Polkadots - Lilli Färber - E-Book

Polkadots E-Book

Lilli Färber

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Beschreibung

Eben waren sie doch noch jung und knackig! Viktoria wäre sogar einmal beinahe in der Garderobe von Mick Jagger gelandet - und jetzt findet sie sich plötzlich beim 'Speeddating für Middle-Agers' wieder, das sie von ihren Freundinnen Heidi und Babs zum Geburtstag geschenkt bekommen hat. 'In meinem Alter sollte man Sex vielleicht wirklich nur noch im Dunkeln haben', stellt Viktoria seufzend fest, während sie die Gestalten um sich herum mustert. Die Veranstaltung endet dann auch ziemlich desaströs, wie die meisten Projekte in ihrem turbulenten Leben. Einst hat Viktoria Kunstgeschichte studiert, aber dann ist sie schwanger geworden und hat ihre Jugendliebe Georg geheiratet - der sie längst durch die zickige, dem Bauchtanz frönende (und natürlich jüngere) Melanie ersetzt hat. Jetzt steht Viktoria in einem zugigen Museumsshop, verkauft Poster von Manet (oder Monet?, ihre Kundschaft sieht da leider wenig Unterschied) und plagt sich mit pubertierendem Sohn und Ex-Familie herum. Spät in der Nacht plaudert Viktoria mit Romy Schneider, die von ihren Sissi-Jahren erzählt und vom schönen fiesen Alain Delon - eine Marotte, von der zum Glück niemand etwas ahnt. Inspiriert von Romy lässt sich Viktoria auf eine Affäre mit einem jungen Mann ein, die aber nur kurz ihre Hormone durcheinanderwirbelt. Doch da gibt es auch noch Matthias, den bemerkenswerten Mann hinterm Tresen ihres Lieblingslokals. Aber soll sie wirklich eine Beziehung mit einem Barkeeper in Betracht ziehen? Viktoria grübelt in der Badewanne vor sich hin und schaut ihren Oberschenkeln beim Schrumpeln zu. Da erhält sie einen überraschenden Anruf aus dem fernen Wien. Eine Kiste mit Briefen eines berühmten Malers aus dem 19. Jahrhundert ist aufgetaucht, ob sie Lust hätte, die vergilbten Seiten zu sichten? Viktoria verschweigt der freundlichen Frau Professor, dass sie ihr Studium längst an den Nagel gehängt hat, und begibt sich auf die Reise. Sie erkundet die fremde Stadt, genießt das Abenteuer - und auf einmal scheint alles ins Lot zu geraten.

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Lilli Färber

POLKADOTS

Roman

1

PRACHTSTÜCK

In meinem Alter sollte man Sex nur noch im Dunkeln haben. Das ist mir gestern Abend klar geworden. Denn gestern Abend habe ich nach langer Zeit wieder einmal splitternackt vor dem Badezimmerspiegel gestanden, alle Spots waren an und ohne Erbarmen auf meinen fröstelnden Körper gerichtet. Was für ein trostloser Anblick! Nie hätte ich mir früher vorstellen können, dass es einmal so enden würde. Es war doch erst gestern, wie man so schön sagt, dass mich dieser Tontechniker nach dem Stones-Konzert hinter die Bühne lotsen wollte, angeblich in die Garderobe von Mick höchstpersönlich. Aber ich habe tugendhaft-doof abgewunken, erstens war ich gerade unsterblich in einen gewissen Michi verliebt und zweitens war doch längst bekannt, dass sich der Stones-Boss Hasenpfoten in die Hose stopft, igitt!

Im Sommer darauf wollte dann ein uralter Hobbyfotograf (ich habe ihn auf Anfang 30 geschätzt, mindestens) in den Ferien auf Lanzarote künstlerisch wertvolle Aktfotos von mir knipsen, angeblich hatte er sogar Kontakte zur Cosmopolitan. Aber ich habe ihm einen lodernden Vortrag über die Ausbeutung des weiblichen Körpers gehalten (damals steckte ich gerade in meiner ultrafeministischen Phase), der uralte Hobbyfotograf hat sich währenddessen still mit Sangria betrunken.

So war das, nie habe ich meinen Körper als Waffe oder Trumpfkarte eingesetzt, er war einfach da, ein toller Busen und lange Beine. Sogar beim letzten Badeurlaub bin ich doch noch straff und knackig gewesen, wenigstens im Vergleich mit all den anderen unförmigen Figuren am Strand, selbst mit den meisten Jüngeren hätte ich noch lange nicht tauschen wollen. Aber dann muss etwas passiert sein, ein Fluch ist über mich gekommen wie in den Fantasy-Filmen, ausgerechnet an meinem letzten Geburtstag, den ich so gerne verschlafen hätte!

Seither senkt sich mein Busen wie die Absprungschanze in Garmisch-Partenkirchen, aus den charmanten Speckröllchen um meinen Bauch ist, so scheint es jedenfalls, über Nacht eine einzige Betonrolle geworden, und Querfalten bilden sich an Stellen, die ich jahrelang als ungefährdetes Terrain eingestuft habe: an den Knien. Aber den Herren der Schöpfung ergeht es auch kein bisschen besser, das wird mir soeben tröstlich bewusst, während ich wehmütigen Gedanken über meine glorreiche Vergangenheit nachhänge und mich verstohlen umblicke. Denn ich mag mir keinen Einzigen in diesem schummrig beleuchteten Raum ohne Boxershorts vorstellen, zu Hilfe!

Und überhaupt: Was mache ich hier eigentlich? Wie bin ich bloß hierhergeraten? Und wie komme ich aus dieser hochpeinlichen Situation nur wieder raus? Ob die Tür versperrt ist?

