Pontius Pilatus - Jens Herzer - E-Book

Pontius Pilatus E-Book

Jens Herzer

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Beschreibung

Was um alles in aller Welt hat ein römischer Provinzpräfekt im Glaubensbekenntnis der Kirche zu suchen? Wer war dieser Pontius Pilatus, eingeschrieben in das "kulturelle Gedächtnis" des Christentums? Weit über seine historische Funktion als römischer Beamter im Räderwerk der römischen Verwaltung hinaus ist sein Name im Bekenntnis untrennbar mit dem Todesschicksal Jesu verbunden, das nach dem Glauben der frühen Christen das Heil für die Welt bedeutet. Im Neuen Testament und darüber hinaus begegnet Pilatus als eine vielschichtige Persönlichkeit. Jens Herzers ausgezeichnete Studie bringt vor allem die Spannung zwischen der historischen Person und ihrer Einbindung in eine vom Gottesglauben geprägte Deutung der Geschichte Jesu zur Geltung. Ist Pilatus in dieser Spannung Henker und Heiliger zugleich? Es wird gezeigt, in welcher Weise die Reminiszenz an Pilatus gleichsam zur "Erdung" des christlichen Glaubens beiträgt. [Pontius Pilatus] How on earth could the governor of a rather small Roman province obtain a prominent position in the Christian creed? Who was this Pontius Pilate, now inscribed in the "cultural memory" of Christianity? He was not only a Roman official in the administrative apparatus of the Roman Empire responsible for the crucifixion of Jesus, but his name is also inseparably bound to Jesus' death, which for Christians is the eschatological event of the world's salvation. Is Pilate a hangman and a saint at the same time? The New Testament presents him as a multifaceted personality. This book elaborates various aspects of Pilate's characterization both as a historical figure and with regard to his place in a Christian reading of the Jesus story. It seeks to demonstrate in which way the memory of Pilate contributes to a grounded understanding of the Christian faith.

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Biblische Gestalten

Herausgegeben von Christfried Böttrich und Rüdiger Lux

Band 32

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT

Leipzig

Jens Herzer

Pontius Pilatus

Henker und Heiliger

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT

Leipzig

Jens Herzer, Jahrgang 1963, ist Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Seine Forschungsschwerpunkte sind Paulus und die paulinische Briefliteratur, die Theologie und Hermeneutik des Neuen Testaments sowie die Geschichte und Literatur des Frühjudentums.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig Printed in Germany

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

Cover: Friedrich Lux, Halle/Saale

Satz: Steffi Glauche, Leipzig

ISBN 978-3-374-06065-8

www.eva-leipzig.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

A Einführung

1.Eine seltsame Berühmtheit

2.Henker und Heiliger?

3.Die Quellenlage

B Darstellung

1.Pontius Pilatus – römischer Offizier und Präfekt von Judäa

1.1Herkunft, Familie, Stand

1.2Karriere im Dienste Roms

1.3Herodes und seine Söhne

1.4Pilatus und die Lage in Judäa

1.5Widerstand gegen Rom

1.6Ein loyaler Beamter

1.6.1Die Amtszeit des Pilatus

1.6.2Pilatus, Kaiphas und eine Wasserleitung

1.6.3Pilatus und Herodes der »Fuchs«

1.6.4Ränke und Intrigen

2.Pilatus bei Philon von Alexandrien und Flavius Josephus

2.1Ein kurzer Überblick

2.2Josephus – Priester, Offizier, Geschichtsschreiber

2.3Philon – Philosoph und Politiker

2.4Skandale in Jerusalem

2.4.1Pilatus und die Feldzeichen bei Josephus

2.4.2Pilatus und die Weiheschilder bei Philon

2.5Loyaler Beamter oder grausamer Herrscher?

2.6Pilatus und Jesus im Testimonium Flavianum

3.Pilatus und die Geschichte Jesu

3.1Pilatus und der Prozess gegen Jesus

3.1.1Jesus als politischer Provokateur

3.1.2Hohepriesterliche Interessen

3.1.3Das Verhör durch Kaiphas

3.1.4Die Verhandlung vor Pilatus

3.1.5Das Urteil des Pilatus

3.2Der literarische Pilatus der Evangelien

3.2.1»Bist du der König der Judäer?«

3.2.2»Hände in Unschuld«

3.2.3»Ich finde keine Schuld an diesem Menschen«

3.2.4»Was ist Wahrheit?«

3.3Der Prozess, der keiner war, und die »Schuld« am Tod Jesu

4.Pilatus in der Paulustradition

C Wirkung

1.Pilatus in altkirchlichen Überlieferungen

Exkurs: Die Frau des Pilatus

2.Pilatuslegenden

3.Märtyrer und Heiliger

4.Pilatus in Kunst, Literatur und Film

D Verzeichnisse

Literaturverzeichnis

1.Quellen

2.Gesamtdarstellungen

3.Kommentare und Einzeldarstellungen

4.Belletristik und Sachbücher

Abbildungsnachweis

In memoriam Christian Wolff

VORWORT

Es wäre durchaus angemessen, dieses Büchlein über Pontius Pilatus mit den Worten zu beginnen, die der Evangelist Lukas seinem Evangelium vorangestellt hat: »Nachdem es nun schon viele unternommen haben […]« (Lk 1,1–4). In den letzten 25 Jahren ist viel über den römischen Provinzpräfekten geschrieben worden, der maßgeblich für die Verurteilung und Hinrichtung Jesu verantwortlich war. Das Interesse ist einerseits erstaunlich, handelt es sich doch auf den ersten Blick um eine eher randständige biblische Gestalt, die vielleicht für ein paar flotte Sprichwörter gut war, wenn etwa jemand an Behörden verzweifelt und »von Pontius zu Pilatus laufen« muss. Andererseits hat es gerade der »Heide« Pilatus im Unterschied zu weit bedeutenderen Persönlichkeiten »geschafft«, ins christliche Glaubensbekenntnis aufgenommen zu werden. Mit seinem Platz im Bekenntnis der Kirche wird Pilatus gleichsam im kulturellen Gedächtnis des Christentums verewigt und bekommt eine Bedeutung, die weit über seine historische Funktion als römischer Beamter im Räderwerk der römischen Verwaltung hinausgeht.

