Analysen (vgl. Münch 2011). Hier soll es jedoch allein um die soziologische Frage gehen, wie weit in der politischen Bewältigung der Pandemie die Konturen eines Strukturwandels der Herrschaft sichtbar werden (vgl. Münch 1996; Münch & Lahusen 2000, S. 297–397).

Um uns einer soziologischen Analyse des Strukturwandels der Herrschaft im Kontext der Corona-Pandemie anzunähern, bietet Niklas Luhmanns klassische systemtheoretische Studie zur ökologischen Kommunikation einen höchst interessanten Ansatzpunkt, da wir es hier genau wie in dieser Studie mit dem elementaren Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft zu tun haben (Luhmann 1986). Die Theorie der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, die hinter der Ökologischen Kommunikation steht, eröffnet aufgrund ihres abstrakten, distanzierten und begrifflich weit ausdifferenzierten analytischen Instrumentariums interessante Einsichten in das politisch-administrative Pandemie-Management. Das gilt gerade auch für eine Problemlage, in der entgegen den Grundannahmen der Theorie Erscheinungen der Entdifferenzierung zu beobachten sind. Um fruchtbaren Gebrauch von dieser Theorie machen zu können, müssen wir ihr gegenüber allerdings genügend Distanz wahren. Vor allem dürfen wir sie nur als abstraktes theoretisches Analyseinstrumentarium verstehen und nicht als einfache Beschreibung der empirischen Realität.

Im Folgenden wird zunächst gezeigt, wie in Anlehnung an Luhmanns Ökologische Kommunikation in idealtypischer Zuspitzung eine theoretisch möglichst stringente Analyse der Pandemie-Verarbeitung durch die gesellschaftlichen Teilsysteme der Wissenschaft, des Rechts, der Medien, der Wirtschaft und der Politik aussieht und welche Rolle in diesem Kontext der Zivilgesellschaft zufällt, die nach den Kriterien der Systemtheorie nicht über die Qualität eines Teilsystems verfügt. Im Anschluss daran wenden wir uns dem Regieren unter der speziellen Bedingung einer äußeren Bedrohung der Gesellschaft zu. Es geht dabei um die Frage, welche Form das Regieren unter dieser speziellen Bedingung annimmt und wie weit darin ein Strukturwandel der Herrschaft erkennbar wird, der sich möglicherweise schon länger angebahnt hat und auch über die Pandemie hinausweist.

2.2Pandemie in der Selbstreferenz gesellschaftlicher Teilsysteme

Die Effekte der gesellschaftlichen Bewältigung der Pandemie sind in der Perspektive der Systemtheorie immer vermittelt durch die Selbstreferenz der Gesellschaft und ihrer Teilsysteme. In dieser Perspektive stellt sich das Problem der Pandemie nach dem Code der einzelnen Teilsysteme der Gesellschaft ganz unterschiedlich dar. Wissenschaftlich, rechtlich, wirtschaftlich, medial oder politisch kann das Problem immer nur in je spezifischer Weise nach dem Code des jeweiligen Teilsystems wahrgenommen und verarbeitet werden, und das auch immer nur gesellschaftlich, aber nicht biologisch. Biologisch im Sinne möglichst niedriger Todesraten kann das Problem der Pandemie immer nur indirekt bewältigt werden, indem die ergriffenen Maßnahmen Effekte auf die Infektions- und Todesraten ausüben. Natürlich werden darüber wissenschaftlich, juristisch, ökonomisch, medial, politisch oder zivilgesellschaftlich Vermutungen geäußert. Diese Vermutungen können aber immer nur in der Perspektive eines jeweiligen gesellschaftlichen Teilsystems aufgestellt werden.

Wissenschaft

Von der Wissenschaft wird erwartet, dass sie gesichertes Wissen über die Virusinfektion und das Infektionsgeschehen generieren kann. »Follow the Science« ist zu einer Formel geworden, mit der man glaubt, die großen Probleme der Gegenwart lösen zu können. Wie der schweizerische Psychoanalytiker Peter Schneider (2020) jüngst in Erinnerung gerufen hat, liegt dieser Forderung allerdings ein fundamentaler Irrtum zugrunde. »Die Wissenschaft« gibt es nicht. Sie existiert nur im Plural. Das hat erhebliche Folgen für die wissenschaftliche Beratung der Politik. Mangelnde Sensibilität für die Pluralität wissenschaftlicher Herangehensweisen unterstützt nach Schneider insgeheim auch die grundsätzliche Skepsis gegenüber der Wissenschaft, die dann leicht als ein Terrain für die Verbreitung beliebiger Meinungen abqualifiziert werden kann. Damit wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, sodass tatsächlich nicht der Nutzen aus dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis gezogen werden kann, der an sich möglich ist.

