Politische Ideengeschichte - Martin Beckstein - E-Book

Politische Ideengeschichte E-Book

Martin Beckstein

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Beschreibung

Wie interpretiert man einen Text der politischen Theorie? Ist es bedeutsam, von wem oder für wen er geschrieben wurde? Oder geht es vor allem um die innere Struktur und die Wirkung auf den Leser? Dieser Band stellt die wichtigsten Interpretationsansätze im Vergleich vor und wendet sie an zentralen Texten an. So entsteht echte Methodenkompetenz!

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Seitenzahl: 465

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Ralph Weber Martin Beckstein

Politische Ideengeschichte

Interpretationsansätze in der Praxis

Dr. Ralph Weber ist Oberassistent am Universitären Forschungsschwerpunkt Asien und Europa an der Universität Zürich und Lehrbeauftragter für Politische Ideengeschichte und Politische Theorie an der Universität St. Gallen.

Dr. Martin Beckstein ist Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Politische Philosophie der Universität Zürich sowie am Lehrstuhl für Politikwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung der Internationalen Beziehungen der Universität St. Gallen.

Mit 10 Abbildungen, 10 Grafiken und 11 Tabellen

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Bibliografisch e Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Diego Rivera, Der Steinmetz (1944). Privatsammlung. © Banco de México Diego Rivera & Frida Kahlo Museums Trust, México D.F./2014 ProLitteris, Zurich. Foto: The Bridgeman Art Library.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: Ruhrstadt Medien AG, Castrop-Rauxel Druck und Bindung: CPI books GmbH, Ulm

UTB-Band-Nr. 4174

Inhalt

Verzeichnis der Reflexionsboxen

Verzeichnis der Grafiken

Vorwort

Einleitung: Interpretationsansätze in der politischen Ideengeschichte

Wozu politische Ideengeschichte?

Wozu Interpretationsansätze?

Politik – Ideen – Geschichte

Mediale Ressourcen der politischen Ideengeschichte

Vielfalt der Ansätze – Eine Typologie

Auswahl der Texte

Kapitel 1: Der analytische Ansatz: Am Beispiel des Federalist Paper Nr. 10

1. Zur Theorie des analytischen Ansatzes

2. Das Anwendungsbeispiel: James Madisons Federalist Paper Nr. 10

3. Vom Wortlaut zum Aussagegehalt: Die Argumentation des Federalist Paper Nr. 10

3.1 Untersuchungsziel und Hauptaussagen des Texts

3.2 Begriffsklärungen

3.3 Rekonstruktion der Argumente

4. Möglichkeiten und Grenzen des analytischen Ansatzes

Kapitel 2: Der biografische Ansatz: Am Beispiel von Platons Der Staatsmann

1. Zur Theorie des biografischen Ansatzes

2. Das Anwendungsbeispiel: Platons Leben und Werk

3. Der Text als Ausdruck des Lebens des Autors: Platons zweite Sizilienreise und die Gesetze in Der Staatsmann

3.1 Identifizierung und Textdatierung von Der Staatsmann

3.2 Zusammenfassung des Dialogs

3.3 Identifizierung des interpretationsbedürftigen Texts

3.4 Interpretation: Platons neuer Realismus

4. Möglichkeiten und Grenzen des biografischen Ansatzes

Kapitel 3: Der werkimmanente Ansatz: Am Beispiel von Olympe de Gouges’ Drei Urnen

1. Zur Theorie des werkimmanenten Ansatzes

2. Das Anwendungsbeispiel: De Gouges und ihr Text Die drei Urnen

3. Vom Werkbezug zur Textbedeutung: Die drei Urnen im Licht des Werks

3.1 Textaneignung und Interpretationsbedürftigkeit

3.2 Autoridentifizierung und Werkaneignung

3.3 Werkimmanente Interpretation durch Herstellung von Bezügen

4. Möglichkeiten und Grenzen des werkimmanenten Ansatzes

Kapitel 4: Der esoterische Ansatz: Am Beispiel von Verfolgung und die Kunst des Schreibens

1. Zur Theorie des esoterischen Ansatzes

2. Das Anwendungsbeispiel: Leo Strauss’ Verfolgung und die Kunst des Schreibens

3. Vom Text zum Subtext: Die versteckte Lehre von Verfolgung und die Kunst des Schreibens

3.1 Der Text im Wortsinn

3.2 Hinweise auf die Existenz einer esoterischen Lehre

3.3 Adressaten und Inhalt der esoterischen Botschaft

4. Möglichkeiten und Grenzen des esoterischen Ansatzes

Kapitel 5: Der kontextuelle Ansatz: Am Beispiel des Epos des mexikanischen Volks

1. Zur Theorie des kontextuellen Ansatzes

2. Das Anwendungsbeispiel: Diego Riveras Epos des mexikanischen Volks

3. Über den Kontext zu den Wirkabsichten des Texts: Das Epos des mexikanischen Volkes ein Plädoyer für aztekischen Sozialismus?

3.1 Der Kontext: Der politische Diskurs im postrevolutionären Mexiko der 1920er und 1930er Jahre

3.2 Der Text: Das Epos des mexikanischen Volks

3.3 Der Sprechakt: Das Plädoyer für einen aztekischen Sozialismus?

4. Möglichkeiten und Grenzen des kontextuellen Ansatzes

Kapitel 6: Der hermeneutische Ansatz: Am Beispiel von Huang Zongxi und seinem Mingyi daifang lu

1. Zur Theorie des hermeneutischen Ansatzes

1.1 Gadamer

1.2 Ricoeur

1.3 Angewandte Hermeneutik?

2. Das Anwendungsbeispiel: Huang Zongxi und sein Mingyi daifang lu

2.1 Zu Huangs ideengeschichtlicher Bedeutung

2.2 Vorverständnisse des Mingyi daifang lu vor der Lektüre

3. Hermeneutische Lektüren: Kap. 1 – Über den Herrscher

3.1 Strukturelle Erklärung

3.2 Interpretation

3.3 Hermeneutische Distanz: verfremdende und vermittelnde Sprache

4. Möglichkeiten und Grenzen des hermeneutischen Ansatzes

Kapitel 7: Der rezeptionstheoretische Ansatz: Am Beispiel der Deutungen von Der Fürst

1. Zur Theorie des rezeptionstheoretischen Ansatzes

2. Das Anwendungsbeispiel: Machiavellis Der Fürst

3. Über die Leser zur Bedeutung des Texts: Die Rezeption von Machiavellis Der Fürst vor der Publikation (1513–1532)

3.1 Machiavelli als ‚erster Leser‘ von Der Fürst

3.2 Distanzierungsbestrebungen von Machiavelli und anderen Lesern

3.3 Vier Veröffentlichungsversuche

3.4 Die Funktionswandlung von Der Fürst durch die Frühstrezipienten

4. Möglichkeiten und Grenzen des rezeptionstheoretischen Ansatzes

Kapitel 8: Der begriffsgeschichtliche Ansatz: Am Beispiel des Vertrags in Die Würdenträgereide des Arnuwanda

1. Textinterpretation und darüber hinausführende Ansätze

2. Die Begriffsgeschichte als Ideengeschichte?

3. Zur Anwendung des begriffsgeschichtlichen Ansatzes

3.1 Forschungsinteressen

3.2 Der Begriff als Zugriff

3.3 Textverständnis der Begriffsgeschichte

4. Zur hethitischen Begriffsgeschichte des Vertrags

4.1 Zur altorientalischen Vorgeschichte

4.2 Frühes hethitisches Vertragsdenken

4.3 Die mittelhethitische Blütezeit: Die Instruktionen und Eidesleistungen

5. Die Würdenträgereide des Arnuwanda (CTH 260)

Epilog

Von prinzipienbasierter zu zweckorientierter Methodenauswahl

Vom beliebigen zum philosophischen Eklektizismus

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Verzeichnis der Reflexionsboxen

Reflexionsbox   1:

Sexistische Sprache

Reflexionsbox   2:

Überzeitliche Ideen

Reflexionsbox   3:

Aussagegehalt und Autorintention

Reflexionsbox   4:

Die Tücken der Chronologie

Reflexionsbox   5:

Nochmals – der Siebte Brief und der biografische Ansatz

Reflexionsbox   6:

Werkimmanenter Ansatz und Intertextualität

Reflexionsbox   7:

Ko-Autorschaft und Werkimmanenz

Reflexionsbox   8:

Die Bedeutung des Autors im werkimmanenten Ansatz

Reflexionsbox   9:

Werkimmanenter Ansatz oder Entwicklungsansatz

Reflexionsbox 10:

Strauss und die Politik

Reflexionsbox 11:

Selbstanwendung eines Interpretationsansatzes

Reflexionsbox 12:

Welche Quellen dürfen beim esoterischen Ansatz miteinbezogen werden?

Reflexionsbox 13:

Wirkabsichten des Autors und des Texts

Reflexionsbox 14:

Sind Kunstwerke relevante Quellen der politischen Ideengeschichte?

Reflexionsbox 15:

Adressierte und tatsächliche Leser

Reflexionsbox 16:

Übersetzung, wessen Horizont und wessen Welt?