Speeddating für Middle-Ager, was für eine Schnapsidee! Und das soll ein Geburtstagsgeschenk sein, bitte schön? Das Kichern von Babs und Heidi, meinen zwei besten Freundinnen, klingt mir noch in den Ohren. Alles Gute, liebste Viktoria, dieses Geschenk wird dein Leben verändern! Plötzlich habe ich ein goldfarbenes Kuvert in Händen gehalten und mich innerlich auf die obligate lustige Karte eingestellt, »Du allein wirst immer jünger, altes Haus«, oder so ähnlich, dazu ein Gutschein für ein Wellnesswochenende inklusive Diätberatung und Powerwalking in einem Moorbad im Schwarzwald. Aber dann war es eine Reservierung mit einem rätselhaften Datum, Samstagabend um 19 Uhr in der Piano-Bar, geschlossene Gesellschaft, Diskretion garantiert! Ratlos habe ich in die Runde geblickt. Eine Botoxparty samt Spritze für die Falte zwischen meinen Augenbrauen vielleicht? Oder eine dieser grässlichen Striptease-Veranstaltungen, bei denen sich solariumbraune Jünglinge im Tanga kreischenden Matronen auf den Schoß setzen? Womit habe ich das verdient?

Aber Babs und Heidi haben mich gleich ganz aufgeregt aufgeklärt. »Du glaubst ja nicht, wie schwer es war, diese Karte aufzutreiben, Viktoria! Normalerweise gibt’s Speeddatings ja nur bis 30, allerhöchstens, aber dann haben wir im Internet diese Veranstalterin gefunden, die macht so was auch für uns Oldies über 40, das ist der Renner, die Abende sind ausgebucht bis Weihnachten! Dort haben sich schon unzählige Paare gefunden, man kann alles auf der Website nachlesen, diese Frau Marion hat eine Erfolgsquote von über 50 Prozent! Und es ist kein bisschen peinlich, sondern ganz zwanglos und locker, man plaudert einfach miteinander ohne jede Verpflichtung, und eins, zwei, drei, vielleicht ist ja sogar der Richtige dabei, na, was sagst du?«

Meine Freundinnen sind so begeistert von ihrer Idee gewesen, dass ich es einfach nicht übers Herz gebracht habe, den Coupon in tausend Schnipsel zu zerreißen. Stattdessen habe ich tapfer gelächelt und mich bedankt, Küsschen, Küsschen, und meinen Frust mit einem Glas Prosecco hinuntergespült.

Und jetzt stehe ich da, zur Strafe für meine Feigheit. Wenigstens bin ich auf dem Weg zu dieser Piano-Bar keinem Arbeitskollegen begegnet, dem Himmel sei Dank! Und auch der Super-GAU ist mir erspart geblieben, nämlich ein bekanntes Gesicht unter den Teilnehmern. Mein Apotheker zum Beispiel, der noch immer bei seiner Mutter lebt, wie alle Welt weiß, der jedes Mal so verklemmt an seiner Brille nestelt, wenn ich meine homöopathischen Tropfen gegen nächtliches Schwitzen verlange. Aber das, was hier an Männern anwesend ist, ist auch nicht viel aufregender als mein Apotheker, ich blicke resigniert um mich. Andererseits, in einem gewissen Alter scheint es nun mal unvermeidlich zu sein, von den äußeren Werten auf die sogenannten inneren Werte umzusatteln. Früher konnte ich eben mit meinen Beinen prunken, heute muss ich mit meiner guten Seele punkten. Oder meinen Rinderbraten mit Spätzle in die Schlacht werfen – falls der Auserwählte kein Vegetarier ist, versteht sich!

Obwohl, wann hat mir überhaupt zum letzten Mal ein Mann so richtig gut gefallen? Mein Herz zum Klopfen gebracht, so wie früher? In der U-Bahn, im Supermarkt, auf Vernissagen, überall nur Ritter von der traurigen Gestalt, die dreinschauen, als ob sie beim Frühstück ihre Sprudeltabletten gegen Sodbrennen vergessen hätten. Sogar Joe Cocker, der doch mit seiner Reibeisenstimme früher so verlässlich meinen Beckenboden zum Vibrieren gebracht hat, schaut heute aus wie ein Frührentner auf einer Bank im Hyde Park. Also Viktoria, Kopf hoch, vielleicht ist ja ausgerechnet hier und heute ein Goldstück anwesend, das dich noch einmal zum Vibrieren bringen wird!

Frau Marion, die uns alle mit Trillern des Entzückens und bedeutsamem Zwinkern begrüßt hat, gibt gerade letzte Anweisungen: »Wie immer sind wir auch heute Abend sechs Paare, Damen und Herren. Sie alle werden nun Gelegenheit haben, sich in unserem gemütlichen Rahmen und in entspannter Atmosphäre näher kennenzulernen. Und um es Ihnen ganz, ganz leicht zu machen, hat mein Team einen kleinen Fragenkatalog vorbereitet, der interessante Wesenszüge des jeweiligen Gesprächspartners sowie der jeweiligen Gesprächspartnerin ans Licht bringen soll, ohne indiskret zu wirken. Mögen Sie klassische Musik? Haben Sie ein Haustier? Was ist Ihre Lieblingsspeise? So ergibt sich ein lockeres Pingpong aus Fragen und Antworten, das fast immer Lust auf ein vertiefendes Gespräch macht. Nach jeder Runde kreuzen Sie dann auf Ihrem Zettel den lachenden oder betrübten Smiley an. Diese Notizen werden anschließend von meinem Team ausgewertet und bei Übereinstimmung erhalten Sie am Ende des Abends die persönlichen Daten jener Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausgehändigt, mit denen Sie ganz besonders harmoniert haben. Nur Mut, meine Damen und meine Herren! Ich garantiere Ihnen, dass dieser Weg einer der Erfolg versprechendsten ist, um dauerhaftes Glück in einer neuen Beziehung zu finden. Ich habe jahrelange Erfahrung in diesem Metier und kann Ihnen versichern, dass ich bereits mit bloßem Auge einige potenzielle Pärchen in dieser Runde ausgemacht habe. Wagen Sie es, denn das Glück ist möglich und machbar! Wir müssen nur ganz fest daran glauben!«