Im Wissenschaftssystem geht es um die Unterscheidung von »wahr/nicht wahr«. Das ist dessen binärer Code. Wissenschaftlich kann alles immer infrage gestellt werden. Bei der Covid-19-Pandemie fängt das schon bei der Frage nach dem Ursprung des Virus an (vgl. Knecht 2022). Die von offiziellen Instanzen weithin vertretene These nennt einen Tiermarkt in Wuhan in China als Ursprung. Sie stützt sich auf das Ergebnis einer von der World Health Organization (WHO) und China gemeinsam beauftragten Untersuchungskommission, deren Vorsitzender sich allerdings später von der Kommissionsarbeit distanziert hat, weil sie nicht unabhängig von dem Einfluss Chinas stattgefunden habe. Dagegen steht die von offiziellen Instanzen weithin abgelehnte These eines Ursprungs in Laboren der Gain-of-Function-Forschung in Wuhan, in denen auch an Corona-Viren geforscht wird. Diese u. a. von dem Hamburger Physiker Roland Wiesendanger vertretene These wurde als »Verschwörungstheorie« abgetan. Der Grund dafür liegt in Wiesendangers Vermutung, dass Interessenten an der Fortführung dieser Art von Genforschung, die er für höchst gefährlich und eine potenzielle Bedrohung der Menschheit hält, möglicherweise Informationen über den Labor-Ursprung des Virus vor der Öffentlichkeit verborgen halten wollen, weil sie befürchten, dass sie dann eingestellt werden muss. Wenn sich diese These am Ende als richtig herausstellen sollte, befänden sich die Wissenschaftler, die diese Art der Genforschung betreiben oder unterstützen, in höchster Erklärungsnot. Das Vertrauen in die wissenschaftliche Forschung würde einen empfindlichen Schaden erleiden. Man sieht hier ein Beispiel für den inzwischen höchst leichtfertigen Umgang mit der Etikettierung unliebsamer Botschaften als »Verschwörungstheorie«. Selbstverständlich sind Netzwerke jeglicher Art und Machtkonzentrationen in diesen Netzwerken entscheidende Faktoren, die es ermöglichen, Ideen, Wissen, Agenden und Reformprogramme zu verbreiten und durchzusetzen und andere zu unterdrücken, lokal, regional, national, europäisch oder global. Das zu ignorieren, wäre schlicht naiv. Darüber nicht mehr forschen zu dürfen, käme einem Verbot von Forschung gleich, die Machtverhältnisse jeglicher Art zum Gegenstand hat und diesen gefährlich werden kann.

Dass in der Wissenschaft keine Einigkeit über den Forschungsstand besteht, gilt erst recht für Voraussagen über pandemisch bedingte Infektions- und Todesraten und ihre Beeinflussung durch politische Maßnahmen, weil eine große Zahl von nicht kontrollierbaren Einflussfaktoren involviert ist. Infolgedessen wird zum Beispiel gegen einen Lockdown vielfach eingewendet, dass er das Infektionsgeschehen in den privaten Haushalten sogar verstärken würde, vor allem wenn sich entgegen der letztlich nicht umfassend durchsetzbaren Vorschriften doch eine größere Zahl von Menschen in geschlossenen Räumen träfen, wo in der Regel weniger Abstand gewahrt würde als in öffentlichen Räumen. So haben Aerosolforscher die Bundesregierung in einem Offenen Brief aufgefordert, Restriktionen für den Aufenthalt im Freien zu lockern und stattdessen mehr auf Vorsichtsmaßnahmen in geschlossenen Räumen zu achten, wo das Ansteckungsrisiko um ein Vielfaches höher sei als im Freien (Offener Brief 2021). Viele Kritiker der Lockdown-Maßnahmen haben darauf verwiesen, dass der gezielte Schutz der besonders vulnerablen alten Menschen effektiver sei und geringere wirtschaftliche, soziale und gesundheitliche Kollateralschäden verursachen würde. Die Fokussierung auf den generellen Lockdown habe sogar zur Folge gehabt, dass man den Schutz der besonders gefährdeten hochbetagten Menschen vernachlässigt hat. Für die Strategie des gezielten Schutzes der Risikogruppen bei gleichzeitiger Bereitschaft außerhalb dieser Gruppen auf natürliche Weise eine Herdenimmunität entstehen zu lassen, steht die sogenannte Great Barrington Declaration. Sie wurde im Oktober 2020 von drei namhaften Medizin- bzw. Epidemiologie-Professor:innen am American Institute for Economic Research in Great Barrington, Massachusetts, veröffentlicht und bis 11. April 2021 von über 778.432 Personen, darunter 13.985 Medizin- und Gesundheitswissenschaftler und 42.520 praktizierende Ärzte, unterschrieben (Great Barrington Declaration 2020). Gegen diesen Aufruf haben wiederum andere namhafte Mediziner bzw. Virologen und Epidemiologen in The Lancet das bis zum 11. April 2021 von mehr als 6.900 Wissenschaftlern und Gesundheitsexperten unterzeichnete John Snow Memorandum gestellt, das umfassende Lockdowns für unverzichtbar im Kampf gegen die Pandemie erklärt (John Snow Memorandum 2020). Auch die WHO (World Health Organization) hält die Strategie des gezielten Schutzes von Risikogruppen für nicht tragfähig.