In der Erinnerung verbindet sich die Person des Pilatus mit dem Schicksal Jesu von Nazareth. Auf eine zwiespältige Weise hat er Anteil an dessen Todesschicksal, das nach dem Glauben der frühen Christen und der ihnen nachfolgenden Kirche eine universale Bedeutung für das Heil der Welt erlangt hat. Wo immer von Jesus die Rede ist, ist auch von Pilatus die Rede; ein Zusammenhang, der nicht nur im Bekenntnis festgeschrieben ist, sondern über die Jahrhunderte hinweg viele Literaten und Künstler inspiriert hat und immer wieder inspiriert. Bemerkenswert ist die kaum noch zu überblickende Flut von Pilatusromanen in den letzten Jahren. Der hier unternommene erneute Versuch, Pontius Pilatus in seiner geschichtlichen und literarischen Bedeutung zu erfassen, soll vor allem die Spannung zwischen der historischen Person und ihrer Einbindung in eine vom christlichen Gottesglauben geprägte Deutung der Geschichte Jesu zur Geltung bringen.

Es hat lange gedauert, bis das Manuskript fertig gestellt werden konnte. Ich denke dabei nicht zuletzt auch an meinen Vorgänger auf dem Leipziger Lehrstuhl, Werner Vogler (1934–2000), der ursprünglich den Auftrag zu diesem Band in den »Biblischen Gestalten« hatte. Das bereits begonnene Manuskript konnte er wegen seines frühen Todes nicht mehr abschließen.

Zu danken habe ich vielen interessierten Leipziger Studierenden, die sich in Übungen und Seminaren an den historischen und hermeneutischen Erkundungen beteiligt haben, meiner Sekretärin, Frau Sylvia Kolbe, deren Akribie im Korrekturlesen und Bibliographieren immer wieder beeindruckt, sowie Frau stud. Sabrina Lohse, die sie dabei unterstützt hat.

Gewidmet sei das Buch dem Gedenken meines verehrten Lehrers Christian Wolff.

Leipzig, zum Reformationstag 2019 Jens Herzer

A. EINFÜHRUNG

1. EINE SELTSAME BERÜHMTHEIT

Warum um alles in aller Welt ist Pontius Pilatus, der Richter und Henker Jesu, in das christliche Glaubensbekenntnis aufgenommen worden? Die Gestalt des nach Wahrheit suchenden Pilatus hat durch ihre Verschränkung mit der Geschichte Jesu seit jeher fasziniert und vor allem die fromme Phantasie und Legendenbildung angeregt. Dass der Name des römischen Präfekten spätestens seit dem dritten, vielleicht schon früher im zweiten Jahrhundert in gottesdienstlichen Bekenntnissen erscheint und dadurch bis heute in nahezu jedem christlichen Gottesdienst an ihn erinnert wird, ist allerdings durchaus keine Selbstverständlichkeit. Neben Maria, der Mutter Jesu,1 und natürlich Jesus selbst2 ist er die einzige historische Gestalt der biblischen Geschichte, die eine so prominente und zugleich seltsam unpassend anmutende Würdigung bekommt.3 Pilatus ist zudem der einzige »Heide«, also eine nichtjüdische und nichtchristliche Persönlichkeit, die in die Buchreihe der »Biblischen Gestalten« aufgenommen wurde.

Spricht man Christinnen und Christen in den Gemeinden auf die Bedeutung des Pilatus im Bekenntnis an, ist nach anfänglichem Staunen über eine solche Frage die Verwunderung und gelegentlich auch die Verunsicherung groß über etwas, was man mitzusprechen gewohnt ist: »Gelitten unter Pontius Pilatus«. Was also mag jene bewogen haben, die in der größer werdenden Kirche und angesichts des Aufkommens ganz unterschiedlicher Glaubensrichtungen ein Bekenntnis formuliert haben, in dem nicht nur die wichtigsten Aspekte des christlichen Glaubens auf eine kompakte und zum Lernen geeignete Weise festgehalten werden, sondern auch dem Pilatus eine Memoria, ein Gedenken und einen Gedenkort gegeben wird?

Die Berechtigung dieser Frage wird an dem Umstand deutlich, dass der Name des Pilatus nicht von Anfang an Bestandteil der frühen Bekenntnisse war.4 Eine der ältesten Bekenntnisformulierungen zitiert bereits der Apostel Paulus im ersten Korintherbrief:

»3 Denn ich habe euch unter den ersten Dingen weitergegeben, was auch ich empfangen habe, (nämlich:) dass Christus gestorben ist für unsere Sünden gemäß den Schriften 4 und dass er begraben wurde und dass er auferweckt wurde am dritten Tag gemäß den Schriften 5 und dass er dem Kephas erschienen ist, danach den Zwölf« (1Kor 15,3–5).

Pilatus spielt hier noch keine Rolle. Erst deutlich später in der Apostelgeschichte des Lukas deutet sich eine entsprechende Entwicklung an.5 In einem Gemeindegebet, das bereits Bekenntnischarakter besitzt, wird Pilatus als einer derer genannt, die Jesus gemäß Gottes vorherbestimmten Heilsratschlusses getötet haben:

»26 ›Die Könige der Erde traten herzu und die Herrscher taten sich zusammen gegen den Herrn und seinen Gesalbten.‹ [Ps 2,2] 27 Sie nämlich taten sich wahrhaftig zusammen in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Völkerstämmen Israels, 28 um zu vollstrecken was deine Hand und dein Entschluss vorherbestimmt hat, dass es geschehen soll« (Apg 4,26–28).

Das ist noch nicht die Formel »gelitten unter Pontius Pilatus« des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, aber doch wohl – zumal durch den im Neuen Testament seltenen Gebrauch des vollständigen Namens – eine heilsgeschichtliche Deutung, die in diese Richtung weist.

Obwohl ebenfalls noch kein Bekenntnistext, steht der späteren Credo-Tradition die Aussage in 1Tim 6,13 nahe, Christus selbst habe »vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis bezeugt«. Der 1.Timotheusbrief gehört zu den Spätschriften des Neuen Testaments aus dem Anfang des 2. Jh., eine Zeit, in der die Bekenntnisbildung in der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Lehrauffassungen zunehmend Fahrt aufnimmt und schließlich in der Formel des Apostolikums eine feste Prägung erhält.6 Bei der engen Verbindung des Leidens und Sterbens Jesu mit Pontius Pilatus geht es insbesondere um die Abwehr von theologischen Positionen, die das Menschsein des Erlösers bestritten haben. Als göttliches Wesen – so spekulierten manche – habe dieser weder leiden noch sterben können und habe deshalb nur »scheinbar« einen menschlichen Leib angenommen, den er vor der Passion wieder verließ. Gegen diesen sog. »Doketismus« (von griech. δοϰεῖν dokeīn – »scheinen«) betont bereits 1Tim 2,5 die Unterscheidung, es gebe nur einen Gott, und – davon zu unterscheiden – nur einen Vermittler der Erlösung zwischen Gott und Mensch, nämlich »den Menschen Christus Jesus«. Theologisch geht es dabei um die innerweltliche, historische Verortung des Christusgeschehens, die einer einseitigen mythischen Deutung des Erlösers und des Erlösungsgeschehens entgegensteht.7 Anhaltspunkte dafür finden sich auch in den Briefen des Bischofs Ignatius von Antiochien (wahrscheinlich gegen Ende des 2. Jh.):