Reflexionsbox 17:

Der Autor als erster Leser

Reflexionsbox 18:

Nutzen eines differenzierten vorbestimmten Begriffs

Verzeichnis der Grafiken

Infografik: Der analytische Ansatz

Grafik: Grobstruktur des Federalist Paper Nr. 10

Infografik: Der biografische Ansatz

Infografik: Der werkimmanente Ansatz

Infografik: Der esoterische Ansatz

Infografik: Der kontextuelle Ansatz

Infografik: Der hermeneutische Ansatz

Infografik: Der rezeptionstheoretische Ansatz

Grafik: Systematischer Überblick der Frühstrezeptionen von Der Fürst

Infografik: Der begriffsgeschichtliche Ansatz

Vorwort

Dieses Buch legt das Augenmerk auf Interpretationsansätze in der politischen Ideengeschichte. Es geht in entscheidender Weise über eine theoretische Behandlung des Gegenstands hinaus, indem es grundlegende Interpretationsansätze in der Praxis thematisiert. Der gedankliche Ausgangspunkt war für uns die Situation, in der man einen Text konkret vor sich hat: Wie soll man nun lesen? Worauf muss der Fokus gelegt werden und was darf man getrost ausblenden? Wie kann von der Lektüre eines Texts zum Verständnis von dessen Bedeutung vorgedrungen werden? Diesen letzten, konsequenten Schritt zu wagen, hat uns Motivation über die Jahre hinweg gegeben, an denen wir kontinuierlich – freilich mit unterschiedlicher Intensität – an diesem gemeinsamen Projekt gearbeitet haben. Dass den Schritt zu wagen sich lohnte, davon sind wir heute umso mehr überzeugt, zumal wir entgegen anfänglichen Erwartungen rasch selbst vor allem zu einem wurden: zu Lernenden, voneinander, gegeneinander, miteinander, immer wieder am Gegenstand und letztlich an der Weite des noch zu Ergründenden selbst. Den Leserinnen und Lesern unserer Ergebnisse hoffen wir ein nützliches anwendungsorientiertes Lehrbuch über Interpretationsansätze der politischen Ideengeschichte vorzulegen, oder zumindest ein didaktisch angeleitetes Lesebuch. Im besten Fall ist es beides.

Die Anwendungsbeispiele nicht nur auf Klassikertexte und unsere eigenen Spezialisierungen zu beschränken, sondern mitunter neues Terrain zu erschließen, war uns ein besonderes Anliegen. Dieses Wagnis galt es natürlich mit einem nüchternen Eingeständnis eigener Grenzen einzugehen. Damit unsere Grenzen Leserinnen und Lesern nicht zum Nachteil gereichen, baten wir Kolleginnen und Kollegen um Unterstützung und haben tatkräftige und vielfältige Hilfeleistungen erfahren. An dieser Stelle möchten wir uns deshalb bei Rebecca Anders, Max Gander, Andrea Jud, Prof. Jared Miller, Fernando Noriega Díaz, Dr. Marta Pallavidini und Reto Zöllner bedanken. Prof. Thomas Fröhlich, Prof. Roland Kley und Prof. Urs Marti haben unser Projekt darüber hinaus in intensiven Gesprächen, mit Fragen und kritischen Einwänden, und auf je eigene Weise gefördert. Für die Erlaubnis, Teile eines bereits veröffentlichten Texts abdrucken zu dürfen, möchten wir uns beim Verlag Barbara Budrich sowie der Zeitschrift für Politische Theorie bedanken. Prof. Gerfrid G.W. Müller, Prof. Silvin Košak und Prof. Joachim Marzahn waren bei der Beschaffung des abgedruckten Bildmaterials zur hethitischen Keilschrifttafel überaus hilfsbereit. Der Universitäre Forschungsschwerpunkt Ethik der Universität Zürich ist freundlicherweise für die Kosten rund um die Bildrechte an den Gemälden von Rivera, Orozco und Siqueiros aufgekommen. Nicht zuletzt möchten wir auch Kai Pätzke vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht danken, der uns in angenehmer und effektiver Weise durch den Prozess der Drucklegung begleitet hat.

Einleitung Interpretationsansätze in der politischen Ideengeschichte

Weshalb lohnt sich die Beschäftigung mit Interpretationsansätzen in der Disziplin der politischen Ideengeschichte? Und noch grundlegender, weshalb ist es überhaupt lohnenswert, sich mit politischer Ideengeschichte zu befassen? Weshalb legen wir Aristoteles, Jean-Jacques Rousseau und Mary Wollstonecraft nicht einfach ad acta und beschränken uns in der wissenschaftlichen Forschung auf das gegenwärtige politische Denken? Natürlich steht es jedem frei, sich privat für jahrhundertealte Texte zu interessieren, weil sie „da“ sind, so wie Edmund Hillary sich bekanntlich für den Mount Everest interessierte, „weil er da ist“. Aber es ist nicht ersichtlich, weshalb intellektuelle Erkundungslust von öffentlicher Hand zu subventionieren ist; und weshalb ein allgemeines Interesse darin bestehen sollte, die Texte von politischen Denkerinnen und Denkern vergangener Zeiten nicht nur einmalig auszuwerten, sondern immer wieder zu interpretieren. Auch wäre der gesellschaftliche Nutzen der Disziplin eher gering einzuschätzen, wenn es allein darum ginge herauszufinden, ob heutige Gedanken zur Politik schon früher gedacht wurden, wer der Erste war, der etwas gedacht hat, und inwiefern das gegenwärtige politische Denken durch frühere Reflexionen geprägt wurde. Die akademische Beschäftigung mit Texten der politischen Ideengeschichte ist kein Selbstzweck und gleiches gilt in noch stärkerem Maße für die Auseinandersetzung mit Interpretationsansätzen, doch für beides lassen sich gute Gründe anführen.

Wozu politische Ideengeschichte?

Die Beschäftigung mit Texten der politischen Ideengeschichte ist nicht zuletzt deshalb lohnenswert, weil es zu klären hilft, was Politik ist, was wir politisch tun können und was wir politisch tun sollten. Die Disziplin der politischen Ideengeschichte kann uns bei der Klärung dieser Fragen schon deshalb helfen, weil die Texte der politischen Ideengeschichte, die uns überliefert sind, eine Vielzahl von theoretischen Werkzeugen enthalten; sie artikulieren Annahmen, entwickeln Konzepte, konstruieren Argumente und liefern Antworten. Wenn wir uns mit gegenwärtigen Problemen auseinandersetzen, können wir auf dieses Sammelsurium von theoretischen Werkzeugen zurückgreifen und sie uns zunutze zu machen versuchen. Einige dieser Werkzeuge erweisen sich vielleicht als geeignet, Antworten auf heute dringliche Fragen zu finden; andere mögen uns helfen, die entscheidenden Fragen überhaupt zu stellen oder an unsere Zwecke angepasste Werkzeuge nachzubauen; und selbst Werkzeuge, die sich als dysfunktional erweisen, können uns immerhin lehren, welche Fragen wir nicht zu stellen brauchen oder welche Antworten wir verwerfen müssen.

Neben dem Zweck der Bergung von potenziell nützlichen politiktheoretischen Werkzeugen hilft die Beschäftigung mit der politischen Ideengeschichte uns zur Klärung, was politisch der Fall, möglich und wünschenswert ist, indem sie unser historisches Bewusstsein schärft. Indem wir untersuchen, wie frühere Denkerinnen und Denker gedacht haben, können wir besser verstehen, wie wir denken. Vielleicht finden wir heraus, dass wir einige ihrer Ansichten teilen und können uns durch das Studium ihrer Texte ein klareres Bild davon verschaffen, was diese Ansichten bedeuten und implizieren. Andere ihrer Ansichten werden uns fremd erscheinen, so dass uns die Eigenartigkeit und Fragwürdigkeit der von ihnen wie der von uns für selbstverständlich gehaltenen Ansichten vor Augen geführt wird.

Wozu Interpretationsansätze?

Was spricht nun aber für die Auseinandersetzung mit Interpretationsansätzen? Sind methodische Reflexionen wirklich nötig oder hilfreich für die Beschäftigung mit der politischen Ideengeschichte? Oder drohen wir uns dadurch in metatheoretischen Scheindebatten zu verlieren, die den potenziellen Nutzen des ideengeschichtlichen Studiums schmälern anstatt realisieren helfen. Es mangelt nicht an Stimmen, die den Nutzen von methodischer Reflexion über die Praxis der ideengeschichtlichen Forschung bestreiten.1 Zudem wird in Lehrbüchern und Überblickswerken, wie Busen und Weiß kürzlich festgestellt haben, in der Regel von nennenswerten Bemerkungen zur Methodik abgesehen.2 Dabei ist der Verzicht auf eine Methode gerade keine Option in der politischen Ideengeschichte. Die Frage ist nicht, ob man einen Interpretationsansatz praktiziert, sondern welchen; wie plausibel der verwendete Ansatz ist und wie konsistent man ihn anzuwenden versteht. Um theoretische Werkzeuge aus ideengeschichtlichen Texten zu bergen und über die Vergangenheit unsere eigene Situation zu reflektieren, können wir unterschiedliche Analysestrategien verfolgen. Jede Analysestrategie basiert auf unterschiedlichen Annahmen, eröffnet spezifische Möglichkeiten und impliziert spezifische Grenzen. Manche Analysestrategien eignen sich zum Beispiel zu ergründen, was Autoren gedacht haben oder was ihre Texte aussagen; andere erschließen, was ihre Texte mitteilen wollten, und wieder andere, welche Bedeutung die Texte vermittelt haben. Ein kritisches Bewusstsein über die Möglichkeiten und Grenzen unterschiedlicher Interpretationsansätze in der politischen Ideengeschichte zu erlangen ist nicht zuletzt deshalb nützlich, weil ein solches Bewusstsein vonnöten ist, um die Möglichkeiten des Machbaren auszureizen und um die Grenzen des Machbaren nicht zu ignorieren.