Der Erfolg der Lockdown-Strategie ist wiederum von den konkreten Umständen in einem Land abhängig. Von Spanien wird beispielsweise berichtet, dass der strenge Lockdown im Frühjahr 2020 mit einer erheblichen Unterversorgung der Menschen in den Alten- und Pflegeheimen einhergegangen sei und zu einer auch daraus resultierenden eklatanten Übersterblichkeit geführt habe (Costa-Font, Jimenez-Marin & Viola 2021). Statistische Analysen zu den Sterbezahlen werden im Hinblick auf die Veränderung der Altersgruppen im Zeitverlauf, so vor allem auf den Zuwachs der über 90-jährigen Menschen im Verlauf der Jahre relativiert. Die Zahlen variieren stark zwischen Ländern, nicht unbedingt aufgrund ihrer speziellen Covid-Politik, sondern abhängig von der Bevölkerungsstruktur, der Altersstruktur, der sozialen Ungleichheit, der Gesundheitsversorgung und der Lebensführung der Bevölkerung bzw. einzelner Teile davon (vgl. z. B. Lopez et al. 2021). Auch die klinische Behandlung von Covid-19-Patienten hat sich unterschiedlich auf die Mortalitätsraten ausgewirkt. So hat sich möglicherweise künstliche Beatmung in besonders schweren Krankheitsfällen als lebensverkürzend und nicht als lebensrettend erwiesen. Dementsprechend kommen unterschiedliche Ergebnisse in Bezug auf die Übersterblichkeit im Vergleich der Länder und im Verlauf der Jahre heraus. Die Daten werden im Nachhinein regelmäßig korrigiert, sodass sie für das jeweilige Vorjahr nicht endgültig feststehen. Die vorläufigen Zahlen zu verschiedenen europäischen Ländern weisen darauf hin, dass bei den Altersgruppen ab 60 Jahren teilweise eine leichte und bei den über 90-jährigen Menschen eine deutliche Übersterblichkeit festzustellen ist, dies aber in der Rückschau zum Beispiel auch 2012 der Fall war.

Im internationalen Vergleich ist es umstritten, ob auf der Basis der vorläufig vorhandenen Daten ein wirklich signifikanter Zusammenhang zwischen härteren oder schwächeren bzw. ausbleibenden Lockdown-Maßnahmen und der Sterblichkeit zu erkennen ist. So wird zum Beispiel auf die beiden Extreme Spanien und Schweden verwiesen, Spanien mit sehr harten Lockdown-Maßnahmen und Schweden mit den weltweit geringsten Einschränkungen des normalen Lebens. Beide Länder hatten anfänglich vergleichsweise hohe Sterbezahlen in Verbindung mit Covid 19 zu verzeichnen, Spanien allerdings noch weit höhere als Schweden. Im weiteren Verlauf sind sie in beiden Ländern deutlich zurückgegangen, in Schweden mehr als in Spanien. Für die im Frühjahr 2020 ermittelte hohe Übersterblichkeit bei den hochbetagten Menschen sowohl in Spanien als auch in Schweden wird der mangelnde Schutz der Menschen in den Alters- und Pflegeheimen verantwortlich gemacht. Im Vergleich der skandinavischen Länder hat die schwedische Strategie 2020 in Bezug auf die Todesraten schlechter abgeschnitten, im Jahr 2021 jedoch etwas besser. Das schlechtere Abschneiden Schwedens im skandinavischen Vergleich im Jahr 2020 kann auch damit zusammenhängen, dass Schweden weit mehr Zuwanderer aufgenommen hat, die in höherem Maße von Covid-19 betroffen sind als die einheimische Bevölkerung und sich von dieser durch ein niedrigeres Einkommensniveau, beengtere Wohnverhältnisse und eine andere Lebensführung unterscheiden (Rostila et al. 2021). Schweden hat auf das Erreichen einer Herdenimmunität gesetzt, über die man erst nach längerer Zeit Genaueres sagen kann. Im Vergleich zwischen dem stärker regulierenden Deutschland und dem schwächer regulierenden Schweden ist zu sehen, dass Deutschland im Jahr 2020 eine niedrigere Sterberate hatte als Schweden, im Jahr 2021 Schweden dagegen eine niedrigere als Deutschland. Eine Studie zu Deutschland kommt für 2020 und 2021 auf eine durchschnittliche Übersterblichkeit von 5,5 Prozent (Ragnitz 2022). Bendavid et al. (2021) haben im Vergleich zwischen Schweden sowie Südkorea als Beispiele für Länder ohne harte Lockdown-Maßnahmen mit acht Ländern mit harten Lockdown-Maßnahmen keinen inzidenzverringernden Effekt von härteren Maßnahmen festgestellt (vgl. Claeson & Hanson 2021; Drefahl et al. 2020; Elisabeth, Maneesh & Michael 2020; Habib 2020; Kavaliunas et al. 2020; Kowall et al. 2021; Lindström 2020; Richter 2021). Für 2021 wurde in Schweden schließlich europaweit die niedrigste Übersterblichkeit berichtet (Economist 2022; Giattino et al. 2022). Offensichtlich hat der schwedische Sonderweg nicht in das weithin befürchtete Desaster geführt. Daran ist zumindest zu erkennen, dass die verfügbaren Daten keine sichere Evidenz für die überwiegend praktizierten Lockdowns bieten. Eine von der Regierung beauftragte Expertenkommission hat schließlich Anfang 2022 bemängelt, dass Schweden im Februar/März 2020 eine frühzeitige Kontrolle über das Infektionsgeschehen und einen ausreichenden Schutz der Risikogruppen versäumt habe, sodass anfangs eine höhere Sterblichkeit durch Corona als in vergleichbaren Ländern zu verzeichnen war. Die Kommission hat aber auch festgestellt, dass sich im weiteren Verlauf eine Beruhigung des Infektionsgeschehens und eine deutliche Senkung der Sterbefälle ergeben hätten, was sie auf die weitgehende Befolgung der Empfehlungen der Regierung zum vorsichtigen Verhalten im Alltag durch die Mehrheit der Bevölkerung zurückführt (Coronakommissionen 2022; Thomson Reuters 2022).