»Verstopfet daher eure Ohren, sobald euch einer Lehren bringt ohne Jesus Christus, der aus dem Geschlechte Davids, der aus Maria stammt, der wahrhaft geboren wurde, aß und trank, wahrhaft verfolgt wurde unter Pontius Pilatus, wahrhaft gekreuzigt wurde und starb vor den Augen derer, die im Himmel, auf der Erde und unter der Erde sind, der auch wahrhaft auferweckt wurde von den Toten, da ihn sein Vater auferweckte; denn nach diesem Vorbild wird uns, die wir ihm glauben, sein Vater auch so auferwecken in Christus Jesus, ohne den wir das wahre Leben nicht haben« (An die Trallianer 9).8

Hier sind wesentliche Elemente des Apostolischen Glaubensbekenntnisses bereits vorgeprägt. Etwa zur gleichen Zeit umreißt auch Irenäus, der Bischof von Lyon (gest. um 200 n. Chr.) in seiner Streitschrift »Gegen die Häresien« den Glauben der Christen folgendermaßen:

»Sie glauben an einen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde und allem, was darin ist, durch Jesus Christus, Gottes Sohn, der aufgrund unermesslicher Liebe gegenüber seinem Werk auf sich nahm, von einer Jungfrau geboren zu werden, und so durch sich selbst den Menschen mit Gott vereinte, der auch unter Pontius Pilatus gelitten hat und auferstand und in Herrlichkeit aufgenommen wurde, der kommen wird als Retter derer, die gerettet werden und als Richter derer, die gerichtet werden« (III 4,2).9

Unabhängig von einer antidoketischen Ausrichtung geht es bei der Frage nach der Bedeutung des Pilatus im christlichen Glaubensbekenntnis um die Verankerung des Christusgeschehens in den Zeitläuften des Weltgeschehens. Dadurch werden diese ihrer Kontingenz, d. h. ihrer historischen Zufälligkeit, gleichsam enthoben und gewinnen in der vom Christusglauben bestimmten Geschichtsdeutung eine heilsgeschichtliche Bedeutung mit einem universalen Anspruch.10 Bei dem Evangelisten Lukas beispielsweise wird dieses heilsgeschichtliche Interesse daran erkennbar, dass er bereits am Beginn seiner Geschichte vom Gottessohn Jesus die Erzählung in den politischen Verhältnissen der Zeit verankert, zu denen explizit auch die »Statthalterschaft des Pontius Pilatus in Judäa« (Lk 3,1) gehört.

Die Verbindung des Christusmartyriums mit demjenigen, der als römischer Präfekt Judäas die historische Verantwortung dafür trägt, ist also unter Maßgabe des Bekenntnisses neben 1Tim 6,13 in der Literatur des 2. Jh. einigermaßen fest verankert. An der Wende vom 2. zum 3. Jh. bezeugt der lateinische Kirchenvater Tertullian die Form einer regula fidei, einer »Glaubensnorm«, die dem apostolischen Bekenntnis bzw. seiner Vorform im römischen Bekenntnis11 sehr nahe steht und bis weit ins 2. Jh. zurückreicht:

»Die Glaubensregel ist durchaus nur eine; sie allein ist unbeweglich und unverbesserlich, nämlich dass man glaube an einen einzigen, allmächtigen Gott, den Schöpfer der Welt, und seinen Sohn Jesus Christus, der geboren ist aus Maria, der Jungfrau, gekreuzigt unter Pontius Pilatus, am dritten Tage wieder auferweckt von den Toten; aufgenommen in den Himmel, sitzt er jetzt zur Rechten des Vaters, um wieder zu kommen zu richten die Lebendigen und die Toten, infolge der Auferstehung auch des Fleisches« (Tertullian, Über die Verschleierung der Jungfrauen 1,4 f.).12

Tertullian war es schließlich auch, der von Pilatus behauptet, er sei »schon in seinem Innersten ein Christ« gewesen (Verteidigung der christlichen Religion 21).

2. HENKER UND HEILIGER?

Damit sind wir bei der Frage, die der Titel dieses kleinen Büchleins über einen römischen Beamten aufgibt. Ist Pilatus Henker und Heiliger zugleich, weil er als Richter Jesu mit seinem Urteil und dem Befehl zur Hinrichtung – wenn auch unwissentlich – zum Heil der Welt maßgeblich beigetragen hat? Dass Pilatus Jesus zum Tod verurteilt hat und dieses Urteil auch vollstrecken ließ, daran besteht kein Zweifel. Aber lässt sich von ihm auch sagen, dass er durch seine Tat am Heilswerk Gottes beteiligt war? Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat dies in einem Essay kürzlich wieder betont und dabei auf die gleichzeitige Illegitimität des Pilatusurteils hingewiesen.13 Auch die koptisch-or-thodoxen (alexandrinisch-ägyptischen) Christen sind davon überzeugt und verehren Pilatus als christlichen Märtyrer oder gar – wie in der autokephalen äthiopisch-orthodoxen Kirche – als Heiligen.14

Auch die Bezeichnung »Henker« mag manchem übertrieben erscheinen, hat doch Pilatus mit Sicherheit nicht selbst Hand angelegt bei der Kreuzigung Jesu. Bekannt ist er im Gegenteil sogar als derjenige, der demonstrativ »seine Hände in Unschuld wäscht« – ein geflügeltes Wort, das auf die Pilatusdarstellung im Matthäusevangelium zurückgeht (Mt 27,24).15 Aber »unschuldig« am Tod Jesu ist Pilatus natürlich keineswegs. Auch wenn die Frage, wer in welcher Weise für den Tod Jesu verantwortlich war, recht komplex ist,16 so war doch Pilatus als römischer Befehlshaber in Jerusalem der Einzige, der ein Todesurteil fällen und auch vollstrecken lassen konnte.

