Politische Medienikonografie - Sven Grampp - E-Book

Politische Medienikonografie E-Book

Sven Grampp

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Beschreibung

In diesem Lehrbuch werden Positionen der politischen Ikonografie mit medientheoretischen Ansätzen verknüpft. Ziel ist es, die Rolle der Medien für Wahrnehmbarkeit und Organisation politischer Bilder zu illustrieren. Mit zahlreichen Beispielen und Abbildungen, u.a. von Che Guevara, Willy Brandt, Barack Obama, Donald Trump und Angela Merkel sowie dem Tank Man und der Black-Lives-Matter-Bewegung. Ein spannendes Lehrbuch für Studierende der Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaft. Auch für Forschende ist das Buch ein aufschlussreiches Nachschlagewerk.

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Seitenzahl: 751

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Sven Grampp

Politische Medienikonografie

UVK Verlag · München

Umschlagabbildung: © Leslie-Judge Co., N.Y. (Künstler: James M. Flagg, Quelle: The Library of Congress, Washington DC)

Autorenfoto: © Harald Sippel, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

 

DOI: https://doi.org/10.36198/9783838559162

 

© UVK Verlag 2024— ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung

 

utb-Nr. 5916

ISBN 978-3-8252-5916-7 (Print)

ISBN 978-3-8463-5916-7 (ePub)

Inhalt

1 Gegenstand, Aufbau, Ziele1.1 Medien in der politischen Medienikonografie1.2 Zuwachs an Medien-Sein1.3 Aufbau und Struktur1.4 Piktogramme zur Orientierung2 Politik, Medien, Ikonografie2.1 Politik2.1.1 Trias des Politischen2.1.2 Die Medialität des Politischen2.2 Medien2.2.1 Code I Kanal2.2.2 Code2.2.3 Medium I Form I Medium I Form …2.2.4 Kanal2.3 Ikonografie2.3.1 Ikonografie als Beschreibungsmethode vs. Ikonologie als Fundierung der Ikonografie2.3.2 Auf dem Weg zu einer mediologischen IkonologieWeiterführende Forschungsliteratur3 Politische Ikonografie3.1 Drei ‚Herrschaftsbilder‘ zum Auftakt3.2 Eine ganz kurze Institutionalisierungsgeschichte der politischen Ikonografie3.3 Gegenstand und Zugriff – erste Annäherung3.4 Aby Warburg und die politische IkonografieWider die reine Bedeutung: Die Pathosformel als Affektzeichen und Mittel der AffizierungÜber Gesichter, Hände und Knie – Beispiele für PathosformelnBilder als FahrzeugeGlobale Bildzirkulation 1: Der ‚Kapuzenmann‘Globale Bildkultur 2: Bert & Osama bin LadenWarburgs politische Ikonografie der GegenwartPolitische Ikonografie als Blick zurück nach vornFormen und Zugriffe diachroner BildverhältnisseDiskursanalyseDiachrone Bezugnahmen am Beispiel Crossing the Swamp3.5 Analyse von Medienikonen als Teilbereich politischer IkonografieFunktionaler DoppelcharakterWelche Bilder werden warum zu Medienikonen?Abstraktion & EntkontextualisierungMedienikonen und ikonografische TraditionTransmediale Wanderschaft von Medienikonen3.6 Interikonizität als Bildpraxis und politische StrategieWeiterführende Forschungsliteratur4 Politische Medienikonografie4.1 Über die Medienvergessenheit politischer Ikonografie4.2 Aspekte politischer Medienikonografie4.3 Politische Medienikonografie1 CodesI. Bildbestimmungen: Was ist ein Bild, was nicht?II. Ikonik – Jenseits der Ikonografie, jenseits sprachlicher CodierungIII. Bildfeld – (Binnen-)Räume des BildesIV. Bilder als SpracheV. Bild-Texte-Verhältnisse: Funktionale IntermedialitätVI. Bildtypen: Abstrakte Codierung vs. konkrete KonventionalitätVII. ZeichentypenVIII. Bilder ‚ohne Code‘IX. Interpellation: Bilder, die uns anrufenX. Bildakt – als AnrufungXI. Hyper- und Heterokonnektivität: Populäre BilderXII. Encoding – Decoding: Aneignung I ErmächtigungXIII. Punctum – Subversive BildelementeXIV. Was Bilder begehren – Die Politik der Bilder selbst4.4 Politische Medienikonografie2: Kanal4.4.1 Materialität4.4.2 InfrastrukturI. Materiell-räumliche Infrastruktur: Wahrnehmungsanordnung der BilderII. Organisational-institutionelle Infrastruktur: Agenturen der BilderIII. Technisch-prozessuale Infrastruktur: Zirkulation der BilderWeiterführende Forschungsliteratur5 AusblendenLiteraturverzeichnisRegisterQuellenverzeichnis der Abbildungen

1Gegenstand, Aufbau, Ziele

Eine politische Medienikonografie gibt es nicht.1 Soweit mir bekannt ist, findet sich der Begriff weder im wissenschaftlichen Kontext noch irgendwo sonst.2 Damit werden die Leser:innen3 des folgenden Textes mit einer kuriosen Situation konfrontiert, führt doch vorliegende Publikation in etwas ein, das nicht existiert und erst durch die Einführung konstituiert werden soll. Doch keine Sorge, so groß ist die Hybris des Autors folgender Zeilen wiederum nicht, dass er unter dem Deckmantel des Einführung-Labels ein ganz und gar neues Forschungsfeld etablieren wollen würde. Bescheidener und im Sinne des Formats Einführungsliteratur wird es stattdessen zunächst darum gehen, einige in der Kultur- und Medienwissenschaft etablierte Forschungsperspektiven und Zugriffe, die sich mit Bildanalysen im Kontext politischer Praktiken beschäftigen, vorzustellen. Dabei soll deutlich gemacht werden, dass mitunter sehr unterschiedlichen kultur- und medienwissenschaftlichen Zugriffe auf visuelle Phänomene vor dem Hintergrund politisch relevanter Phänomene (neu) versammelt werden können. Subsumieren lassen sich diese Zugriffe unter dem Begriff ‚Politische Medienikonografie‘.

Es sei an dieser Stelle eigens betont, dass es zwar um eine Subsumierung verschiedener Zugriffe unter dem Label ‚Politische Medienikonografie‘ gehen wird. Dies bedeutet aber mitnichten, dass dieser Forschungsbereich in ein stringent organisiertes Forschungsfeld überführt wird, in dem alle Elemente homogen ineinandergreifen, quasi organisch auseinander hervorgehen oder gar in eine übergreifendes Einheitskonzept münden. Erstens sind für so ein Unterfangen die vorgestellten Zugriffe zu heterogen. Zur Homogenisierung müssten zu viele interessante Aspekte der jeweiligen Zugriffe geglättet und so meines Erachtens unzulässig beschnitten werden. Zweitens bin ich davon überzeugt, dass es durchaus von Vorteil ist, wenn das Forschungsfeld der politischen Medienikonografie nicht als ein eng geschnürtes Korsett vorgeführt wird, sondern disparat, facettenreich und mit vielen Ausfransungen ausstaffiert. So können nämlich unterschiedliche Probleme und Gegenstände mit unterschiedlichen Zugriffen je nach Interesse und Ziel bearbeitet werden. Zwar will ich mit vorliegender Einführung nicht einfach Beliebiges unter dem Signum ‚Politische Medienikonografie‘ versammeln, sondern systematisch und begründungsorientiert diverse Zugriffe in dieses Feld eingemeinden. Nichtdestotrotz gilt: Die Leser und Leserinnen sollen die vorliegende Einführung in die politische Medienikonografie vor allem als Werkzeugkiste verstehen und verwenden können.4 Je nach Problem, Interesse und Material sind demgemäß unterschiedliche Werkzeuge aus der Kiste zu verwenden oder doch von dem Inhalt der Kiste ausgehend, andere, möglicherweise noch geeignetere Werkzeuge jenseits der Einführung ausfindig zu machen. Das zumindest ist die Verwendungsweise, auf die vorliegende Einführung ausgelegt ist.

1.1MedienMedien in der politischen Medienikonografie

Dem Wortanteil ‚Medien‘ im verschachtelten Begriff ‚Politische Medienikonografie‘ wird im Folgenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Priorisierung liegt nicht einfach oder zumindest nicht nur daran, dass ich Medienwissenschaftler bin und deshalb ‚Medien‘ allein schon aufgrund meiner Profession für das Wichtigste auf der Welt halten muss. Entscheidender ist, dass zwar eine Forschungsrichtung namens ‚Politische Ikonografie‘ existiert, diese aber meines Erachtens gerade die medialen Aspekte oder doch – etwas vorsichtiger formuliert – einige wichtige mediale Aspekte ihres Gegenstandes bis dato größtenteils vernachlässigt hat.1 Diese ‚Medienvergessenheit‘ der politischen Ikonografie ist deshalb so problematisch, weil ohne die Analyse der medialen Aspekte, politische Bilder kaum angemessen zu verstehen sein dürften. Denn es geht bei solchen Bildern nicht nur um Inhalte oder Motive, nicht nur um das, was unmittelbar sichtbar ist, bestimmten Darstellungstraditionen folgt, um politisch relevant zu werden. Zumindest ebenso wichtig, ja entscheidend sind die materiellen Bildträger, der Unterschied von Bildtypen, die je spezifischen Wahrnehmungsanordnungen, in denen die Bilder situiert sind, infrastrukturelle Rahmenbedingungen, die die Sichtbarkeit der Bilder regulieren. Insbesondere mit Blick auf die ‚gegenwärtige‘ durch digitale Medientechnologien geprägte kulturellen Konstellationen ist die Fixierung auf Bildinhalte bzw. -formen unbefriedigend. Deshalb soll durch den Zusatz ‚Medien‘ die politische Ikonografie neu und anders justiert werden.