Hätte ich doch bloß meine homöopathischen Tropfen gegen Schwitzen geschluckt! Ob ich noch rasch aufs Klo gehen kann? Wo ist eigentlich der Notausgang? Aber Frau Marion dimmt bereits das Licht und leise Musik erklingt. Ich blicke auf den Zettel in meiner Hand, den ich kaum entziffern kann, also für so ein Middle-Ager-Speeddating könnte die Schrift ruhig größer sein. Anderen im Raum ergeht es offenbar ähnlich, es wird allgemein nach Lesebrillen gekramt. Dann nehmen wir endlich alle an kleinen Tischen Platz. Ein Mann im karierten Sakko eilt heran und setzt sich zu mir ohne viel Federlesen.

»Hallo, ich bin der Kurt, und du?«

Aha, Kurt ist von der direkten Sorte, mir wäre ein höfliches »Sie« ja lieber gewesen, aber dann sitze ich wahrscheinlich da wie eine humorlose Pfandleiherin, also ringe auch ich mich zu jugendlicher Kumpelhaftigkeit durch.

»Hallo, ich bin die Viktoria.«

Dann schweigen wir beide. Und jetzt?

Kurt deutet auf meinen Zettel. »Die Frau fängt an mit dem Fragen, das steht gleich ganz oben.«

Ich starre auf die Liste, die ich im Dämmerlicht zum Glück gerade noch enträtseln kann. Frage Nummer eins: »Was machen Sie beruflich?«

Kurt sieht mich an, als ob ich ein bisschen schwachsinnig wäre, nicht ganz zu Unrecht, immerhin waren wir doch eben noch per Du. Aber dann legt er großmütig los. »Also, ich bin in der Versicherungsbranche. Nur ganz große Fische, aber darüber rede ich eher ungern. Bei näherem Kennenlernen erzähle ich dir natürlich mehr, auch über meine Vorlieben und so, na, du weißt schon. Und du?«

»Also, meine Vorlieben, also über die möchte ich …«

»Nein, was machst du beruflich? Erste Frage.«

Kurt hält mich mittlerweile offenbar für völlig beschränkt.

»Ich bin Atomphysikerin«, sage ich patzig.

Das ist natürlich die Lüge des Jahrhunderts, aber mein Gegenüber hat es einfach nicht anders verdient. Kurt im karierten Sakko starrt mich auch entsprechend verdutzt an, Atomphysikerinnen hat er sich ganz bestimmt anders vorgestellt.

Keck nutze ich die Gelegenheit. »Nächste Frage, bitte. Ich glaube, jetzt bist du dran!«

»Ähhhm, wie, was, ach ja, natürlich …« Kurt reißt sich wieder zusammen und starrt nun ebenfalls auf den Zettel. »Ähhhm, also, was machen Sie, ich meine, ähhhm, was machst du am liebsten in deiner Freizeit?«

Tja, was? Fernsehserien gucken, 700-Seiten-Schwarten über irische Schlossherren und verarmte Gouvernanten lesen, Schokolade mit Krokantsplittern futtern. Aber das kann man natürlich nicht angeben, das ist mir schon vor vielen Jahren beim Lesen der guten alten Kontaktannoncen in der Zeit klar geworden. Als Hobbys gelten bestenfalls Segeln, Tangotanzen und Bildungsreisen durch Flandern. Es tut mir leid, aber ich muss schon wieder lügen. »Am liebsten lese ich ein gutes Buch, vorzugsweise über historische Themen. Und dann gehe ich natürlich sehr gerne in Konzerte und in die Oper.«

Kurt sieht drein, als ob er versehentlich auf Stanniolpapier gebissen hätte. »Ja, also, ähhhm, also das klingt wirklich interessant. Man merkt eben, dass du eine Akademikerin bist. Ich steh ja mehr auf Rock ’n’ Roll. Und dann fahre ich fast an jedem Wochenende mit meinen Kumpels zum Angeln. Aber dazu sollte man sowieso keine Frau mitnehmen, denen ist immer gleich stinklangweilig.«

Also, mit Kurt und mir wird das nichts, das steht uns beiden ins Gesicht geschrieben. Ob man mittendrin aufhören darf mit dem Fragen? Wir linsen beide zu Frau Marion hinüber, die am Tresen der Piano-Bar steht und gerade ein Gläschen kippt, das verdächtig nach hochprozentigem Grappa aussieht. Dann sehen wir uns wieder an und müssen gleichzeitig grinsen. Kurt wirkt plötzlich gar nicht mal so unsympathisch.

»Also Mädel, ich glaube, mit uns zwei, das wird nichts«, sagt Kurt. »So eine Atomphysikerin und ein Versicherungshai, also neee. Aber viel Glück für die nächsten Runden.«

»Dir auch«, sage ich und meine das ganz ehrlich.

Zum Glück klatscht Frau Marion bereits in die Hände. »Bitte beenden Sie nun Ihre Gespräche und machen Sie ein Kreuzchen über dem entsprechenden Symbol. Ich hoffe natürlich, dass es nur lachende Smileys sein werden. Und dann bitte ich die Herren, im Uhrzeigersinn die Plätze zu tauschen.«

Kurt entschwindet mit einem »Tschüss« und einem Winken, und ich male gerade ein X über den bekümmert dreinblickenden Smiley von Runde eins, als sich ein Schatten über meinen Fragebogen senkt. Ein Mann steht am Tisch und blickt mich wartend an, sehr viel höflicher als Kurt, ich notiere mir gedanklich einen ersten unsichtbaren Pluspunkt.