Ansätze einer Reflexion über die heilsgeschichtliche Bedeutung des Pilatus sind bereits im Neuen Testament zu finden. So ist es beispielsweise nach der oben zitierten Stelle in Apg 4,28 Gottes Ratschluss, dem auch das Handeln der Gegner Jesu letztlich unterworfen ist. Es handelt sich hierbei um ein Gebet, das zwar noch kein Bekenntnis ist, aber doch schon eine reflektierende Tendenz aufweist. Darin verbindet sie das Schicksal Jesu mit dem Handeln der Mächtigen und weist dieser Verbindung eine besondere Bedeutung zu, indem sie mit ihrem Vorgehen gegen Jesus »vollstrecken, was deine Hand [gemeint ist Gott] und dein Entschluss vorherbestimmt hat, dass es geschehen soll«. Die Bezüge zu Pilatus in der Apostelgeschichte nehmen nicht nur auf, was Lukas über Pilatus im Evangelium erzählt,17 sondern entsprechen in der Sache auch der kreuzestheologisch-weisheitlichen Deutung der geschichtlichen Ereignisse um den Tod Jesu bei Paulus im ersten Korintherbrief.18

Die christliche Legendenbildung schließlich tut ihr Übriges und führt diese biblische Reflexion über die Bedeutung des Pilatus im Heilsratschluss Gottes fort. Die Vielfalt der Pilatusliteratur ist enorm und zeigt ein erstaunliches Interesse der frommen Phantasie an diesem Mann, der auf so eigentümliche Weise mit der Geschichte Jesu verbunden ist. Das Schicksal des Pilatus wird zunehmend das eines Getriebenen, der letztlich zum Christusjünger, zum Märtyrer und Heiligen wird. Doch um nicht missverstanden zu werden: Der hier vorgelegte Versuch, die biblische Gestalt des Pilatus vorzustellen und seine Bedeutung zu beschreiben, dient weder seiner heilsgeschichtlichen »Rehabilitierung« noch dazu, ihn am Ende als tragische Figur erscheinen zu lassen, deren Schicksal durch das Urteil über Jesus besiegelt worden wäre. Das wäre reichlich anachronistisch. Die Verbindung des Pilatus mit dem Tod Jesu erlangt ihre Bedeutung und Intensität erst in der Rückschau auf die Geschichte Jesu, weil der Tod des von Pilatus verurteilten Propheten aus Nazareth für den Glauben seiner Anhänger eine so große Bedeutung gewann.

Die Ambivalenz der Pilatusfigur im Zusammenhang mit dem Tod Jesu entsteht aus der Spannung zwischen der historischen Verantwortung des römischen Präfekten und der heilsgeschichtlichen Bedeutung seiner Entscheidung, Jesus zum Tod zu verurteilen. Die heilsgeschichtliche Perspektive wirft die Frage nach Gottes Handeln in der Zufälligkeit historischer Geschehensabläufe auf, eine Frage, die im Lukasevangelium der auferstandene Christus selbst in Bezug auf sein Leiden und Sterben aufwirft: »Musste nicht der Christus all dies leiden und in seine Herrlichkeit eingehen?« (Lk 24,26). Dahinter steht letztlich die oft als müßig angesehene, aber in Philosophie und Geschichtswissenschaft seit dem Altertum ernsthaft reflektierte Überlegung: Was wäre geschehen, wenn …? Hier konkret: Was wäre geschehen, wenn Pilatus Jesus nicht gekreuzigt, sondern freigesprochen hätte?19 Besonders in der literarischen Wirkungsgeschichte der Pilatusfigur wurde dieser Aspekt als produktive Anregung aufgenommen.20 Durch die Verankerung des Pilatus im Bekenntnis der Kirche ist seine Ambivalenz als einer für das Schicksal Jesu historisch bedeutsamen Person auch zu einer bleibenden theologischen Herausforderung geworden.

3. DIE QUELLENLAGE

Die allgemeine Bekanntheit des Pilatus in der christlichen Überlieferung und Legende steht in einem umgekehrten Verhältnis zu dem, was man über den »historischen Pilatus« tatsächlich weiß bzw. wissen kann. Diese Problemlage ist bei Persönlichkeiten der Antike allerdings auch nicht ungewöhnlich, sondern für den Historiker eher selbstverständlich. Jede Überlieferung verfolgt stets eigene Interessen und stellt vor allem Persönlichkeiten unter bestimmten Blickwinkeln dar. In antiker Geschichtsschreibung war das Pathos historischer Korrektheit der Absicht zur Darstellung vorbildhafter charakterlicher Züge deutlich nachgeordnet. Der Moralphilosoph Plutarch von Chaironeia (ca. 45–125 n. Chr.) beispielsweise, von Beruf Orakelpriester am Apolloheiligtum im griechischen Delphi und ein Zeitgenosse des Paulus und der frühen Christen, ist neben seinen moralphilosophischen Schriften nicht zuletzt durch biographische Werke – z. B. die sogenannten »Parallelbiographien« – bekannt, in denen er jeweils vergleichbare große Griechen und Römer nebeneinander porträtiert. Dabei hebt er seine literarische Absicht eigens hervor, vergleicht sie mit den Idealen eines Malers und grenzt sie damit vom »bloß« Historischen ab:

»Denn wir schreiben nicht Geschichte, sondern Lebensbilder, und nicht immer wird Tugend oder Untugend in den bemerkenswertesten Taten offenbar, sondern häufig sind es die kleinen Dinge wie ein Wort oder eine Anekdote, die den Charakter deutlich machen […] Wie nun die Portraitmaler die Ähnlichkeiten dem Gesicht und den Zügen um die Augen entnehmen, in denen der Charakter zum Ausdruck kommt, aber weniger auf die anderen Körperteile achten, so sei es uns gestattet, uns mehr auf die Merkmale der Seele zu konzentrieren und daraus die Lebensbeschreibung eines jeden zu gestalten, die großen Dinge aber und die Kriege anderen zu überlassen« (Plutarch, Alexander 1,2–3).

Das erklärte Ziel biographischer Darstellungen ist bildungspädagogischer Art: Die Leserinnen und Leser sollen »Betrachter der guten Lebensläufe« werden, sich von ihnen zu Moral und Tugend anregen und von den schlechten Beispielen abschrecken lassen.

Was die Interessenlage antiker (und auch moderner) Autoren angeht, so wird man stets auch das literarische Genre beachten müssen, in welchem die Darstellung bzw. charakterliche Zeichnung einer Person integriert ist. Für eine historische Rückfrage kommen die oft widersprüchlichen Pilatuslegenden nicht infrage. Ihr Wert liegt nicht auf historischer Ebene, sondern ist literarischer Art, auch wenn man sich natürlich klarmachen muss, dass ein legendarisches Pilatusbild die Wahrnehmung der historischen Person (oder was man dafür hält) durchaus beeinflussen kann. Das gilt cum grano salis auch für diejenigen Überlieferungen, die für eine Rückfrage nach dem »historischen Pilatus« auszuwerten sind. So besteht etwa ein erheblicher Unterschied zwischen seiner Darstellung im Kontext eines der vier kanonisch gewordenen Evangelien als theologisch motivierter Erzählungen des Lebens Jesu von Nazareth,21 einer tendenziell romfreundlichen historischen Darstellung wie bei Flavius Josephus22 oder auch einer bewusst polemischen Verzeichnung der Amtsführung des Pilatus bei Philon von Alexandrien in seinem Ärger über einen anderen Präfekten, der die Juden in Ägypten drangsaliert.23 Die beiden monumentalen Geschichtswerke des Flavius Josephus, seine »Geschichte des jüdischen Krieges« (Bellum Judaicum) und seine Abhandlung über die »Jüdischen Altertümer« (Antiquitates Judaicae), sind zweifellos die wichtigsten historischen Quellen zu Pilatus und seiner Statthalterschaft im Kontext der Geschichte des Judentums zur römischen Zeit.

