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Politische Autobiografie und deutsche Zeitgeschichte
In Claus Leggewies Autobiografie spiegelt sich der Lebenslauf vieler Altersgenossen: kosmopolitisch, ökologisch engagiert, querdenkend haben sie Deutschland entscheidend mitgeprägt. In der Schilderung von Schlüsselszenen setzt sich etwas zusammen, das im Rückblick gern Entwicklung genannt wird, das er allerdings auch von Zufällen, Brüchen und Gefährdungen geprägt sieht. Da spürt der Kölner Junge plötzlich die Nähe der NS-Vergangenheit und begreift durch einen Blumenstrauß im Rinnstein eines Pariser Nobelviertels die Gewalt der Macht. 1968 betrachtet er von der Seitenlinie, seither macht er als Beobachter und Berater gelegentlich selbst Politik. Reisen führen in alle Kontinente, Begegnungen mit Menschen, Ideen, Weltanschauungen werden aufgeschrieben. Leggewie vergewissert sich der Erinnerungsspuren des eigenen Lebens und einer Generation, mit der sich fast alles änderte. So sind diese Erinnerungen auch ein spannendes Stück gelebte Zeitgeschichte.
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Seitenzahl: 581
Claus Leggewie
Politische Zeiten
Beobachtungen von der Seitenlinie
C. Bertelsmann
1. Auflage
© 2015 by C. Bertelsmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: buxdesign MünchenBildredaktion: Dietlinde OrendiSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-14231-5www.cbertelsmann.de
INHALT
PROLOG – Gut gegangen: Deutschland nach dem Krieg
I. Schocks & Spleens
1. Weihnachten ’59: Wie Politik in mein Leben trat
2. Ein großes Volk: Der französische Freund
3. Schreib das auf: Der Untergang der »Pamir«
4. 16. Arrondissement: Blumen im Rinnstein
5. Drei Wochen Junge Union reichen für ein ganzes APO-Leben
6. Starke Töne und schwache Stimmen
7. Der FC und die Sache Pezzoni
8. Auto-Biografisches: Eine halbe Konversion
9. Familienleben: Politik der Adoption
II. Meine Lehrer
10. Creamcheese. Joseph Beuys und die direkte Demokratie
11. Machen Sie sich keine Sorgen. Von Schieder zu König
12. Göttingen sur Leine
13. Gérard
14. Auf den Schultern von Riesen
III. Nosing Around
15. Wir sind alle deutsche Juden
16. Rowdys am Gorki-Prospekt
17. Bani-Sadr verschätzt sich im Ayatollah
18. Vorzeichen einer Revolution
19. Tief im Süden
20. Unterm Ladentisch: A vava inou va
21. Reisen nach Jerusalem
22. Sultans of Swing: Wendejahr 1979
IV. Teilnehmende Beobachtung
23. Das versendet sich: Was man über Solschenizyn wissen sollte
24. Der Mann, der es tat: Unser 11/9
25. Ben Wisch. Dämmerung im Langen Eugen
26. Bruder Barbie und Maître Vergès
27. Man ist, was man tut
V. Politik der Gefühle
28. Um ein Haar: Lob der Inkonsequenz
29. Pfingstwunder: Das Sozialistische Büro
30. Knieschüsse gegen Schreibtischtäter
31. Il est facho, mais sympa
32. Adenauer-Linke
33. Heldraer Zipfel: Ende einer Demarkation
34. Nachgetragenes Mitleid
35. Spitz auf Knopf: Fremd in Lichtenhagen
VI. Professor mit Nebentätigkeiten
36. Professor in der Provinz
37. Das Amt
38. Eine Vorgeschichte des Attentats auf Charlie Hebdo
39. Bellizist: Persona non grata im Phil II
40. Internet & Politik: Noch ein Rückruf
41. Zwei Grad Celsius. Am Ohr der Macht
42. Weit gebracht. Die Ära Merkel
43. Warchitecture: Hommage an Lebbeus Woods
44. Von Schneider zu Schwerte
VII. Heraus aus Deutschland
45. Rückkehr der Andartes
46. Ninjas und Bärtige
47. Einmal muss man ein Idiot sein
48. Geopolitik eines gewöhnlichen Mannes
49. Haider im Hilton oder: Ein stinknormales Land
50. Mali. Ein Traum
VIII. Kontinentalflucht: Amerika
51. Lost and Found
52. Amerikas Welt in meinem Kopf
53. Ignatz Bubis im Deutschen Haus
54. Presidential Studies
55. Free Money
56. Capitol Hill und Castel Gandolfo
57. Nine Eleven: Das ist Krieg!
58. Es war einmal: der Westen?
IX. Zwischenstände
59. Politische Wissenschaft
60. Immer noch APO?
61. Dr. h. c. Edward Snowden
62. Fröhliche Wissenschaft (zurück im Revier)
63. Die Welt der Griechen und Römer revisited
64. Agnostiker wie Du
65. Landleben
66. Many Years From Now: Zurückgeben
DANK
CHRONIK EINES WELTKINDES
REGISTER
BILDNACHWEIS
Wir sind Kinder der Zeit,die Zeit ist politisch.