»Donnersbach. Heiko von Donnersbach. Gestatten Sie, dass ich mich setze?«, fragt der Mann, der mir im Stehen nur bis zur Brust gehen würde, höchstens. Aber zum Glück sitze ich ja und notiere sehr wohlwollend einen zweiten unsichtbaren Pluspunkt: »von« Donnersbach, immerhin. Gräfin Viktoria von Donnersbach, da würden Babs und Heidi vielleicht Augen machen!

»Darf ich um die erste Frage bitten?«, sagt der Graf.

»Was machen Sie beruflich?«, hauche ich mit meinem betörendsten Timbre und klimpere dazu ein bisschen mit den Wimpern.

»Ich bin bankrott«, sagt Heiko von Donnersbach. »Wissen Sie, da will ich ganz ehrlich sein, ich mache den Frauen nichts vor. Das Familiengut ist ja schon seit vielen Jahren weg, aber jetzt hat es auch den Betrieb voll erwischt, eine Weinkellerei. Zuerst die Überschwemmung an der Mosel vor drei Jahren, der ganze Keller hat unter Wasser gestanden, und dann sind auch noch die Großkunden ausgeblieben. Aber unsereins lässt den Mut nicht so leicht sinken, meine Familie hat schon den Dreißigjährigen Krieg überdauert und Napoleon überstanden, das wird schon wieder. Ich würde eben eine Frau brauchen, die an meiner Seite ist und die mir, nun ja, ein wenig unter die Arme greifen könnte. Und, was treiben Sie so beruflich, Gnädigste?«

Also, die Atomphysikerin schicke ich lieber in Rente, sonst macht sich der Graf noch falsche Vorstellungen von meinen Vermögensverhältnissen. Ich werde wohl besser etwas tiefstapeln.

»Tja, leider ist auch meine Situation nicht gerade rosig, finanziell gesehen. Mein verstorbener Gatte hat mir nur Schulden hinterlassen, er war Spieler und hat unser ganzes Vermögen bei Pferderennen in Baden-Baden und im Casino von Monte Carlo verwettet. Leider bin ich erst viel zu spät dahintergekommen, aber er war so unglaublich charmant, man konnte ihm einfach nicht böse sein. Ich vermisse ihn wirklich sehr, ganz besonders unsere gemeinsamen Kreuzfahrten zur Mitternachtssonne, die wir jedes Jahr unternommen haben.«

Eigentlich ganz schön überzeugend, was ich da in aller Eile daherschwadroniere, aber wozu lese ich auch all die Herz-Schmerz-Romane? Sogar Heiko von Donnersbach wirkt ehrlich beeindruckt.

»Das klingt wirklich sehr betrüblich, gnädige Frau. Wirklich schade, dass wir beide uns unter so unglücklichen Umständen kennenlernen müssen.« Dazu sieht sich Heiko von Donnersbach verstohlen um, offenbar will er den Rest der Damen schon vorab einschätzen.

»Und, was treiben Sie in Ihrer Freizeit?«, frage ich neugierig.

»Ich spiele ein wenig Cembalo«, sagt der bankrotte Graf.

Cembalo. Das ist gut, das muss ich mir merken! Damit werde ich die nächsten Kandidaten verblüffen. Ich erfahre noch, dass Heiko von Donnersbach am liebsten Wildschweinbraten mit Preiselbeeren isst – ganz standesgemäß – und sehr um einen sprechenden Papagei namens Purzel trauert, dann geht auch diese zweite Runde zu Ende. Frau Marion klatscht in die Hände, die Männer wechseln schon ganz routiniert von Tisch zu Tisch. Einer dreht sich um und wirft einer Rothaarigen eine Kusshand zu, offenbar finden sich bereits die ersten Paare, nur ich sitze hier und die dämlichen Smileys grinsen mich an. Wäre ich doch bloß zu Hause geblieben, statt mich hier zum Narren …

»Hallo, so allein hier?«, sagt eine tiefe Stimme mitten in mein Grübeln hinein und ich fahre beinahe erschrocken hoch. Der Besitzer der tiefen Stimme wendet sich einem Kellner zu: »Noch ein Bier, ja?«

Dann setzt er sich, und ich spüre, wie mein Herz zu pochen beginnt. Das darf doch nicht wahr sein! So ein Goldstück treibt sich allen Ernstes beim Speeddating herum? Und wieso habe ich den nicht gleich beim Hereinkommen bemerkt? Was bin ich bloß für ein Glückspilz! Danke, liebste, beste Babs! Danke, liebe, liebe Heidi! Nie werde ich euch vergessen, dass ihr Regie geführt habt bei meinem späten Glück. Denn diesmal werde ich mich ganz bestimmt nicht zieren, sondern werde mit beiden Händen zupacken. Selbstverständlich werde ich euch zu meiner Hochzeit einladen, ach was, ihr seid natürlich meine Brautjungfern, das kann auch in unserem etwas fortgeschrittenen Alter noch durchaus amüsant sein, wir gut erhaltenen Mädchen in figurschmeichelnden Wickelkleidern, mit Blumenkränzen im Haar und einem Hauch von Spitze am Dekolleté …

»Na, in Gedanken?«, fragt mein Gegenüber, dazu bildet sich rund um seine Augen ein Netz aus feinen Fältchen, die ihn nur noch attraktiver machen. Sein dunkles, überm Hemdkragen ziemlich langes Haar ist an den Schläfen grau meliert, ein Anflug von Bartstoppeln ziert sein Kinn mit dem Grübchen in der Mitte. Seine Hände sind schlank und braun gebrannt, ganz so, als ob sie zupacken und streicheln könnten, sein Lächeln wirkt ein bisschen spöttisch und total sexy. Irgendwie könnte mein Gegenüber gut einer von diesen zerknitterten Tatort-Kommissaren sein, die in den Bars und Spielhöllen einer Großstadt am Rhein ermitteln, ich würde mich jedenfalls widerstandslos verhaften lassen. Aber hier und jetzt? In der Piano-Bar, bei diesem peinlichen Speeddating? Was sage ich bloß? Ich starre auf die Liste, um meine Fassung wiederzufinden.