Zur Problematik einer historischen Rückfrage gehört zudem grundsätzlich auch die Ausschnitthaftigkeit der Überlieferung sowie die Auswahl der überlieferten Ereignisse und Geschichten, die ebenfalls den Interessen der jeweiligen Autoren unterworfen sind.24 Entsprechend unterschiedlich sind die historischen Einschätzungen des Pilatus in der Forschung, je nachdem, wie man die verschiedenen Überlieferungen beurteilt und ihre Aussagen gewichtet.

Damit sind bereits die wichtigsten Quellen für die historische Rückfrage nach Pilatus benannt.25 In Bezug auf das Verhältnis zwischen Pilatus und Jesus bzw. den Umständen, die zum Tod Jesu geführt haben, sind in erster Linie die vier kanonischen Evangelien zu nennen, die ein je eigenes Bild von Pilatus zeichnen und in ihrer Zusammenschau auch eine gewisse Entwicklung in der Beurteilung des Präfekten innerhalb der frühchristlichen Überlieferung erkennen lassen. Für die historische Einordnung und die Bewertung seiner Amtsführung sind die sehr wahrscheinlich voneinander unabhängigen Überlieferungen bei Flavius Josephus und Philon von Alexandrien von maßgeblicher Bedeutung und in dem je eigenen Profil aufschlussreich für die historische Rückfrage. In diesen Zusammenhang gehören auch römische Quellen wie die Notizen bei Tacitus und Sueton, die jedoch in ihrer Beiläufigkeit und Kürze kaum substantiell etwas zur Geschichte des Pilatus beitragen. Von besonderem Interesse sind daher die wenigen nichtliterarischen Zeugnisse.26 Dazu gehört an erster Stelle die einzigartige Inschrift aus der Stadt Cäsarea Maritima, dem Amtssitz des Präfekten, die den Namen und den Amtstitel des Pilatus bezeugt. Hinzu kommen die unter der Präfektur des Pilatus geprägten Münzen sowie neuerdings ein schon länger bekannter, aber erst kürzlich identifizierter Ring, der im Grabmal Herodes des Großen südlich von Jerusalem gefunden wurde und die griechische Aufschrift ΠΙΛΑΤΟ[Υ] (»des Pilatus«) trägt.

Zu diesen Quellen und Artefakten treten schließlich die zahlreichen apokryphen Traditionen und Legenden hinzu, in denen vor allem der Ausgang der Geschichte des Pilatus phantasievoll erzählt wird. Sie haben zwar historisch keinen Wert, sind aber im Blick auf die Bedeutung des Pilatus für das sich herausbildende Christentum von höchstem Interesse. Die Genres reichen von mutmaßlichen Prozessakten, fiktiven Briefen bis hin zu romanhaften Ausgestaltungen seiner Geschichte, insbesondere natürlich der Umstände seines Todes. Ansatzpunkte sind zumeist – wie es typisch ist für diese Art der Literatur – die Lücken in der Überlieferung. Man erzählt, was man gern noch gewusst hätte, man erfindet »historische« Dokumente, um die geschichtliche Gewissheit zu stärken. Eine gewisse Sonderstellung – aufgrund der recht unterschiedlichen Bewertungen in der Forschung – nehmen die im Kontext des Nikodemusevangeliums überlieferten sog. »Pilatusakten« ein, auf die etwa Justin der Märtyrer im 2. Jh. bereits als Quelle zum Prozess gegen Jesus verweist (Apologie I,35.48). Sie tragen aber im Ganzen ebenfalls legendarischen Charakter, wurden bis ins Mittelalter hinein fortgeschrieben und ergänzt und beflügelten nicht zuletzt auch die künstlerische und literarische Phantasie.27

Die Eigenart der unterschiedlichen Quellen und insbesondere die je spezifische Einbettung des Materials in größere Erzählzusammenhänge lassen verschiedene Darbietungen des Stoffes zu. Ein Blick auf die Gliederungen der vorliegenden Gesamtdarstellungen zu Pilatus macht dies anschaulich. Das grundlegende Problem dabei ist, dass in den vielfältigen Überlieferungen stets historisch verifizierbare Daten und literarische Fiktion ineinandergreifen, die oft nicht mit hinreichender Klarheit voneinander zu unterscheiden sind.

Dennoch soll im Folgenden unter B versucht werden, in einem ersten Teil bekannte, verifizierbare und erschlossene Daten über das Leben und Wirken des Pilatus aus den Quellen so herauszuarbeiten und in einen größeren geschichtlichen Horizont zu stellen, dass sich daraus zunächst ein plausibles historisches Bild von seiner Person, seinen Lebensumständen und seiner Wirksamkeit ergibt. In einem zweiten und dritten Teil soll dann das literarisch motivierte Pilatusbild der einzelnen Überlieferungsbereiche nachgezeichnet werden. Dadurch lässt sich zwar eine mitunter wiederholte Behandlung mancher Texte nicht vermeiden, doch werden diese jeweils unter anderen Fragestellungen zur Geltung gebracht. So kommt den Darstellungen bei Flavius Josephus und Philon von Alexandrien ein eigenes Gewicht zu, aus deren Perspektive die Charakteristik der Pilatustexte im Neuen Testament an Tiefenschärfe gewinnt. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach der – wie bereits angedeutet – ambivalenten Rolle des Pilatus im Prozess gegen Jesus von Nazareth in der Passionsgeschichte der kanonisch gewordenen Evangelien.

Einen ganz eigenen Bereich bildet schließlich die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Pilatusgestalt, die unter Abschnitt C behandelt wird. Sie beginnt bereits unmittelbar im Anschluss an neutestamentliche Überlieferungen und wächst zu einem nie versiegenden Strom von mehr oder weniger phantasievollen Legenden an, der sich durch die Zeitläufte ergießt bis hin zu modernen Romanen, Filmen und Theaterstücken. In diesem Kapitel muss sich die Darstellung auf einige (aus meiner subjektiven Sicht) interessante Pilatusporträts beschränken. Wenn man sich vor Augen führt, dass jede Darstellung der Geschichte Jesu, jeder Jesusroman und jeder Jesusfilm zugleich auch ein je spezifisches Pilatusbild entwirft, dann wird deutlich, dass eine umfassende Wirkungsgeschichte dieser schillernden Persönlichkeit den Rahmen dieses Büchleins sprengen würde.