1.2Zuwachs an MedienMedien-Sein

Was damit genau gemeint ist, wird vor allem in Kapitel 4 ausführlicher dargelegt. An dieser Stelle soll nur ein Aspekt angeführt werden, um den Zusammenhang zwischen Medien, Bildern und Politik zu veranschaulichen: Politische Herrschaftsbildnisse zeigen nicht nur Herrscher, deren Herrschaftsanspruch in einem Bild motivisch und inhaltlich repräsentiert wird. Herrscher erhalten durch ihre Bildgebung darüber hinaus etwas, was der Philosoph Hans-Georg Gadamer mit einer schönen Wendung „Seinzuwachs“1 nennt. Das mag vielleicht nach heideggerianischem Geschwurbel klingen, meint aber erst einmal schlicht: Personen können durch Bilder in einer bestimmten Weise vertreten werden. Bilder haben so gesehen eine StellvertreterfunktionStellvertreterfunktion, was für ihre politische Funktion durchaus von Belang ist.2

Dadurch nämlich, dass eine Person auf einem Bild abgebildet ist, wird nicht nur im Bild auf diese Person referiert, also identifizierbar auf etwas Konkretes in der Welt außerhalb des Bildes verwiesen. Die dargestellte Person ist darüber hinaus, zumindest in Form einiger Merkmale, vervielfacht anwesend gemacht – bei einem Gemälde oder eine Skulptur zumindest einmal, bei Plakaten oder Fotografien häufig. Diese Vervielfachung geht mit einer möglichen Ausbreitung der Person im Raum und/oder in der Zeit einher. Eine überlebensgroße Statue von Stalin in Prag hat zumindest eine gewisse Dauer, aufgrund ihrer spezifischen Materialität [↓ Kap. 3, 1. Politische Inhalte], ein Plakat von Barack Obama ist auf Verbreitung an unterschiedlichen Orten angelegt [↓ Kap. 2, Ikonografie], eine Fotografie macht in ihrer Lichtspur den Herrscher oder die Herrscherin präsent [↓ Kap. 3, Medienikonen]. Herrscher:innen sind damit an Orten und Zeiten präsent, wo sie selbst nicht waren bzw. nicht sind oder nach ihrem Tod nicht mehr sein können. Damit kann ein Machtanspruch nicht nur sichtbar markiert werden, vielmehr noch wird dieser stabilisiert, erinnert und verbreitet in Form stellvertretender PräsenzPräsenz, stellvertretende. Bilder können nicht nur an einem Ort etwas sichtbar machen, was nicht wirklich anwesend ist, sondern lassen in gewisser Weise die abgebildete Person von dem Ort Besitz ergreifen. Dementsprechend sind Bilder als Medien zu verstehen, die Herrschaftsansprüche artikulieren, stabilisieren und/oder verbreiten – und zwar in dem sie die Herrscher:innen in ihrer Abwesenheit visuell präsent machen und permanent deren Herrschaftsanspruch vor Ort artikulieren. Genau in diesem Sinne erhalten Herrscher und Herrscherinnen einen ‚Zuwachs an Sein‘. Andersherum lässt sich ebenso formulieren: Werden solche Bildnisse zerstört – und das werden sie häufig, zu denken ist hier wohl zuallererst an Sturz, Sprengung oder Verunstaltung von Statuen – sind damit zwar nicht Herscher:innen getötet, aber diese doch politisch geschwächt. Ausgelöscht werden somit politische Besitzansprüche auf den Ort, was wiederum selbst als ein zutiefst politischer Akt zu verstehen ist. Demgemäß erfahren in solchen Fällen Herscher:innen eine ‚Seinschrumpfung‘.

Für diese Formen der Herrschaftsausweitungen und -einschränkungen ist die Existenz von Medien nicht nur notwendige Voraussetzung, entscheidender noch ist, dass die Arten dieses ‚Seinzuwachses‘ bzw. dieser ‚Seinschrumpfung‘ sehr unterschiedlich ausfallen können, je nach der Materialität des Bildes, den Produktions-, Distributions- und Wahrnehmungsmodalitäten, der institutionellen Regulierungen der Sichtbarkeit, also aufgrund der jeweiligen medialen Konstellation. Wie mobil oder immobil ist das Bildnis, wie modifizierbar ist es, welche Formen der Zirkulation kann es geben, wo hängt das Bild, wer stellt es mit welchen Regularien aus, in welchem Format, wie viele Bilder müssen für eine Auslöschung zerstört werden, usw.? Also all das, was hinter, vor bzw. jenseits des Bildinhaltes situiert ist, wird hier relevant.

Zwar gibt es – wie ausführlicher in Kapitel 3 zu zeigen sein wird – durchaus Ansätze in der politischen Ikonografie, die einigen dieser Aspekte Rechnung tragen. Aber weder übergreifend systematisch noch facettenreich genug, scheint mir das dort ausfindig zu machen sein, zumindest nicht in einem Vokabular, das dezidiert mediale Prozesse ins Zentrum stellt. Dieses Defizit soll mit vorliegender Einführung in die politische MedienMedienikonografie ausgeräumt werden. Um es sehr zugespitzt zu formulieren: Den Ausdruck ‚Medien‘ in die Wendung ‚politische Ikonografie‘ einzufügen, bedeutet hier, das an der Bildanalyse stark zu machen, was nicht oder doch zumindest nicht unmittelbar in und an Bildern sichtbar ist.

1.3Aufbau und Struktur

Auch wenn die vorgestellten Zugriffe als Werkzeuge aus einer Werkzeugkiste dienen sollen und damit die Verwendung der Zugriffe für eigene Interessen oder Gegenstände nicht von einer linearen Lektüre des Buches, von Anfang zum Ende, abhängt, so ist doch die vorliegende Arbeit in Form eines sukzessiv entfalteten hermeneutischen Zirkels oder besser vielleicht: in Form einer hermeneutischen Spirale organisiert.1 Der hermeneutische Zirkel wird auch als Zirkel des Verstehens bezeichnet und meinte ursprünglich eine methodische Anleitung zum besseren Verständnis von Texten. Die Grundidee ist recht einfach: Es geht um das Verhältnis von Teil und Ganzem. Ausgehend von einer Textpassage (‚Teil‘) wird im Vorgriff auf die Gesamtbedeutung eines Textes (‚das Ganze‘) geschlossen; durch die Auslegung einer weiteren Textpassage wird wieder von einem nunmehr größeren Teil des Textes die Annahmen über die Bedeutung des Gesamttextes verschoben – und so immer weiter in Spiralen. Ein Zirkel ist diese Spirale insofern, als durch die sukzessiven Zirkelbewegungen die eigentliche Bedeutung des Textes immer besser, immer tiefer verstanden werden kann.

Dieses methodische Vorgehen kann über Texte im engeren Sinne hinaus angewandt werden – und zwar in zweifachem Sinne. Erstens kann der hermeneutische Zirkel auf andere mediale Phänomene appliziert werden, etwas auf Filme, Fotografien oder Malerei, also eben auch auf Bilder. Zweitens ist der hermeneutische Zirkel auf den Kontext der Texte oder Bilder auszuweiten, etwa auf das historische Milieu, in dem ein Bild entstanden ist, biografische Aspekte der jeweiligen Akteure oder auch auf bereits existierende Forschungsliteratur zum Gegenstand. Mir geht es indes nicht nur darum, die folgenden Bildanalysen nach der Methode des hermeneutischen Zirkels zu gestalten. Darüberhinaus ist der Aufbau der Arbeit nach Vorgabe dieses Zirkels organsiert. Der Grund für diese – auf den ersten Blick wahrscheinlich umständlich erscheinende – Herangehensweise besteht darin, dass ich ausgehend von der traditionellen Zugriffsweise der politischen Ikonografie das Feld der politischen Medienikonografie sukzessive und immer facettenreicher vorstellen möchte.

Abb. 1.1:

Der hermeneutische Zirkel als Vorbild für Struktur und Verlaufsform vorliegender Publikation

Die einzelnen Spiraldrehungen bestehen in Folgendem (vgl. Abb. 1.1): Nach einer Bestimmung der Basisbegriffe ‚Medien‘, ‚Bild‘, ‚Ikonografie‘ und ‚Politik‘ (Kap. 2) werden anhand ausgewählter politischer Bilder Zugriffe und Methoden der traditionellen politischen Ikonografie, die sich aus der kunstwissenschaftlich orientierten Bildinterpretation entwickelt hat, vorgestellt (Kap. 3). Anschließend folgt das mit Abstand umfangreichste Kapitel. Darin soll näher auf den Begriff ‚Medien‘ eingegangen werden (Kap. 4). Dieser Begriff wird wiederum unterteilt in drei Aspekte, nämlich in Codierung, Materialität und Infrastruktur. Mediale Codes sollen anhand einiger Beispiele politischer Bilder in den Blick genommen und mit etablierten kultur- und medienwissenschaftlichen Zugriffen verbunden werden, um so zu dem zu führen, was ich politische Medienikonografie1 nennen möchte. Im Anschluss daran werden mediale Aspekte der Materialität und Infrastruktur näher untersucht. Auch hier sollen (zumeist neuere) medien- und kulturwissenschaftliche Zugriffe vorgestellt und an Beispielen erläutert werden. Das, was dort vorgestellt wird, soll als politischeMedienikonografie2 bezeichnet werden.

Auf zwei Besonderheiten dieses spiralförmigen Vorgehens sei eingangs hingewiesen. Erstens: Ich werde bei den Beispielen politischer Bilder immer wieder auf dieselben Bilder eingehen. Zwar habe ich die Beispiele nicht eng limitiert und erlaube mir immer wieder auch auf andere Bilder einzugehen. Nichtdestotrotz verfolge ich die Strategie, immer wieder auf dieselben Bilder zurückzukommen – bei gleichzeitigem Wechsel der Zugriffe und Methoden. Wenngleich man mir damit berechtigterweise den Vorwurf machen kann, die Facetten politischer Bilder allzu sehr – auch historisch und räumlich – zu limitieren, glaube ich dennoch, dass die Unterschiede der Methoden und Zugriffe gerade mittels der Wiederholung derselben Bilder besonders klar zu veranschaulichen sind.

Zweitens: Die hier zugrunde gelegte Spirale bewegt sich nicht nur sukzessive von politischer Ikonografie zur politischen Medienikonografie, sondern nimmt im Laufe der Zeit auch sehr viel stärker die sogenannten neuen Medien in den Blick. Genauer formuliert: Es wird auf der Ebene der Infrastruktur um serielle und vor allem um digitale Phänomene gehen, konkreter noch um die Rolle von Bild- und Nachrichtenagenturen an der Millenniumsschwelle, um Popularitätsmetriken und die Aufmerksamkeitsökonomie digitale Plattformen wie InstagramInstagram, TwitterTwitter (seit Juli 2023: X) oder 4inch4inch, um den damit assoziierten medialen Formen, insbesondere um Memes und deren Funktionsweise als Träger politischer Botschaften.