John Ioannidis von der Stanford University ist zusammen mit weiteren Forscher:innen auf Basis der ausgewerteten Forschungslage zu einer gegenüber den Voraussagen deutlich niedrigeren durchschnittlichen Sterberate von Covid-19-Infizierten gelangt (0,27 Prozent; korrigiert 0,23 Prozent). Ioannidis (2021b) hat aber auch festgestellt, dass die Mortalitätsraten in manchen Ländern unterschätzt und in anderen Ländern überschätzt wurden. Unterschätzt wurden sie in Ländern mit einem unterentwickelten Gesundheitssystem – insbesondere in Afrika –, überschätzt in Ländern mit einem hochentwickelten Gesundheitssystem – insbesondere in Westeuropa und den USA. Teilweise kann die Sterberate nicht genau bestimmt werden, weil nicht erkennbar ist, ob die Menschen »an« oder nur »mit« Covid 19 verstorben sind. In den deutschen Bundesländern erreichten die Mit-Covid-Fälle bis zu 20 Prozent der Covid-Toten (Metzger 2022). Ioannidis und seine Kolleg:innen meinen außerdem, dass im Vergleich nicht gesagt werden könne, strenge Lockdown-Maßnahmen hätten einen besonderen Erfolg in der Eindämmung der Pandemie gebracht. Zugleich müssten stets die besonderen Umstände wie die Altersstruktur der Bevölkerung, die Qualität des Gesundheitssystems und die Angemessenheit der angewendeten Therapien berücksichtigt werden, was zum Beispiel bei der Einschätzung der Infektions- und Todesraten in Italien besonders relevant sei (Boccia, Ricciardi & Ioannidis 2020; Ioannidis 2020a, 2020b, 2021a, 2021c; Ioannidis, Axfors & Contopoulos-Ioannidis 2020, 2021). Ioannidis und seine Kolleg:innen sind wiederum von anderen Epidemiologen kritisiert worden, die Lockdown-Maßnahmen für unumgänglich halten (Gabutti 2020; Melnick & Ioannidis 2020).

Ende Mai 2021 hat eine Forschergruppe von Statistikern der LMU München einen Bericht vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass die in Deutschland im November und Dezember 2020 und im April 2021 verordneten Lockdowns keinen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Infektionsgeschehen aufweisen (Kauermann, Küchenhoff & Berger 2021). Ein Literatur-Review und eine Metaanalyse zu den Effekten von Lockdowns, veröffentlicht im Januar 2022, von Herby, Jonung und Hanke (2022) von der Johns Hopkins University, kommt zu dem Ergebnis, dass generelle Lockdowns die Covid-19-Todesrate in Europa und den USA im Vergleich zu bloßen Empfehlungen durchschnittlich nur um 0.2 Prozent gesenkt haben, Schließungen von Betrieben und Schulen nur zu 2.9 Prozent. Eine Erklärung für dieses Ergebnis verweist darauf, dass die Menschen einerseits in der Situation einer Pandemie auch ohne verordneten Lockdown Kontakte reduzieren und sich vorsichtig verhalten, andererseits sich nicht immer an Verordnungen halten (S. 41). Die Metastudie beruht ausschließlich aus der Auswertung empirischer Studien. Statistische Modellierungen wurden bewusst nicht berücksichtigt, weil ihre Ergebnisse zu sehr von den eingegebenen Parametern abhingen, über deren tatsächliche empirische Ausprägung man nichts Genaues sagen kann. Die Studie ist prompt auf die Kritik insbesondere von Statistikern gestoßen, die wiederum eher statistischen Modellierungen trauen. Außerdem wurde darauf verwiesen, dass die Studie keinem Peer Review unterworfen wurde und die Autoren Anhänger eines libertären Gesellschaftsmodells seien, was sie grundsätzlich gegenüber staatlichen Eingriffen in die individuelle Lebensgestaltung voreingenommen mache (Herden 2022). Eine Modellierung haben Yakusheva et al. (2022) zur Situation in den Vereinigten Staaten vorgelegt. Nach ihrer Berechnung wurden durch den ersten Lockdown im Frühjahr 2020 vermutlich zwischen 866.350 und 1.711.150 Menschenleben gerettet, denen vermutlich nur 57.922 bis 245.055 durch den Lockdown verursachte Todesfälle gegenüberstünden. Sie schließen jedoch mit der Feststellung, dass der Nettoeffekt auf die qualitätsangepasste Lebenserwartung uneindeutig sei. Das liege daran, dass die weitaus meisten Corona-Toten ohnehin nur noch eine niedrige Lebenserwartung hatten, die durch den Lockdown zu Tode gekommenen Menschen dagegen nicht. In dieser bereinigten Berechnung stehen sich 4.886.214 bis 9.650.886 und 2.093.811 bis 8.858.444 qualitätsangepasste Lebensjahre gegenüber.