B DARSTELLUNG

1 PONTIUS PILATUS – RÖMISCHER OFFIZIER UND PRÄFEKT VON JUDÄA

1.1 Herkunft, Familie, Stand

Pontius Pilatus entstammt einer alten römischen Familie. Bei dem Namenszusatz »Pontius« handelt es sich um ein sog. gentilicium, eine Art Familienname, der Pilatus als Angehörigen des Geschlechtes (gens) der Pontier ausweist.28 Es stammt aus der mittelitalischen Region Samnium, also aus dem Kernland des Imperium Romanum. Die Bedeutung des eigentlichen Namens »Pilatus« ist ungeklärt. Wahrscheinlich ist er von lat. pila oder pilum (»Speer«) abgeleitet, mit dem die römischen Legionäre ausgestattet waren und von dem ein samnitischer Ursprung vermutet wird. Sprachlich bedeutete Pilatus dann: »mit dem Speer bewaffnet«. Der römische Schriftsteller Martial etwa erwähnt in den »Epigrammata« eine pilata cohors (»speertragende Kohorte«, 10.48.2). Damit käme die militärische Konnotation des Namens als »Speerträger« infrage; sie spielt aber für die Verwendung des Eigennamens selbst keine Rolle mehr.29

Die Pontier haben sich besonders in der Militär- und Verwaltungsgeschichte Roms hervorgetan, mit gelegentlich antimonarchischen Tendenzen: Lucius Pontius Aequilius war im Jahre 44 v. Chr. an der Ermordung Cäsars beteiligt. Später standen sie allerdings in der Gunst des Kaisers Tiberius, unter dem einige Angehörige dieses Geschlechtes sogar Konsul wurden. Pilatus selbst bzw. seine Familie gehörte der ritterlichen Aristokratie (equites Romani – »römische Reiter«) an. Dieser militärische Kontext des Rittertums tritt in der Kaiserzeit zurück. Die »Ritter« repräsentieren in Abgrenzung zum (höhergestellten) senatorischen Rang einen eigenen Stand (equestris nobilitas bzw. equites ordo publico), dessen Mitglieder im weitesten Sinn höhere zivile und militärische Verwaltungsämter wahrnahmen und bereits von Kaiser Augustus und später dann verstärkt durch Tiberius mit gesellschaftlichen Privilegien ausgestattet wurden.30

Über die privaten Verhältnisse von Pilatus ist so gut wie nichts bekannt. Nur durch eine Episode aus dem Matthäusevangelium erfahren wir eher zufällig, dass er verheiratet war.31 Von Nachkommen des Pilatus ist nichts überliefert.

1.2 Karriere im Dienste Roms

Die Karriere des Pilatus beginnt wie zumeist bei höheren Beamten im Militär; Näheres ist allerdings auch darüber nicht bekannt. Man wird das im 1. Jh. n. Chr. Übliche einer entsprechenden Laufbahn voraussetzen dürfen. Zunächst unterstand ihm als Unteroffizier vermutlich eine Reiterabteilung der Hilfstruppe (Auxiliarkohorte), bis er später zum Offizier und Tribun aufstieg. Nach seinem Militärdienst wurde ihm die Präfektur Judäas übertragen. In diesem Amt war Pilatus der fünfte Präfekt, nachdem im Jahr 6 n. Chr. der jüdische Herrscher Herodes Archelaos abgesetzt und Judäa als Teil der Provinz Syria durch den bei Josephus nur beiläufig erwähnten ersten Präfekten Coponius (Ant 18,1f.; 2,2; Amtszeit 6–9 n. Chr.) unter direkte römische Verwaltung gestellt worden war.32 Als Präfekt von Judäa befehligte Pilatus fünf Kohorten mit je ca. 500–600 Soldaten sowie ca. 1.000 Reiter, die zu der in der Provinz Syrien stationierten zehnten Legion, der Legio decimanus Fretensis, gehörten. Eine Kohorte war ständig in Jerusalem stationiert, der Rest der Truppen in Cäsarea Maritima. Herodes der Große hat die Stadt als Caesarea Augusta Maritima zu Ehren des Augustus ausgebaut. Später wurde sie zum Amtssitz der Präfekten.33

Lange Zeit war als Amtsbezeichnung für Pilatus der Titel des Prokurators geläufig, mit dem Tacitus generell die Vertreter Roms in Judäa benennt (Annales XV,44).34 Aus einer in Cäsarea Maritima gefundenen Inschrift geht jedoch hervor, dass Pilatus den militärischen Titel eines Präfekten trug. Tacitus hat also kurzerhand den seit den frühen 40er Jahren nach der Neuordnung der Provinzen durch Claudius üblich gewordenen Begriff für Provinzverwalter auch dem Pilatus beigelegt. Im Unterschied zur späteren Funktion des Prokurators war der Präfekt Judäas dem syrischen Legaten unterstellt.35

Abb. 1: Die Pilatus-Inschrift von Cäsarea Maritima36

Die Pilatus-Inschrift wurde 1961 entdeckt; der 82 x 66 cm große Stein war im 4. Jh. bei Umbauarbeiten als Treppenstufe im Theater von Cäsarea verwendet worden. Die Inschrift ist nur fragmentarisch erhalten, da eine Seite des Steins zum Zweck der Neuverwendung behauen wurde. In der vierzeiligen Inschrift sind der Name »[PON]TIUS PILATUS« (2. Zeile) und seine Amtsbezeichnung »[PRAEF]ECTUS JUDAEAE« (3. Zeile) relativ gut erhalten. Die Schriftgröße der Zeilen nimmt von oben nach unten ab.

Rätselhaft bleibt allerdings der Kontext der Inschrift und vor allem die Deutung des in der ersten Zeile erwähnten »TIBERIÉUM«, dem ein weiteres Wort vorausgeht, von dem lediglich der letzte Buchstabe erhalten ist:

…]S TIBERIÉVM

…N]TIVS PÌLATVS

…]ECTVS IVDA[…]E

…]ÉC[I…

Aus Analogien zu vergleichbaren Inschriften lässt sich schließen, dass die Buchstaben -EC- in der letzten Zeile zum Wort »REFECIT« zu ergänzen sind. Zudem handelt es sich bei dem »TIBERIÉUM« aufgrund der Endung -eum um ein Bauwerk, das von Pilatus zu Ehren des Kaisers Tiberius errichtet bzw. erneuert worden war. Strittig ist, zu welchem Zweck. Tiberius war bekannt für seine Zurückhaltung hinsichtlich einer kultischen Verehrung seiner Person. Ein Gebäude für Kultzwecke ist deshalb eher unwahrscheinlich.37 Die Bedeutung ist von der Ergänzung des ersten Wortes abhängig.38 Aufgrund der Zeilenanordnung und der Buchstabengröße lässt sich erschließen, dass vor dem ersten erhaltenen Buchstaben -S- in der ersten Zeile ca. vier, höchstens fünf Buchstaben gestanden haben. Doch bleiben die Deutungen spekulativ. Géza Alföldy hat vorgeschlagen, die erste Zeile mit dem Begriff »NAUTIS« zu vervollständigen.