Dieses Lehrbuch setzt sich zum Ziel, die Möglichkeiten und Grenzen grundlegender Interpretationsansätze in der politischen Ideengeschichte theoretisch zu bestimmen und praktisch zu illustrieren. Wir teilen nicht die Vermutung, dass ein Ansatz allgemein richtig ist und alle anderen inadäquat. Vielmehr gehen wir davon aus, dass Möglichkeiten auf Chancen zur Erkenntnisgewinnung hinweisen und Grenzen auf etwas, das mit wissenschaftlicher Redlichkeit nicht zu überschreiten gehofft werden darf. Insofern ein Ansatz derartige Möglichkeiten hat – und nur so weit – ist er notwendigerweise adäquat.

Bevor wir zur theoretischen Darstellung und praktischen Anwendung der Interpretationsansätze übergehen, gilt es noch vorab zu klären, womit sich die Disziplin befasst und woran Interpreten überhaupt ansetzen, wenn sie Texte der politischen Ideengeschichte erforschen.

Politik – Ideen – Geschichte

Die Disziplin der politischen Ideengeschichte studiert die Geschichte der politischen Ideen. Was meint das genau? Fachvertreterinnen und Fachvertreter geben auf diese Frage sehr unterschiedliche Antworten. Grund dafür ist zunächst der Terminus der „Ideen“, der in seiner Bedeutung eine Bandbreite von einer mit metaphysischem Anspruch ausgestatteten Idee bis zu einem bloßen Gedanken aufweisen kann. Grob vereinfacht ausgedrückt hat sich die politische Ideengeschichte seit ihren Anfängen als selbstständige Disziplin immer weiter von einem starken Ideenbegriff verabschiedet. Ging man zunächst davon aus, dass über die Jahrhunderte hinweg dieselben Ideen gleichsam zeit- und ortsunabhängig verhandelt worden sind (in der deutschsprachigen Tradition paradigmatisch bei Meinecke, in der amerikanischen Tradition bei Strauss und bei Lovejoy), so werden diese – insoweit heute überhaupt noch von Ideen gesprochen wird – heuristisch oder im Sinn von „Motiven“ verstanden. Aller Unkenrufe zum Trotz ist es aber keineswegs so, dass stärkere Ideenbegriffe gar nicht mehr vertreten würden. Dies zeigt sich zum einen in systematischen Untersuchungen, die mehrere Schriften und Autoren versammeln und sie auf ein Problem hin analysieren oder die Entwicklung einer sich formierenden und ausdifferenzierenden Idee historisch nachzeichnen.3 Vielleicht wäre es aus dieser Perspektive betrachtet angemessener zu sagen, dass sich im Zuge einer disziplinären Weiterentwicklung eine Reihe weiterer Verständnisse neben dasjenige einer metaphysischen Idee gestellt haben, womit die Bezeichnung politische Ideengeschichte für viele zunehmend befremdender, in heutiger Zeit für einige gar schlicht anachronistisch geworden ist.

Es erstaunt daher nicht, dass derzeit mehrere Bezeichnungen eine weitgehend deckungsgleiche Verwendung finden, so etwa „Geschichte des politischen Denkens“, „Geschichte der politischen Philosophie“, oder „Geschichte der politischen Theorie“. John Gunnell hat dementsprechend kürzlich festgestellt:

Ob man von der Geschichte der politischen Philosophie, von der Geschichte der politischen Theorie oder von der Geschichte des politischen Denkens spricht, der Verweis zielt für gewöhnlich auf eine grundsätzlich gleiche fachliche Tätigkeit.4

Die Bedeutungen dieser Bezeichnungen sind natürlich nicht vollends deckungsgleich. Jede Bezeichnung trägt eigene Konnotationen: „politisches Denken“ mag eine besondere Breite anzeigen, „politische Philosophie“ der Kanonisierung von „Klassikern“ Tribut zollen und „politische Theorie“ eine systematische Vorgehensweise mit besonderem Anspruch auf Gegenwartsrelevanz verbinden.5 Auch die Bezeichnung „politische Ideengeschichte“ trägt, wie wir gesehen haben, eine solche besondere Konnotation. Vereinfacht lässt sich sagen, dass die Bezeichnungen und Konnotationen den unterschiedlichen Gewichtungen, Fokussierungen, Interessen und Zielen geschuldet sind, mit denen die „grundsätzlich gleiche fachliche Tätigkeit“ im Rahmen der Fachdisziplinen der Politikwissenschaft, Philosophie und Geschichtswissenschaft betrieben werden.

Wir sprechen in diesem Band durchgängig von „politischer Ideengeschichte“, ohne aber damit einer bestimmten Konnotation den Vorzug geben zu wollen. Vielmehr gebrauchen wir die Bezeichnung, die historisch der Disziplin ihren Namen gegeben hat, weil sie noch am Besten geeignet scheint, um das überlappende Feld der „grundsätzlich gleiche[n] fachlichen Tätigkeit“ abzustecken. Im Grunde rekurrieren wir auf eine geläufige Begebenheit. In Bibliotheken werden in der Regel Bücher in einem gemeinsamen Regal, z.B. unter der Rubrik „Einführungen in die politische Ideengeschichte“, versammelt, von denen manche einen systematischen Fokus auf Argumente, andere einen historischen Fokus auf klassische Autoren und Werke und noch andere den Fokus auf Diskurse legen. Aus der Perspektive, die diesem Band zugrunde gelegt ist, stehen diese drei Bücher mit Fug und Recht im selben Regal; sie könnten aber auch ohne Weiteres in drei verschiedenen Regalen auf Leserschaft warten, je eines z. B. im Fachbereich der Politikwissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der Philosophie. Immerhin stützt man sich trotz der Kontroverse, ob es um „Ideen“, „Theorien“, „Denken“ oder „Denker“ geht, unisono auf die Termini „Geschichte“ und „Politik“.

Das heißt nicht, dass es nicht auch zu den Termini der „Geschichte“ und „Politik“ viel Kontroverses zu berichten oder gar ganze Ideengeschichten zu schreiben gäbe.6 Beide Termini verhalten sich zur Disziplin in einem zirkulären Verhältnis, insofern neue Verständnisse von „Geschichte“ neue Wege, politische Ideengeschichte zu schreiben, ermöglichen und neue Verständnisse von „Politik“ (oder auch „des Politischen“7) den Gegenstandsbereich möglicher Objekte der Reflexion erweitern oder auch einengen. Wenn beispielsweise Karl Löwith seine Ausführungen in Weltgeschichte und Heilsgeschehen mit der Gegenwart beginnen lässt und sich sukzessive in die Vergangenheit vorarbeitet, dann begründet er dies zum einen didaktisch; zum andern ist das Vorgehen aber auch Ausdruck einer grundsätzlichen Neubestimmung des Historischen selbst.8 Oder wenn ein feministisches Politikverständnis, welches die Privatsphäre für politisch erklärt, neu artikuliert wird und Verbreitung findet, dann lassen sich neue politische Ideengeschichten schreiben. Sie fordern uns dann beispielsweise zur Berücksichtigung von Forschungen auf, die zuvor eher in der Sozialgeschichte (also außerhalb der politischen Ideengeschichte) verortet waren.

Mediale Ressourcen der politischen Ideengeschichte

Um theoretische Werkzeuge zu bergen und in Auseinandersetzung mit der Vergangenheit uns selbst besser zu verstehen, untersucht man in der politischen Ideengeschichte in der Regel Texte. Texte können aber recht unterschiedlicher Art sein. Welche Textarten zählen also zu den relevanten medialen Ressourcen des ideengeschichtlichen Studiums? Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts ist man immer mehr von einer restriktiven Antwort auf diese Frage abgekommen. Heute gilt es, Texte unterschiedlicher Formate und soziokultureller Herkunft zu berücksichtigen.

Vom engen zum weiten Textbegriff

Texte sind der Gegenstand der ideengeschichtlichen Reflexion, und zunächst finden wir diese in der Form von Büchern. Wir gehen in die Bibliothek, steuern das entsprechende Regal an und nehmen Aristoteles’ Politik oder Das kommunistische Manifest zur Hand. Texte der politischen Ideengeschichte finden sich in Monografien; dazu kommen Sammelbände, Zeitschriften und Zeitungen, in denen politische Denkerinnen und Denker ihre Artikel und Interviews veröffentlichen und viele weitere Textformate, die wir beim Gang in die Bibliothek leicht vergessen: Hannah Arendt hat ihr politisches Denken zu Teilen über Radiovorträge vermittelt, Michel Foucault und Noam Chomsky ihre philosophischen Differenzen in Fernsehsendungen verhandelt. Wichtige Einblicke in das politische Denken der Renaissance sind uns mit Gemälden gegeben. Claude Lefort sieht die aussagekräftigsten Texte für den ideengeschichtlichen Übergang vom Absolutismus zur modernen Demokratie gar in monarchischen Begräbniszeremonien.9 Auch die neuen Medien stellen Foren etwa in Form von Blogs bereit, in denen politiktheoretische Reflexion einen zunehmend bedeutsamen Platz findet. Und wenngleich es nahe liegt, sich die unterschiedlichen Textformate entlang einer Achse vorzustellen, dessen einer Pol einen (alten) engen und dessen anderer Pol einen (neuen) weiten Textbegriff kennzeichnet, so ist zu bedenken, dass selbst die Klassiker des politischen Denkens weit über diese Achse verstreut sind. Aristoteles’ Politik basiert auf Vorlesungen und hat in der Form eines Buchs erst im Mittelalter, vermittelt über arabische Kommentatoren, Eingang in unsere Regale gefunden. Das kommunistische Manifest war ursprünglich eine Flugschrift.