Diese temporale Verschiebung hin zu Gegenwartsphänomenen scheint mir insofern naheliegend, als es dort in besonderer Weise um Bildregulierung, Bildzirkulation und Affektpolitik geht. Dass mit und in politischer Kommunikation Affekte erzeugt, Bilder reguliert werden und diese in bestimmen Kanälen zirkulieren (und in anderen nicht), all das ist wahrlich nicht neu und gehört seit der Antike zur Grundausstattung der Bilderpolitik. Neu scheint mir hingegen, die Art und Weise, wie Affekte und Bilder gesteuert, verdichtet, verteilt, bearbeitet und verbunden werden. Zum einen geschieht dies unter maßgeblicher Ägide digitaler Plattformen, zum anderen durch transnational operierende Bild- und Nachrichtenagenturen. Politische Medienikonografie muss vor diesem Hintergrund nicht nur nach den politischen Inhalten und Formen von Bildern fragen, nicht nur nach den diesen Bildern zugrundliegenden Politiken der Affekterzeugung und -regulierung, sondern darüber hinaus scheint für die gegenwärtige mediale Lage besonders virulent, dass solche (Bild-)Politiken eben in Operationen und Praktiken digital vernetzter, transmedial operierender Plattformen und Agenturen eingebettet sind, die die Sichtbarkeit und Verteilung von Bildern in sehr spezifischer Weise möglich machen, limitieren und also präformieren. Dies nicht oder nur marginal zu berücksichtigen, schneidet meines Erachtens die politische Ikonografie davon ab, was zum Verständnis von Bildphänomenen der Gegenwart zentral oder doch zumindest wichtig ist.

Trotz dem Telos auf Gegenwartsphänomene soll es in vorliegender Einführung ausdrücklich nicht darum gehen, ältere Ansätze und Gegenstände politischer Ikonografie zu verunglimpfen oder vor dem Hintergrund der digital vernetzten, algorithmisch prozessierten Bilderflut diese als antiquiert abzutun. Ganz im Gegenteil gilt es zu zeigen, dass die politische Ikonografie zwar tatsächlich angesichts der digitalen Medienkultur ein Update erfahren sollte, aber dennoch viele Ansätze bereitstellt, die sich äußerst produktiv machen lassen, um auch gegenwärtige politisch motivierter Bildpraktiken zu beschreiben und verständlich zu machen.

Zwar geht die Struktur des Textes immer weiter auf die Gegenwart zu. Dennoch trägt die vorliegende Monografie selbst einen historischen Index – und bleibt also notgedrungen hinter der Gegenwart zurück. Geschrieben wurde der Text zurzeit großer Irritationen und Diskussionen über Trumps Wahlerfolge und -skandale, der Corona-Wellen, der Zirkulation rechtspopulistischer Ideologien mittels medialer Formen wie Memes und den Versuchen, deren Erfolg im Kontext digitaler Aufmerksamkeitsökonomien zu verstehen. Dass inzwischen andere politische Bilder, andere Themen – zuvorderst ist hier an den Krieg in der Ukraine zu denken, aber auch an die Konflikte im Gaza-Streifen – virulent sind und ganz andere Akteure die Berichterstattungen und sozialen Medien dominieren, zeugt von der Vergangenheit, die vorliegender Text bereits jetzt während seiner Erstpublikation angehört. Einerseits ist so ein Zu-spät-kommen zu bedauern, wären doch immer noch neuere, unter Umständen noch interessantere Aspekte gegenwärtiger Bildpolitik in den Blick zu nehmen. Anderseits ist dieses Zu-spät-kommen auch ein guter Test dafür, inwieweit die Ansätze, die hier unter dem Signum ‚politische Medienikonografie‘ versammelt werden, trotz aller Verlagerung politischer Themen, visueller Darstellungsarten und medialer Lagen über die Zeit hinweg tragen, also auch zur Analyse dieser Phänomene beitragen können. Die Leser:innen mögen mir nachsehen, dass ich für diesen speziellen Fall auf ein positives Testergebnis hoffe.

1.4Piktogramme zur Orientierung

Noch einige Worte zur Textgestaltung: Einer Einführung entsprechend wird zu Beginn jedes Kapitel kurz zusammenfassend dargestellt, was im Kapitel zu erwarten ist. Am Ende jeden Kapitels gibt es für Eilige eine Zusammenfassung der zentralen Aspekte. Maßgebliche Grundbegriffe werden eigens vom Fließtext abgehoben definiert. Analysezugriffe, die besonders relevant sind, werden als solche kenntlich gemacht. Hinweise und Kommentare zu weiterführender Forschungsliteratur finden sich zum Abschluss der Kapitel.

Eine Besonderheit bildet eine Rubrik, die mit dem Emoji eines explodierenden Kopfes markiert ist. Verhandelt werden dort Aspekte, die eine vertiefende Auseinandersetzung verdient hätten, die aber nicht geführt wird, die problematische oder zumindest problematisierbare Annahmen aus dem Fließtext aufgreifen und kurz diskutieren oder die eine andere Sichtweise auf behandelte Phänomene skizzieren. Auch wenn einzuwenden wäre, dass damit die Komplexität unnötig gesteigert wird, Relativierungen vorgenommen werden, diese Vorgehensweise womöglich gar als Ausdruck einer neurotischen Ader des Verfassers oder – im schlimmsten Fall – als schlichte Inkompetenz gedeutet werden könnte, liegt mir diese Rubrik besonders am Herzen – und zwar, weil ich davon überzeugt bin, dass es in kultur- und medienwissenschaftlichen Forschungsfeldern und auch bereits in Einführungen dazu, wichtig ist, zu markieren und zu reflektieren, dass es auch andere Sichtweisen, umstrittene Standpunkte, andere – möglicherweise ebenfalls produktive Zugriffe und offene Flanken der eigenen Argumentation gibt. Dies nicht in einen Einführungstext mit aufzunehmen und dort zu reflektieren, erschiene mir fahrlässig und ginge an dem vorbei, was meines Erachtens kultur- und medienwissenschaftliche Forschung auszeichnet, nämlich die Idee, dass man es auch anders sehen könnte.1

Im Text selbst wird mit vielen Querverweisen gearbeitet, die jeweils anzeigen sollen, dass und wo der gerade behandelte Gegenstand im Fließtext ausführlicher diskutiert wird. Die angeführten Aspekte sind zur Verdeutlichung jeweils mit Piktogrammen im Text markiert (vgl. Abb. 1.2).

Abb. 1.2:

Piktogramme und ihre Bedeutung in vorliegendem Text

2PolitikPolitik, MedienMedien, IkonografieIkonografie

Überblick

 

Die Wortkombination ‚politische Medienikonografie‘ besteht aus mindestens drei großkalibrigen, dementsprechend komplexen und semantisch hochgradig unscharfen Begriffen der Kultur- und Medienwissenschaft. Es scheint deshalb sinnvoll, eingangs zu klären, was die einzelnen Begriffe hier bedeuten sollen. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Ikonografie, die als Analysemethode kleinteilig anhand des sogenannten HopePosterHope Poster veranschaulicht wird, um so einerseits den methodischen und genealogischen Ausgangspunkt der politischen IkonografieIkonografiepolitische zu markieren und anderseits gleich einen Übergang zur politischen Medienikonografie zu bahnen.

Mit einer näheren Bestimmung dessen, was Politik im Zusammenhang mit dem Projekt einer politischen Medienikonografie bedeutet, soll begonnen werden.

2.1Politik

Politik

 

PolitikáPolitiká stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich ‚Dinge, die die Stadt oder den Stadtstaat (Polis)Polis betreffen‘. Allgemeiner formuliert: Es geht um die Belange des Gemeinwesens und die mit diesen in Zusammenhang stehende Koordination sozialer Wesen. Aristoteles bezeichnet den Menschen als zoon politikonzoon politikon, was bedeutet, dass der Mensch ein soziales und damit auf Gemeinschaft angewiesenes sowie Gemeinschaft bildendes Wesen ist. Laut dem antiken Philosophen ist das Ziel jedes Menschen, ein gutes Leben zu führen. Dieses Ziel ist nur innerhalb einer Gemeinschaft zu erreichen, genauer noch – und hier kommt der griechische Wortstamm wieder zum Tragen – in einer Polis, einem (Stadt-)Staat, der sich dadurch auszeichnet, dass er die Gemeinschaft gesetzlich regelt. Der Einzelne muss sich in diese gesetzlichen Rahmen einordnen und soll gleichzeitig aktiv an der Ausgestaltung der Polis teilnehmen, um so ein gutes Leben führen zu können.1

 

Wiederum allgemeiner gewendet: In der Politik geht es (1.) um Kommunikation, Handlungen, Entscheidungen und Konsequenzen, die (2.) das Gemeinwesen betreffen, dieses (3.) im Hinblick auf die Zukunft (4.) normativ gestalten, ordnen oder auch (5.) kritisieren wollen, also (6.) nicht auf private, intime oder partiale Interessen abzielen, zumindest nicht primär.2 Sehr knapp formuliert: Politisches HandelnHandeln, politisches ist ein auf Zukunft gerichtetes strategisches VerbindungshandelnVerbindungshandeln, strategisches zur regulierendenRegulierung oder deregulierenden Gestaltung eines Kollektivs.3Kollektiv

Um gleich zu Beginn der Definition eines der hier relevanten Begriffe einige naheliegende Einwände gegen die angeführte Bestimmung aufzugreifen, seien zumindest zwei angeführt und kurz diskutiert.

Was ist eigentlich nicht politisch?

 

(1) Problem der Gegenstandsbegrenzung

Der erste Einwand betrifft den Gegenstandsbereich dessen, was als politisch gilt. Es scheint durchaus problematisch, politische Aussagen oder Handlungen nur auf solche zu reduzieren, die dezidiert Gestaltung oder Kritik eines Kollektivs betreffen und nicht auch das Private.4 Es könnte dagegen gehalten werden, dass jegliche Handlung, alle Formen von Kommunikationsangeboten mehr oder minder implizit als politisch zu bestimmen sind oder zumindest als Ausdruck oder Effekt des Poltischen.

 

Um hierfür nur ein Beispiel zu nennen: Auf dem bundesweiten Delegiertenkongress des Sozialistischen Deutschen StudentenbundSozialistischer Deutscher Studentenbund im November 1968 wurde von der Aktion des WeiberratsAktion des Weiberrats ein Flugblatt verteilt, das großes Aufsehen erregte. Die zentrale Forderung auf diesem Flugblatt bestand darin, die faktische Unterdrückung der Frau im Privatleben nicht ausschließlich als Privatsache aufzufassen, sondern bedingt durch die bürgerlich-kapitalistische Struktur. „Es gelte, die bürgerliche Trennung von Privatleben und gesellschaftlichem Leben aufzuheben, das Privatleben qualitativ zu verändern und die Veränderung als politische Aktion, als kulturrevolutionären Akt, und als Teil des Klassenkampfes“5 zu verstehen.