Die Forschungslage ist offensichtlich nicht eindeutig. Diese Uneindeutigkeit bringt jede Regierung in Schwierigkeiten, die darauf angewiesen ist, einen durch Evidenzen bestätigten Zusammenhang zwischen ihren Maßnahmen und den Inzidenzen bzw. Sterberaten behaupten zu können. Zumindest gehört das zum üblichen politischen Spiel, wenn auch die Daten nicht das hergeben, was sich die Politik wünscht. Datengetriebene Politik ohne sichere Evidenzen ist ein Widerspruch in sich selbst, der umso mehr zum Vertrauensverlust führt, je häufiger sich herausstellt, dass es keine Evidenz für die behaupteten Zusammenhänge zwischen politischen Maßnahmen und dem tatsächlichen Geschehen gibt. »Evidenzbasierte« Politik bewegt sich dann auf sehr dünnem Eis. Der vielfach beklagte Verlust an Vertrauen in die Politik hat darin eine wesentliche Wurzel. Er ist schon deshalb schwer auszugleichen, weil es häufig an sicheren Evidenzen über die Folgen und Nebenfolgen politischer Maßnahmen mangelt. Die Politik ist dabei in den Fallstricken eines Szientismus gefangen, der nicht hält, was er verspricht.

Zum Effekt von Lockdown-Maßnahmen gibt es auch die epidemiologische Theorie, dass sie das Infektionsgeschehen zwar verlangsamen können und so die Kapazitäten der Krankenhäuser nicht überschritten werden, dieses Geschehen aber letztlich nur in die Länge gezogen wird. Dem Virus werde dadurch mehr Zeit gegeben, um Mutanten zu bilden, die dann eine neue Infektionswelle entstehen lassen. Es werde verhindert, dass frühzeitig genug Herdenimmunität entsteht, die auf 70 bis 90 Prozent Infizierte taxiert wird. Sobald dies erreicht sei, könne sich das Virus nicht mehr weiter ausbreiten. So wird zum Beispiel der besonders harte Lockdown in Spanien dafür verantwortlich gemacht, dass eine Vielzahl von Mutanten von SARS-CoV-2 entstanden sei, die neue Infektionswellen verursacht hätten. Die Lockdowns hätten so zur Folge, dass immer neue Infektionswellen auftreten. Eine umfassende Impfung der Bevölkerung könne aber helfen, schneller Herdenimmunität zu erreichen. Dieser insbesondere von dem Biostatistiker Knut Wittkowski vertretenen Theorie ist allerdings auch heftig widersprochen worden. So hat sein ehemaliger Arbeitgeber, die Rockefeller University in New York, bekannt gegeben, dass Wittkowskis Meinung nicht diejenige der Universität sei (Stellino 2020).

Die wissenschaftliche Unsicherheit über das wirkliche Geschehen ist von außen betrachtet offensichtlich sehr groß. Einen signifikant positiven Effekt scheint allerdings konsequentes digitales Tracking wie in Asien zu haben, was aber in den westlichen Ländern mangels technologischer Ausrüstung und aufgrund engerer Bestimmungen des Datenschutzes nicht im gleichen Umfang umgesetzt werden konnte. Aber auch da stellt sich die Frage, ob dadurch die Erlangung von Herdenimmunität wie auch in Neuseeland und Australien, wo man sich nach außen nahezu komplett abgeriegelt hat, nur hinausgezögert wird (vgl. Lee & Lee 2020; Lu et al. 2020; Thiele 2020; Gerhards & Zürn 2021a, 2021b). Grundsätzlich zeigen sich hier Differenzen zwischen Epidemiologen, Virologen und Medizinern. Für Epidemiologen steht der Verlauf des Infektionsgeschehens im Vordergrund, für Virologen die Wirkung des Virus auf menschliche Zellen, für Mediziner der Krankheitsverlauf bei den einzelnen Patienten. Epidemiologen, die auf Herdenimmunität setzen, beklagen, dass überwiegend Virologen die entscheidende Rolle der Regierungsberatung in der Situation der Pandemie innehätten. Interessanterweise steht hinter dem schwedischen Sonderweg des Verzichts auf harte Lockdown-Maßnahmen mit Anders Tegnell ein Epidemiologe.