Von der Hoch- zur Populärkultur

Während in der Disziplin schon immer auf ideengeschichtliche Texte unterschiedlichsten Formats als Reflexionsgegenstand zurückgegriffen wurde, so besteht eine genuine Neuerung hinsichtlich der Einbeziehung von Texten unterschiedlicher soziokultureller Herkunft. Erst im späten 20. Jahrhundert wurde der Blick von Texten der sogenannten ‚Hochkultur‘ systematisch auf die ‚Populärkultur‘ ausgedehnt. Texte der politischen Ideengeschichte werden seither nicht mehr nur bei akademischen und politischen Eliten vermutet, sondern auch im Alltagsleben gesucht. Die Gründe hierfür sind dreierlei: Erstens sind bedeutende politische Ideen nicht selten aus den Niederungen des politischen Tagesgeschäfts hervorgegangen, ehe sie philosophisch geschärft und modifiziert in Texten der Hochkultur artikuliert werden konnten.10 Zweitens kann nie mit Sicherheit vorausgesagt werden, aus welchem gesellschaftlichen Kreisen ein Text von herausragender ideengeschichtlicher Bedeutung und Qualität hervorgeht. Die Autorschaft des anonymen Online-Pamphlets Der kommende Aufstand, das für große Aufregung sorgte, wurde zunächst bei einer Gruppe Nonkonformisten aus dem Dorf Tarnac vermutet, woraufhin die französische Polizei im Jahr 2008 einen Klarinettisten, eine Krankenschwester und einen Gemüsehändler festnahm, auch wenn sie deren Urheberschaft schließlich nicht nachweisen konnte.

Schließlich ist ein dritter Grund, dass ideengeschichtliche Texte nicht auf einen Ort auf einer Achse soziokultureller Textwertigkeit festgeschrieben sein müssen, weil Hochkultur und Populärkultur in einem dynamischen Verhältnis stehen. Kulturelle Wertigkeit impliziert Bewertung, und diese kann sich gerade mit historischem Abstand deutlich verändern. Hochkultur kann Populärkultur werden, und umgekehrt, wie Machiavellis Der Fürst für beiderlei Dynamiken belegen mag. Ist die Schrift doch sicherlich keine repräsentative Quelle des frühneuzeitlichen Gelehrtentums, wird sie seit Langem zum Grundkanon politischer Ideengeschichte gezählt; im 20. Jahrhundert hat sie den Status von Ratgeberliteratur wiedergewonnen (unter Titeln wie Machiavelli für Frauen, Machiavelli für Manager, oder Machiavelli für Streithammel), wenngleich in etwas vulgärer Form.

Vielfalt der Ansätze – Eine Typologie

Politische Ideengeschichte ist also vornehmlich eine Textwissenschaft, wobei je nach engem oder weitem Textbegriff und soziokultureller Herkunft verschiedene Objekte Gegenstand der Untersuchung und Reflexion sein können. Ausgangspunkt ist die Identifizierung eines als interpretationsbedürftig wahrgenommenen Textmaterials. Die Herausforderung für die Ausdifferenzierung von Interpretationsansätzen besteht darin, die Analyseschritte aufzuzeigen, mithilfe derer ein als interpretationsbedürftig wahrgenommenes Textmaterial ausgelegt wird. Welche Analyseschritte für die Interpretation zielführend sind, hängt natürlich von dem genauen Leitinteresse ab, ob also wie zuvor erwähnt das Denken des Autors oder die Aussage seiner Texte erschlossen werden soll, oder die in den Texten angelegte Mitteilung an eine Leserschaft, oder aber die Bedeutung, die die Texte ihrer Leserschaft vermittelt haben. Die unterschiedlichen Leitinteressen suggerieren ihrerseits aber wiederum spezifische Verständnisse dessen, als was ein Text im Allgemeinen überhaupt zu verstehen ist. Die nachfolgende Typologie versucht daher Klarheit in das Dickicht der vielfältigen Interpretationsansätze zu bringen, indem die Interpretationsansätze anhand des angesetzten Textverständnisses geordnet werden.

Textzentrierte Ansätze: „ein Text ist der Gehalt seiner Aussagen“

Ein Text kann einfach als Text verstanden werden, als ein Argument, das jenseits der Prosa des Texts im Gehalt seiner Aussagen besteht. Der analytische Ansatz abstrahiert dementsprechend von der sprachlichen Präsentation, um den Gedanken selbst zu erfassen. Für den analytischen Interpreten macht es keinen Unterschied, ob ein Satz auf Englisch, Deutsch oder Sanskrit geschrieben ist, wie auch grammatikalische Konstruktionsarten, Akzentuierungen oder schlicht Rhetorik nicht ins Gewicht fallen. Ein einziger Aussagegehalt kann daher auf vielfache Weise ausgedrückt werden. Erasmus von Rotterdam zählte beispielsweise 195 lateinische Varianten des Satzes „Ihr Brief hat mir sehr gefallen“ auf; die Aussagedes Satzes war ihrem Gehalt nach stets dieselbe.11 Bei einer analytischen Textinterpretation steht also der Aussagegehalt im Vordergrund. Im Idealfall lässt sich dieser in Form von Prämissen und Schlussfolgerungen darstellen, so dass im Anschluss an die Interpretation, der argumentative Inhalt des Texts auf Validität und Konsistenz geprüft werden kann.

Interessante Ansätze, die ebenfalls als textzentriert gelten können, sich bisher jedoch noch nicht innerhalb des Mainstreams etablieren konnten, sind in der Semiotik (Umberto Eco) und im (Post)-Strukturalismus zu verorten. Im Gefolge von Roland Barthes’ und Michel Foucaults Erklärungen zum Tod des Autors und Jacques Derridas Dekonstruktivismus haben sich neue Möglichkeiten ergeben, auch Texte aus der politischen Ideengeschichte neu zu interpretieren. Bei der ausführlichen Darstellung und Illustration von textzentrierten Ansätzen beschränken wir uns jedoch auf den analytischen Ansatz.

Autorzentrierte Ansätze: „ein Text ist von jemandem geschrieben“

Man kann einen Text aber auch als etwas verstehen, das von jemandem geschrieben wurde; der Autor rückt ins Zentrum. Die damit einhergehende Prämisse ist, dass man etwas über den Autor des Texts in Erfahrung bringen muss, möchte man das interpretationsbedürftige Textmaterial verstehen. Explizit finden autorzentrierte Ansätze in der ideengeschichtlichen Praxis Anwendung, wenn biografische Informationen über den Autor argumentativ in eine Textinterpretation eingewoben werden. Häufig wird beispielsweise behauptet, der Leviathan von Thomas Hobbes lasse sich nicht ohne dessen Erfahrung des englischen Bürgerkriegs verstehen. Nur impliziter, aber nicht weniger prämissenbehaftet, wird von einem solchen Zusammenhang des Lebens eines Autors und der Bedeutung eines seiner Texte ausgegangen, insofern der inhaltlichen Diskussion eine biografische Notiz vorangestellt wird. Warum sonst sollte das intime Verhältnis von Simone de Beauvoir mit Jean-Paul Sartre erwähnenswert sein in einer Abhandlung, die sich mit de Beauvoirs Text Das andere Geschlecht zu befassen behauptet? Misst man dem Zusammenhang von der Person des Autors einerseits und der Bedeutung des Texts andererseits die Hauptrolle zu, so kann man von einem biografischen Ansatz sprechen. Genau genommen wird dann ein Text als Ausdruck des Lebens eines Autors verstanden: Der Text hätte, angesichts der Biografie des Autors, gar nicht anders lauten können als er lautet.

Im Unterschied dazu unterstellt ein werkimmanenter Ansatz, dass man einen Text eines Autors am besten dann versteht, wenn man ihn im Zusammenhang mit den anderen Texten des Autors sieht. Dieser Ansatz kommt etwa zum Tragen, wenn man bei der Interpretation eines Texts die Qualifizierung hinzufügt, dass es sich um einen frühen Text des Autors handelt, da die späteren Texte doch alle durch das Hinzutreten eines bestimmten Motivs gekennzeichnet sind. (Hinsichtlich des Werks von Platon wird beispielsweise häufig gesagt, dass Sokrates nur anfangs eine zentrale Rolle einnimmt und in späteren Schriften immer mehr in den Hintergrund rückt.) Im Extremfall wird ein Text unter Anwendung des werkimmanenten Ansatzes in seiner Stellung innerhalb des Gesamtwerks der einem Autor zugeschriebenen Texte verstanden. Das Leben des Autors ist nicht primär für die inhaltliche Interpretation ausschlaggebend. Aber nur mittels der Identifikation des Autors können die verschiedenen Texte überhaupt als Texte des Gesamtwerks eines Autors verstanden werden.

Adressatenzentrierte Ansätze: „ein Text ist für jemanden geschrieben“

Ein Text kann aber auch so verstanden werden, dass er in der Hauptsache „für jemanden geschrieben“ ist; ein bestimmter Adressatenkreis nimmt also den Platz des Autors im Zentrum des Textverständnisses ein. Es wird daher nach der Botschaft gesucht, die der Autor mit seinem Text an seine Zeitgenossen vermitteln wollte oder tatsächlich sendete.

Der esoterische Ansatz von Leo Strauss bezieht die Möglichkeit in Betracht, dass Autoren nicht beabsichtigt haben mochten, ihre Erkenntnisse offen und explizit zu kommunizieren. Vielleicht drohten Freigeistern Repressionen; oder sie glaubten, die Gesellschaft vor unbequemen Wahrheiten schützen zu müssen; oder aber sie meinten, dass sich Leser philosophische Einsichten nicht in der gleichen Weise wie Sachinformationen aneignen können. Autoren könnten dementsprechend der adressierten Leserschaft ihre eigentliche Lehre zwischen den Zeilen zu vermitteln gesucht haben. Das, was auf den Zeilen geschrieben steht, wäre dann nur Zensoren, der politisch korrekten Öffentlichkeit oder Philosophieunempfänglichen zugedacht.