NAVTIS TIBERIÉVM

PONTIVS PÌLATVS

PRAEFECTVS IVDAEAE

REFÉCIT

Damit wäre das Gebäude als Leuchtturm »für die Seeleute« (nautis, Dativ Plural von nauta, »Seemann/Matrose«) benannt, das einst von Herodes erbaut und nun von Pilatus zu Ehren des Tiberius restauriert wurde (refecit).39 Josephus berichtet in Bell 1,408–416 recht ausführlich davon, wie Herodes der Große die seinerzeit verfallene Stadt Cäsarea wieder aufgebaut und zu neuer Blüte gebracht hatte, wobei der befestigte Hafen mit seinen hohen (Leucht-)Türmen besonders hervorgehoben wird. Einer davon, »der größte und schönste«, sei nach Drusus, dem Stiefsohn des Kaisers Augustus, Druseion benannt worden (1,412). Drusus, der im Jahre 9 v. Chr. verstarb, war der Bruder des nachmaligen Kaisers Tiberius. Die erneute Widmung für Tiberius bei der Restaurierung des Gebäudes ist daher auch für den loyalen Tiberiusgünstling Pilatus wahrscheinlich. Die vollständige Übersetzung der Pilatusinschrift lautete somit nach dieser Rekonstruktion: »Für die Seeleute ließ Pontius Pilatus, der Präfekt von Judäa, das Tiberieum sanieren.«

Abb. 2: Cäsarea Maritima zur Zeit Herodes des Großen

Ein anderer Vorschlag lautet, das erste Wort als »INCOLIS« zu rekonstruieren, womit das Gebäude den »Einwohnern« Cäsareas gewidmet wäre.40 Doch das ist weniger wahrscheinlich, da sechs Buchstaben zu ergänzen wären und das Wort damit nicht mehr in das Zeilenmaß passen würde. In jedem Fall dokumentiert die Inschrift nicht nur den korrekten Titel des Pilatus (und damit indirekt auch die politische Unterordnung der Verwaltungseinheit Judäa unter die Gewalt des syrischen Legaten), sondern ist zugleich ein eindrückliches Zeugnis für seine Loyalität dem Kaiser Tiberius gegenüber.

Zu den archäologischen Zeugnissen für die Zeit des Pilatus gehören auch zahlreiche Münzprägungen.41 Ähnlich wie Inschriften sind Münzen in hohem Maße Medien der politischen Propaganda, die ihre Wirkung durch weite Verbreitung entfalten, besonders, wenn es sich um Bronzemünzen für den Alltagsgebrauch handelt. Münzen dokumentieren nicht nur die Souveränität der Herrschaft, in diesem Fall die Herrschaft Roms, sondern sind zugleich Ausdruck der politischen Loyalität dessen, der sie prägen lässt. Die Abbildungen der von Pilatus geprägten Münzen weisen zwei Typen aus, beide tragen auf Vorder- bzw. Rückseite die Namen des Kaisers Tiberius bzw. seiner Mutter Livia Drusilla, die nach seinem Tod den Ehrennamen Iulia Augusta erhielt. Hinzu kommen zwei Symbole, der lituus (gekrümmter bzw. spiralförmiger Stab), ursprünglich die Amtsinsignie der römischen Könige, aber auch kultisches Instrument der Auguren als römischer Priester. Auf der Münze fungiert es wahrscheinlich primär als Zeichen der Herrschaft des Tiberius, die damit vom Münzpräger Pilatus anerkannt und proklamiert wird. Der andere Münztypus bildet ein simpulum ab, eine kultische Schöpfkelle, die auf die Kaiserverehrung hinweist. Sowohl die Namensinschriften als auch die Abbildungen lassen keinen Zweifel an der Verehrung des Kaiserhauses durch Pilatus. Bemerkenswert ist, dass sich die Münzen des Pilatus durch diese Symbolik von denen seiner Vorgänger unterscheiden, die eher neutrale Abbildungen von Kränzen, Blättern, Trauben und dergleichen aufweisen. Man hat dies gelegentlich als eine bewusste Provokation den Juden gegenüber verstehen wollen, für die die kaiserlichen Insignien bis hin zu kultischen Implikationen ein Stein des Anstoßes gewesen seien.42 Doch gibt es dafür keine überzeugenden Anhaltspunkte, zumal fraglich ist, ob die Münzprägungen des Pilatus bereits jene Ausprägung des vergöttlichenden Kaiserkultes implizieren, wie er von späteren Kaisern belegt ist. Der Streit um die Steuerfrage (Mk 12,13–17 parr.) in der Geschichte Jesu beispielsweise dreht sich um einen römischen Denar, der auch von jüdischen Königen geprägt wurde und sogar das Abbild des Kaisers oder der Kaisermutter trug, und dessen Prägung dennoch nicht grundsätzlich problematisiert wurde.43

Neben der Pilatusinschrift und den Münzen ist ein erst 2018 identifizierter Ring von besonderem Interesse, der bei Ausgrabungen am Herodeion, der monumentalen Festung Herodes des Großen südlich von Jerusalem, bereits 1968/69 gefunden wurde.

Abb. 5: Ring des Pilatus aus dem Herodeion

Es handelt sich um einen recht einfachen Ring aus einer Kupferlegierung mit der Abbildung eines Trinkgefäßes oder eines henkellosen Mischkrugs (griech. ϰατήkratr) sowie der griechischen Inschrift ΠΙΛΑΤΟ[Υ] (»des Pilatus«; ein Ypsilon ist am Schluss wohl zu ergänzen). Es liegt nahe, diesen Namen mit dem Präfekten Pilatus in Verbindung zu bringen. Zwar besteht die Möglichkeit, dass es sich bei dem mit der Inschrift benannten Pilatus um eine andere Person handeln könnte.44 Das ist aber deshalb unwahrscheinlich, weil es für die Verwendung dieses Namens in Judäa sonst keine Belege gibt. Der Ring ist nicht hochwertig gearbeitet. Er gehörte daher wohl nicht dem Pilatus selbst, sondern einem seiner Beamten. Der abgebildete Krug ist in der numismatischen Ikonographie des zeitgenössischen Judentums als Symbol relativ breit belegt, so dass die Herkunft aus einer jüdischen Werkstatt als wahrscheinlich gilt. Da die Inschrift aufgrund der Großbuchstaben und ihrer Anordnung auch spiegelverkehrt funktioniert, könnte es ein Siegelring sein,45 der zugleich die Stellung seines Trägers zum Ausdruck brachte.