Wissenschaftlich kann grundsätzlich nur über wahr vs. nicht wahr entschieden werden, und diese Entscheidung ist nie endgültig. Dass sie immer revidiert werden kann, ist das Kennzeichen von Wissenschaft. Alles darauf anzulegen, das herrschende Wissen zu widerlegen, ist das Grundprinzip des Falsifikationismus. Die Bestätigung von Hypothesen kann immer nur vorläufig sein (Popper 1935/1966). Das gilt jenseits der elementarsten Naturgesetze erst recht dann, wenn wir in Neuland vorstoßen und uns an der Forschungsfront und außerhalb streng kontrollierter Laborbedingungen im offenen Feld bewegen, wo unzählige unkontrollierte Faktoren es praktisch unmöglich machen, zu verlässlichen Aussagen zu gelangen. Die zunehmend eingesetzten mathematischen Modellierungen führen in Abhängigkeit von den verwendeten, ganz unterschiedlich bestimmbaren Parametern zu vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen (vgl. Kuhl 2020; Rhodes & Lancaster 2020). Die entsprechenden Prognosen sind einmal richtig, ein anderes Mal nicht. Auch das Robert Koch-Institut (RKI) in Deutschland konnte deshalb nicht vermeiden, Fehlprognosen in Gestalt dramatisch überhöhter Inzidenzwerte abzugeben (Brey 2021). Für die medizinische Praxis ist besonders gravierend, dass nach einer vielbeachteten Studie von John Ioannidis (2005) die Mehrzahl der Forschungsergebnisse in der Biomedizin durch ihr Design beeinflusst wird und deshalb nicht replizierbar ist, sodass sie letztlich als falsch einzustufen seien. Rein wissenschaftlich betrachtet, herrscht dementsprechend in der Tendenz ein Zustand großer Unsicherheit und Offenheit für Veränderungen der Forschungslage, der wenig geeignet ist, um zu eindeutigen politischen Entscheidungen zu gelangen. Ohne eine gerade nicht der Logik der Wissenschaft unterworfene Brücke gelangt man deshalb vom Stand der Forschung nicht zu politischen Entscheidungen. Die Forschungslage ist uneindeutig, und es können aus ihr ganz unterschiedliche Schlüsse für die Praxis gezogen werden (vgl. Rubin et al. 2021). Genau das und nur das hat Max Weber mit dem Postulat der Werturteilsfreiheit der Wissenschaft gemeint, das demnach überhaupt keiner »romantischen« Vorstellung über das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik folgt. Es gibt schlicht und einfach keinen logischen Schluss vom Sein auf das Sollen (Weber 1922/1973a, 1922/1973b, 1922/1973c; Münch 1968). Mit Luhmann (1990) gesprochen, dreht sich Wissenschaft in einem endlosen Zirkel der Selbstreferenz nur um sich selbst und kann selbst nicht aus diesem Zirkel ausbrechen. Ihre Wirkung auf die Pandemie bleibt uneindeutig und ist durch immer mögliche Veränderungen der Erkenntnislage einem stetigen Wandel unterworfen.

Dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt mehr Evidenzen für eine bestimmte Hypothese als für eine Gegenhypothese gibt, heißt in der Wissenschaft nie, dass man nun Versuche der Widerlegung der Hypothese einstellen könnte. Im Gegenteil, sich nach Mehrheiten zu richten, ist das Prinzip demokratischer Politik, aber nicht das Prinzip der Wissenschaft, wie groß auch die Mehrheit sein mag. Zu weiten Teilen wird die wissenschaftliche Forschung durch herrschende Paradigmen geprägt. Das ist der Zustand der Normalwissenschaft, in dem die Forscher kleine Rätsel lösen, bis es einer neuen Forschergeneration gelingt, die arrivierte Elite aus den Machtpositionen in Akademien, Herausgeberschaften von Fachzeitschriften, Organisationen der Forschungsförderung, Stiftungen und Universitäten zu verdrängen. Erst dann ist der Weg frei für einen Paradigmenwechsel in der Wissenschaft, wie Thomas Kuhn (1967) in seiner bahnbrechenden Studie Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen festgestellt hat. Das heißt, Konsens ist auch in der Wissenschaft in erheblichem Maße oligopolistischen Strukturen der Wahrheitsproduktion geschuldet und ist innerhalb der Wissenschaft eher Anlass für Zweifel. Ganz anders stellt sich das für Politiker dar. Für diese sind herrschende Paradigmen genau das, woran sie sich festhalten müssen, um überhaupt Entscheidungen treffen zu können. Für die Wissenschaft kommt es dann darauf an, sich von dieser Brauchbarkeit für die Politik nicht von ihrem Weg abbringen zu lassen, herrschende Paradigmen grundsätzlich in Zweifel zu ziehen und danach zu streben, ihre immer möglichen Irrtümer aufzudecken.

Betrachten wir dazu ein Beispiel aus der Klimaforschung. Cook et al. (2013) haben in einer Studie festgestellt, dass von den 11.944 zwischen 1991 und 2011 veröffentlichten Untersuchungen zum Klimawandel zwar 66,4 Prozent im Abstract keine Position zur Frage des menschengemachten Klimawandels einnahmen, von den 32,6 Prozent, die sich dazu geäußert haben, aber 97,1 Prozent bejahten, dass der Mensch einen Einfluss auf das Klima hat, wie stark und ausschließlich dieser auch sein mag (vgl. auch Cook & Jacobs 2014; Tol 2016). Jede Regierung, die ihre Mehrheitsmacht sichern will, ist gut beraten, sich daran zu halten. Anderenfalls könnte sie in ihrem institutionellen Umfeld keine Legitimität gewinnen. Ganz anders sieht es aber bei der Frage aus, welche Maßnahmen für welches Land in seiner jeweiligen Größe, geographischen Lage und industriellen Entwicklungsstufe den effektivsten und effizientesten und mit anderen Zielen abgewogenen Beitrag zur Bewältigung dieses Problems leisten. Hier besteht dementsprechend auch kein vergleichbarer Konsensus. Auch für Wissenschaftler ist es im Kontext der Normalwissenschaft richtig, an der Verbesserung des herrschenden Paradigmas zu arbeiten, Schwächen zu beseitigen und kleine Rätsel zu lösen, erst recht, wenn sie Karriere machen wollen. Grundsätzlich ist es aber für den Erkenntnisfortschritt unabdingbar, dass es auch Wissenschaftler gibt, die dezidiert danach streben, Schwachstellen im herrschenden Paradigma zu entdecken, und die nach alternativen Erklärungen suchen, sei es auch nur, um sicherzustellen, dass das herrschende Paradigma auch diesen gezielten Falsifikationsversuchen standhält. Prinzipiell ist nur so Erkenntnisfortschritt möglich. Die Suche nach Erkenntnis ist nie abgeschlossen. Deshalb muss es auch immer Platz für »Exoten« geben, die der herrschenden Lehre nicht folgen. Es gilt Paul Feyerabends (1986) Leitspruch: »Against Method.« Theoretischer und methodischer Pluralismus ist die unverzichtbare Quelle jeder Reise zu neuer Erkenntnis.