Der kontextuelle Ansatz geht hingegen davon aus, dass Autoren nicht in ein überzeitliches Gespräch mit vergangenen und zukünftigen Generationen (und zuletzt uns) eintraten, sondern ihren politischen Zeitgenossen eine Mitteilung machten. Sie taten dies nicht so sehr, weil sie es wollten, sondern weil sie gar nicht anders konnten. Die Autoren ideengeschichtlicher Texte werden als Kinder ihrer Zeit begriffen, die in historisch und kulturell kontingenten sprachlichen Konventionen, intellektuellen Traditionen und politischen Kontroversen gefangen waren. Laut dem bekanntesten Vertreter eines kontextuellen Ansatzes, Quentin Skinner, stellen ideengeschichtliche Texte ideologische Interventionen in das politische Tagesgeschäft dar. Dementsprechend richten sich die von ihm empfohlenen Analysestrategien auf die in einem Text angelegten Anspielungen auf parteiische Positionen, Bewertungen und Akzentverschiebungen. Wer die politische Rhetorik des Entstehungskontexts von Daniel Defoes Schrift Der kürzeste Weg mit den Dissentern in die Interpretation miteinbezieht, so Skinner zum Beispiel, erkenne, dass Defoe seinen Zeitgenossen keineswegs empfahl, mit Andersgläubigen kurzen Prozess zu machen, sondern sie mithilfe der ironischen Überspitzung zu größerer Toleranz bewegen wollte.12

Leserzentrierte Ansätze: „ein Text ist von jemandem gelesen“

Ein weiterer Typ von Interpretationsansätzen versteht Texte als etwas, das vor allem von jemandem gelesen wird; die Leseerfahrung wird in den Vordergrund gerückt. Dabei kann auf die Leseerfahrung eines Einzelnen oder die Gesamtheit aller Leser fokussiert werden.

Beim hermeneutischen Ansatz dreht sich alles um die Fremdheit, mit der ein Interpret als Leser eines ideengeschichtlichen Texts konfrontiert ist. Problematisiert wird dabei die zeitliche, kulturelle, sprachliche, milieubezogene und politisch-soziale Differenz, die dem Bemühen nach Verständnis entgegensteht. Der Leser tritt notwendig mit Vorannahmen und Vorurteilen an einen Text heran. Ziel ist, sich dieser bewusst zu werden und sie produktiv zu wenden. Dabei wird nicht davon ausgegangen, dass es ein letztes Wort über einen historisch in den Text hineingelegten Sinn zu sprechen gälte. Vielmehr nimmt, wie Hans-Georg Gadamer es ausdrückte, die „Ausschöpfung des wahren Sinns“ kein Ende. Durch das Bemühen des Lesers ergeben sich neue Verständnisse und Sinnbezüge. Die Differenz zwischen Interpret und Text schließt sich letztlich nicht, sie ist in „ständiger Bewegung und Ausweitung“ begriffen.13

Der rezeptionstheoretische Ansatz sucht hingegen der unterschiedlichen Deutungen von Lesern gewahr zu werden, die von einem Text über die Zeit entstanden sind. Der Interpret setzt also an den Deutungen der Sekundärliteratur an und schlägt im Extremfall den interpretationsbedürftigen Text selbst gar nicht auf. Diese Vorgehensweise rechtfertigt sich entweder, weil die Bedeutung von Texten als uneindeutig und durch die Leserschaft mitkonstituiert gilt; oder weil die Auswertung der kaleidoskopischen Vielfalt von Rezeptionsdispositiven indirekt eine Interpretation des Texts ermöglicht, die weniger von den persönlichen Voreinstellungen des Interpreten belastet ist; oder einfach weil das Maßgebliche von Texten nicht in der Bedeutung erkannt wird, die sie vermitteln wollten, sondern in der Bedeutung, die sie faktisch vermittelten.

Ansätze, die über die Interpretation eines Einzeltexts hinausgehen

In der politischen Ideengeschichte gibt es über die bereits erwähnten Ansätze hinaus eine Reihe von Interpretationsansätzen, die nicht in erster Linie einen Einzeltext in den Blick nehmen, sondern sich von vornherein auf ein Kollektiv von Texten konzentrieren, dem das eigentliche Interesse gilt. So auch in der Begriffsgeschichte, die wir von diesem Typ von Ansätzen in diesem Band detailliert betrachten werden. Bei der Begriffsgeschichte spielen Texte gegenüber den Begriffen, die sie verhandeln, eine untergeordnete Rolle. Texte werden allenfalls als Sammelsurium von Bestimmungen und Deutungen bestimmter politischer und anderer Begriffe verstanden. Begriffsgeschichtler, wie ihr prominentester Vertreter Reinhart Koselleck, versuchen Entwicklungen von Begriffen über viele Texte hinweg nachzuzeichnen, um so letztlich sozialen und politischen Wandel historisch greifbar zu machen. Gerade bei der Begriffsgeschichte hat sich der Fokus über die letzten Jahrzehnte merklich weg von Höhenkammliteratur zu institutionellen Texten und Texten der Populärkultur geweitet.

In diesem Band nicht behandelt, aber gleichermaßen erwähnenswert sind eine Reihe anderer Ansätze, die in ähnlicher Weise über die Interpretation eines Einzeltexts hinausgehen und die ebenfalls in der Disziplin verfolgt werden. Wie die Begriffsgeschichte beziehen sie die Interpretation des einen Texts auf ein Kollektiv von Texten, dem das eigentliche Interesse gilt. Stichwortartig seien hier die Problemgeschichte, die Mentalitätengeschichte sowie diskurs- und systemtheoretische Ansätze erwähnt. Diese Ansätze sind nicht zuletzt durch ihr, über einen Einzeltext weit hinausreichendes Interesse überaus komplex konzipiert; sie kommen aber allesamt nicht umhin, sich mit Einzeltexten zu beschäftigen, so dass ein Verständnis der in diesem Band vorgestellten Interpretationsansätze gleichsam als Vorbereitung für diese weiterführenden Ansätze verstanden werden darf.

Damit sind abschließend zwei wichtige Punkte angesprochen. Erstens ist es durchaus ein Aspekt der Diskussion um Ansätze in der politischen Ideengeschichte, was denn nun als eigenständiger Ansatz gelten kann. Es scheint zumindest so zu sein, dass die eben erwähnten Ansätze, die auf ein Kollektiv von Texten abheben, je schon ein Textverständnis bei der Lektüre des Einzeltexts ansetzen. Wenn man zum Beispiel Problemgeschichte betreibt und sich dem Problem der sich durch Macht einstellenden Korrumpierbarkeit widmet, dann kann man die Texte und den darin enthaltenen Beitrag zur Problembehandlung noch immer als von jemandem geschrieben oder als für jemanden geschrieben oder einfach auch nur als vorliegenden Text lesen. Damit ist letztlich auch verständlich, warum es strittig ist, ob etwa der Feminismus einen eigenständigen Ansatz bereitstellt. Er könnte sich durchaus mit manchen der in diesem Lehrbuch versammelten Ansätze kombinieren oder aber als unabhängiges Set von Analysestrategien ausdifferenzieren lassen.

Zweitens sind natürlich im Grunde auch die von uns ausgewählten, grundlegenden Interpretationsansätze in ihrer Ausgestaltung durch eine anhaltende Fortschreibung auf theoretischer Ebene sowie durch konkurrierende Anwendungen in der Praxis gekennzeichnet. Im Rahmen dieses Bands kann auf diese vielfältigen Entwicklungen nur punktuell eingegangen werden. Größeres Gewicht wird dagegen darauf gelegt, die ausgewählten, grundlegenden Interpretationsansätze in Modellform zu präsentieren. Denn durch die modellhafte Darstellung und Illustration werden Vorzüge und Nachteile der einzelnen Ansätze deutlicher sichtbar, so dass gehofft werden darf, das Bewusstsein für die jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen zu fördern und zu einem (selbst-)kritischen Umgang mit dem methodischen Handwerkszeug der politischen Ideengeschichte zu motivieren.

Auswahl der Texte

Im vorliegenden Lehrbuch werden die Analysestrategien der ausgewählten Interpretationsansätze erläutert und durch Anwendung auf je einen Text illustriert. Die Auswahl der Texte berücksichtigt die Kriterien unterschiedlicher Textformate sowie soziokultureller Herkunft. Dabei beschreiten wir einen Mittelweg zwischen „Klassikern“ (Platons Staatsmann, Machiavellis Der Fürst, Strauss’ Verfolgung und die Kunst des Schreibens und Madisons Federalist Paper Nr. 10) und eher vernachlässigten Texten (De Gouges’ Drei Urnen, Riveras Die Geschichte Mexikos, Huangs Mingyi daifang lu und dem hethitischen Text Die Würdenträgereide des Arnuwanda). Was die Autorschaft der Texte anbelangt, so wird ebenso einerseits auf Familiarität gesetzt, und andererseits auf noch nicht oder nur namentlich bekannte Autoren zurückgegriffen. Schließlich, auch wenn die Auswahl nur exemplarisch und ohne Anspruch auf Repräsentativität erfolgen konnte, wurden nicht nur Texte von männlichen, weißen Europäern miteinbezogen.

Männliche, weiße Europäer? Reden wir damit nicht einer politischen Korrektheit das Wort, die wir in unserer eigenen Schreibpraxis gar nicht einlösen? Haben wir nicht durchgängig von Autoren in der männlichen Form gesprochen? Darüber wollen wir in Form einer Reflexionsbox kurz nachdenken.