Wisłama Szymborska
PROLOG
Gut gegangen: Deutschland nach dem Krieg
Köln, Nikolausplätzchen, um 1954
© Privatarchiv
Der Anfang sieht nicht vielversprechend aus. Schüchtern sitzt ein Junge im Matrosenanzug auf der steinernen Einfassung eines Sandkastens. Im Hintergrund blecken Ruinen, einen Steinwurf rechts davon lag der unversehrte Ziegelbau einer Hutfabrik. Dort hatte das im Krieg zerstörte Apostelgymnasium Aufnahme gefunden, und die Familie des neuen Direktors, meines Vaters, durfte 1950 die Beletage beziehen. Sülz heißt der Kölner Stadtteil, der eigenartige Name geht wohl zurück auf den römischen Feldherrn Sulpicius, die Besiedlung auf eine Benediktinerabtei im Mittelalter – man befand sich hier im abendländischen Sektor von Europa. Den Jungen, der ich damals war, interessierten eher das nahe gelegene Vereinsgelände des 1. FC und die Aussicht in den Schulhof, wo die Großen Pause machten, darunter die Mädchen vom benachbarten Hildegardis-Gymnasium.
Petticoats, klassische Bildung, Ballsport für Jungen – wo war besser aufwachsen als auf diesem Trümmerfeld? Einmal entdeckten wir eine Fliegerbombe, eilig wurde die Feuerwehr herbeitelefoniert. Der Zünder war nicht mehr scharf, aber wir Nachkriegshelden kamen in die Zeitung. So was kommentiert man in Köln mit der Redensart: Et hät noh emmer jot jejange (Es ist noch immer gut gegangen). Der Spruch ist mir ob seiner kölschen Leichtfertigkeit suspekt, hier passt er wohl. Der Autor hat das »Nikolausplätzchen« (so hieß der Spielplatz vor der Nikolauskirche) glücklich hinter sich gelassen und erlebte mit, wie sich sein Land holprig, aber nachhaltig mit der Welt versöhnte.
Aus Ruinen schöpften um 1950 Geborene ihren Optimismus. Wir genossen die Gnade einer wirklich späten Geburt und stürzten uns leichten Sinnes und voller Zuversicht ins Getümmel. Die Umrisse ferner Kontinente fuhren wir in der Hoffnung auf wirkliche Entdeckungsfahrten mit dem Zeigefinger im Diercke-Weltatlas ab, probierten uns in Schülerzeitungen aus und misstrauten den unklaren Reden der Älteren über die Gründe für versehrte Gebäude, Körper und Seelen. So konnte es nicht gewesen sein, wie war es dann? Was steckte dahinter? Und wie konnte man es besser machen?
Das Wirtschaftswunder, das sich auf dem kargen Agfa-Klick-Foto nicht einmal andeutet, war bei uns angekommen. In einem Stadtviertel, in dem noch viele Mitschüler fürs Klassenbuch »arbeitslos« als Beruf des Vaters angaben, waren Beamte im höheren Dienst ebenso eine Ausnahme wie der Aufzugfabrikant, mit dessen Sohn, Hüter einer beneidenswert kompletten Sammlung von Sicu-Modellautos, ich mich zusammentat. Waschmaschine und Fernseher kamen 1957 ins Haus, bald darauf der lindgrüne VW-Käfer. Zum Wohlstand gehörte die Sommerfrische. Wir reisten in den nahen Taunus, in den regnerischen Schwarzwald und in die Ehrfurcht gebietenden Ötztaler Alpen. Am Wochenende unternahmen wir Ausflüge nach Belgien und Holland, auch um billige Butter in unzulässiger Menge einzuführen und das Auto samt Reservekanister vollzutanken. In Ostende, weit im Westen, hielt ich erstmals den großen Zeh in ein Meer. Von der Rückbank aus schaute ich gespannt zu, wie man eine Grenze mit Schlagbaum und damals noch ziemlich strenger Passkontrolle überwand: Richtung Venlo, Amsterdam, Paris. Alsbald London, irgendwann New York. Der Orient und der deutsche Osten kamen später.