 

Es geht mir bei diesem Beispiel nicht um die Resolution selbst, die auch unter meine sehr viel engere Bestimmung des Politischen fällt, sondern um die Konsequenz, die – stimmt man dieser Sichtweise zu –, für den Begriff des Politischen zu ziehen wäre: Jegliche private Handlung wird so – zumindest potenziell – zu einem politischen Akt, auch wenn dieser nicht eigens als solcher deklariert wird, als solcher nicht sofort offensichtlich ist, nicht an die Öffentlichkeit gelangen mag.

 

Dass es ohnehin keine Verlautbarung gibt, die nicht immer schon, egal wie privat sie auch sein mag, letztlich politisch ist – diese These wird inzwischen häufig geäußert, vor allem mit Bezug auf die sogenannten sozialen Medien, durch und in denen alles Private potenziell öffentlich und von Anfang an als politisch zu verstehen ist oder doch zumindest vergleichsweise problemlos zu einer politischen Äußerung werden kann.6

 

Dieser Ausweitung des Politischen würde ich aber entgegenhalten wollen: Einmal ganz abgesehen davon, dass solch eine Öffnung formallogisch den Begriff des Politischen einfach auf alles Mögliche anwendbar macht und er so schlicht keine analytische Kategorie mehr sein könnte, scheint es mir zudem unplausibel, jegliche Form von Kommunikationsangeboten, die veröffentlicht werden, als mehr oder minder implizit politisch zu bestimmen. Das auf InstagramInstagram gepostete Blumengesteck oder das Bild meines Frühstücks mag zwar durchaus ein bestimmtes Weltbild (mit-)vermitteln oder sogar ideologische Implikationen beinhalten, politisch in einem engeren Sinne müssen diese aber nicht sein (zumindest dann nicht, wenn das Blumenbesteck nicht Teil einer Einladung zum nächsten mittelfränkischen CSU-Stammtisch ist oder das gepostete Frühstück mit Anthrax versetzt ist, um ein Staatsoberhaupt zu töten – und ich das Bild dementsprechend kommentiere). Meines Erachtens sollten zumindest in einem ersten Zugang tatsächlich nur solche Kommunikationsangebote und Handlungen als politisch betrachtet werden, die strategisch auf die Koordination, Kritik oder Modifikation des Gemeinwesens zielen und/oder die im Zusammenhang mit der Absicht des Machterhalts oder -erwerbs zu tun haben. Wie herauszufinden ist, ob etwas strategisch und intentional in genau diesem Sinne geäußert wurde, bleibt eine schwierige, von dieser Kritik der Ausweitung des Politikbegriffs aber gänzlich unabhängige Frage. Das zoon politikonzoon politikon jedenfalls ist nicht allein schon dadurch politisch, dass es ein auf Sozialität angelegtes Wesen ist, sondern erst genau dann, wenn es um Reflexion, Auseinandersetzung, Kritik und/oder Ausgestaltung der Zukunft des sozialen Bereichs geht.

 

(2) Problem der Begrenzung auf Menschen

 

Weiterhin könnte einer weiteren Limitation des hier vorgeschlagenen Politikbegriffs kritisch begegnet werden, nämlich die Begrenzung auf menschliche Akteur:innenAkteuremenschliche. Immerhin sind ja auch Ameisen oder Bienen ganz sicher soziale Wesen, die sich mit olfaktorischen, taktilen oder auch visuellen Codierungsformen verständigen und insofern politikfähig zu sein scheinen.7 Da indes – soweit mir zumindest bekannt ist – weder Ameisen, Bienen oder Delfine bildgebenden Verfahren oder gar ikonische (Bild-)Traditionen etabliert haben, fällt diese Frage ohnehin zumindest nicht in den Gegenstandsbereich einer politischen Medienikonografie.

 

Ähnliches wie für Bienen und Delfine ließe sich für bestimmte Medientechnologien behaupten, insbesondere für solche, die auf Grundlage von digitalen Algorithmen operieren. Von solchen Algorithmen wird immer wieder behauptet, dass diese selbst – nicht (nur) ihre Verwendungen durch menschliche Akteure – politisch sind.8 Diese Idee soll später ausführlicher diskutiert werden [↓ Kap. 4. Politik der Algorithmen].

Unabhängig davon, wie mit genannten Problemen prinzipiell umzugehen ist, soll hier – und das heißt vor dem Hintergrund einer politischen Medienikonografie, bei der es primär um bildliche und öffentlich zugängliche Darstellungen geht – hochselektiv gelten: Das Politische ist das, was Verbindungen zwischen menschlichen Wesen schafft oder schaffen will zur Stabilisierung und/oder (Um-)Gestaltung oder zumindest zur Kritik (von Aspekten) des Gemeinwesens.

2.1.1Trias des PolitischenTrias des Politischen

Die Formen solchen politischen Handelns zielen zwar auf soziale Verbindungen und Regeln für das Gemeinwohl, indes sind sie aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen und Interessen darüber, welche Art von sozialen Verbindungen und Gemeinwohl gelten sollen, primär konfliktbasiert, also auf Widerstreit angelegt. Daraus resultiert, dass es bei politischem Handeln um Machterwerb, Machtstabilisierung oder Destabilisierung von Herrschaft geht – und somit auch um Durchsetzung von Eigeninteressen und Ermächtigung (empowerment)empowerment der jeweiligen Akteure zur Gestaltung der politischen Sphäre.1

Einer gängigen politikwissenschaftlichen Unterteilung folgend lassen sich drei Ebenen des Politischen differenzieren, die im tatsächlichen Vollzug politischen Geschehens freilich ineinandergreifen (vgl. Abb. 2.1).2

Abb. 2.1:

Politikwissenschaftliche Trias des Politischen

Quer zur Trias aus policy,policypoliticspolitics und politypolity sollen noch die widerstrebenden Pole des politischen Interesses hinzugefügt werden, um so die unterschiedlichen Motivationen in der politischen Sphäre fassbar zu machen. Der eine Pol bildet das ‚selbstlose Wohl‘ für das Gemeinwesen, der andere das Eigeninteresse, eine Machtposition einzunehmen bzw. sich dazu zu ermächtigen (vgl. Abb. 2.2).3

Abb. 2.2:

Die Trias des Politischen und die damit verbundenen Interessen

2.1.2Die Medialität des PolitischenMedialität des Politischen

Damit politische Kommunikation und Entscheidungsfindungen überhaupt zustande kommen, vermittelt, stabilisiert oder kritisiert werden können, ist die Existenz von Medien Grundvoraussetzung. Politische Entscheidungen, Machterhalt und -erwerb müssen medial vermittelt, popularisiert bzw. überhaupt zuallererst bekannt gemacht werden, um wirksam werden zu können. Dies geschieht insbesondere durch klassische Massenmedien wie Fernsehen, Zeitschriften oder Radio, ebenso aber auch bereits durch Feste, Monumente, Architektur oder Demonstrationen oder seit einiger Zeit in sogenannten sozialen Medien, etwa in digitalen Diskussionsforen, Messanger-Diensten wie Telegram oder auf Plattformen wie Twitter, Instagram um in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, in diversen Teil- oder Gegenöffentlichkeiten zustimmungsfähig, kritisierbar oder doch zumindest bekannt zu werden und zirkulieren zu können.

Die mediale Beichterstattung und Darstellung von Politik im hier relevanten Sinne lassen sich idealtypisch auf die drei benannten Felder der Politik verteilen: Auf der (1) systemischen Ebene sind etwa institutionalisierte Mediensysteme zu situieren, beispielsweise der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der im Staatsvertrag die Aufgabe politischer Bildung und Information zugewiesen bekommt. (2) Die praktisch-prozessuale Ebene des Politischen ist hier insofern virulent, als sie in großen Teilen im Kontext (teil-)öffentlicher Beiträge zu situieren ist – man denke nur an televisuelle Berichterstattungen, Tweets und Retweets oder die Gestaltung und Verbreitung politischer Memes auf digitalen Plattformen. Dies sind allesamt medial fundierte Maßnahmen zur Steuerung und Regulierung des Verhaltens und Wahrnehmens von Individuen und Kollektiven. (3) Die inhaltlich-normative Ebene umfasst die inhaltlichen, durch Medien vermittelten (teil-)öffentlich gemachten Meinungen, Vorschläge oder kritischen Erwiderungen.

Besonders interessant sind im Kontext politischer Medienikonografie nicht so sehr die jeweiligen konkreten inhaltlichen Argumente, sondern deren BildwerdungenBildwerdungen.1 Gerade die Kopplung mit den Maßnahmen zur Steuerung des Verhaltens und Wahrnehmens, die mit solchen Bildformen einhergehen und diesen zugrunde liegen, ist für die Konturierung der politischen Medienikonografie besonders relevant [↓ Kap. 4].

2.2Medien

Was wiederum Medien jenseits alltagssprachlicher Vorstellungen sind, dafür soll an dieser Stelle zunächst einmal nur eine recht allgemeine Bestimmung gegeben werden, die dann in Kap. 4 weiter spezifiziert und ausdifferenziert wird.

MedienMedien

 

‚Medien‘ ist ein Sammelbegriff, der alles Mögliche bedeuten und umfassen kann – und häufig sehr unterschiedlich, ja widersprüchlich bestimmt wird. Das lässt sich bereits an den beiden wortgeschichtlichen Hauptbedeutungen vom lateinischen medium ablesen. Zum einen kann Medium sowohl Mitte bzw. Mittler bedeuten.1 Hier geht es darum, dass ein Medium das ist, was etwas von a nach b vermittelt und dort zur Erscheinung gebracht wird. Ein Fotoapparat kann so als funktionales Mittel betrachtet werden, Situationen zu einem Zeitpunkt x am Ort a an einem anderen Ort b, zu einem anderen Zeitpunkt y sichtbar zu machen. Zum anderen kann Medium aber auch Milieu bedeuten. Hier geht es um ein Verständnis des Medialen, das davon ausgeht, dass Medien eine Umwelt oder eben ein Milieu schaffen, durch das die Wahrnehmung und Erkenntnis der Welt präformiert wird. In einer Welt, die voller Fotoapparaten ist, in der man immer schon davon ausgehen muss, dass man fotografiert werden kann und so die Welt im Modus möglicher Fotografierbarkeit erfasst, ist das Verhältnis zur Welt und zu sich selbst, ein anderes als ohne Fotoapparate. Die Fotografie ermöglicht so verstanden nicht nur die Reproduktion von Ereignissen, deren Aufbewahrung und Transport von a nach b; sie ist also nicht nur ein Mittler, sondern etabliert insofern ein Milieu, als sie die Wahrnehmung der Welt, ja sogar das Selbstverständnis der Menschen, die von Fotoapparaten umgeben sind, neu ausrichtet.