»Was machen Sie beruflich?« Total bescheuert, ich weiß, aber wie soll ich sonst beginnen?

»Also, ich finde diese Fragen ja total bescheuert«, sagt der Mann. »Sie doch auch, oder? Ich heiße übrigens Werner. Und Sie?«

»Viktoria«, sage ich.

So oft habe ich meinen altmodischen Namen schon genannt, bei dem alle älteren Semester sofort an diese dicke englische Queen mit dem Spitzenhäubchen denken und alle jüngeren an die spargeldürre Mrs Beckham oder die schwedische Kronprinzessin, was auch nicht viel besser ist. Mittlerweile bin ich schon fast versöhnt mit ihm, nur in einem Moment wie diesem würde ich einfach alles dafür geben, um »Isabelle« hauchen zu können oder »Raffaela« oder wenigstens …

»Viktoria, was für ein schöner Name«, sagt Werner mit den sexy Augenfältchen. »Endlich mal nicht Gina-Marie oder Isabelle oder wie die Frauen heutzutage alle heißen. Das klingt doch schon nach Silikon, finden Sie nicht auch?«

Ich starre auf den Mann wie auf eine Erscheinung. Vielleicht gehört er ja zum Team von Speeddating für Middle-Ager und wird von Frau Marion jeden Samstagabend bezahlt, um sich als Lockvogel an den Tisch einsamer Frauen zu setzen. Anders kann ich es mir einfach nicht erklären.

Der Kellner kommt und stellt ein Bier auf den Tisch.

»Möchten Sie auch etwas trinken?«, fragt mein Gegenüber. »Von diesen ganzen Fragen und Antworten bekommt man ja eine völlig trockene Kehle, na, wie wär’s?«

»Vielen Dank, vielleicht etwas später«, sage ich und muss mich erst räuspern wie ein aufgeregter Teenager.

»Und, wo findet man Sie, wenn Sie nicht gerade bei einem solchen …«, setzt mein Gegenüber an, aber die unmögliche, unsympathische, entbehrliche, nur auf ihren Gewinn bedachte, raffgierige Frau Marion klatscht schon wieder in die Hände, ich könnte ihr den dünnen Hals umdrehen. Wie soll denn da ein persönliches Gespräch zustande kommen, bei dieser Hast? Oder hat sie etwa das aufkeimende Knistern zwischen Werner und mir bemerkt und möchte sich dieses Prachtstück lieber selber angeln, dieser Person traue ich jeden Trick zu! Erbost funkle ich Frau Marion an, aber die lächelt ungerührt in die Runde.

»Darf ich bitten, meine Herren? Die Hälfte der Zeit ist bereits vorüber und wir wollen uns doch alle miteinander bekannt machen, nicht wahr? Und bitte nicht die Bewertung des letzten Gesprächs vergessen!«

Werner, von dem ich verflixterweise so gut wie nichts erfahren habe, steht auf, mit einem ganz eindeutig bedauernden Lächeln, und deutet eine kleine Verbeugung an.

»Hat mich sehr gefreut, Viktoria!«

»Mich auch. Wirklich, also …«

Dann entschwindet er lässig zwischen den Tischen, mein Kommissar, bevor ich noch weitere Geständnisse ablegen kann. Ich seufze tief empfunden, dann beuge ich mich über die Liste und male gewissenhaft ein dickes Kreuz über den freundlichen Smiley von Runde drei. Ob ich den Smiley noch einkringeln soll? Oder ein Rufzeichen danebensetzen? Nur zur Sicherheit, damit nicht womöglich …

»Hallöchen, ist hier ausnahmsweise noch frei, haha?«

Ein Scherzkeks! Und das unmittelbar nach dem tollsten männlichen Wesen, das mir seit gefühlten hundert Jahren über den Weg gelaufen ist. Ich nicke wenig enthusiastisch, und ein ebenfalls männliches Wesen, das schwitzt und schnauft, lässt sich auf den Sessel gegenüber plumpsen.

»Hallöchen, ich bin der Gottlieb! Und du, schöne Frau?«

Irgendwie überstehe ich Gottlieb und einen gewissen Anton Hoppenstedt und Herrn Fränkel, der so blendend weiße Zahnkronen besitzt, dass ich ihn einfach nach seinem Zahnarzt fragen muss, was Herrn Fränkel etwas irritiert. Dann sind alle sechs Runden überstanden, ich habe fünfmal den griesgrämigen Smiley angekreuzt und einmal den lachenden, diesen außerdem mehrmals umrandet und mit Pünktchen verziert. Frau Marion sammelt die Zettel ein und lädt uns alle auf ein Glas Sekt an der Bar ein, dort stehen wir in Grüppchen zusammen und versuchen, so zu tun, als ob dies ein ganz gewöhnlicher Firmengeburtstag wäre. Der arme Werner steht eingekeilt zwischen drei Frauen, die ihn ungeniert anhimmeln und anschwärmen wie Backfische anno dazumal, einfach peinlich! Einmal lächelt er mir zu, über alle Köpfe hinweg, ich lächle zurück und habe plötzlich ein Gefühl, als ob meine Kniescheiben aus Grießbrei wären. Dann erscheint wieder die unvermeidliche Frau Marion und klatscht in die Hände, ich komme mir langsam vor wie im Kindergarten.