Von Köln im Jahr 1950 aus füge ich in diesem Buch Mosaikstücke einer politischen Bildung und Selbsterziehung zusammen. Zu berichten sind weniger, wie bei vielen meiner Generation, Lesefrüchte aus Hauptwerken als vielmehr Begebenheiten und Begegnungen der Zeitgeschichte aus der Nähe. Wie Geschichte läuft, habe ich eher aus eigenem Erleben und bisweilen buchstäblich im Tumult der Straße gelernt. Da ich dem Gedächtnis (und meiner Lust am Fabulieren) misstraue, habe ich die fast in einem Rutsch geschriebenen Erinnerungen durch Nachfragen bei Menschen korrigiert, die dabei waren (ohne dass ich Zeitzeugen grundsätzlich mehr Präzision zutraue), und, man sehe mir den nach Akte klingenden Begriff nach, durch Wiedervorlage in Gestalt historischer Quellen (deren Aussagekraft ich wiederum nicht überschätzen möchte).
Stets ist es die Frage, was an einer Lebensgeschichte verallgemeinerbar ist und sich eventuell zum Narrativ einer ganzen politischen Generation fügen kann. Im vorliegenden Fall sind es wohl die Klärung unbesprochener Vergangenheiten, die Berührung mit fremden Gottheiten und Kulturen, der Gleichklang von populärer Musik (plus Fußball, Autos und Kunst) mit der Politik, deren außerparlamentarische Anstiftung und wissenschaftliche Beratung. Der Beruf des Professors, der mir vom Klinikarzt seltsamerweise schon am ersten Tag meiner Existenz prophezeit wurde, die Debattierfreude, zu der Schüchterne nicht gerade prädestiniert scheinen, und das Schreiben sind mir zur zweiten Natur geworden. Vieles ist typisch Spät-68er, einiges (wie Fußball und Autos) ziemlich deutsch, manches fällt aus der Rolle: der antikommunistische Linke, der katholisch fühlende Agnostiker, der angeschlossene Außenseiter, der respektvolle Grenzverletzer.
Der Junge im Sonntagsanzug, der ich war, ist allein auf dem Foto. Wochentags füllte sich der armselig wirkende Spielplatz, doch das Gefühl der Fremdheit verlor sich nicht leicht. Ich wollte dazugehören, und weil ich über den Schlüssel zum Schulhof verfügte, konnte ich Spielgefährten zu den Turngeräten, zum Grammofon im Musiksaal auf dem Dachboden und hinab in den dunklen, halb eingestürzten Luftschutzkeller führen. Oder auf den Dachboden, wo herrenlose Utensilien verstaubten und über den später zu erfahren war, während des Krieges hätten dort 120 ukrainische Zwangsarbeiter für die »Arbeitsgemeinschaft Eisen und Metall« schuften müssen. So nah war die Vergangenheit. In der spärlich gefüllten Weitsprunggrube übte ich Torwarthechten, und Torhüter durften bei uns oft die Mannschaften einteilen. Bernd, der zwei Jahre ältere Nachbarjunge aus der vierten Etage, sorgte für Sicherheit, wenn es wild zuging. Daraus wurde der »generische« Bernd, das bedeutet: eine ganze Reihe angenommener älterer Brüder, als die ich später einige Kollegen und Freunde empfand, nicht zu vergessen die Begegnungen mit Freundinnen und Kolleginnen. Mein Gesichtskreis weitete sich, und die Schüchternheit wich, allmählich konnte sich das innere Engagement nach außen wenden.
Eine kleine Leseanleitung: Ich erzähle von 1959 an weitgehend chronologisch, greife aber gelegentlich vor und schaue zurück – im Zweifel bietet die Zeittafel Orientierung. Alle Kapitel können für sich gelesen werden, ein Register legt einen roten Faden aus zwischen Personen und Themen.
I. Schocks & Spleens
Anmut sparet nicht noch MüheLeidenschaft nicht noch VerstandDaß ein gutes Deutschland blüheWie ein andres gutes Land.Daß die Völker nicht erbleichenWie vor einer RäuberinSondern ihre Hände reichenUns wie andern Völkern hin.
Bertolt Brecht/Hanns Eisler,Kinderhymne, 1950