Reflexionsbox 1: Sexistische Sprache

Wäre es nicht gerade in einem Lehrbuch nötig, auf geschlechtsneutrale Sprache zu achten? Nicht alle Autoren der politischen Ideengeschichte waren Männer und auch nicht deren Adressaten oder Leser. Die standardmäßige Verwendung der männlichen Form suggeriert eine falsche Normalität. Umgekehrt kann eine geschlechtsneutrale Sprache über die faktisch vorherrschenden patriarchalen Verhältnisse hinwegtäuschen. Das Dilemma lässt sich nicht leicht umgehen. Im einen Fall laufen wir Gefahr, Studierende an eine sexistische Konvention zu gewöhnen. Im andern Fall würden wir einem idealisierenden Anachronismus erliegen, indem wir unser heutiges Selbstverständnis in die Vergangenheit projizieren.

Für uns ausschlaggebend war die Befürchtung, mit einer konsequent geschlechtsneutralen Sprache oder mit im Deutschen ungebräuchlichen Alternativen die Reflexion über Ansätze in der politischen Ideengeschichte zu erschweren. Wir haben uns daher in einigen Fällen des Schlüsselvokabulars für die Verwendung des generischen Maskulinums entschieden, ohne zu meinen, damit die richtige Lösung, oder auch nur die beste aller schlechten, gefunden zu haben.

1 Siehe z. B.: Ball, Terence. 1995. Reappraising Political Theory. Revisionist Studies in the History ofPolitical Thought. Oxford: Clarendon, S. 5; Sontag, Susan. 2009. „Against Interpretation“. In: dieselbe, Against Interpretation and Other Essays. London: Penguin, S. 3–14.

2 Busen, Andreas und Weiß, Alexander. 2013. „Ansätze und Methoden zur Erforschung politischen Denkens: The State-of-the-Art?“. In: dieselben (Hg.), Ansätze und Methoden zur Erforschung despolitischen Denkens. Baden-Baden: Nomos, S. 15–39.

3 Siehe z. B.: Kersting, Wolfgang. 2009. Die Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft; Riklin, Alois. 2006. Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

4 Gunnell, John. 2011. „History of Political Philosophy as a Discipline“. In: Klosko, George (Hg.), The Oxford Handbook of the History of Political Philosophy. Oxford: Oxford University Press, S. 60–72; hier S. 60.

5 Ottmann, Henning. 1996. „In eigener Sache: Politisches Denken“, Politisches Denken, Jahrbuch 1995/96: S. 1–9; Ottmann, Henning. 2001a. Geschichte des Politischen Denkens. Band 1/1: Die Griechen. Von Homer bis Sokrates. Stuttgart: Metzler, S. 1–6.

6 Für einen Klassiker, siehe: Collingwood, Robin George. 1994. The Idea of History. Oxford/New York: Oxford University Press.

7 Zum Unterschied zwischen Politik und dem Politischen, siehe: Röttgers, Kurt und Bedorf, Thomas (Hg.). 2010. Das Politische und die Politik. Berlin: Suhrkamp Verlag.

8 Löwith, Karl. 2004. Weltgeschichte und Heilsgeschehen: Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart: Metzler.

9 Lefort, Claude. 1988. Democracy and Political Theory. Cambridge: Polity Press.

10 Ottmann, 2001a, S. 2.

11 Siehe: von Rotterdam, Desiderius Erasmus. 1978. „Copia: Foundations of the Abundant Style (de duplici copia verborum ac rerum commentarii duo)“, übersetzt von Betty I. Knott, in: Collected Works of Erasmus: Literary and Educational Writings 2, hg. von Craig R. Thompson, Toronto: University of Toronto Press, S. 348–354.

12 Skinner, Quentin. 2009. Visionen des Politischen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 74–75.

13 Gadamer, Hans-Georg. 1990. Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr, S. 303.

Kapitel 1 Der analytische Ansatz: Am Beispiel des Federalist Paper Nr. 10

Der analytische Ansatz zur Interpretation von Texten der politischen Ideengeschichte – zuweilen auch Oxford Ansatz genannt – bedarf im Grunde nicht langatmiger Erläuterung. Er bezeichnet das, was wir ohnehin intuitiv tun zu müssen glauben, wenn wir uns einen Text nicht nur ansehen, sondern ihn wirklich studieren wollen. Anstatt das Geschriebene nur zu überfliegen und ein wenig in die Einleitung und den Schluss hineinzulesen, nehmen wir uns vor, genau zu betrachten, was die einzelnen Sätze des Texts besagen. Wir versuchen uns in die Lage zu bringen, den Text in eigenen Worten wiederzugeben, um dessen Inhalt uns selbst und anderen erklären zu können. Weil der analytische Ansatz vergleichsweise ebenso naheliegend wie theoretisch schlicht und praktisch einfach zu handhaben ist, findet er in Lehrbüchern wie Vorlesungen zur politischen Ideengeschichte (und Philosophie) nur selten Erwähnung.

Drei Gründe sprechen dennoch für eine systematische Darlegung des analytischen Ansatzes. Erstens kann nicht davon ausgegangen werden, dass jedem völlig klar ist, wie gemäß dem analytischen Ansatz genau vorzugehen ist. Zweitens erachten unseres Wissens alle heutigen Fachexegeten von Texten der politischen Ideengeschichte den analytischen Ansatz als defizitär und legen ihren Arbeiten andere Interpretationsansätze zugrunde. Die genaue Kenntnis des analytischen Ansatzes ist also auch deshalb wichtig, weil wir sonst nicht wissen können, welche Grenzen unserer intuitiven Herangehensweise an Texte gesetzt sind. Schließlich ist die Kenntnis des analytischen Ansatzes für die ideengeschichtliche Interpretationspraxis deshalb von Vorteil, weil er Analysestrategien bereitstellt, auf die fast alle anderen Ansätze trotz ihrer Ablehnung des analytischen Ansatzes in „Reinform“ in der ein oder anderen Weise doch zurückgreifen.1

Der analytische Ansatz versteht Textinterpretation nach seinen Maßstäben als eine recht bescheidene Aufgabe. Es sollen lediglich im Text befindliche Fragen, Thesen, Argumente, Theorien und Antworten identifiziert werden. Die Aufgabe der kritischen Prüfung, ob die im Text identifizierten Fragen, Thesen, Argumente, Theorien und Antworten funktionstüchtige politiktheoretische Werkzeuge und somit für uns relevant sind, wird vom analytischen Ansatz nicht übernommen. Er verrichtet nur die notwendige Vorarbeit dafür. Er unterzieht die Texte einer deskriptiven Analyse, um eine systematische Diskussion zu ermöglichen. Vereinfachend gesagt wird ein Text zu verstehen gesucht, indem zerlegt, sortiert und zusammengefasst wird, was Schwarz auf Weiß im Text geschrieben steht.

1. Zur Theorie des analytischen Ansatzes

Der analytische Interpretationsansatz ist theoretisch und in der praktischen Anwendung maßgeblich durch Philosophen und Philosophinnen geprägt worden, die im 20. Jahrhundert an der Universität Oxford tätig waren. Ihr Beitrag bestand dabei nicht zuletzt darin, dass sie die „analytische Methode“ (die vorab durch Philosophen aus Cambridge wie G.E. Moore entwickelt wurde), auf den Bereich der politischen Philosophie übertrugen.2 Für die Interpretation von Texten bedeutete dies zunächst, dass man sich auf die sprachphilosophische Klärung von politischen Begriffen und den Nachweis konzeptueller Fehler und methodischer Missverständnisse beschränkte. In der Folge ging man aber dazu über, in weniger destruktiver Absicht die logische Verknüpfung der politischen Begriffe zu Argumenten und Theorien nachzuvollziehen und die Texte als Antwortversuche von politischen Autoren auf „permanente oder zumindest wiederkehrende Probleme der Philosophie“ zu deuten.3

Reflexionsbox 2: Überzeitliche Ideen

Der Begründer der Disziplin der politischen Ideengeschichte, Arthur Oncken Lovejoy, gab als Ziel der Disziplin das Studium von überzeitlichen Grundideen (unit ideas) aus. In detaillierten Analysen sollte die Geschichte dieser überzeitlichen Grundideen nachvollzogen werden, d. h. wie Begriffe (z. B. Recht, Freiheit, Vertrag) im Laufe der Geschichte bestimmt, modifiziert, mit anderen Begriffen kombiniert und artikuliert wurden.4 Die Vertreter des analytischen Ansatzes insistierten nicht unbedingt auf der Existenz von überzeitlichen Ideen, suggerierten aber wohl, dass sich einige Ideen (oder zumindest Fragen) als ziemlich langlebig erwiesen und sich historisch nur wenig verändert haben. Kritiker, die von einer stärkeren Beeinflussung von Autoren durch ihren historischen intellektuellen Kontext ausgehen, charakterisieren das Ideengeschichtsverständnis des analytischen Ansatzes deshalb überspitzt als fiktives Gespräch zwischen antiken, neuzeitlichen und modernen Autoren in einem zeitlosen Elfenbeinturm. Die Vertreter des analytischen Ansatzes entgegneten darauf nicht ganz zu Unrecht, dass die Klassiker der politischen Ideengeschichte in einen eben solchen überzeitlichen Dialog einzutreten gewillt gewesen scheinen. Die Vertreter des analytischen Ansatzes konnten ihnen somit in gewisser Hinsicht besser gerecht werden als ihre Kritiker, indem sie z. B. Hobbes als einen Menschen des 20. Jahrhunderts diskutierten, so wie Hobbes Aristoteles als seinen Zeitgenossen ansprach.