»Liebe Freunde, darf ich noch ein letztes Mal um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, zwitschert Frau Marion. »Ich denke, Sie alle haben die wunderbar entspannte und durchaus auch erotisch aufgeladene Atmosphäre dieses besonderen Abends verspürt. Und, wie man an kleinen Gesten und verstohlenen Blicken sehr wohl bemerken konnte, hat sich hier mehr als ein Paar gefunden, da bin ich mir ganz sicher. Wenn Sie diese Veranstaltung also auch so sehr genossen haben wie ich, dann empfehlen Sie uns doch weiter! Oder schenken Sie am besten gleich Ihrer besten Freundin oder dem einsamen Bürokollegen zu seinem Geburtstag einen aufregenden, vielversprechenden und Herzklopfen garantierenden Speeddating-Abend! Aber ich möchte Sie nun nicht weiter auf die Folter spannen. Sie können selbstverständlich gerne noch bei einem Glas Sekt plaudern, aber erst zur Verabschiedung erhält jeder Gast seine ganz persönliche Mappe überreicht. Darin befindet sich ein Foto zur Erinnerung und natürlich, denn darum dreht sich ja alles, nicht wahr, eine Liste mit den Kontaktdaten jener Interviewpartner, mit denen eine positive Übereinstimmung erzielt werden konnte. Bitte nutzen Sie diese Chance und wagen Sie einen weiteren Schritt. Dann steht Ihrem Glück nichts mehr im Wege, glauben Sie mir! Am nächsten Wochenende bin ich bereits wieder gebeten worden, als Trauzeugin zu fungieren, für ein Paar, das sich hier bei uns in der Piano-Bar kennengelernt hat. Allora! Bonne chance! Good luck! Mazel Tov!«

Endlich, unsere Gastgeberin beendet augenzwinkernd ihre Ansprache. Mit einem hat sie allerdings recht, meinem Glück steht praktisch nichts mehr im Wege. Wer hätte gedacht, dass es doch noch möglich sein kann, den einen zu finden! Denn ich spüre es einfach bis in die Haarspitzen, dass die Tage, nun ja, eher die Monate, ach, was heißt Monate, also, ganz ehrlich gesagt, die Jahre des Alleinseins ein Ende gefunden haben. Dieser Abend ist eindeutig der Auftakt zu einem wunderbaren Lebensabschnitt, Werner und ich werden durch die Altstadt bummeln und in den Parks durch raschelndes Laub spazieren, wir werden in kleinen Cafés sitzen und über unsere Lieblingsfilme reden und aus unserem Leben erzählen, vielleicht könnten wir ja sogar schnell entschlossen übers Wochenende nach Venedig fahren und dort … doch halt, schön auf dem Teppich bleiben, Viktoria. Jetzt heißt es erst einmal Adressen und Handynummern austauschen. Ich bin ja schon sooo gespannt, wie und wo Werner lebt, in einer Dachwohnung mitten in der Stadt oder in einem charmant verlotterten Haus im Grünen? Ob er wohl gerne kocht? Bestimmt hat er einen Hund, irgendwie würde das gut zu ihm passen!

Ich stelle mein Sektglas ab und wende mich möglichst beiläufig dem Ausgang zu, wo sich bereits fast alle Teilnehmer um Frau Marion drängen. Die teilt Kuverts aus und Küsschen zum Abschied, endlich ist die Atmosphäre locker und entspannt, es wird geschäkert und gelacht. Auch ich bekomme mein Küsschen samt Kuvert und halte diskret Ausschau nach meiner Eroberung. Werner unterhält sich gerade angeregt mit Kurt, aber wir werden uns ja sowieso in Kürze wiedersehen, also schlendere ich summend nach draußen, in diesen rosagoldenen Abend.

An der nächsten Ecke halte ich es einfach nicht länger aus. Ich reiße das Kuvert auf und entfalte das Papier, meine Hände zittern sogar ein bisschen.

Glückwunsch, es hat gefunkt! Folgende Teilnehmer würden Sie gerne näher kennenlernen: Anton Hoppenstedt und Waldemar Fränkel. Sie erreichen die Herren unter folgenden Nummern …

Ich starre auf den computerbeschriebenen Zettel, dann drehe ich ihn um und schüttle das Kuvert.

Nichts.

Nichts!

Außer einem völlig überflüssigen Foto von Frau Marion, die ein verdutztes Pärchen mit Reis bewirft. Also, es kann sich nur um einen Irrtum handeln. Hier liegt ganz eindeutig eine Verwechslung vor! Ausgerechnet Waldemar Fränkel mit seinen Zahnkronen wie sanitärweiße Butterkekse will mich näher kennenlernen? Und an diesen Anton Hoppenstedt kann ich mich zum Glück kaum mehr erinnern, was soll das? Wo ist die Telefonnummer von Werner? Von dem ich nicht einmal den Familiennamen weiß, wie mir schon wieder ziemlich beklommen auffällt. Was soll ich bloß tun? Ich muss natürlich zurückgehen und das Missverständnis aufklären. Ganz bestimmt steht Werner bereits außer sich in der Piano-Bar und fordert die Herausgabe meiner Daten!

Ich mache kehrt und eile den Weg zurück, Kurt kommt mir entgegen mit der Rothaarigen und winkt mir zu, ich winke hastig zurück. In der Piano-Bar scheint gerade ein kleiner Tumult im Gange zu sein, drei Frauen drängen sich um Frau Marion und reden heftig gestikulierend auf sie ein.