 

Zudem muss auf dieser Ebene bedacht werden: Fotos kommen selten allein. Sie sind mit Fotoapparaten verbunden oder auch mit Smartphones, die zusätzlich ganz andere Funktionen erfüllen können. Damit verknüpft ist ein bestimmtes Distributionswesen, etwa die Telegrafie oder digitale Plattformen, auf denen die Bilder geteilt werden können, usw. Entscheidend daran ist, dass Medien meist im Plural auftreten und im Plural Milieus ausbilden.

2.2.1CodeCode I KanalKanal

Durch die Unterscheidung von Mittler und Milieu und dem Verweis auf die Pluralität von Medien ist vielleicht aufgezeigt, wie facettenreich der Medienbegriff ist und auch warum, es sinnvoll ist, eher von Medien als von einem Medium zu sprechen. Operationalisierbar und analytisch fruchtbar zu machen, sind diese Bestimmungen aber eher weniger. Dementsprechend ist es in einem Kontext, in dem es um die Analysemöglichkeit politischer Bilder geht, sinnvoll, den hier zu Grund gelegten Medienbegriff enger und so zielführend zu definieren. Für dieses Vorhaben scheint es mir naheliegend, CodeCode und KanalKanal als zwei zentrale mediale Operationen zu unterscheiden und weiter auszudifferenzieren (vgl. Abb. 2.3). Diese Unterscheidung, das sei eigens betont, ist eine, die mediale Aspekte besser zu identifizieren hilft; aber letztlich geht es dabei nicht um die Bestimmung unterschiedlicher Medien oder gar um alle Facetten des Medialen, sondern nur um bestimmte Aspekte und Ebenen medialer Operationen. So verstanden gibt es eigentlich genau besehen Medien nicht nur im Plural, sondern genauer noch nur als Teil eines übergreifenden Medialitätsprozesses, bei dem die heterogenen medialen Facetten und Ebenen ineinandergreifen, deren einzelne Aspekte wiederum je nach analytischem Erkenntnisinteresse selektiv herausgegriffen werden.1

Abb. 2.3:

Medien als Zeichensysteme und Kanäle

2.2.2CodeCode

Ein Code ist „eine Anweisung zum Ver- und Entschlüsseln einer Nachricht […].“1 Der Code ist insofern als ein Medium zu begreifen, als er ZuordnungsregelnZuordnungsregeln ermöglicht, die das Verhältnis zweier unterschiedlicher Einheiten organisieren (etwa die Zeichenfolge „SOS“ – erste Einheit ist eine sprachliche Verschlüsselung, die als kommunikativer Akt mit der Bedeutung „Hilfe!“ entschlüsselt werden kann). Aufgrund der Codierungsmöglichkeit wurden unterschiedliche Codierungsformen historisch etabliert, die selbst wieder als Medien fungieren können, genauer als semiotische Kommunikations-Kommunikationsmittel, semiotische und Wahrnehmungsmittel. Diese Medien stellen sprachliche, visuelle, auditive oder auch olfaktorische Möglichkeiten bereit zur Kommunikation und Wahrnehmung für je spezifische Verarbeitungen und Speicherungen prämedialer Bezugsobjekte. Da es sich dabei um unterschiedliche Codierungsinstrumente handelt, lässt sich auch formulieren: Diese Medien ermöglichen nicht nur durch Verarbeitung und Speicherung Kommunikation und machen Phänomene wahrnehmbar; sie normierenNormierung diese auch in spezifischer Weise und limitieren dementsprechend. Mündlich kann anders und anderes kommuniziert werden als mittels einer Fotografie. Genauso gilt umgekehrt: Mündlich lassen sich Dinge eben nicht zeigen, in einer Fotografie wiederum nicht direkt sagen etc. Dementsprechend präformieren Codes durch Verarbeitung und Speicherung Kommunikation und Wahrnehmung aufgrund ihrer jeweiligen semiotischen Spezifik.

Selbstverständlich können die hier differenzierten Unterkategorien ineinandergreifen, ja, solche Verschränkungen dürften wohl der Normalfall sein. Man denke nur an Bild-Text-Kombinationen auf Wahlplakaten oder Memes, an die televisuelle Berichterstattung, bei der Ton und Bild ineinandergreifen oder auch an Denkmäler, die angefasst werden können, also nicht nur visuell, sondern taktil ‚kommunizieren‘ usw.

Wie noch näher diskutiert werden wird [vgl. Kap. 4, Was ein Bild ist, was nicht?], ist es durchaus umstritten, ob Medien generell und speziell visuelle Kommunikations- und Wahrnehmungsmittel überhaupt als codierte Zeichensysteme zu verstehen sind und wenn ja, was genau ihre Spezifik ausmacht.2 Nichtsdestotrotz sollen hier Bilder und unterschiedliche Bildtypen, etwa Fotografien, Gemälde, Filme oder Statuen, in einem ersten Zugriff als visuelle Kommunikations- und Wahrnehmungsmittel gefasst und unter die Kategorie medialer Codierung subsumiert werden. Später soll davon ausgehend diskutiert werden, was die Spezifik dieser Bilder im Kontext politisch-strategischer Kommunikation und Wahrnehmung sein könnte.

2.2.3Medium I Form I MediumMedien I FormForm …

Auf Ebene des Codes lässt sich wiederum entweder die visuelle Codierung als Medium für unterschiedliche visuelle Formen verstehen, so wäre beispielsweise die Fotografie eine Form des visuellen Mediums, oder aber die Fotografie wird selbst als Medium gefasst, das unterschiedliche Formen ausbildet, etwa Atelierfotografie, Schnappschuss oder Makrofotografie (vgl. Abb. 2.4). Hier ist das, was ein Medium ist, erstens dasjenige, was Spielraum möglicher Formbildungen bereitstellt. Die Form ist demgegenüber die Realisierung bestimmter medial ermöglichter Formbildungen. Zweitens ist so verstanden, das, was jeweils Medium, was Form ist, relativ. Je nachdem, was bei der Analyse in den Blick genommen werden soll, lässt sich etwas als Medium oder als Form bestimmen. Frage ich nach möglichen Realisierungen visueller Codierung, fasse ich den visuellen Code als Medium, das sich etwa in der Form von Fotografien materialisiert. Interessiert mich hingegen eine spezifische Form der Fotografie, etwa der Schnappschuss, so ist die Fotografie das Medium für die Form Schnappschuss. Bin ich wiederum an bestimmten ästhetischen Erscheinungsformen interessiert, die den Schnappschuss auszeichnen, etwa Unschärfen im Bild, so ist der Schnappschuss das Medium, die Unschärfe eine seiner Formen. Die Reihe der Medium/Form-Relationen ließe sich in beide Richtungen prinzipiell unendlich fortsetzen (vgl. Abb. 2.4).1

Abb. 2.4:

Medium/Form-Relationen

Auch wenn es verwirrend, ja widersprüchlich oder zumindest wenig zielführend erscheinen mag, neben der Bestimmung von Medien im heterogenen Plural quer dazu auch noch eine relativierende Medium/Form-Unterscheidung einzuführen, so ist mir diese zweite Bestimmung dennoch wichtig und steht, wie ich glaube, auch nicht im Widerspruch zur ersten Bestimmung von Medien. Die Medium/Form-Unterscheidung ist vor allem für die Diskussion dessen, was ein Bild ist, sowie für die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Bildtypen relevant. Denn dabei wird zunächst das Bild als Medium verstanden und diverse Bildtypen als Formen. Daran anschließend sollen einzelne Bildtypen als Medien bestimmt und ihre jeweiligen Möglichkeiten anhand diverser Formbeispiele veranschaulicht werden. In einem letzten Schritt wird dann das Bild als Form in übergreifenden medialen Kontexten, etwa Infrastrukturen, Bildagenturen, untersucht [↓ Kap. 4, Code].

Bilder und Bildtypen sind somit einerseits als zentrale FormFormbestandteile eines übergreifenden medialen ProzessesProzess, medialer zu verstehen. Anderseits scheint es mir zielführend, bei der konkreten Analyse von Bildern und Bildtypen kleinteiliger die Frage zu stellen, welche Darstellungsformen genau Bilder oder eben Bildtypen als MedienMedien in bestimmten Kontexten ermöglichen und welche ausgeschlossen werden. Sind Bilder und Bildtypen als Medien wie auch als Formen zu bestimmen, kann der Frage nach der medialen Prägekraft konkret und vor allem sowohl ebenenspezifisch als auch kontextrelativ nachgegangen werden.

Weiterhin lassen sich so gewendet unterschiedliche Medien, wie etwa visuelle und sprachliche Codierungen vergleichsweise elegant in medialen Formen verbinden, was sich wiederum als spezifisches mediales Text-Bild-Verhältnis stabilisieren lässt und so als Ausgangspunkt für weitere (Unter-)Formen dienen kann usw. (vgl. Abb. 2.5 [↓ Kap. 4, Code]).

Abb. 2.5:

Medium/Form und sprachlich/visuelle Codierung

2.2.4KanalKanal

Als Kanäle sind Medien wiederum materielle und infrastrukturelle Voraussetzungen für Informationsweitergabe, -speicherung, -verarbeitung bzw. Wahrnehmung. ‚Medien‘ bezeichnen auf dieser Ebene beispielsweise Satelliten, Fernsehapparate, Elektrokabel, die wiederum durch infrastrukturelle Netzwerke koordiniert werden, etwa durch Fernsehanstalten, Elektrobetriebe etc. Auch hier gilt: Medien ermöglichen, normieren und limitieren Kommunikation. Ohne Telefon und Telefongesellschaft, die die Anrufe durchstellt und koordiniert, kein Gespräch unter Abwesenden. Ebenso trifft hier zu: Medien limitieren Kommunikation. Im Telefongespräch lässt sich keine Fotografie zeigen, schon gar nicht, wenn das Telefonnetz aufgrund von Überlastung zusammenbricht. Oder man denke an die Abschottungen digitaler Netzwerke durch Passwords, Firewalls, Hardware-Hürden oder Störsender. Je nach Optionen des Kanals wird die Kommunikation also präformiert.