Für den analytischen Ansatz ist zentral, was in einem Text steht. Warum jemand den Text geschrieben hat, wer dieser Jemand war und welche Absichten dieser Jemand mit dem Text im Sinn hatte, wird konsequent ausgeklammert:

Manche meinen, um zu verstehen, was ein Mann sagte, müssten wir wissen, warum er es sagte. Das ist falsch. Wir müssen nur betrachten, wie er Wörter verwendete. Um Hobbes zu verstehen müssen wir nicht wissen, welchen Zweck er mit dem Leviathan verfolgte und was er über die rivalisierenden Ansichten der Royalisten und Parlamentarier dachte. Wir müssen nur wissen, was er mit Wörtern wie Recht, Freiheit, Vertrag und Verpflichtung meinte […] Ich beschränke mich [deshalb] darauf, was meine Autoren zu sagen haben und lasse die Ursprünge ihrer Theorien oder die Umstände, in denen sie entwickelt wurden, fast vollständig außer Acht.5

Um gemäß der Theorie des analytischen Ansatzes einen Text zu verstehen, braucht man also nicht den historischen Kontext, die Biografie des Autors, weitere Texte des Autors und seiner Zeitgenossen oder spätere Rezeptionen zu beachten; alles, was es herauszufinden gilt, steht im zu untersuchenden Text selbst.

Reflexionsbox 3: Aussagegehalt und Autorintention

Wenn wir über ideengeschichtliche Texte sprechen, sagen wir häufig so etwas wie „Im Text kritisiert Thomas Hobbes die Position Y“ oder „Was Hannah Arendt meint, ist Z“, wodurch die Person des jeweiligen Autors ins Spiel gebracht und suggeriert wird, dass entscheidend ist, was er oder sie beim Schreiben im Kopf hatte. In den Kopf eines Autors hineinzusehen ist naturgemäß schwierig. Verlässlicher scheint zu sein, darauf zu fokussieren, was ein Autor schrieb. Der analytische Interpretationsansatz beschränkt sich dementsprechend auf die Aussagen, die Schwarz auf Weiß in den Texten geschrieben stehen. Im Rahmen einer analytischen Interpretation geht es deshalb nicht darum, was Hobbes oder Arendt „eigentlich meinten“, sondern nur darum, welche Aussagen die Sätze ihrer Texte treffen.

Wie ist vorzugehen, wenn man einen Text für interpretationsbedürftig oder, mit Blick auf den analytischen Ansatz, analysebedürftig befunden hat? Drei Analyseschritte lassen sich unterscheiden: Die Analyse des Aussagegehalts, die Klärung der Begriffe und die Rekonstruktion der Argumente des Texts.

Im ersten Analyseschritt wird der inhaltliche Aussagegehalt des Texts identifiziert. Die Sätze eines Texts beherbergen dessen inhaltliche Aussagen, fallen aber nicht unbedingt mit diesen zusammen. Allerdings sind die Sätze der meisten Texte der politischen Ideengeschichte sehr wortreich und schließen Füllwörter, literarische Floskeln, rhetorische Wendungen und Umschreibungen mit ein, die dem Sprachrhythmus, der besseren Lesbarkeit oder effizienteren Überredung der Leser dienen, aber keine zusätzlichen, im engeren Sinn inhaltlich relevanten, Informationen liefern. Sie können deshalb gestrichen werden. Selbiges gilt für ganze Sätze, die beispielsweise bereits getätigte Aussagen wiederholen, zusammenfassen oder mit weitgehend überflüssigen Details und Beispielen ausschmücken. Sogar in extrem technisch anmutenden Traktaten können Streichungen geboten sein. Das bekannteste Beispiel stellt der Nachsatz an einen logischen Beweis „quod erat demonstrandum“ (was zu beweisen war) dar. Andere Sätze können durch Paraphrasierung stark gekürzt werden. Ein Beispiel aus Platons Der Staat mag dies illustrieren:

Text

Aussagen

SOKRATES: Kannst du mir aber eine größere und heftigere Lust nennen als die, die man mit der Aphrodite verbindet? GLAUKON: „Nein“, versetzte er, „und auch keine wahnsinnigere.“ (403a)

A: Die mit der Aphrodite assoziierte Lust ist die stärkste Lust.

Eine Herausforderung bei der Identifikation und Paraphrasierung des inhaltlichen Aussagegehalts eines Texts ist mitunter grammatischer Art. Allem voran gilt dies für Pronominalbezüge, denn häufig ist nicht eindeutig, auf welches Subjekt des Vorsatzes sich Pronomen (wie z. B. er, sie, es, dieser, jenes, etc.) beziehen. Beim Satz „Die Regierung, sagt die Kanzlerin, könne der Gesellschaft nicht helfen. Sie ist innerlich zerrissen“ ist unklar, auf wen oder was sich das Personalpronomen „sie“ bezieht, ob also die Regierung, die Kanzlerin oder aber die Gesellschaft zerrissen ist. Manchmal geben die zuvor oder danach stehenden Sätze Aufschluss über den Pronominalbezug. Wenn dies nicht der Fall ist, können nur Hypothesen aufgestellt werden, die sich eventuell im Zuge der Interpretation stützen oder zurückweisen lassen (A’: Die Regierung ist zerrissen; A’’: Die Kanzlerin ist zerrissen; A’’’: Die Gesellschaft ist zerrissen).

Sobald die Einzelaussagen des Texts identifiziert und so klar und knapp wie möglich aufgelistet sind, können die Hauptaussagen, die Leitfrage und das Untersuchungsergebnis des Texts bestimmt werden. Damit kann ein grober Überblick über die Argumentationsstruktur des Texts gewonnen werden.

Im zweiten Anaylseschritt klärt man die Begriffe des Texts, wobei solche im Vordergrund stehen, die unklar oder in politikphilosophischen Diskussionen umstritten (wie z. B. Gesetz, Verpflichtung, Freiheit) sind. Wenn der Text Definitionen dieser Begriffe bereitstellt, hilft das natürlich sehr. Zusätzlich müssen aber sämtliche Stellen, an denen die jeweiligen Begriffe vorkommen, auf Kohärenz und zusätzliche Definitionskriterien untersucht werden. Diese Parallelstellenstrategie kann zudem auf sehr ähnliche Begriffe oder andere Begriffe, die womöglich als Synonyme fungieren, ausgeweitet werden. Unmittelbar im Anschluss an den oben zitierten Textausschnitt aus Platons Der Staat wird so die mit der Aphrodite assoziierte Lust als die Liebe gekennzeichnet. Die Aussage des Textausschnitts kann deshalb durch die Begriffsbestimmung noch prägnanter reformuliert werden: „Die Liebe ist die stärkste Lust.“

Die Analyse der Aussagen und Begriffe dient der Vorbereitung des dritten Schritts, der Rekonstruktion der Argumente. Mit der Rekonstruktion der Argumente ist nicht gemeint, die im Text vorkommenden Argumente auf ihre Richtigkeit zu überprüfen und zu korrigieren. Eine solche systematische Diskussion von Argumenten bietet sich zwar im Anschluss an die Interpretation eines Texts mit dem analytischen Ansatz an, ist aber nicht Teil davon. Bei der Rekonstruktion der Argumente geht es allein darum, die Aussagen des Texts, die Bestandteile von Argumenten sind, zu identifizieren und deren logischen Zusammenhang nachzuvollziehen.

Ein Argument besteht in der Regel aus mindestens zwei Prämissen und einer Schlussfolgerung. Zum Beispiel:

Alle Menschen sind sterblich.

Sokrates ist ein Mensch.

Sokrates ist sterblich.

Selten werden Argumente in Texten der politischen Ideengeschichte so klar und geordnet präsentiert. Prämissen können nach der Schlussfolgerung nachgereicht und Schlussfolgerungen können als Behauptungen vorausgeschickt werden. Die erste Frage des dritten Analyseschritts richtet sich dementsprechend darauf, welche Aussagen als Prämissen und welche als Konklusionen fungieren. Auf Signalwörter der Logik ist hierfür besonders zu achten. Prämissen können durch Wörter wie „da“, „weil“, „insofern“ oder „wenn“ angezeigt werden und Schlussfolgerungen durch Wörter wie „also“, „daraus folgt“, „deshalb“ oder „dann“. Ebenso häufig wie (aus logischer Sicht) ungeordnete Argumente kommen unvollständige Argumente vor, bei denen eine logisch notwendige Prämisse unerwähnt bleibt (sogenannte Enthymeme) oder komplexe Argumente, die Zwischenschlussfolgerungen überspringen. Für die Rekonstruktion der Argumente des Texts kann es schließlich nützlich sein, die Typen der jeweiligen Argumente zu bestimmen. Handelt es sich z. B. um induktive oder deduktive Argumente, Analogien oder kausale Argumente.6

Infografik 1: Der analytische Ansatz

Der analytische Ansatz interpretiert einen Text, indem systematisch ausgewertet wird, was der Text inhaltlich und explizit aussagt.

Aus Gründen des Platz- und Zeitmangels wird man im Rahmen einer analytischen Interpretation nicht sämtliche fehlenden Prämissen und Schlussfolgerungen ergänzen und sämtliche Einzelargumente rekonstruieren können. Man muss also beurteilen, welche Argumente einer detaillierten Analyse unterzogen werden sollen und dem verbesserten Verständnis der Gesamtargumentation des Texts am meisten zuträglich sind.

2. Das Anwendungsbeispiel: James Madisons Federalist Paper Nr. 10

Den analytischen Ansatz wollen wir anhand des Federalist Paper Nr. 10 von James Madison illustrieren. Bei diesem Text handelt es sich um einen Kommentar zur Amerikanischen Verfassungsdebatte, der heute als eines der wichtigsten Dokumente der konstitutionellen Gründungsgeschichte der USA gilt. Veröffentlicht wurde der Artikel am 22. November 1787 in der Zeitung New York Packet unter dem Pseudonym „Publius“. Neben James Madison verwendeten auch John Jay und Alexander Hamilton dieses Pseudonym. Gemeinsam veröffentlichten sie zwischen Oktober 1787 und August 1788 insgesamt 85 Zeitungsartikel, um die Ratifikation des Amerikanischen Verfassungsentwurfs zu befördern. (Man bezeichnet sie als die Föderalisten.) Gegen Publius erhoben Autoren ihre Stimme, die ihrerseits unter Pseudonymen, wie z. B. Cato, Brutus, Centinel oder Federal Farmer schrieben (die sogenannten Anti-Föderalisten).