Recht

Vom Rechtssystem wird erwartet, dass es die sichere Unterscheidung von Recht und Unrecht gewährleistet. Der binäre Code lautet demnach »Recht/Unrecht«. Für das Rechtssystem kann es bei der Bewältigung einer Pandemie immer nur darum gehen, ob Maßnahmen mit dem geltenden Recht vereinbar sind oder nicht. Sind sie durch das vorhandene Recht nicht gedeckt, ergibt sich in einem Rechtsstaat die Notwendigkeit, formell korrekt mit parlamentarischer Mehrheit entsprechendes Recht zu schaffen. Das wurde beispielsweise in Deutschland mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes des Bundes im November 2020 getan. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive war dabei eine wesentliche Frage, ob im Gesetz ausreichend eindeutig definiert ist, unter welchen Bedingungen Bund und Länder Freiheitsrechte einschränken können, ohne damit gegen deren Garantie durch das Grundgesetz zu verstoßen. Im April 2021 wurde das Gesetz nochmals verschärft und die Entscheidungskompetenz des Bundes verstärkt, z.B. um bundesweit Ausgangssperren verhängen zu können. Entscheidendes Kriterium ist die Inzidenz gemessener Infektionen innerhalb von sieben Tagen. Das erscheint so, als ob die Entscheidung über einen Lockdown an einen objektiven Wert gebunden und so jeder politischen Willkür entzogen sei. Tatsächlich hängt die ermittelte Größe dieses Wertes jedoch erheblich von der Zahl durchgeführter Tests ab, die zeitlich und räumlich stark variieren und auch durch mehr oder weniger vollzogenes Testen von Regierungen und Gesundheitsbehörden beeinflusst werden kann. Dementsprechend handelt es sich eigentlich um Regieren mit unsicheren und politisch-administrativ beeinflussbaren Zahlen. Der ehemalige Chefvirologe der Berliner Charité Detlev Krüger – Vorgänger des aktuellen Chefs und Chefberaters der Bundesregierung Christian Drosten – und Klaus Stöhr – ehemaliger Leiter des Globalen Influenza und Pandemievorbereitungsprogramms der WHO – haben in einem Offenen Brief an den Bundestag davor gewarnt, den Inzidenzwert als alleinige Bemessungsgrundlage für Maßnahmen gegen die Pandemie zu verwenden. Sie haben, wie andere Experten auch, für mehr Beachtung der möglichen Kollateralschäden von Lockdowns und für den gezielten Schutz von Risikogruppen plädiert (Röhn 2021).

Von zentraler Bedeutung bei den rechtlichen Erörterungen sind die Prinzipien der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichheit vor dem Gesetz (vgl. Katzenmeier 2020; Rixen 2021). Kritiker des Infektionsschutzgesetzes und entsprechender Maßnahmen der Einschränkung von Freiheitsrechten sehen im Infektionsschutzgesetz und in den darauf gestützten Maßnahmen diese drei Prinzipien verletzt und deshalb eine Verfassungswidrigkeit gegeben. Der nach Testzahlen variierende und politisch-administrativ beeinflussbare Inzidenzwert biete keine Rechtssicherheit. Darauf gestützte Einschränkungen von Freiheitsrechten seien oft unverhältnismäßig und auch nicht durch den Grundsatz der Gleichbehandlung gedeckt, weil Berufsgruppen in unterschiedlichem Maß an der Ausübung ihres Berufes gehindert würden, ohne dass das exakt begründet werden könne. Maßnahmen von Hoheitsträgern sind allerdings nur in einzelnen Fällen aufgehoben worden, weil sie nach Auffassung des zuständigen Gerichts gegen das eine und/oder das andere Prinzip verstoßen haben. Dabei stellen auch die Gerichte unter Verweis auf vorhandene epidemiologische und virologische Expertise Hypothesen über den Effekt entsprechender Maßnahmen auf Infektions- und Todesraten auf, aber eben nur unter dem Gesichtspunkt, ob die Einschränkung der Freiheitsrechte durch die Maßnahmen gerechtfertigt ist. Es werden dabei zwei Rechtsgüter im Verfassungsrang gegeneinander abgewogen: der Schutz von Leben und die Freiheitsrechte von Bürgern.