Wichtig daran ist: Medien machen wahrnehmbar, vermitteln, speichern und/oder verarbeiten etwas, sowohl auf Ebene des Codes als auch des Kanals. Dabei sind mediale Prozesse nicht neutral. Sie stellen das, was sie wahrnehmbar machen, vermitteln, speichern und verarbeiten, unter spezifische Bedingungen, d. h. sie haben Einfluss darauf, was wie wahrnehmbar gemacht, vermittelt, gespeichert und/oder verarbeitet werden kann [↓ Kap. 4].

Zumindest ist das die Grundprämisse, unter der die politische Medienikonografie hier betrachtet werden soll. Diese Annahme scheint mir für mein Vorhaben sogar unumgänglich. Denn, wenn Medien nicht einen signifikanten Einfluss bzw. Unterschied für das Vermittelte, Gespeicherte oder Verarbeitete und deren Wahrnehmbarkeit hätten, wäre es schlicht überflüssig in eine politische MedienMedienikonografie einführen zu wollen. Darauf wird noch ausführlicher und konkreter zurückzukommen sein. Zuvor soll aber noch der dritte Begriff in der Wortzusammensetzung ‚politische Medienikonografie‘ ausführlicher bestimmt werden, nämlich Ikonografie.

2.3IkonografieIkonografie

Ikonografie

 

Der Begriff ‚Ikonographie‘ ist eine Wortzusammensetzung aus dem griechischen eikón,eikón was Bild bedeutet, und grápheingráphein, also ‚schreiben‘. Der Begriff ‚Ikonografie‘ bedeutet in einem weiten Sinne erst einmal nicht viel mehr als die Praxis, Bilder zu beschreiben, zu ordnen und zu deuten. Insbesondere Motive, Allegorien, „Attribute dargestellter Figuren oder andere Bildzeichen“1 sind für die Beschreibungen, Ordnungen und Deutungen relevant.2

Diese Praxis der Bildbeschreibung verdichtete sich bereits in der frühen Neuzeit zu Bildkatalogen, die Bilder und Bildelemente als Zeichen in ein „System kodifizierte[r] BildspracheBildsprache“3 brachten. Ein eindrückliches Bespiel dafür bietet die erstmals 1593 erschienene Iconologia, herausgegeben von Cesare Ripa.4 Dieses Werk ist eine Bildenzyklopädie für antike Motive, Allegorien, Metaphern, samt alphabetisch kleinteilig gelistetem Index (vgl. Abb. 2.6a). Dort ist beispielsweise ein Eintrag zu „Fedelta“, also Treue (vgl. Abb. 2.6b) ausfindig zu machen. Im Eintrag selbst geht es um Bedeutung und Darstellungsformen der Treue als Allegorie, etwa als Hund, Frau mit Schüssel u. a. Solche Enzyklopädien wurden seit der frühen Neuzeit primär genutzt zur Orientierung und Ideenfindung für künstlerische Darstellungen und waren vor allem im 17. Jahrhundert äußerst populär.

Abb. 2.6a–b:

Bildenzyklopädie in der frühen Neuzeit: Index und Visualisierung

Hieran sind drei Dinge besonders relevant: Erstens scheint es bereits in der frühen Neuzeit – und nicht erst im digitalen Zeitalter – ein Bedürfnis danach gegeben zu haben, Orientierung für eine vermeintliche ‚Bilderflut‘ bereitzustellen. Dabei geht es darum, Bedeutungen von Motiven zu bestimmen und zu kodifizieren, Ordnung zu schaffen. Ein Lexikon für eine BildspracheBildsprache soll entworfen werden, um das Publikum zu orientieren und Praktikern Inspiration zu liefern. Zweitens werden Bildelemente so als sprachanaloge Zeichen verstanden und Bilder zu einem Sprachsystem geordnet [↓ Kap. 4, Was ist ein Bild, was nicht?]. Drittens geht damit die Vorstellung einher, dass Bildmotive „eine festgelegte Bedeutung haben, auch wenn deren Schlüssel manchmal Teil eines hermetischen oder esoterischen Wissens ist.“5 Bilder haben – so die Annahme der klassischen Ikonografie – eine zu ergründe Bedeutung, die letztlich auf einem Code basiert [↑ Code]. Bilder bestehen also aus Zeichen, die zu decodieren sind. Hieran lässt sich noch eine zweite Bedeutung der Wendung Ikonografie ausfindig machen. Es geht nicht nur um Bilder, die von Ikonografinnen beschrieben werden, darüber hinaus um Bilder, die ‚geschrieben‘, also letztlich wie Schrift funktionieren sollen. Damit ist zumindest vom Wortstamm her eine nicht unproblematische Medienspezifik der Visualität von Bildern abgeschattet [↓ Kap. 4, Was ist ein Bild, was nicht?]. Weiterhin impliziert dies: Es werden für viele Bildelemente und Bilder Expert:innen zur Entschlüsselung benötigt, eben Ikonografen, die dann etwa Enzyklopädien mit Titeln wie Iconolologiaconolologia veröffentlichen oder ein – worauf im nächsten Kapitel ausführlicher eingegangen wird – Handbuch der politischen Ikonografie.6Ikonografiepolitische

‚Bilder sind entschlüsselbar!‘ Problematisierbare Prämisse der Ikonografie

 

Im Übrigen fällt auch ein Titel wie Politische Medienikonografie. Einführung zur Illustration darunter. Allein schon, dass Verlag und Autor glauben, es sei sinnvoll eine Einführung in die politische (Medien-)Ikonografie zu publizieren, setzt ja voraus, dass politische Bilder einer Entschlüsselung durch Expert:innen bedürfen. Damit liefert die Einführung nicht nur Handhabungen zur Entschlüsselung, sondern beansprucht, dass sie entschlüsselbar sind. Zudem werden durch die Beispielanalysen und Deutungen die Bilder in einer gewissen Weise ebenfalls (überhaupt erst) codiert. Ob Bilder indes tatsächlich analog zur Sprache entschlüsselbar sind, ist eine zurecht umstrittene These. In Kapitel 4 wird diese These anhand der Frage, was überhaupt ein Bild ist und wie Bilder rezipiert werden (können), zumindest noch einmal diskutiert und problematisiert.

2.3.1IkonografieIkonografie als Beschreibungsmethode vs. IkonologieIkonologie als Fundierung der Ikonografie

Von der Ikonografie soll hier die Ikonologie unterschieden werden. Letztere ist die Wissenschaft von den Bildern, demensprechend die wissenschaftliche, also theoretische, systematische, begründungsorientierte Fundierung der Ikonografie.1 Das hier dennoch nicht der Begriff ‚Ikonologie‘ im Titel steht, sondern ‚Ikonografie‘, ist kein Versehen. Denn es soll primär um Methoden für die analytische Beschreibbarkeit und Deutung politischer Bilder gehen. Das bedeutet indes nicht, dass keine theoretischen Überlegungen angestellt oder die zentralen Begriffe wie Bild nicht reflektiert werden. Es bedeutet aber durchaus, dass die Ikonologie nur insofern relevant ist, als sie zur Analysierbarkeit politischer Bilder beiträgt und/oder zur Problematisierung ihrer Analysierbarkeit.2

Im engeren Sinne handelt es sich bei der Ikonografie um eine Beschreibungsmethode von Bildern und Bildelementen oder genauer im Plural um Beschreibungsmethoden von Bildern, die im ersten Drittel des 20. Jahrhundert entworfen und wirkmächtig wurden. Eine über lange Zeit dominierende Methode der Ikonografie ist mit dem Namen des Kunstwissenschaftlers Erwin Panofsky verbunden, der ein einflussreiches und bis dato populäres dreiteiliges Ebenenmodell zur Analyse von Werken der bildenden Kunst entwickelt hat (vgl. Abb. 2.7).3 Dabei geht es um eine regelgeleitete Bestimmung und Deutung von Motiven und Inhalte visueller Kunstwerke im Abgleich historischer Vorläufer und Quellen.

Abb. 2.7:

Panofskys Dreiebenen-Modell

IkonografieIkonografie und IkonologieIkonologie am Beispiel des Hope Poster

 

Panofskys Dreierschema soll an einem der berühmtesten Poster der letzten Dekaden anschaulich gemacht werden. Gemeint ist das sogenannte Hope PosterHope Poster, das im Zuge der Wahlkampagne für die Präsidentschaftskandidatur Barack Obamas im Jahr 2008 von dem Street Art-Künstler und Grafiker Shepard Fairy angefertigt wurde (vgl. Abb. 2.8).

Abb. 2.8:

Das Hope Poster von Sheppard Fairy

 

I. Vorikonografische DeskriptionDeskription, vorikonografische

 

Eigentlich sind das aber strikt betrachtet schon Informationen, die der Vorgehensweise Panofskys widersprechen. Denn bei seinem Dreistufenmodell geht es gerade nicht vom Kontext zum Bild, sondern der Ausgangspunkt ist der möglichst vorurteilsfreie, ja unwissende oder doch Kontextwissen willentlich ausblendende Betrachtung eines Bildes. Damit soll einerseits gewährleistet sein, dass das visuelle Artefakt als eigenständiges (Kunst-)Phänomen ernst genommen und in seiner Machart akribisch untersucht wird. Anderseits kann solch ein Vorgehen auch praktisch als Sehschulung und Einübung von Beschreibungskompetenz verstanden werden.4 Erst in den weiteren Stufen wird der Fokus durch Hinzunahmen von Kontextwissen sukzessive erweitert. Auf der ersten Ebene soll zunächst eine sogenannte vorikonografische Deskription stattfinden, also eine Beschreibung, die noch möglichst ohne Referenz auf andere Bilder, Motivgeschichte und künstlerische Darstellungskonventionen erfolgt. Der Gegenstand dieser Ebene wird als primäres bzw. natürliches Sujet bezeichnet. Dementsprechend geht es um Thema, Motiv oder Gegenstand der Darstellung.

 

Panofsky unterscheidet hier noch einmal zwischen einer Beschreibung, die er (A) tatsachenhaft nennt, und einer, die er als (B) ausdruckshaft bezeichnet.

 

Zu (A): Auf der Tatsachenebene lässt sich das Hope PosterHope Poster folgendermaßen beschreiben: Zu sehen ist das Dreiviertelprofil eines Mannes, wie er kühn nach oben rechts in die Ferne blickt. Der Mann hat leicht abstehende Ohren eine platte, breite Nase und schwarze kurzgeschnittene Haare. Er trägt Anzug, Hemd und Krawatte. Am Revers findet sich rechts eine Art Abzeichen oder Emblem, kreisrund. Unterhalb dieses Männer-Profils ist das Wort „HOPE“ in hellblauen Großbuchstaben deutlich auszumachen.