Kommen wir zurück auf die Laufbahn des Pilatus als römischer Beamter. Das Amt eines Präfekten war nicht Teil des senatorischen cursus honorum. Dieser setzte erst nach einem in der Regel mindestens zehnjährigen Militärdienst ein und reichte vom Quaestor über den Aedil bis hin zum Praetor und schließlich zum Konsulat. In der Kaiserzeit konnte der Titel eines Konsuls nur vom Kaiser verliehen werden, während andere Ämter vom Senat bzw. den regionalen Bürgerräten besetzt wurden. Das Amt des Präfekten hingegen war ein untergeordnetes Verwaltungsamt mit militärischer Befehlskompetenz und mit recht unterschiedlichen operativen Aufgaben (z. B. für Getreideversorgung, Verkehrswesen, Legions- oder Flottenkommandantur bis hin zum persönlichen Adjutanten). Bei Pilatus handelt es sich in der Abhängigkeit vom kaiserlichen Legaten um einen praefectus civitatis, der der kaiserlichen Provinzverwaltung unterstellt war und als Verwalter einer Region fungierte – in diesem Fall das ehemalige Herrschaftsgebiet des abgesetzten Herodes Archelaos.

Für einen Angehörigen des Ritterstandes wie Pilatus galt dies schon als eines der höchsten Ämter der Karriereleiter, die für ihn erreichbar waren. Das erklärt auch, warum Pilatus offenbar keine Ambitionen auf Höheres entwickelt hat, sondern im Gegenteil sich über eine lange Zeit als Präfekt von Judäa behaupten konnte. Jedenfalls finden sich in der Überlieferung keine Andeutungen, dass er darüber hinaus nach höheren Ämtern strebte. Dem kam sicher auch zugute, dass Tiberius dafür bekannt war, die bis dahin üblichen Befristungen der Amtszeiten aufzuheben, was die Stabilität der bestehenden Machtstrukturen besonders in den Provinzen beförderte. Der jüdisch-römische Chronist Flavius Josephus begründet dies damit, dass Tiberius in den Provinzbeamten habgierige »Blutsauger« sah, die in kurzer Zeit nur auf ihre persönliche Bereicherung aus waren, und deshalb lediglich zwei Präfekten nach Judäa entsandte: Valerius Gratus und Pontius Pilatus (Ant 18,172–178).

Manche meinen wohl nicht zu Unrecht, dass die Karriere des Pilatus in hohem Maße vom kaiserlichen Protektionismus abhängig gewesen sei und er trotz höherer Bildung weder besondere Ambitionen verfolgte noch ein außergewöhnlich begabter Stratege war. Doch allein die Tatsache, dass er das Amt des Präfekten verhältnismäßig lange innehatte, macht deutlich, dass er den Protektionismus des Kaisers für sich zu nutzen verstand, um sich länger im Amt zu halten. Zugleich erwies er sich aber offenbar auch in seiner Amtsführung als nicht ungeschickt und erfüllte die Erwartungen an das Amt, so dass es keinen Grund gab, ihn allzu schnell auszutauschen. Eine lange Amtszeit erfordert in der Regel ein stabiles strategisches Netzwerk an Kontakten in die oberen Führungsschichten der römischen Verwaltung sowie ein unauffälliges und sich im Wesentlichen an die Regeln der imperialen Herrschaft in den Provinzen haltendes politisches Agieren.

Die politische Unauffälligkeit des Pilatus wird auch daran deutlich, dass ihn römische Quellen nur beiläufig zur Kenntnis nehmen. Tacitus etwa erwähnt Pilatus nur nebenbei, als er im Zusammenhang mit dem Brand Roms unter Kaiser Nero kurz auf die »Chrestianer« zu sprechen kommt, wie sie vom Volk genannt würden:

»Um also das Gerücht [er habe selbst den Brand gelegt] zu zerstreuen, schob Nero die Schuld denen zu und belegte sie mit ausgefallenen Strafen, die wegen ihrer Abscheulichkeit gehasst werden und die das Volk ›Chrestianer‹ nennt. Ihr Urheber namens Christus wurde während der Herrschaft des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus mit der Todesstrafe belegt, und für den Augenblick wurde dieser verderbliche Aberglauben (zwar) unterdrückt, brach aber wiederum aus nicht nur in Judäa, wo das Übel begann, sondern sogar in der Stadt [Rom], wo von überall her jegliche Abscheulichkeiten und Widerlichkeiten zusammenkommen und zelebriert werden« (Annales XV,44).

Die Loyalität des Pilatus zum Kaiser Tiberius, dem er sein Amt verdankte, macht aus ihm in der Perspektive des Tacitus einen guten römischen Beamten. Nur ein knappes Jahr nach dem Ende der Amtszeit des Pilatus im Jahr 36 endete auch die ohnehin bereits längere Zeit schwächelnde Herrschaft des kranken Tiberius mit dessen vermutlich gewaltsamen Tod.46 Die enge Verbindung zum Kaiserhaus konnte Pilatus nicht vor den politischen Intrigen des neuen syrischen Legaten Vitellius bewahren.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, ob Pilatus den Ehrentitel amicus Caesaris – »Freund des Kaisers« trug.47 Die erpresserische Bemerkung der Jerusalemer Oberpriester Pilatus gegenüber, die das Johannesevangelium im Zusammenhang des Prozesses gegen Jesus überliefert, deutet dies an: »Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers« (Joh 19,12). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Pilatus diesen Rang durch die Gunst des Lucius Aelius Seianus erlangt hat, der als Prätorianerpräfekt großen Einfluss auf die Amtsgeschäfte des Tiberius hatte (vgl. Tacitus, Annales IV,23–25) und auch für die Ernennung des Pilatus als Präfekt zuständig war. Doch kann dies auch im Johannesevangelium zur literarischen Fiktion der Pilatusfigur gehören,48 zumal historisch gesehen die Bedeutung des Seianus für Pilatus und seine Machtposition in Judäa umstritten ist. Die enge Verknüpfung beider lässt sich zunächst nur einer späten Notiz des Eusebius von Cäsarea entnehmen, der in seiner Kirchengeschichte beide durch ihren Judenhass eng verbunden sieht. Das ist offenkundig ein literarisches Klischee, das vermutlich auf Philon von Alexandriens polemisch-verzeichnende Darstellung des Seianus als ausgesprochenen Judenfeind zurückgeht, der letztlich das ganze Volk der Juden habe vernichten wollen (Legatio ad Gaium 159f.).49 Ein offizieller Titel war amicus Caesaris wohl ohnehin nicht, eher ein »privilegierter Status«, Ausdruck amtlicher Vertrautheit und vor allem der Loyalität gegenüber dem Kaiser.50