Wie in der Wissenschaft, besteht auch hier keine eindeutige Sicherheit. Zwei Gerichte können die Situation völlig unterschiedlich einschätzen, und ein Gericht kann einen Fall so sehen und einen anderen Fall ganz anders beurteilen. Umso größeren Einfluss nimmt die politisch-öffentliche Stimmungslage, was wiederum die innere Funktionsfähigkeit des Rechtssystems in dem Sinn beeinträchtigt, dass nicht sicher und völlig unabhängig von äußeren Einflüssen rein juristisch über Recht und Unrecht entschieden wird. Es geschieht in Abhängigkeit von der unterschiedlich möglichen Wahrnehmung der Fakten-, Rechts- und auch Stimmungslage. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die wissenschaftliche Expertise zu den Effekten von Maßnahmen nicht eindeutig ist, zumal hier auch noch mehr Wissenschaften als die Virologie und die Epidemiologie gefragt sind, so insbesondere wirtschaftswissenschaftliche Expertise über die dauerhafte Überlebensfähigkeit von Betrieben, die im Lockdown geschlossen werden müssen. So oder so, für das Funktionieren des Rechtssystems ist nicht die biologische Bewältigung der Pandemie die Frage, sondern allein deren juristische Bewältigung. Es geht um die juristisch möglichst berechenbare Entscheidung von Streitfällen, bei denen im Falle der Einschränkung von Freiheitsrechten die Gleichbehandlung der Bürger und die Verhältnismäßigkeit getroffener administrativer Maßnahmen sichergestellt werden muss. Das heißt letztlich, das Rechtssystem interessiert sich selbstreferentiell nur für das Recht und nicht für die Pandemie in ihrem rein biologischen Sinn und ist deshalb nie uneingeschränkt auf der Seite der Pandemie-Bekämpfung. Am Ende zählt hier nur, ob dem Recht genüge getan wird, zumindest solange wir uns in einem Rechtsstaat befinden. Mit seinem Urteil vom 30.11.2021 zur »Bundesnotbremse« hat das deutsche Bundesverfassungsgericht allerdings das Gewicht deutlich weg von der Freiheit und hin zur Sicherheit geschoben, sodass auf Basis dieses Urteils die untergeordneten Gerichte nur noch wenig Möglichkeiten haben, Freiheitseinschränkungen in einer pandemischen Lage als unverhältnismäßig einzustufen. Für dezidierte Verteidiger der Grundrechte ist das völlig unverständlich und ein Zeichen für eine zu geringe Unabhängigkeit der Justiz von der Regierungspolitik, ein Eindruck, der noch durch die jüngste Besetzung der Position des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts aus der Mitte der CDU-Bundestagsfraktion heraus verstärkt wird (Prantl 2021a).

Medien

Die Medien »konstruieren« die für die Gesellschaft relevante Realität (Kepplinger 2011). Für das System der Medien steht bei der Pandemie, wie bei allen anderen Ereignissen auch, der Informationswert und die Erzeugung von Aufmerksamkeit im Mittelpunkt. Der binäre Code lautet »Information/Nichtinformation«. Der Nachrichtenwert ist das Entscheidende, ob, wie, wie umfangreich und wie lange über ein Ereignis berichtet wird (vgl. Frank 1998; Luhmann 1996; Münch 1991). Nach zögerlichem Beginn im Januar 2020 ist das Pandemie-Thema ab März 2020 so dominant geworden, dass es in der Berichterstattung und der Kommentierung ungebrochen ganz vorne steht und alles andere überstrahlt, und das inzwischen schon zwei Jahre. Und es ist noch kein Ende dieser Vorrangstellung des Themas abzusehen. Das liegt in erster Linie an der dominanten wissenschaftlichen Einschätzung des Virus als hochgefährlich, sowohl in der Infektiosität und weltweiten Verbreitung als auch im schweren bis tödlichen Krankheitsverlauf. Diese Einschätzung ist nochmals durch das Auftreten der Delta-Variante des Virus im Frühjahr 2021 verstärkt worden. Die seit Herbst 2021 sich ausbreitende Omikron-Variante wurde nach anfänglich uneinheitlicher Einschätzung überwiegend als besonders infektiös aber weniger gefährlich für die Gesundheit des Menschen eingeschätzt (vgl. Lewnard et al. 2022). Allerdings wurde auf die südafrikanische Entdeckerin des milden Verlaufs von Omikron-Infektionen von regierungsnahen westlichen Experten Druck ausgeübt, ihre Einschätzung des Krankheitsverlaufs nicht weiter öffentlich bekanntzugeben (Jiménez 2022). Man erkennt hier, wie sich die Wissenschaft in das Geschäft der Sicherung von Definitionsmacht in der medialen Kommunikation und der Legitimation politischer Maßnahmen verstrickt und dabei ihre Unschuld verliert. Einige Virologen sahen jedoch in Omikron eine Chance, dass die umfassender, aber milder verlaufende Verbreitung des Virus von der Pandemie in die Endemie führt, weil damit eher Herdenimmunität erreicht würde. Das Infektionsgeschehen könne in der Verbreitung und Gefährlichkeit etwa so beschränkt sein wie bei der Influenza. Es bedeute aber auch, dass das Virus nicht verschwindet, nur eben die Zahl der infizierten Menschen relativ konstant bleibt. Im März 2022 wurden dann auch die Ergebnisse einer umfassenden Studie der Infektionsverläufe von Omikron im Vergleich zu Delta in Großbritannien veröffentlicht, die diese Vermutung bestätigen. Das Risiko der Hospitalisierung war bei Omikron im Durchschnitt um 59 Prozent niedriger als bei Delta, das Sterberisiko um 69 Prozent. Bei Geimpften und Genesenen waren diese Risiken nochmals deutlich niedriger. Die Risiken nahmen mit dem Alter zu (Nyberg et al. 2022).