 

Zu (B): Auf der ausdruckshaften Ebene situiert Panofsky etwas, was er pseudoformale Analyse nennt. Was immer genau das auch noch sein mag, bedeutet es jedenfalls den Fokus nicht auf die Motive zu richten, sondern auf die DarstellungsformenForm, etwa auf Bildaufbau oder Farbgebung. Im Hinblick auf das Hope PosterHope Poster ist dementsprechend zu formulieren: Bei dem Bild handelt es sich um eine Grafik, zusammengesetzt aus großen monochromen Farbflächen. Dadurch wirken die Züge des Profils abstrahiert. Die Farbpalette ist auf drei Farbschattierungen reduziert, nämlich auf weiß, blau und rot. Oben rechts dominieren rote Flächen; das Gesicht ist von weißen Flächen durchzogen; oben links und vor allem in der unteren Hälfte sind Blautöne vorherrschend. Durch den nach oben gewendeten Kopf im Dreiviertelprofil wird eine Diagonale ins Bild eingezogen, die die Dynamik der Kopfausrichtung nach vorne oben verstärkt. Der Blick des Mannes im Wechselspiel mit dem Wort „HOPE“ ist somit auch formal als ein visionärer markiert.

 

Panofsky zieht bereits hier auf dieser Ebene ein sogenanntes „Korrektivprinzip“ ein. In diesem Fall soll dies die Stilgeschichte sein. Ein Korrektiv stellt die Stilgeschichte insofern dar, als der Fokus über das Bild und dessen konkreter Beschreibung hinausführt und die Frage gestellt wird, ob es Vorläufer zu dieser Darstellungsform gibt bzw., ob die Darstellung bestimmten stilistischen Mustern folgt. Dieses Korrektivprinzip kann ein sehr weites Feld aufspannen. Da es hier nur um eine exemplarische Veranschaulichung geht, soll es genügen darauf zu verweisen, dass solche visionäre Dreiviertelprofil-Bilder, die eine dynamische Diagonale nach oben links ausbilden, insbesondere für Herrscherdarstellungen seit der Antike charakteristisch sind. Bezüglich der Farbgebung lässt sich auf die Pop-Art eines Roy Lichtenstein verweisen oder auch auf die farblich reduzierten Siebdrucke des sozialistischen Agitprops. Mit diesen Hinweisen ist man nicht nur schon tief in der Stilgeschichte, sondern auch nah herangerückt an Fragen jenseits bestimmter Formtraditionen, nämlich an Fragen nach Referenzen, Absichten, Funktionalisierungen, konkreten Bedeutungszuweisungen – und damit an der Schwelle zur zweiten Phase Panofskys.

 

II. Ikonografische Analyse

 

Diese zweite Phase nennt Panofsky sekundäres bzw. konventionelles Sujet. Dabei geht es um die Loslösung von konkreten Wahrnehmungen, nämlich um konventionalisierte Bedeutungszuweisungen, Motivtraditionen, strategische Anknüpfung an Bildmuster u.ä.5 Auch auf dieser Ebene existiert ein Korrektivprinzip, nämlich die sogenannte Typengschichte. Im Gegensatz zur Stilgeschichte geht es dabei nicht um Fragen der Darstellungsformen, sondern um Darstellungsinhalte, insbesondere solche, die sich zu Mustern, Topoi oder eben Typen verfestigt haben, etwa die Darstellung religiöser Figuren mit einem Heiligenschein.

 

JFKJFK

 

Wiederum anhand des HopePoster näher veranschaulicht: Das HopePosterHope Poster ist das Ergebnis einer materiellen Umarbeitung einer konkreten Fotografie, auf der Obama 2006 abgelichtet wurde und das von der Presseagentur Associated Press (AP) vertrieben wird (vgl. Abb. 2.9).

Abb. 2.9:

Abstraktionsoperationen: vom Foto zum Poster

Für die dort ausfindig zu machende Pose existiert aber auch ein klar zu identifizierendes, zeitlich noch etwas weiter zurückreichendes Vorbild. Gemeint ist eine auch heute noch bekannte Fotografie des ehemaligen US-Präsidenten John F. Kennedy (vgl. Abb. 2.10b).6 Im Falle des HopePosterHope Poster wird also durch Ähnlichkeit der Pose Tradition gebildet: vom ehemaligen Präsidenten JFK zum zukünftigen Präsidenten Obama. Die Verknüpfung zu Kennedy wird noch verstärkt durch den Umstand, dass ein Walkampfplakat zu Kennedy Präsidentschaftskandidatur Anfang der 1960er Jahren deutlich als Vorbild fungierte (vgl. Abb. 2.10a). Sowohl die für das Hope Poster charakteristischen Farben Blau, Rot, Weiß – die sehr deutlich die Farben der US-amerikanischen Flagge symbolisieren – sind hier bereits zu finden wie auch der Einsatz schriftlicher Slogans in Großbuchstaben.

Abb. 2.10a–d:

Präsidiale Form- und Motivtradition

Solch eine Traditionsbildung konnotiert indes nicht nur, dass Obama ebenfalls wie Kennedy Präsident werden sollte. Darüber hinaus ist gerade die Referenz auf Kennedy als einem ganz speziellen US-amerikanischen Präsidenten bzw. Präsidentschaftskandidaten von Bedeutung: jung, frisch, liberal, demokratisch, beseelt von Visionen einer besseren Welt – wird doch mit keinem anderen US-Präsidenten so sehr die Idee eines Aufbruchs, eines Neuanfangs in wirtschaftlich, sozial wie militärisch schwierigen Zeiten verbunden.

 

Es sei noch erwähnt, dass nach der Popularisierung des Hope Poster auch die grafische Darstellung Kennedys eine Modifikation erfuhr (Abb. 2.10d). Als T-Shirt, Anhänger oder Button wird nunmehr Kennedy mit deutlichen Anleihen an Obamas Darstellung auf dem HopePosterHope Poster visualisiert. Diese Modifikation findet sich zwar nicht mehr in der politischen Sphäre im engeren Sinne, zeigt aber doch, wie Darstellungsformen und -motive im Lauf der Zeit aufeinander rückwirken können und so dominante Muster verändert werden.

 

AgitpropAgitprop

 

Über die konkrete Referenz auf Kennedy hinaus folgt das Hope PosterHope Poster einer historisch noch weiter zurückreichenden ikonografischen Darstellungstradition. Ganz generell geht es um eine charakteristische Pose von Führungspersönlichkeiten, die sich bis in die Antike hinein verfolgen lässt. Dementsprechend folgt die Darstellung einem kulturell lang tradierten Typus.7 Darüber hinaus lässt sich aber die Darstellung nicht einfach nur diesem Typus zuordnen, sondern hat zudem einen ähnlich konkreten historischen Bezugspunkt wie das Motiv des jungen US-amerikanischen Präsidenten Kennedy. Indes ist diese historische Vorläuferschaft geografisch weit entfernt vom Weißen Haus situiert. Die Art des Schriftzuges, die Farbgebung sowie die grafische Gestaltung des Porträts verweisen nämlich deutlich auf den visuellen Plakatstil der bolschewistischen Agitprop-Bewegung, wie sie sich im Zuge der russischen Februar- und Oktober-Revolutionen 1917 in der Sowjetunion der 1920er-Jahren etabliert hat.8 Der Begriff ‚Agitprop‘ ist ein Neologismus, der durch das Zusammenziehen der Worte Agitation und Propaganda entstand. Ursprünglich bezeichnete Agitprop die Kurzform für die Abteilung für Agitation und PropagandaAbteilung für Agitation und Propaganda, die 1920 innerhalb der bolschewistischen Partei in Russland ins Leben gerufen wurde. Diese ‚Abteilung‘ sollte die revolutionären Ideen der Bolschewiki möglichst flächendeckend in Umlauf bringen. Entscheidend ist dabei nicht so sehr die Überzeugung durch Argumentation bzw. politischer Diskussion. Vielmehr sollten die Rezipient:innen möglichst direkt für eine politische Idee begeistert werden. Genauer: Die Agitation soll einen Affekt auslösen, um eine politische Idee so zu propagieren, möglichst einfach zu verstehen sein, möglichst unmittelbar zu einer politischen Willensbildung führen und möglichst viele ansprechen.

 

Plakate waren in der Sowjetunion lange Zeit eines der bevorzugten Mittel zur Erreichung dieser Ziele. Das hat nicht zuletzt produktionsökonomische und -technische Gründe, sind solche Plakate doch einigermaßen günstig herzustellen, in hoher Anzahl zu reproduzieren und können für viele sichtbar im öffentlichen Raum vergleichsweise einfach, wenngleich temporär, angebracht werden. Die Agitprop-Plakate wurden zumeist im Siebdruckverfahren hergestellt. Dementsprechend sind die Vorlagen in groben abstrahierenden Zügen gehalten, damit wiederum vergleichsweise einfach zu reproduzieren. Sie beschränken sich häufig auf einige wenige Grundfarben, wobei zumeist die Farbe Rot als die symbolische Kennzeichung der sozialistisch-revolutionären Bewegung vorherrscht. Zudem sind auf diesen Plakaten so gut wie immer kurze Phrasen, Slogans oder einzelne Worte in Großbuchstaben gedruckt zu finden, die eine zentrale Idee hervorheben sollen. Häufig findet sich eine auf wenige Grundlinien reduzierte Darstellung einer Führungspersönlichkeit. Seit den Anfängen der Agitprop-Bewegung ist das in den allermeisten Fällen Lenin (vgl. Abb. 2.11a). Lenins Konterfei wurde im Zuge dessen so abstrahiert und zu einer Silhouette reduziert, dass es als Matrize verwendetet werden konnte für diverse Plakat-, Poster-, Fahnen oder Wandteppichdarstellungen (vgl. Abb. 2.11b–c).