»Das glaube ich einfach nicht«, schimpft eine aufgebrezelte Blondine im limonengrünen Hosenanzug. »Zwischen uns hat soo eine Übereinstimmung, soo eine unausgesprochene Harmonie geherrscht. Also das kann nicht sein, dass er mich nicht angekreuzt hat, das ist einfach un-mö-glich!«

»Aber bitte, so beruhigen Sie sich doch, meine Damen«, wehrt Frau Marion mit erhobenen Händen ab. »Bei uns geht es wirklich hochseriös zu, bitte glauben Sie mir, wir werten die Daten auf das Sorgfältigste aus. Wenn der betreffende Herr Sie nicht auf seiner Liste hat, dann tut es mir sehr leid. Aber Sie wissen doch, dass Gefühle auch täuschen können, das ist nun leider eine bittere Erfahrung, die wir alle immer wieder machen müssen. Aber durch unsere Methode werden Sie wenigstens davor bewahrt, sich falsche Hoffnungen zu machen. Bitte glauben Sie mir, oft kann gerade auch ein unscheinbarer Gesprächspartner durchaus eine vielversprechende …«

»Aber dieser Werner war ganz eindeutig interessiert«, heult die aufgebrezelte Blondine, strassbesetzte Kreolenohrringe schaukeln dazu wie wild um ihr Gesicht. »Das habe ich mir nicht eingebildet, verdammt!«

Die anderen beiden Frauen nicken heftig.

Ich stehe da wie angewurzelt. Ob das alles nur ein böser Traum ist? Wenn nicht, dann kann ich Heidi und Babs nur abraten, mir heute noch über den Weg zu laufen. In solch einer peinlichen Situation bin ich zum letzten Mal gewesen, als mir bei dieser französischen Theatersensation mitten im zweiten Akt ein Eukalyptusbonbon in die falsche Kehle gerutscht ist und ich mich röchelnd von meinem Platz an die frische Luft kämpfen musste. Ein paar Hohlköpfe im Publikum haben allen Ernstes geglaubt, das gehöre zum Stück, und meiner Darbietung sogar applaudiert. Apropos frische Luft. Ich muss nach draußen!

Dann stehe ich wieder vor der Piano-Bar. Ein kalter Wind pfeift, Menschen drängen sich vor dem Kinoeingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Zum Glück ist kein Teilnehmer unseres Speeddatings mehr zu sehen, alle scheinen sich irgendwie in Luft aufgelöst zu haben, wenigstens die Männer. Nur ich stehe da wie ein Mauerblümchen. Willkommen im Club der verschmähten Frauen, liebe Viktoria. Langsam setze ich mich in Bewegung, aber wohin bloß? Nach Hause kann ich einfach nicht gehen, Heidi und Babs lauern sicher schon auf einen enthusiastischen Bericht samt Erfolgsbilanz, wie es mir mit ihrem ach so originellen Geburtstagspräsent ergangen ist. Hätten sie mir doch einfach haferschleimfarbene Stützstrumpfhosen geschenkt, das wäre passender gewesen als dieses gut gemeinte Debakel!

Tapfer schleppe ich mich bis ans Ende der Straße, die in einen Platz mündet mit einem plätschernden Brunnen in der Mitte. Ein Mann mit Pudelmütze auf dem Kopf döst auf einer der Bänke vor sich hin, eine alte Frau füttert Tauben, die aufgeregt um ihre Füße gurren. Hinter dem kleinen Park scheint warmes Licht aus den Fenstern eines Lokals. »Immervoll« heißt das Restaurant, in dem ich im Frühling einmal zum Abendessen war, mit Babs, das Vitello tonnato hat wirklich köstlich geschmeckt. Bloß, nach kaltem Kalbfleisch mit Thunfischsoße ist mir jetzt kein bisschen zumute, aber ein Glas Wein wäre nicht schlecht, irgendwie fühle ich mich doch ziemlich zittrig.

Tapfer betrete ich das Lokal und meide den Blick auf die voll besetzten Tische voller Paare und gut gelaunter Runden, zum Glück sind an der Theke noch einige Hocker frei. So selbstbewusst wie möglich lasse ich mich ganz am Rand nieder.

»Was darf es sein?«, fragt der Mann hinter der Theke.

»Ein Glas Rotwein, bitte.«

»Blaufränkischen? Oder vielleicht einen Barolo?«

Ach, warum nicht ein Glas zur Erinnerung an bessere Tage an südlichen Stränden, als glutäugige Giovannis und Marcellos mir noch tiefe Blicke zuwarfen und mich zum Nacktbaden im Mondschein überreden wollten?

»Einen Barolo, bitte.«

Ein Papierserviettchen wird vor mich hingelegt, kurz darauf ein Glas mit dunkel schimmerndem Wein daraufgestellt. Ich probiere einen tiefen Schluck, der Wein schmeckt ganz wunderbar, samtig, wie nach einem Abend in einer kleinen Trattoria mit rot karierten Tischtüchern und einem Wirt, der die Pfeffermühle über den Linguini al pescatore schwenkt.

»Ein schöner Abend, nicht wahr?«, sagt der Mann hinter der Theke.

»Allerdings«, murmle ich und starre in mein Glas.

Der Mann verzieht sich ans andere Ende der Theke.