All dies muss uns aber im Folgenden nicht interessieren, denn der historische Kontext, die Biografie des Autors und die Rezeptionsgeschichte spielen beim analytischen Ansatz keine Rolle. Es geht nur um das, was explizit im Text geschrieben steht, die Interpretation erfolgt textimmanent. Wie zuvor dargelegt, muss deshalb im Folgenden lediglich der Aussagegehalt bestimmt und die zentralen Begriffe geklärt werden, um daraufhin die Argumente des Federalist Paper Nr. 10 rekonstruieren zu können.

3. Vom Wortlaut zum Aussagegehalt: Die Argumentation des Federalist Paper Nr. 10

3.1 Untersuchungsziel und Hauptaussagen des Texts

Das Federalist Paper Nr. 10 ist weitgehend klar geschrieben, so dass der erste Analyseschritt – die Identifikation des Aussagegehalts – keine allzu großen Herausforderungen bereithält. Nehmen wir uns die ersten Zeilen des Texts im Detail vor. Zunächst filtern wir die Einzelaussagen („A“) aus dem Text heraus. Dabei heben wir sogleich uneindeutige Pronominalbezüge (durch eckige Klammern) und klärungsbedürftige Begriffe (durch Unterstreichung) hervor.

Text

Aussagen

„Keiner der vielen Vorteile, die von einer sinnvoll aufgebauten Union zu erwarten sind, verdient sorgfältiger untersucht zu werden als der, mittels ihrer die Gewalt der Faktionen brechen und unter Kontrolle halten zu können. Nichts lässt den Befü rworter der Volksregierung so sehr um deren Ruf und Schicksal bangen wie das Wissen, welch starke Neigung zu diesem gefährlichen Laster ihr zueigen ist. Er wird deshalb jeden Plan gebü hrend zu wü rdigen wissen, der ein geeignetes Heilmittel dagegen bereitstellt, ohne dabei die Prinzipien zu verletzen, die fü r ihn bindend sind.“ (P1)7

A1: Eine wohlgeordnete Union verspricht viele Vorteile. A2: Die Fähigkeit, die Gewalt der Faktionen zu unterbinden, ist ein solcher Vorteil. A3: Die Integrität und die Existenz von Volksregierungen wird durch [dieses] Problem gefährdet. A4: Volksregierungen sind für das Problem anfällig. A5: Befürworter von Volksregierungen streben nach einer Lösung für das Problem, die nicht die Prinzipien der Volksregierungen verletzt.

Den unterstrichenen unklaren Begriffen (Union, Gewalt der Faktionen, Volksregierung, Prinzipien der Volksregierung) kann sinnvoll erst nachgegangen werden, sobald alle Aussagen des Texts identifiziert sind, da sich später möglicherweise Definitionen finden lassen. Zunächst gilt es die Einzelaussagen im Text zu Hauptaussagen zu komprimieren. Die fünf Einzelaussagen des zitierten Textausschnitts lassen sich aber vereinfachend unter folgender Überschrift zusammenfassen: Faktionen sind ein Problem für Volksregierungen. Aufgrund des grammatisch uneindeutigen Pronominalbezugs in A3 („dieses“) muss allerdings in Betracht gezogen werden, dass das Problem weniger in den Faktionen selbst, als vielmehr in einem bestimmten Aspekt von Faktionen, nämlich „der Gewalt von Faktionen“, besteht.

Hauptaussage Paragraf 1

Faktionen sind ein Problem für Volksregierungen. Oder: Die Gewalt, die von Faktionen ausgeht, ist ein Problem für Volksregierungen.

Im zweiten Paragrafen wird sehr wortreich ausgeführt, dass die Hauptkritikpunkte an der Amerikanischen Volksregierung zum Abfassungszeitpunkt – „Misstrauen gegenüber Verpflichtungen der öffentlichen Hand und das Bangen um private Rechte“ – auf den „Faktionsgeist“ zurückzuführen ist. Der dritte Paragraf reicht eine Definition von „Faktion“ nach und im vierten Paragrafen erweist sich, dass die Doppeldeutigkeit des Pronominalbezugs im ersten Abschnitt, die unklar ließ, ob das Problem in der Gewalt der Faktionen oder den Faktionen selbst besteht, beabsichtigt gewesen war, da nun zwei Vorschläge zur Problemlösung unterbreitet werden:

Es gibt zwei Methoden, das Übel der Faktion zu kurieren: erstens, durch Beseitigung ihrer Ursachen; und zweitens, durch Kontrolle ihrer Wirkungen. (P4)

Hauptaussage Paragraf 4

Das mit den Faktionen verbundene Problem kann gelöst werden, indem entweder die Bildung von Faktionen verhindert wird oder aber die Auswirkungen von Faktionen reguliert werden.

Die folgenden Paragrafen verfolgen zunächst den ersten Problemlösungsvorschlag und dann den zweiten. Wenn man das Übel an der Wurzel packen wolle und die Bildung von Faktionen verhindern möchte, könne dies nur dadurch geschehen, dass entweder die Freiheit der Bürger unterminiert wird oder alle Bürger dazu gebracht würden, dieselben Meinungen, Interessen und Leidenschaften zu teilen. Dieser erste Problemlösungsvorschlag wird daraufhin verworfen. Nimmt man sich stattdessen vor, nur die Auswirkungen des Problems zu regulieren, dann zeigt sich, dass das Problem im Rahmen einer Volksregierung tatsächlich nur bei Mehrheitsfaktionen besteht. Unterschiedliche Formen von Volksregierungen („reine Demokratien“ und „Republiken“) stellen wiederum unterschiedliche Möglichkeiten zur Regulierung der Effekte von Faktionen bereit, wobei auch die Anzahl der Bürger und die Größe des Territoriums relevante Faktoren seien. Die Diskussion wird durch die Aussage abgeschlossen, dass eine große Republik am Besten die Auswirkungen der Faktionen regulieren könne. Die Struktur der Gesamtargumentation des Texts, inklusive der Leitfrage der Untersuchung, kann damit wie folgt dargestellt werden:

Grobstruktur des Federalist Paper Nr. 10

Natürlich lässt es diese Darstellung nicht zu, sämtliche Einzelaussagen oder auch nur die Hauptaussagen wiederzugeben. Sie gibt lediglich einen Überblick über die thematische Anordnung des Aussagegehalts des Texts und bezeichnet somit nur die Zusammenfassung des Ergebnisses des ersten Analyseschritts, der aus der Identifikation aller Einzelaussagen, der Klärung von zweideutigen Pronominalbezügen und der Komprimierung auf Hauptaussagen besteht, so wie er am ersten Paragrafen im Detail durchgeführt wurde. Im dritten Analyseschritt – der Rekonstruktion der Argumente des Texts – werden wir nochmals genauer auf einige Einzel- und Hauptaussagen zurückkommen. Zuvor gilt es aber klärungsbedürftige Begriffe näher zu bestimmen.

3.2 Begriffsklärungen

Bereits im ersten Paragrafen sind uns einige klärungsbedürftige Begriffe aufgefallen: Union, (Gewalt der) Faktionen, Volksregierungen, Prinzipien der Volksregierung. In den folgenden Paragrafen kommt eine Vielzahl von weiteren klärungsbedürftigen Begriffen (wie z. B. Freiheit, Eigentum, reine Demokratie, Republik) vor und wir sind gezwungen, uns auf die Klärung jener Begriffe zu beschränken, die die größte Bedeutung für die systematische Rekonstruktion der Argumente des Texts haben. Dies sind Faktion, öffentliches Wohl und Republik.

Faktion

Der Begriff der Faktion ist von entscheidender Bedeutung für die Interpretation des Federalist Paper Nr. 10. Die Leitfrage des Texts zielt ja auf die Lösung des mit der Existenz von Faktionen verbundenen Problems ab. Die Bestimmung des Begriffs der Faktion wird dadurch unterstützt, dass der Text eine ausführliche Definition bereitstellt:

Unter einer Faktion verstehe ich eine Anzahl von Bü rgern, sei es die Mehrheit, sei es eine Minderheit, die von gemeinsamen Leidenschaften oder Interessen getrieben und geeint sind, welche im Gegensatz zu den Rechten anderer Bü rger oder den ständigen Gesamtinteressen der Gemeinschaft stehen. (P3)

Eine Faktion erfüllt gemäß dieser Definition drei Kriterien: (i) es handelt sich um eine Gruppe von Bürgern, (ii) die Gruppe teilt bestimmte Leidenschaften oder Interessen und (iii) die Handlungsabsichten der Gruppe sind mit den Rechten anderer Bürger oder den ständigen Gesamtinteressen der Gemeinschaft inkompatibel. Auch wenn die Definition weitgehend verständlich ist, verweist sie aufgrund des dritten Kriteriums auf eine weitere klärungsbedürftige Unterscheidung, nämlich die zwischen den Interessen einer Faktion und den ständigen Gesamtinteressen der Gemeinschaft. Bevor wir aber dieser Unterscheidung (über den Begriff des öffentlichen Wohls) nachgehen, gilt es erstens zu kontrollieren, ob die Verwendung des Begriffs der Faktion an anderen Stellen des Texts Aspekte miteinschließt, die über die Definition hinausgehen oder ihr widersprechen, sowie zweitens, ob im Text andere Begriffe im selben oder ähnlichen Sinn verwendet werden.