 

Dass sich das Hope PosterHope Poster tatsächlich in diese Traditionslinie der sowjetischen Agitprop-Bewegung einreiht, dafür gibt es einige Indizien im Bild selbst. Erstes Indiz dafür ist die Verwendung der Großbuchstaben, die im unteren Teil des Plakats horizontal platziert sind und einen Slogan bilden: „HOPE“. Genau diese Verwendung der Großbuchstaben ist ein zentrales Merkmal der Agitprop-Plakatgestaltung. Als zweites Indiz lässt sich auf die reduzierte Farbgebung verweisen. Ist es im Fall der Sowjetunion meist die Farbe Rot, die vorherrscht, so sind es im Fall des Hope Poster zwar die Farben Blau, Rot und Weiß – und damit offensichtlich die Farben der US-amerikanischen Flagge. Trotz unterschiedlicher Farbgebung ist jedoch der Operationsmodus, eben die symbolische Aufladung der Farben durch Referenz auf Farben einer Nationalflagge, derselbe. Drittens wird im Falle des HopePosterHope Poster, wie auch im Falle sehr vieler Agitprop-Poster, eine ‚Führungspersönlichkeit‘ nicht nur im Dreiviertelprofil vorstellig, sondern – hier noch weit wichtiger, weil für den spezifischen Plakatstil des Agitprop charakteristisch – ikonenhaft, auf wenige Grundlinien reduziert dargestellt. Viertens Indiz: Die Gestaltung des Hope PosterHope Poster entspricht einer Vorlage für den Siebdruck – und damit eben dem Druckverfahren, das in der Agitprop-Bewegung das dominante war.

Abb. 2.11a–c:

Lenins Kopf als Muster und Vorbild

Der visuelle Stil der politischen Agitprop-Plakate wird im Fall des Hope PosterHope Poster nicht einfach nur übernommen. Diese Übernahmen werden als das Aufgreifen eines historischen Vorläufers auch deutlich markiert. Das dürfte allein schon deshalb offensichtlich sein, weil für die Herstellung des Posters der Designer Fairey zwar computerbasierte Bildverarbeitungsprogramme verwendete, das Ergebnis dann aber als Vorlage für Siebdrucke diente – eine aus heutiger Sicht antiquiert anmutende Darstellungsform. Zumindest hat man sich im Falle des Hope Poster für eine Darstellungsform entschieden, die mit einem bestimmten historischen Index versehen ist. Noch einmal anders formuliert: Die digitale Software, mit der das Hope Poster bei der Umgestaltung von Obamas Fotografie zur Grafik Bearbeitung fand, wurde so eingesetzt, dass es wie das Plakat eines Siebdrucks des Agitprop-Bewegung aussieht. Damit wird in Form und Material mitkommuniziert, dass das HopePosterHope Poster auf diese Bewegung als seinem historischen Vorläufer referiert.

 

Hiermit wird die Darstellung in einer bestimmten Weise semantisch aufgeladen: Mag der Darstellungsstil der Agitprop-Bewegung heute auch antiquiert wirken, so stehen Stil und Motiv zumindest für den Impetus der Revolution bzw. dem Willen zur Revolution, zur Veränderung. Oder genauer vielleicht: Dieser Darstellungsart impliziert eine inzwischen vergangene Zukunftshoffnung, die niemals eingelöst wurde, nunmehr aber, mit Obama, eingelöst werden könnte. Entscheidend ist hier: Hoffnung auf Veränderung soll im Hope PosterHope Poster nicht nur durch den Slogan „HOPE“ ausgedrückt werden, nicht nur durch die Anknüpfung an die Motivtradition der Kennedy-Fotografie. Ebenso tritt sie auf Ebene der grafischen Darstellungsform in Erscheinung.

 

Das besonders Pikante besteht vor diesem Hintergrund in Folgendem: ‚Hoffnung‘ wurde in den Agitprop-Plakaten zum Ausdruck gebracht hinsichtlich des Aufbaus einer dezidiert sozialistischen GesellschaftSozialismus, die durch die bolschewistische Partei der Sowjetunion angeleitet werden sollte. Das Hope Poster erneuert die damit verbundenen Hoffnungen nunmehr im Kontext der Präsidentschaftskandidatur Obamas in den USA. Die bolschewistische Hoffnung ist also in Form des Plakats aus dem ehemaligen Ostblock in die USA transferiert. Damit ist die bolschewistische Hoffnung in das Land getragen, das wie kein zweites während des Kalten Krieges für die Abwehr gegen die Bedrohung einer sozialistischen Weltrevolution unter Herrschaft der UdSSR stand. Geoideologisch formuliert ist der Clou des Hope Poster,Hope Poster dass bei der Darstellung Obamas eine System-Kreuzung stattfindet. Mit dem Verweis auf Kennedy wird deutlich eine US-amerikanische Motivtradition aufgerufen, die mit bolschewistischen Agitprop-Darstellungsformen aus der UdSSR gekreuzt wird.9

 

An dieser detaillierten ikonografischen Analyse sollte deutlich werden, dass es dabei vor allem um das Ausfinden von Vorläufern aus der Motivgeschichte sowie den Aufgriff bestimmter Gestaltungsformen geht. In einem weiteren Schritt lässt sich darüber spekulieren, warum diese Formen und Motive in einer spezifischen Weise aufgegriffen und – was in einem politischen Kontext besonders relevant ist – in welcher Weise diese funktionalisiert werden, um in einer spezifischen Weise an potenzielle Rezipientinnen zu appellieren bzw. diese zu affizieren.

 

III. Ikonologische InterpretationInterpretationikonologische

 

Auf dieser Ebene geht es nach Panofsky um Interpretation im engeren Sinne. Das bedeutet: Hier soll die ‚eigentliche‘ Bedeutung eines Bildes gefunden werden. Wenn man dem Kunsttheoretiker folgen will, dann sind Bilder symbolischer Ausdruck von Weltbildern. Die eigentliche Bedeutung von Bildern findet man also dann, wenn man sie letztlich als Symptom einer Weltanschauung bzw. kultureller Befindlichkeit versteht. Um ein Bild so interpretieren zu können, benötigt es immenses Wissen jenseits der Bilder. Historische Daten, institutionelle Faktoren, politische Konstellationen, kulturelle Tendenzen, Konventionen, Praktiken, die zum einen zueinander, zum anderen zum Bild ins Verhältnis zu setzen sind. Panofsky fasst das unter dem Begriff der synthetischen Intuition. Zur übergreifenden Bezeichnung der gesamten dritten Analyse-Ebene wählt der Kunstwissenschaftler den Begriff der Ikonologie. Nach Panofsky – und hier werden die Dinge etwas kompliziert – wird erst auf dieser Ebene die Betrachtung der Bilder zur Wissenschaft, geht es hier doch nicht mehr nur um Beschreibung, sondern um Deutung. Kompliziert ist das deswegen, weil weiter oben ja bestimmt wurde, dass die Ikonologie als Wissenschaft von den Bildern, die theoretische Reflexionsarbeit über Basiskonzepte, Grundbegriffe und Gegenstandsbereich meint, dementsprechend über Möglichkeiten einer wissenschaftlichen Erforschbarkeit von Bildern reflektiert, also als Grundlage für die Ikonografie fungiert. In Panofskys Schema jedoch ist das anders. Die Ikonologie kommt hier nämlich zum einen erst nach der Ikonografie. Zum anderen ist sie eingebunden in konkrete Deutungspraktiken und dient eben nicht zur Fundierung einer Bild(er)wissenschaft. Diese Differenz der Bestimmung von Ikonologie sollte man sich klar machen, um nicht in Verwirrung zu geraten. Um diese Verwirrungen im Folgenden zu vermeiden, werde ich immer, wenn es um die Ikonologie im Sinne Panofskys gehen wird, von der panofsky’schen Ikonologie sprechen und die Bezeichnung Ikonologie ohne Zusatz für die theoretische Fundierung der Ikonografie reservieren.

 

Ein eindrückliches Beispiel für die panofsky’sche Ikonologievariante findet sich bei dem Kunstwissenschaftler selbst. Er versteht die Etablierung der Zentralperspektive als Symptom für ein neuzeitliches Weltbild.10 Dieses Weltbild zeichnet sich, laut Panofsky, durch einen quantifizierenden, mathematischen Zugriff auf die Welt aus, der den Raum homogenisiert und die Betrachter als Ausgangs- und Zielpunkt dieser Raumkonstruktion konzipiert. Genau das unterscheidet nicht nur die maßgebliche künstlerische Darstellungsform der Neuzeit von der des Mittelalters, wo keine zentralperspektivischen Bilder zu finden sind, sondern dieser Unterschied gilt dem Kunstwissenschaftler als Symptom für differente Weltverständnisse, die Mittelalter und Neuzeit epochal von einander trennen. Die Zentralperspektive wird dabei als symbolische FormFormsymbolische verstanden, die das Weltbild der Neuzeit verdichtet in Bildern der Renaissance zum Ausdruck bringt (vgl. zum Unterschied bildlicher Darstellung im Mittelalter und Renaissance Abb. 2.12a–b).

Abb. 2.12a–b:

Mittelalterliche Malerei (links) vs. Renaissance-Malerei (rechts): einmal mit, einmal ohne Zentralperspektive.

Das Hope PosterHope Poster könnte – wenn man es darauf anlegen wollte – für diese Perspektive durchaus ein Beispiel sein. Es wäre wohl ein Leichtes in etwa folgende ikonologische Interpretation im Sinne Panofskys anhand des Posters zu entfalten: Man könnte auf die beiden angesprochenen Formtraditionen verweisen, die im Bild verbunden werden, nämlich einerseits auf die Tradition der Herrscherdarstellung mit explizitem Rekurs auf Werbeplakate Kennedys für die US-amerikanische Präsidentschaft, anderseits auf die Darstellungstradition des sowjetischen AgitpropAgitprop. Das Prinzip der Vermischung unterschiedlicher Formen könnte als symbolische Form einer bestimmten medienkulturellen Konstellation gelten, in der „Hip-Hop-Musikformen und eine ganze Reihe kultureller Artefakte, die andere kulturelle Formen und Referenzen aufgreifen, vermengen, parodieren und ausleihen“11, an der Tagesordnung sind. Genauer noch: Das Hope Poster offeriert eine symbolisch verdichtete Selbstvisualisierung einer Medienkultur durch Formvermischung: Wir leben in einer durch vernetzte Digitalität bestimmten Kultur, die gezeichnet ist durch Mash-up, permanente Vermischung aller möglichen Formen, Motive und Materialien. Das dementsprechende Weltbild ist eines, das die Welt als Bricolage aus hochgradig heterogenem Material und Inhalt versteht und visuell zur Erscheinung bringt. In der Forschungsliteratur gelten analog das Hope PosterHope Poster „und weite Teile von Faireys Arbeit“12 als exemplarischer, symptomatischer oder eben symbolischer Ausdruck einer bestimmten medienkulturellen Konstellation, die gern als „Remix-Kultur“13