Zwei Barolos später raffe ich mich endlich zum Gehen auf. Auf dem Heimweg begegnen mir nur eng umschlungene Pärchen und ein streunender Hund. »Es ist die verzeihliche Eitelkeit einsamer Menschen, zu denken, sie wären mit ihrem Problem ganz allein auf der Welt.« Diesen klugen Spruch habe ich vor Jahren in einem Kalender gefunden und nach meiner Scheidung an die Küchenwand gepinnt. Aber kluge Sprüche richten dich nicht auf, wenn du dich verlassen fühlst spät in der Nacht. Wenn du die Wärme eines anderen Körpers vermisst. Wieso ist es nur so verdammt schwer, den Richtigen zu finden? Bin ich zu anspruchsvoll, hänge ich immer noch meinen Jungmädchenträumen nach? Vor Jahren ist ja eine dieser amerikanischen Statistiken, die die Welt nicht braucht, auch hierzulande von allen Magazinen verbreitet worden: Frauen über 40 würden eher einem Attentäter in die Hände fallen, als einen Mann zu finden! Das habe ich damals nicht unkomisch gefunden, ich muss es leider gestehen. 40 ist mir vorgekommen wie eine tropische Krankheit, die mich niemals erwischen würde. Und heute? Seufzend lege ich den Heimweg zurück, fröstelnd schließe ich die Wohnungstür auf. In der Küche futtere ich im Stehen eine Packung eigenartig schmeckender Weinbrandkirschen in Zartbitterschokolade leer. Dann stopfe ich die Schachtel zum Altpapier und merke, dass die Weinbrandkirschen schon seit einem halben Jahr abgelaufen waren. Ich gehe wohl besser ins Bett.

*

Am nächsten Morgen brummt das Handy auf meinem Nachttisch so penetrant, als ob ich mich in einem Chatroom für einsame Herzen eingeloggt und als weizenblonde Stewardess der Scandinavian Airlines ausgegeben hätte. Aber es sind natürlich nur Heidi und Babs, wer sonst, die im Minutentakt anrufen, um meine Dankeshymnen entgegenzunehmen. Ich stelle den Klingelton leiser und stopfe das Handy unter ein Kissen, aber das Gebrumm ist ja doch zu vernehmen und wird auch nicht aufhören, bis die beiden Nervensägen meine Stimme gehört haben. Also nehme ich seufzend und gähnend den nächsten Anruf entgegen, der himmlische Zufallsgenerator hat sich für Babs entschieden.

»Hallo.«

»Viktoria! Ich habe ja so oft an dich gedacht! Komm, erzähl schon! Wie war es?«

»Ganz nett.«

»Ganz nett? Was soll denn das heißen?« Babs verschluckt sich beinahe vor lauter Aufregung und Empörung über meine Gemütsruhe. »Geht das vielleicht auch ein wenig blumiger? Jetzt lass dich nicht so bitten, ja?«

Also erstatte ich einen ungeschönten Bericht des vergangenen Abends, von Frau Marion über Kurt im karierten Sakko und den Grafen samt Cembalo bis zum vermeintlichen Höhepunkt namens Werner, und erspare mir auch das triste Finale nicht. Babs untermalt meine Darbietung mit mitfühlenden Geräuschen und Ausrufen: Tssstsss, das klingt ja super, nein wirklich, also das darf doch nicht wahr sein, dieser, dieser Schuft!

Dann schweigen wir beide, ich wackle mit den Zehen unter der geblümten Steppdecke. Kalte Füße sind eines meiner hartnäckigsten Probleme, deshalb pflege ich auch zu Wärmflaschen ein fast erotisches Verhältnis. Im vergangenen Winter ist eine allerdings mitten in der Nacht aufgeplatzt, seither vertraue ich lieber auf dicke graue Wandersocken. In den Herz-Schmerz-Romanen kuschelt sich die Heldin am Schluss ja fast immer an ein männliches Wesen, das Wärme abgibt wie ein Bollerofen, aber zu meinen eisigen Zehen sind schon mehrere Weichlinge sehr entschieden auf Distanz gegangen. Dieser Werner hat allerdings nicht so ausgesehen, als ob er sich von solchen Lappalien hätte abschrecken lassen, seufz!

»Viktoria! Es tut mir ja soo leid. Das haben wir nicht gewollt! Aber du, sei nicht traurig, diese Frau Marion hat ganz bestimmt recht. Womöglich ist einer von diesen anderen Verehrern von dir ein total netter Typ, oder vielleicht sogar alle beide, und du weißt nach ein paar Wochen gar nicht mehr, für wen du dich entscheiden sollst!«

»Hmmm, hmmm …«

»Und dieser Werner klingt doch ganz eindeutig nach einem von diesen neurotischen Typen, über die wir in unserem Alter einfach hinweg sein sollten. So ein bindungsunfähiger Psycho, der die Frauen anbaggert und dann eiskalt fallen lässt. Die kennt man doch zur Genüge!«

»Ausgesehen hat er jedenfalls wie so ein Tatort-Kommissar aus dem Ruhrgebiet, na, du weißt schon. Wie Schimanski, nur jünger und nicht so zerknittert. Aber eben irgendwie sexy und total …«

»Und so einer hat dir gefallen? Na gut, mir wahrscheinlich auch. Aber trotzdem, sei froh, dass nicht mehr daraus geworden ist, dieser Kerl klingt doch auf Anhieb nach Kummer und Verwicklungen und kompliziertem Sex, das spüre ich einfach!«

»Wo genau?«

Wir kichern und endlich fühle ich mich ein klein bisschen besser.

»Lachsbrötchen und ein Glas Prosecco zur Versöhnung?«, fragt Babs ganz flehentlich.

»Ich bin doch nicht böse, spinnst du? Wegen so einem Wicht, also ehrlich! Aber du, ich bleibe heute wirklich lieber zu Hause. Fips ist bei irgend so einer Computermesse und da habe ich endlich mal die Wohnung für mich allein und werde nicht mit Hip-Hop zugedröhnt. Und das Buchregal im Wohnzimmer gehört schon längst abgestaubt und ausgemustert, diese ganzen Kohlsuppen-träum-dich-schlank-Ratgeber kann ich einfach nicht mehr sehen!«

»Wem sagst du das! Ich sollte endlich meine Sprachkurse zum Müll tragen. Portugiesisch für den Urlaub, Spanisch in zwei Wochen, darauf falle ich immer wieder rein. Glaubst du, man kann die irgendwelchen wohltätigen Organisationen spenden?«

»Na ja, ich weiß nicht so recht. Portugiesisch für Obdachlose?«